|260|Danke, Franz!

»Schlumpel!« rief ich »Komm heim!«

Schlumpel kam nicht heim.

»Reg dich bloß nicht auf«, sagte Konrad.

»Aber sie war die ganze Nacht weg, und heut hab ich sie den ganzen Tag über nicht gesehen.«

»Ich war zwei Wochen lang weg«, sagte Konrad. »Hast du alle naslang ›Konrad, komm heim!‹ gerufen?«

»Wo du steckst, hab ich gewußt. Wo Schlumpel steckt, weiß ich nicht.«

»Die wird schon kommen. Hast du was dagegen, wenn ich die Musik etwas lauter stelle?« Er hörte gerade den ersten Satz aus Beethovens Pastorale: Erwachen heiterer Gefühle bei der Ankunft auf dem Lande. Den hört er immer, wenn er für ein paar Tage zu uns aufs Land kommt.

»Hast du vorhin schon gesagt«, knurrte ich.

»Was sagst du?«

»Daß du vorhin schon gesagt hast, daß sie schon kommen wird«, brüllte ich. »Dir fällt auch nix Neues ein.«

|261|Schlumpel kam aber nicht.

In mir erwachten keine heiteren ländlichen Gefühle.

 

»Nun renn doch nicht dauernd hinaus«, sagte Konrad. »Das macht mich ganz nervös.«

»Ich will nur nach den Schnecken schauen.«

»Willst du nicht. Du schaust nach dieser Katze.«

»Diese Katze«, sagte ich, »ist meine liebe Schlumpel. Eine ganze Nacht und einen ganzen Tag und eine zweite Nacht ist sie schon fort.«

»Sie ist auch meine liebe Schlumpel.«

»Aber meine mehr.«

»Die kommt bald. Wirst schon sehen.«

Ich lief hinaus, doch ich sah nichts. Nur Schnecken, diese aber reichlich.

 

»Schlumpel«, sagte Konrad abends, »treibt sich irgendwo herum, wo’s interessanter ist als hier. So ein junges Ding braucht Unterhaltung. Draußen tobt das Leben. Sie hockt vor einem Mausloch. Oder wälzt sich vor einem Kater im Staub, und wenn er zupackt, verdrischt sie ihn. Klettert Bäume rauf und runter. Oder sie liegt irgendwo im Heu und pennt.«

Ich sah das schwärzer. »Ein Hund hat sie zerfleischt, ein Jäger erschossen, perverses Pack, diese |262|Jäger, zutiefst unmoralisch. Ein Auto hat sie totgefahren. Seit Jahren lieg ich dem Bürgermeister in den Ohren, Tempo dreißig sei genug im Ort. Seit Jahren sagt er mir, man könne den Leuten nicht jeden Spaß verderben. Jemand hat sie in der Garage eingesperrt, vielleicht nur aus Versehen, oder sie ist in einen Gulli gekrochen und kommt nicht mehr raus, oder ein Katzenjäger – neulich hab ich so einen im Fernsehen gesehen, ich denk lieber nicht dran. Oder sie krallt sich an einem Ast fest, schon seit Stunden, und unter ihr braust der Wasserfall –«

»Wenn es denn einen gäbe«, sagte Konrad tröstend. »Hier braust nichts.«

»Oder der Kerl, dem ich gesagt hab, er solle sein Radio nicht so laut laufen lassen, hat sie aus Rache – oder sie hat was Vergiftetes gefressen – und jetzt liegt sie irgendwo rum und ist am Abschnappen, und ich kann meiner Schlumpel nicht mal die Pfote halten, oder –«

»Ach was«, sagte Konrad, »Schlumpels sind unverwüstlich. Die kommen immer durch.«

»Meine alte Schlumpel war auch eines Tages weg. Weil ich sie lieber hatte als den lieben Gott, hat sie der Teufel geholt.«

 

In der dritten Nacht ließ ich das Licht vor der Haustür brennen, damit sie wußte, ich wartete auf |263|sie. Stellte was hin, zum Fressen, vielleicht war sie ausgehungert. Ließ das Küchenfenster offen, damit sie hereinkonnte.

 

»Wirst schon sehen«, sagte Konrad beim Frühstück –

»Halt den Mund!« sagte ich.

Nach dem Frühstück lief ich zu den Nachbarn, fragte jeden einzelnen, ob er Schlumpel gesehen habe. Einer hatte, aber bei näherer Befragung war Schlumpel Seppi gewesen, der sieht auf die Entfernung ähnlich aus. Ich rannte durch die Gegend, suchte hinter jedem Schuppen, hinter jedem Gebüsch, rief »Schlumpel! Schlumpel!« und kriegte Herzklopfen, als es hinter mir knackte, der Knacker war Fritzle vom oberen Nachbarn, ein mausgrauer lieber Kerl, aber in dem Moment fand ich ihn nicht lieb. »Hau ab!«

Als ich mittags heimkam, war Konrad verschwunden. Der auch, dachte ich, alle weg, ich bin ein sinkendes Schiff, das die Ratten – die Katzen und Kater – verlassen, wem lauf ich jetzt nach, Schlumpel oder Konrad? Ich trank drei Tassen Fencheltee, wegen Bauchschmerzen, doch die Schmerzen gingen nicht und Schlumpel kam nicht. Aber wenigstens kam Konrad, ziemlich derangiert, hatte Stroh im schütteren Haar, nasse Hosenbeine und dreckige Schuhe. Und er sagte nicht, wirst |264|schon sehen, die kommt schon, er schrieb mit Heini zusammen eine Anzeige und las sie mir vor: Wer hat sie gesehen? Wunderschöne rote Tigerkatze mit grünen Augen entlaufen, hört auf den Namen Schlumpel, aber nur, wenn sie will. Ansehnliche Belohnung für Information oder Rückgabe.

»Für die Zeitung«, sagte er. »Ich geb’s gleich durch, die Belohnung übernehm natürlich ich.«

 

Ich bin zwar nicht fromm, aber ich reite nicht auf Prinzipien herum, und außerdem ging es um Schlumpel. An die oberste Instanz wandte ich mich lieber nicht, die war mir zu weit weg, aber es gibt da jemand, der weilte immerhin mal unter uns, was zwar schon lang her ist, aber jedenfalls weilte er, weshalb er den Laden hier kennt.

Ich nahm einen Anlauf. »Lieber heiliger Franziskus«, sagte ich und lauschte – in mich hinein und in den Äther –

Nichts.

Ich fühlte unwillkürlich, es liege an der Anrede. Ich würde, aus Bescheidenheit, auch nicht gern heilig genannt werden, selbst wenn ich’s wär. Also noch mal: »Mein lieber Franziskus –«

Nichts.

»Ach, Franz –«, jammerte ich, »sag doch was!«

»Was gibt’s?« Die Stimme konnte die des Franz sein, aber ebensogut meine eigene, innere Stimme.

|265|»Schlumpel ist weg.«

»So was kommt vor.«

»Sie ist schon sehr lang weg.«

»Auch das kommt vor.«

»Wie wär’s mit einer schönen dicken Kerze –«

Nichts. Hatte ich ihn beleidigt? Faßte er die Kerze als Bestechung auf?

»Denk dir was aus, Franz!«

»Vom Denken kommt sie auch nicht wieder heim«, sagte die vermutlich doch heilige Stimme völlig zu Recht.

»Sie ist fast drei Tage weg. Vielleicht ist sie nicht mehr – vielleicht ist sie –«

»Kann schon sein.«

»Franz«, sagte ich, »bevor du was unternimmst – ich sag’s dir ehrlich – ich bin nicht fromm.«

»Das ist bekannt.«

»Ich werd’s auch bestimmt nicht werden. Ist Frommsein die Bedingung dafür, daß du –«

»Blödsinn!« sagte die Stimme.

»Und Schlumpel ist nicht mal katholisch. Aber Stoffele, ihr Großvater, hat mal eine Zeitlang einen katholischen Pfarrer zur Verzweif – ich mein, er hat bei ihm gewohnt. Könntest du –«

 

»Guck mal!« Konrad winkte mich zur Balkontür. Auf dem Weg, der sich durchs Dorf schlängelt, sah ich eine Katze, die katzenschönste, allerschönste, |266|weltschönste. Sie rannte einem Ahornblatt nach, das der Wind für sie vom Baum geweht hatte, doch bevor sie es erwischte, fesselte etwas anderes ihre Aufmerksamkeit, sie stupste mit der Pfote an ein rundes helles Ding, das da am Straßenrand lag, ein Schneckenhaus, oder ein Stein. Fand es aber weiter nicht interessant, interessant hingegen das rote Auto von Herrn Bastian, sprang auf die Motorhaube und von dort aufs Dach, wo sie kurze Zeit, die Aussicht genießend, verweilte, um dann ohne Eile, aber unter Hinterlassung dreckiger Pfotenabdrücke, wieder herunterzusteigen. Es folgte ein kleiner Schlenker über die Wiese mit Besichtigung und Beschnüffelung der Maulwurfshügel, deren Besitzer sich jedoch in weiser Voraussicht lieber nicht zeigten, doch zeigte sich Seppi, dem sie unmißverständlich klarmachte, wem hier die Wiese gehörte. Seppi rief ihr vom heimischen Garagendach aus ein paar unfreundliche Wörter zu, die sie ignorierte, versuchte sie doch gerade, einem Schmetterling nachzufliegen, der aber war schneller, weshalb sie die Fliegerei aufgab, zum Vogelbad unter der Weide tänzelte, es leersoff, dann auf die Weide kletterte und von einem Ast aus aufs Balkongeländer sprang, wobei die Satellitenschüssel ins Wanken geriet, was nun Konrad zu einigen unfreundlichen Wörtern veranlaßte. Auf dem Geländer schritt sie anmutig und |267|schwindelfrei in Richtung Balkontür, ließ sich auf dem kleinen runden Tisch, auf dem wir gern frühstücken, im Brotkörbchen nieder, nickte uns zu und schleckte sich die Pfote. Fuhr sich mit diesem Waschlappen übers Gesicht. Was bitter nötig war. Sie sah aus –

»Wie aus dem Dreck gezogen«, sagte Konrad. »Wo hast du bloß gesteckt, du Schmuddelkatz? Du Mistviech? Du Rabenaas? Du Lumpenstück?«

»Überall«, sagte Schlumpel. »Bin ein bißchen rumgeschlumpelt. Schlumgerumpelt. Oben und unten. Vorne und hinten. Und zwischendrin. Hab mich gesielt, im Dreck. War ziemlich wild. Und kein bißchen dezent. Hab euch ganz vergessen. Riecht toll, das Leben.« Ihre grünen Augen leuchteten. »Aber jetzt bin ich wieder da. Wegen Hunger und so.« Bei dem »und so« rieb sie ihre Backe an meiner Schulter. Sie roch nach Misthaufen, Kuhstall, dem Komposthaufen, Katzenminze, roch muffig, mausig, erdig, pelzig, katzig.

Ich legte den Arm um meine Katze. Sie schmiegte sich in die Ellbogenbeuge. »Hast du mich –?«

»Weißt du doch!«

»Sag’s!«

»Ich hab dich. Sehr!«

Schlumpel gurrte wie eine Taube. »Das ist mein allerlebensschönster Tag!«

|268|Was ich auch fand. Jeder Tag mit einer Katze drin ist ein lebensschönster. »Aber deshalb brauchst du nicht zu sabbern.«

»Am besten steckst du alle beide in die Waschmaschine«, meinte Konrad, »deine Bluse und Schlumpel.«

»Danke, Franz!« sagte ich laut. »Eine rote Kerze. Wie versprochen. Schlumpelrot.«

»Ich heiß nicht Franz«, sagte Konrad, »ich heiß Konrad. Was soll ich mit einer schlumpelroten Kerze?«

»Die kriegst nicht du, die kriegt Franz.«

»Wer ist Franz?« Konrad guckte mißtrauisch.

»Ein alter Freund. Italiener.«

»Von dem hast du mir noch nie was erzählt. Wo in Italien?«

»Assisi.«

»Ach der.« Er lächelte nachsichtig. »Nach neuesten Erkenntnissen hat’s den nie gegeben. Ist einer längst fälligen Heiligenentrümpelungsaktion des Vatikans zum Opfer gefallen.«

»Der Entrümpelte, mein Lieber, war Christophorus.«

»Von mir aus. Trotzdem. Wir sind Menschen des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Schlumpel ist von allein zurückgekommen. Weil sie Hunger hatte, und ganz ohne Franz.«

»Ich hab eine Stimme gehört«, sagte ich.

|269|»Das«, erklärte Konrad milde, »war die Stimme deines Unbewußten. Freud nennt das übrigens –«

»Freud«, sagte ich, »soll den Mund halten.«

»Nun komm schon. Werd wieder vernünftig.«

»Hol sie der Teufel«, sagte ich.

»Wen?« fragte Konrad.

»Die Vernunft.«

Konrad sagte nichts mehr. Er legte eine CD auf. Pastorale, letzter Satz: Frohe und dankbare Gefühle nach dem Sturm. Schlumpel auf dem Fensterbrett drehte den Kopf und sah mich an. Eine kleine rote Löwin mit Tigerstreifen, Schmuddelsocken und unbeschreiblichen grünen Glühbirnenaugenlämpchen.

Das Glück hat viele Gesichter. Eins der schönsten ist das einer Katze.

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