8 Die Limousine hält mitten auf der Avenida, an derselben Stelle wie immer.
Er steigt aus, und die Limousine fährt davon.
Er geht direkt in die Bar und bestellt sich einen Gin Tonic. Es ist dieselbe Bar. Und er der neue Stammgast.
Niemand meldet sich, als er über Handy anruft. Er tippt drei weitere Nummern ein. Nirgends meldet sich jemand.
Er kippt den Drink hinunter, wirft einige Münzen auf die verzinkte Theke und tritt hinaus auf die verdammte Avenida. Ein Pferdefuhrwerk, vollgestopft mit Touristen, rollt vorbei. Eine Frau hebt die Kamera und richtet sie auf ihn. Er starrt in das Objektiv. Die Frau lässt die Kamera sinken. Die Frau sieht ängstlich aus. Er hasst sie. Er hasst sie alle. Jetzt lachen sie. Er hasst ihr Lachen. Er kehrt in die Bar zurück und bestellt sich noch einen Gin Tonic. Der Barkeeper nickt, zeigt keine Verwunderung, mischt den Drink. Auf der Fernsehmattscheibe, die von der Decke hinter dem Barkeeper hängt, läuft ein Fußballspiel. Eine weiße Mannschaft gegen eine rote. Niemand scheint hinzusehen. Die Stimme des Kommentators klingt gelangweilt. Auf dem Spielfeld passiert nichts.
Peter bekommt seinen Drink und reicht das Geld mit einer abwehrenden Geste über die Theke, behalt das Wechselgeld. Er trinkt, und nach einer Weile legt sich das Rauschen in seinem Kopf. Verebbt langsam. Er muss es untersuchen lassen, wenn er nach Hause kommt. Haha. Ich habe einen stressbedingten Tinnitus, Doktor, ich weiß gar nicht, woher, hab keine Ahnung, wo der herkommt. Der Fernsehkommentator beginnt zu schreien, und Peter schaut auf. Die rote Mannschaft schießt ein Tor. Spieler küssen sich ab. Jemand in der Bar schreit, und jemand ruft etwas, und dann wird es wieder ruhig. Die Männer in der Bar reden nicht viel miteinander. Sie konzentrieren sich auf das Trinken. Das ist wie zu Hause. Spanier sind die Schweden des Mittelmeeres, die Nordschweden des Mittelmeeres. Er ist nie im richtigen Nordschweden gewesen, ist nicht bis zu den Hüften im Schnee versunken. Jetzt würde er das, selbst das, lieber als alles andere tun. Er würde alles lieber tun, alles, als das, was er tun soll. Das Glas in seiner Hand ist leer. Er trinkt trotzdem, es schmeckt nach nichts, es schmeckt schlecht. Der Barkeeper sieht ihn an, er nickt und hält das Glas wider besseres Wissen hoch. Das ist ein schöner Ausdruck, wider besseres Wissen, als ob es eine Wahl gäbe, als ob das Wissen eine Wahl hätte. So etwas gilt nur für den, der zu wenig weiß.
Das Glas in seiner Hand ist nicht mehr leer. Er trinkt. Es schmeckt nach Tannenreisig und Medizin, als wäre die Medizin aus Tannenreisig hergestellt. Aus Tannenreisig kann man prima Hütten bauen, das hat er als Kind oft gemacht, als kleiner Junge. Damals hat es noch inmitten von Stockholm Wald gegeben.
Genau das will ich, ich will eine Hütte aus Tannenreisig bauen und mich darin verstecken. Ich trinke nur noch das Glas leer, dann geh ich los und suche Tannenreisig.
Draußen hat sich der Abend um die Menschen verdichtet. Vorankommen ist schwer. Das Rauschen in seinem Kopf wird wieder lauter. Dagegen hilft nur Alkohol. Er macht einen Ausfallschritt, muss sich an der Hauswand abstützen, findet Halt mit der Hand, beruhigt sich. Das Rauschen wird schwächer. Er muss aufhören zu trinken. Wenn sich die Beine verheddern, muss man aufhören zu trinken.
Sie meldet sich nicht, als er sie auf ihrem Handy anruft. Die Tasten sind schwer zu erkennen, die miese Beleuchtung ist hier an der Wand auf der Avenida am miesesten. Das Licht des Tages mischt sich mit dem Licht der Dämmerung auf eine sinnlose Art. Er versucht noch einmal anzurufen. Die Straßenleuchten, die über der Fahrbahn hängen, sind defekt, schwanken im Wind wie schwarze Löcher in der Dämmerung.
Sie meldet sich immer noch nicht. Er stößt sich von der Wand ab wie ein Schiff von einer Kaimauer, nein, eine Jolle von einem Bootsanleger. Seine Beine tragen ihn, als er weitergeht. Es ist ein Gefühl, als ginge er über Wasser, über das Meer.
Sie meldet sich nicht. Er ruft an. Er kürzt den Weg durch den lächerlich kleinen Park ab, jetzt geht er die Straße zum Hotel hinunter, er schaut auf, jetzt hat er das Hotel erreicht, dort ist der Eingang, da ist die Rezeption. In der Rezeption ist niemand, es sind überhaupt keine Menschen da. Der Fernseher in der Ecke murmelt vor sich hin, das Fußballspiel ist zu Ende. Auf der Mattscheibe gleitet eine tote Landschaft vorbei, als er die Treppe hinaufläuft. Warum läuft er? Was veranlasst ihn zu laufen? Ist es der Alkohol? Macht der Alkohol seltsame Dinge mit ihm, veranlasst ihn zu laufen? Seltsame Dinge, denkt er.
Jetzt steckt er den Schlüssel ins Schlüsselloch. Ein altes Schloss, ein alter Schlüssel. Hotelschlüssel sind unüblich geworden, er ist Karten gewöhnt. Und dass die Gäste den Schlüssel mit sich herumtragen müssen, wenn sie das Hotel verlassen! Das musste man früher nie, den Schlüssel mitnehmen! Man konnte ihn abgeben, aber man konnte ihn auch mitnehmen. Das hier ist nicht in Ordnung.
Er schiebt die Tür auf. Drinnen ist es dunkel. Die Vorhänge scheinen zugezogen zu sein. Die schweren Vorhänge müssen vollständig zugezogen sein.
»Rita? Rita?«
Seine Augen gewöhnen sich langsam an das Licht in dem halbdunklen Vorraum. Die Basttasche mit den Badesachen liegt auf dem Fußboden, die Badesachen halb verstreut. Die Sandalen liegen auch auf dem Boden, aber nicht ordentlich nebeneinander. Sie stellt ihre Sandalen grundsätzlich akkurat ausgerichtet hin, ganz gleich, wie nötig sie zur Toilette muss, bloß keinen Sand ins Bad tragen. Er geht ins Bad, dort ist kein Sand, nichts, es ist nichts zu hören.
»Rita?«
Was soll das verdammte, sinnlose Rufen? Warum ruft er? Um das Heulen in seinem Kopf zu übertönen, zu vertreiben?
In der Pantry liegt die Saftflasche in einer Pfütze, die noch nicht ganz verdunstet ist. Die Flüssigkeit hat eine unangenehme Farbe, so unangenehm wie der giftige Schein der Abenddämmerung.
Auf dem Bartresen in der Pantry liegt ein aufgeschlagener Notizblock. Er liest:
ICH KAUFE MILCH
Warum hat sie das geschrieben? Wenn sie unterwegs ist, um einzukaufen, kann sie sich doch an dem verdammten Telefon melden. Die Mitteilung hätte etwas ausführlicher sein müssen.
Innerhalb von Sekunden fällt ihm ein, dass es sein eigener Zettel ist, den er heute Morgen geschrieben hat, es ist seine Schrift.
Er geht ins Schlafzimmer. Auch hier sind die Vorhänge zugezogen. So haben sie das Zimmer heute Morgen zurückgelassen, sie hat es so zurückgelassen. Er war zu dem Zeitpunkt schon draußen in der Wildnis.
Ihre Kleider hängen im Schrank, alle Kleider, soweit er es überblicken kann. Ihre Schuhe stehen auf dem Fußboden.
Auch diesmal meldet sie sich nicht, als er ihre Nummer wählt. Er geht auf den Balkon, das Handy gegen sein Ohr gepresst. Unten liegt der Hotelpool, einige Gäste sitzen an der Bar, im Pool taucht ein kleiner Junge. Es ist wieder Happy Hour, hier ist immer Happy Hour.
Die Schwiegermutter will er nicht anrufen. Es gibt keinen Grund zur Sorge. Es gibt keinen Grund, andere zu beunruhigen.
Als er die Treppe herunterkommt, sieht er den Jungen wieder in den Pool tauchen.
Die Frau in der Rezeption schaut ihn an, es scheint dieselbe zu sein wie beim Einchecken.
»Hat meine Frau eine Nachricht hinterlassen?«, fragt er. »Rita Mattéus? Eine Nachricht?«
Die Frau tippt auf der Tastatur, die sie vor sich hat. Der Fernseher hinter ihr ist eingeschaltet. Irgendwo brennt es. Häuser brennen.
Die Frau blickt auf.
»Nein, bedaure, keine Nachrichten.«
Warum sagt sie »bedaure«? Glaubt sie, dass er eine Nachricht erwartet hat? Glaubt sie, dass er und Rita ausschließlich über Nachrichten miteinander kommunizieren? Warum glaubt sie das?
»Hat sie ihren Schlüssel abgegeben?«, fragt er.
Die Frau verneint.
»Woher wollen Sie das wissen?«, fragt er.
Sie antwortet, dass sie den ganzen Nachmittag in der Rezeption Dienst hatte.
»Können Sie trotzdem einmal nachsehen?«
»Es ist ungewöhnlich, dass jemand einen Schlüssel dalässt.«
»Jetzt sehen Sie schon nach, verdammt noch mal!«
Sie zuckt zusammen. Sie geht zu einem paar Meter entfernten Schrank, öffnet die Schranktür. Eine selten plumpe Art, die plumpen Schlüssel der Gäste zu verwahren. Sie dreht sich um.
»Nein, Ihre Frau hat keinen Schlüssel abgegeben.«
»Sie ist nicht im Appartement. Im Zimmer.«
Die Frau zuckt mit den Schultern. Mir doch egal.
»Hat jemand nach uns gefragt? Oder nach mir?«
»Nicht, seit ich Dienst habe.«
Im Hintergrund brüllt der Fernseher. Es sieht aus, als würden Flammen aus der Mattscheibe schlagen.
»Es Torremolinos«, sagt die Frau.
»¿Una bomba?«, fragt er.
Sie zuckt mit den Schultern, aber diesmal nicht gleichgültig. Sie hat es vermutlich verstanden. Der Terror ist im Paradies eingezogen.
Er legt das Handy auf den Bartresen in der Pantryküche. Es ist schlimmer, einen Anrufbeantworter anzurufen, als alles andere. Anrufbeantworter sind die dämlichste Erfindung, die es gibt.
Sie ist unterwegs und kauft die verdammte Milch, die sonst nicht gekauft wird.
Sie ist unterwegs und nimmt einen Drink. Sitzt in einer Bar und beobachtet die Leute. Sie mag das, Leute beobachten.
Sie geht spazieren. Ein entspannter Spaziergang am Wassersaum. Dorthin wird er gehen. Dort sollte er sein. Dort ist sie.
Er nimmt das Handy wieder auf und versucht eine Nummer einzugeben. Seine Finger sind zu groß, die Tasten zu klein, sie sind für Kinderfinger gemacht. Er legt es wieder zurück. Ihm tropft Schweiß in die Augen. Er schließt sie. Es brennt. Er wischt sich über Augen und Stirn. Unter den Achseln hat er große Schweißflecken, sie sind gut zu sehen, obwohl das Hemd hell ist, alles ist in dem Spiegel zu sehen, in den er jetzt starrt. Er könnte in einem Werbespot für Deodorant auftreten. Dieser Mann benutzt das falsche Produkt. Hier ist das richtige. Hier ist ein Bild von dem Mann, nachdem er das richtige Produkt benutzt hat. Aber nicht jetzt. An allen anderen Tagen, aber nicht heute. Auf dem hinteren Teil der Anrichte steht eine Flasche Lariós Gin, er ist mit zwei Schritten dort, nimmt die Flasche, schraubt sie auf und setzt sie an die Lippen. Ein tiefer Schluck, er verschluckt sich, bekommt einen Hustenanfall, Gin spritzt aus seinem Mund über die Arbeitsplatte. Er beugt sich über die Anrichte, hustet und würgt, als müsste er Tannenreisig auskotzen, und in dem Augenblick klingelt das Handy, das er auf die Anrichte gelegt hat.
Er versucht zu atmen.
»J…ja?«
»Hallo, Papa!«
»Ha…hallo, Schätzchen.«
Eine Stimme aus der guten Welt. Er hatte sie vergessen, er hatte sie tatsächlich vergessen.
»Deine Stimme klingt komisch, Papa. Bist du erkältet?«, fragt Magda.
»Nein … nein. Ich habe nur etwas in die falsche Kehle bekommen.«
»Ist es weg?«
»Was?«
»Bist du schwer von Kapee, Papa? Das, was in deiner Kehle war.«
»Ja, es ist weg … jetzt ist es weg.«
»Habt ihr heute schönes Wetter gehabt?«
»Nur. Schönes. Wetter.«
»Deine Stimme klingt wirklich komisch, Papa.«
Er hustet noch zweimal.
»Kann Mama dir nicht auf den Rücken klopfen?«
»Doch, da …«
»Jetzt rate mal, Papa!«
»Was?«
»Rate, ob es hier regnet.«
»Ich rate, dass es regnet.«
»Richtig! Jetzt muss ich Mama etwas fragen.«
»Ich ka…«
»Ich bin bei uns zu Hause«, unterbricht ihn Magda. »Wir suchen einen Pullover. Oma sucht auch. Isa sucht auch. Mamas Pullover. Sie hat erlaubt, dass ich ihn anziehen darf, wenn ihr in Urlaub seid. Er ist rosa und blau. Aber wir können ihn nicht finden. Ich hab ÜBERALL gesucht. Wir wollen uns verkleiden. Oma will eine Maskerade machen.«
»Kann ich bitte mit Oma sprechen?«
»Nein! Erst muss ich Mama nach dem Pullover fragen.«
»Mama kauft gerade etwas ein. Sie … kommt bald wieder.«
»Ich glaube, du schwindelst.«
»Nein, ich schwindle nicht!«
»Sag ihr, dass sie sofort anrufen soll und mir sagen, wo der Pullover ist!«
»Versprochen, Mäuschen. Gibst du mir jetzt mal die Oma ans Telefon?«
Er reibt sich mit der freien Hand über die Augen. Schweiß ist auf das Handy getropft. Es fühlt sich an wie ein Stück Seife. Er wischt das Telefon am Hosenbein ab, drückt es wieder ans Ohr.
»Ja? Hallo?«
»Bei euch alles in Ordnung, Gun?«
»Ja.«
»Nichts … Besonderes?«
»Nein … Was ist los, Peter? Deine Stimme klingt merkwürdig.«
»Das hat Magda auch gesagt, es ist nur die Wärme. Hat heute Nachmittag jemand nach mir gefragt? Kürzlich? Heute Abend?«
»Nein.«
»Es hat niemand von hier angerufen?«
»Wie meinst du das? Dich von Spanien aus angerufen?«
»Ja.«
»Nein, nicht seit ich da war. Und die Mädchen sind nicht allein gewesen. Rita hat angerufen, aber das ist schon einige Stunden her.«
»Wann war das?«
»Oje, schrei doch nicht so, Peter. Ist bei euch etwas passiert?«
»Nein, nein. Wann hat sie angerufen?«
»Das mag wohl … vier Stunden her sein. Dreieinhalb vielleicht.«
»Was hat sie gesagt?«
»Dass alles in Ordnung ist. Dass sie vielleicht eine Weile an den Strand gehen wollte.«
Er schweigt.
»Ist sie nicht dort, Peter?«
»Wo?«
»Ja, was weiß ich, am Strand oder dort, wo ihr seid.«
»Sie … wollte etwas besorgen.«
»Du redest tatsächlich etwas wirr«, sagt Gun. »Es ist nicht gut, wenn man sich zu lange der Sonne aussetzt.«
»Nein … da hast du wohl recht. Ich leg mich ein wenig hin.«
»Und sei vorsichtig mit dem Alkohol.«
»Ja, ja.«
»Gut.«
»Ich ruf später noch mal an … später heute Abend«, sagt er. »Ich rufe an, wenn wir gegessen haben. Es wird nicht spät.«
In den letzten Minuten der Dämmerung sind die Wellen dünn und weich. Er geht am Wassersaum auf und ab, die Wellen spülen über seine Füße. Das Wasser ist nicht kalt. Die Vermieter haben die aufgestellten Liegestühle gerade ausgerichtet. Er ist schon zweimal an den Reihen entlanggegangen. Er ist der einzige Mensch hier unten, eine einsame Silhouette. Ein Wolkenfetzen hoch oben im Süden sieht aus wie ein Bergmassiv.
Auf der anderen Seite der Promenade, hundertfünfzig Meter von Peter entfernt, beobachtet ihn jemand. Dazu ist kein Fernglas nötig. Der Betrachter steht an einem offenen Fenster, das wie ein dunkles Loch in der Fassade des Hauses an der Promenade klafft. Menschen bewegen sich vorbei, auf dem Weg in die blaue Stunde.
Der Betrachter hebt ein Spezial-Fernglas vor die Augen. Peters Bild erscheint wie ein Negativ, schwarz wird weiß. Er ist fast gänzlich weiß, eine Silhouette in dem unnatürlichen Licht.
Peter fingert an seinem Handy, das ist durch das Fernglas zu erkennen.
Es klingelt. In unmittelbarer Nähe des Beobachters klingelt es. Auf dem Tisch neben ihm vibriert ein Handy. Er beobachtet weiter den Mann am Strand. Der Mann lässt den Arm sinken. Das Telefonklingeln und Vibrieren auf dem Tisch hören auf.
Er bewegt sich zwischen den Touristen, die Läden betreten, an Cafétischen, an Bartresen sitzen, die unter den Palmen lachen, flanieren, joggen, in offenen Sportwagen vorbeigleiten, sich in Pferdekutschen spazieren fahren lassen. Die Hitze hat etwas nachgelassen, es ist aber immer noch sehr warm. Er spaziert durch einen nervösen Traum. Wieder hat er ihre Nummer gewählt, er ist wieder im Hotel gewesen, hat vor dem Fleck auf dem Steinfußboden gestanden, die Flasche aufgehoben, hat den Fleck umkreist.
Er hat in der Rezeption nachgefragt, ob sie jemanden das Hotel betreten sehen haben, der hier nicht hingehört. Sie haben ihn nicht verstanden. Sie haben ihn angeschaut, als hielten sie ihn für betrunken. Er ist betrunken, aber er weiß noch, was er tut und wie er heißt. Wie er jetzt heißt, als er durch die Straßen um den Apfelsinenmarkt geht. Er ist nicht betrunken, heute Abend wird er nicht trinken. Bevor er den Tresen der Rezeption verließ, hat er sich für den Champagner bedankt. Eine nette Geste, hat er gesagt. Sie haben ihn verständnislos angesehen. Er war noch einmal umgekehrt. Der Champagner, hatte er gesagt. Der Cava. Eine Willkommensflasche. With compliments von der Hotelleitung. Sie hatten nicht verstanden, wovon er redete. Sie haben einen Obstkorb auf den Tisch gestellt. Sie spendieren keinen Cava oder Wein. Das gehört nicht zu ihren Gepflogenheiten. Obstkörbe sind ihre Gepflogenheit. Zum Teufel, jemand hat uns Cava gebracht, sagte er. Haben Sie gesehen, wer das war?, fragten sie. Nein, meine Frau, meine Frau hat die Flasche entgegengenommen. Er sah ihr vielsagendes Lächeln. Dann sagten sie nichts mehr. Sie hatten verstanden. Er hätte dem Chefportier, oder was er war, in die Fresse schlagen mögen. Es war nicht viel Phantasie nötig, um zu verstehen, was für Gedanken dem Kerl durch den Kopf gingen.
Er war gegangen.
*
Er bewegt sich durch einen Wirbelstrom unterschiedlicher Lichter durch die Stadt. Alle Gesichter, die sich ihm zuwenden, sind feindlich. Sie wissen etwas, das er nicht weiß. Wissen etwas von Rita, wissen etwas von ihm. Sie wissen, alle wissen alles über ihn. Sie wissen, dass er ein Fremder ist. Sie sehen das Opfer, wenn sie ihn sehen. Alles ist seinen Augen abzulesen. Seine Augen leuchten wie Asche in der Dämmerung, absorbieren alles Licht, schwarzes Licht, achtzig Prozent schwarzes Licht.
Das Schild über dem Eingang zu dem Gebäude ist grau wie der Beton, schwarz wie die Uniformen. Darauf steht in Neonschrift POLICIA NACIONAL. Er steigt die Treppe unter den Leuchtbuchstaben hinauf, die mannshoch, fast so groß wie ein Mensch ist. Seine Hand zittert, als er die Tür aufschiebt wie das Tor zu einem schwarzen Schloss.
Die Frau hinter der Glasluke hat ihn noch nicht bemerkt, den Fremden. Morgen weltberühmt, heute ein Niemand.
Die Wände in dem Raum sind weiß gekalkt, das Licht der Neonröhre unter der Decke ist unbarmherzig und nackt. So muss es sein. Das ist die Regel Nummer eins. Wer immer hier eintritt, tut das in Nacktheit und Unbarmherzigkeit. Reiß einem Menschen die Kleider vom Leib, und er wird den Tod wie eine Barmherzigkeit empfinden.
Einige der Personen, die auf Stühlen an der Wand sitzen, sind Ureinwohner, alle anderen Touristen, Skandinavier mit blonden Haaren und verbrannter Haut, hirnlose Blondinen, blaue Augen und verbrannte Haut, zwei Frauen und ein Mann. Sie glotzen ihn an, als hielten sie ihn für einen Arzt oder Botschaftsangehörigen, der ihnen Hilfe bringt. Alle anderen starren geradeaus ins Leere. Die Skandinavier haben keine sichtbaren Verletzungen. Wahrscheinlich geht es um Taschenraub, Diebstahl. Jedes Mal dieselbe Verwunderung, dieselbe Naivität.
Die Frau hinter der Scheibe macht eine gelangweilte Geste in Richtung der Stühle, will nichts notieren, keine Namenserfassung.
Durch eine Tür neben dem Empfangsschalter betritt ein Polizist in schwarzer Uniform den Raum. Sein Gesicht ist ausdruckslos. Dies ist ein Abend von vielen in seinem Leben. Er wirft einen Blick in ein Dokument und schaut auf.
»¿Señor Barajas?«
Ein Mann von etwa sechzig Jahren erhebt sich langsam und schwerfällig und folgt dem Polizisten durch die offene Tür, die sich hinter ihnen schließt.
Eine ältere Frau schläft halb zusammengesunken mit offenem Mund. Ein Mann mittleren Alters in einem abgetragenen Anzug hustet hohl. Tot, dieser Ort ist tot, nichts wird hier geschehen, nichts.
Draußen sind die Zikaden zu hören, das Zirpen dringt durch die nicht verglasten Fensteröffnungen. Die junge Dunkelheit strömt herein und mischt sich mit der nackten Deckenbeleuchtung. Es ist diese Art von Dunkelheit, die Menschen blind macht. Er steht auf und geht.
Aitor Usetxe sitzt in einem Ledersessel. Das Zimmer wird von einer Stehlampe und einer Straßenlaterne erhellt, die an einem Draht über der Strandpromenade vor dem Balkon hängt.
Er raucht eine dünne Zigarre, der Rauch verbreitet sich im Raum.
An der Tür steht ein zweiter Mann. Aitor gibt ihm ein Zeichen, und der Mann verlässt den Raum. Als er die Tür öffnet, fällt kein Licht ins Zimmer.
Draußen rollt das Meer, es kann nicht weit bis zum Meer sein. Die Brandung hört sich nah an, so nah, als könnte sie ins Haus spülen.
»Soll ich Ihnen etwas holen lassen? Eine Tasse Kaffee? Mehr kaltes Wasser? Vielleicht ein Glas Wein?«
Die Frau, die ihm gegenübersitzt, schüttelt den Kopf. Vor ihr steht ein Glas Wasser. Sie hat das Strandkleid gegen Straßenkleidung gewechselt.
»Ich will meine Kinder anrufen«, sagt sie. »Das ist das Einzige, was ich im Augenblick will.«
»Natürlich.«
»Ich will sie jetzt anrufen.«
»Ich werde für ein Telefon sorgen.«
Aber er rührt sich nicht. Sie schaut zum Balkon. Die Gardinen bewegen sich, der Wind ist stärker geworden und die Brandung lauter.
Er rührt sich noch immer nicht. Nur der Rauch zieht langsam durch das Zimmer.
Über der Fassade hing ein Neonschild, AVIS. Plötzlich stand er dort drinnen und jetzt sitzt er im Auto und fährt am Meer entlang in Richtung Westen. Die Bucht ist schwarz, die Städte im Westen glitzern, als wäre es eine einzige Stadt, die sich an der Küste entlangzieht. Alles fließt ineinander, wird zusammengepresst. Er fährt auf der linken Spur, schnell, permanent auf der linken Spur.
Das Meer ist nah, Wasser umspielt seine Füße, die siebte Welle schwappt über seine Sandalen. Er trägt Shorts und ein Leinenhemd, der Wind ist warm. Das Wasser in der kleinen Bucht ist warm, die Landestelle, die Abholstelle.
Hier ist es gewesen.
Seine Hände im Sand. Er zieht sie heraus und wirft eine Faustvoll Sand in Richtung Meer.
Wenn er die Augen schließt, sieht er die Gestalten, hört die Schreie und die Schüsse, er kann die Schüsse über dem Sand hören.
Er sieht einen Mann durch den Sand laufen, einen Mann, der sich vom Ufer entfernt, einen Mann, der wegläuft. Die Geräusche werden schwächer, während der Mann läuft, immer schwächer hört er, was hinter ihm passiert, schließlich hört er nur noch seinen eigenen Atem. Über ihm leuchtet der Mond. Es war nie die Sonne. Es war der Mond. Auf der schmalen Straße, die es damals noch gab, wartete hinter den Sanddünen ein Auto auf ihn. Er warf sich in den Fond und legte sich auf den Boden. Das Auto startete mit durchdrehenden Reifen und verschwand. Die roten Rücklichter wurden immer kleiner, als es verschwand. Der Himmel über allem war sehr groß und ging bald in graue Morgendämmerung über. Sein Gesicht wurde vom Mondlicht beleuchtet.
So würden ihn einige in Erinnerung behalten.
Er hatte Flugzeuge abheben und landen sehen, die Positionslichter blinkten wie rote Sterne am Himmel. Er sah sie von dem Auto aus, das ihn fortbrachte vom Strand. Dem Strand des Todes, dem Strand des Verrats, der Gerechtigkeit, der Ungerechtigkeit. Die Politik, alles war Politik und doch keine Politik, Liebe, es war auch Liebe. Es griff immer alles ineinander.
Er schloss die Augen und dachte an die Zukunft. Er schaute nicht zurück, niemals mehr zurück.
Das Auto hatte irgendwo in der Dämmerung angehalten.
Er war in einen Hangar geführt worden.
In einem Raum hatte ihm ein Mann einen Pass zugeschoben.
Er war geflogen, war durch freundliche Wolken geflogen.
Er war zu Hause angekommen.
Er war ein anderer geworden.
Rita hatte ihn angelächelt.
Sie hatte den Brautschleier abgenommen, als er auf dem Bett lag.
Ein Spaziergang mit Kinderwagen.
Ein Foto, auf dem er einen Karton in ein Haus trägt, im Hintergrund steht ein Laster, ein Umzugswagen.
Diskussionen in dem neuen Büro, überall helles Licht, alles ist neu.
Magda und Isa lachen, wenn er sie in der Doppelschaukel schaukelt.
Die Familie beim Frühstück.
Laika in der Sonne auf der Treppe.
Er bekommt einen Umschlag von DHL.