5 Damals. Er hatte etwas geschrien und einen Schrei zur Antwort bekommen. Oder waren es zwei Schreie gewesen?

Das Licht war mit Lichtgeschwindigkeit gekommen, hatte sich von dem weißen Berg herabgestürzt. Alles war weiß geworden. Die Schreie hatten sich vertausendfacht.

»Stehen bleiben!«

»Rührt euch nicht!«

»Hände hoch!«

»Ich schieße!«

Und dann hatten sie geschossen.

Da war er außer Schussweite gewesen.

Jemand wedelte in die Richtung, in die er laufen sollte.

Ein diskretes Wedeln. Vielleicht war es auch nur eine Kopfbewegung gewesen. Er hatte das Signal wahrgenommen.

Das waren die guten Mächte.

Am Ende war er dort angekommen, wo er hingehörte. Zu den Guten.

Die Guten hatten ihn gerettet.

Die Guten hatten ihm zu dem Leben danach verholfen.

Die Guten waren seine Begleiter gewesen.

Er war ein guter Mensch.

Das sagte er sich jeden Morgen, wenn er sein Gesicht zum ersten Mal im Spiegel sah.

Du bist ein guter Mensch, guter Mensch, guter Mensch.

Er sieht sein Gesicht im schwarzen Fenster der Limousine. Das ist alles, was er sieht. Er sieht nichts anderes.

Sie fahren in nördliche Richtung, haben die Avenida verlassen, fahren weiter nach Norden, sind immer noch in der Altstadt. Die Häuser dürfen leben, bis sie von allein sterben, die alten Häuser leben weiter über Generationen, alle erweisen sich barmherzig gegen die Häuser.

Im Auto riecht es nach Leder. Neues Leder, wie frisch von einem Tier gekommen. Tieren wird keine Barmherzigkeit erwiesen, nicht in diesem Land, denkt er. Tiere haben in diesem Land keine Seele, man darf sie töten, ohne etwas dabei zu fühlen. Die Menschen sind heilig. Doch das ist eine Lüge, das hat er gründlich gelernt.

Ein Mann sitzt neben ihm auf dem Rücksitz der Limousine.

Er trägt einen weißen Anzug. Der Anzug leuchtet im Dämmerlicht, das sich auf die Altstadt senkt. Man kann nicht mehr tief in die Gassen hineinschauen. Den Fahrer kann er nicht sehen, nur den Mann in dem weißen Anzug.

Er spürt den Schweiß unter seinem Hemd, an den Beinen, im Schritt, in den Haaren. Der Mann neben ihm schwitzt nicht. Männer, die teure Anzüge tragen, schwitzen in diesem Land nicht.

Der Mann streckt die Hand aus.

»Guten Abend, mein Freund. Willkommen, willkommen«, sagt er auf Spanisch.

Peter schaut auf die Hand des Mannes. Sie ist genauso weiß wie der Anzugärmel. Alles ist weiß, weiß wie die Dämmerung am Strand. Es gibt nichts Weißeres.

Der Mann zieht seine Hand zurück.

»Ich verstehe nicht«, sagt Peter auf Englisch.

»Du hast einmal besser gesprochen als ich«, antwortet der Mann auf Englisch.

»Welche Sprache?«

»Spanisch natürlich!«

Peter antwortet nicht.

»Die richtige Sprache wolltest du nie lernen.«

»Warum auch?«

»Ja, warum«, sagt der Mann und richtet den Blick nach vorn, weg von Peter.

»Wie viele seid ihr, die die Sprache heute noch sprechen?«

»Immer noch genauso arrogant wie früher, Berger.«

»Ich heiße nicht mehr Berger.«

»Nein, ich weiß.« Der Mann dreht sich wieder zu ihm um. »Erinnerst du dich, wie ich heiße, mein Freund?«

»Bin ich dein Freund?«

»Erinnerst du dich an meinen Namen, mein früherer Freund?«

»Nein.«

»Er fängt mit A an.«

»Ich weiß.«

»Du erinnerst dich also doch?«

»Ich erinnere mich, dass dein Name Aitor ist, ja.«

»Gut. An was erinnerst du dich außerdem?«

Peter antwortet nicht. Sie haben die alten Slums hinter sich gelassen. Die Häuser sind neuer, seelenloser, er sieht das Viadukt, das die neue Autobahn trägt. Dort gibt es überhaupt keine Seele. Er sieht die Berge. Wir sind auf dem Weg in die Berge, denkt er. In den Bergen wird es ein Ende nehmen. Vom Strand aus kann man die Berge sehen, und von den Bergen kann man den Strand sehen. Ich möchte noch einmal den Strand sehen. Noch ein einziges Mal möchte ich Rita umarmen und Magda und Isa, nur ein einziges Mal.

»Woran denkst du, Berger?«

»Dass ich meine Kinder noch einmal im Arm halten möchte, bevor ich sterbe.«

»Wirst du sterben? Bist du krank?«

»Warum bin ich sonst hier?«

»Dann kannst du dich also doch erinnern?«

»Woran soll ich mich erinnern?«

»Daran, was du getan hast. Das ist alles.«

»Ich habe nichts getan.«

»Sieh einer an. Du hast nichts getan.«

»Ich habe niemanden erschossen, Aitor. Ich wusste nichts.«

»Du hast nichts getan. Du wusstest nichts.«

»Um was geht es eigentlich, Aitor? Warum bin ich hier? Und zusammen mit meiner Frau. Warum habt ihr uns gezwungen hierherzukommen?«

»Niemand hat dich gezwungen.«

»Ach nein?«

»Es sind deine eigenen Taten, die dich zwingen zurückzukommen, Berger.«

»Du täuschst dich. Es ist alles ein Missverständnis. Rita hat mit der Sache nichts zu tun.«

Aitor antwortet nicht. Er scheint die Berge zu betrachten. Peter stellt fest, dass das Auto angehalten hat. Aitor hebt die Hand. Sie fahren weiter, das Auto biegt in einen Verkehrskreisel ein und fährt westwärts weiter.

»Warum bin ich hier, Aitor?«

Der Mann in dem weißen Anzug dreht sich zu ihm um.

»Das erfährst du in fünfzehn Minuten. Würdest du bitte so freundlich sein, so lange zu schweigen.«

*

Rita legt den Hörer auf. Die Kinder hatten kaum Zeit, mit ihr zu reden. Die Großmutter hat den ganzen Abend verplant, und der hat gerade angefangen. Magda wusste, dass es ein Abenteuer werden würde, Isa auch. Es würde ein spannender Abend werden, bis zum Schlafengehen.

Sie sitzt im Wohnzimmer des Hotelappartements. Es ist sauber, eins der besseren Hotels am Meer. Sie haben Glück gehabt.

Die Balkontür steht offen. Ein Windzug bewegt die Gardine, und durch die Glaswand fällt ein Sonnenstrahl, der sich wie ein goldenes Band durch das Zimmer schlängelt.

Es klingelt zweimal an der Tür. Dann ist Peter also schon zurück.

Sie steht auf, geht durch den Vorraum und legt die Hand auf die Klinke. Auf der anderen Seite der Tür hört sie ein Husten. Es klingt fremd.

»Ja?«, sagt sie auf Englisch.

»Room service«, antwortet eine Männerstimme durch die Tür.

»Ich … habe nichts bestellt.«

»Is compliment from management, Señora.«

Ein Gruß des Hauses. Sie dreht sich zum Appartement um. Hatte nicht ein Obstkorb auf dem Tisch gestanden? Mit einem Kärtchen? Sie kann sich plötzlich nicht mehr erinnern. Sie sieht nur das Band aus Gold am anderen Ende des Vorraums.

Mit einem merkwürdigen Gefühl öffnet sie die Tür einen handbreiten Spalt. Als ob sie in Gefahr wäre. Als befände sie sich an einem feindseligen Ort.

Sie sieht einen Mann in weißer Jacke mit einem Tablett, auf dem eine Flasche und zwei hochstielige Gläser stehen. Die Jacke erkennt sie, so eine Jacke tragen alle Hotelangestellten. Der Mann lächelt. Ihn kennt sie nicht.

»A bottle of cava from management, Señora.«

Sie öffnet die Tür ganz, und der Mann geht an ihr vorbei durch den Vorraum ins Zimmer. Dort stellt er das Tablett auf einen Tisch.

Sie folgt ihm.

Er dreht sich zu ihr um, nickt und lächelt. Sie versucht sich ebenfalls an einem Lächeln.

Der Mann lässt rasch einen Blick durch das Zimmer schweifen, als sähe er es zum ersten Mal. Vielleicht ist er noch neu, denkt sie.

Er geht an ihr vorbei zurück zur Tür.

»Guten Abend, Señora.«

»Guten Abend.«

Sie trägt ihre Handtasche an einem Riemen über der Schulter und holt die Brieftasche heraus, greift einen Schein und reicht ihn dem Mann. Er nimmt ihn entgegen und verbeugt sich, ohne einen Blick auf den Schein zu werfen.

Die Limousine setzt Peter mitten auf der Avenida ab. Er sagt nichts, als er aussteigt. Er sieht das Auto wie einen großen schwarzen Raubfisch durch den Verkehr des Boulevards pflügen. Er schaut auf seine Armbanduhr, und ihm wird klar, dass er eine Stunde im Bauch des Raubfisches verbracht hat. Oder waren es zwei?

Ein Paar mittleren Alters überquert den Zebrastreifen, als das Auto vorbeifährt. Es wird von den Lichtern der Stadt angestrahlt wie Schauspieler auf einer Bühne. Die beiden sind blass und rot, erst kürzlich eingetroffene Touristen. Wie er. Sie sehen aus, als kämen sie aus dem Norden, was keine Überraschung ist, denkt er. Hier gibt es kaum andere Touristen als uns Nordländer.

Das Paar hat die sichere andere Straßenseite erreicht. Beide tragen bunte Bermudashorts und identische weiße T-Shirts. Sie sind beide dick. Peter verabscheut sie auf die gleiche Art, wie er sich selbst verabscheut.

Seine Hand, die er jetzt von sich streckt, zittert.

Die Touristen entfalten einen Stadtplan. Sie schauen auf, blicken in seine Richtung, als hielten sie ihn für einen Einheimischen, als wäre das hier seine Stadt.

Er flieht in eine Bar. Jetzt erkennt er alles wieder, nur diese Bar kennt er nicht.

Der Schnaps, den er bestellt, ist zu klein. Er bestellt ein zweites Glas und noch eins. Es sind kleine Gläser. Der Schnaps hilft, dass seine Hand aufhört zu zittern, dass sein Körper aufhört zu zittern.

Er verlässt die Bar, drängelt sich durch die Menschenmenge. Es sind viele Gäste in der Bar, als wäre es das letzte Stündlein auf Erden.

Draußen sind genauso viele Leute unterwegs. Alle sind draußen. Die ganze Stadt ist auf den Beinen. Alle, die aus dem Norden gekommen sind, laufen hier herum. Alle lachen, als wäre das Leben ein einziges großes Gelächter, ein einziges großes Fest.

Er hält das Handy in der Hand. Er begreift nicht, warum er nicht sofort angerufen hat, als er das Raubtier verlassen hat. Seine Finger zittern wieder. Er drückt auf die Tasten, er braucht Schnaps, er braucht Zeit.

»Peter, hallo.«

Er hört seinen Namen, hört ihre Stimme. Er muss die Nummer eingegeben haben, sie muss seinen Namen auf dem Display gelesen haben.

»Ja … ich bin’s. Wie geht es?«

»Ich höre, dass du es bist.«

»Alles … klar?«

»Deine Stimme klingt merkwürdig.«

»Nein, nein.«

»Wo bist du?«

»Mitten in der Stadt. In zehn Minuten bin ich bei dir.«

»Okay.«

Er hört sie gähnen, als hätte er sie geweckt.

»Ich bin ein bisschen eingenickt«, sagt sie.

»Bis gleich«, sagt er.

»Ich glaube, ich bin zu müde, um heute Abend noch zum Essen auszugehen«, sagt sie. »Vielleicht essen wir eine Kleinigkeit im Hotel.«

»Okay.«

»Du bist fast … zwei Stunden weg gewesen«, sagt sie. »War es interessant?«

»Was?«

»Na, die Konferenz.«

»Ich weiß nicht recht. Ziemlich dünn besetzt.«

»Dünn besetzt?«

»Es gibt nur wenige Seminare.«

»Dann haben sie dich also zu einem richtigen Urlaub eingeladen.«

»Scheint so. An den wenigen Vorträgen, die angeboten werden, muss ich wohl teilnehmen.«

»Vergiss nicht, dass du die Kinder anrufen wolltest.«

»Das mach ich jetzt. Tschüs.«

Er drückt auf Aus und gibt eine neue Nummer ein, während er in eine schmale Seitenstraße auf der anderen Seite des Parks einbiegt. Er lässt es lange klingeln, aber niemand meldet sich. Er schaut vom Display auf. Er ist allein auf der Straße, als hätten alle guten Geister die Stadt verlassen. Er hört keinen Ton, nur das Rauschen in seinem Kopf, das immer lauter wird, statt abzuebben. Es kann nicht das Rauschen des Meeres sein, aus dieser Entfernung ist es nicht mehr zu hören. Er wählt den kürzesten Weg zum Meer und biegt nach rechts ab, geht an einem Hotel vorbei, das noch aus der alten Zeit stammt. Nach fünfzig Metern hat er die Strandpromenade erreicht und hört Meer und Menschen zurückkehren. Er nimmt die Treppe zum Strand hinunter, zieht die Schuhe aus und geht durch den Sand.

Jetzt steht er am Wassersaum. Das Meer kommt in langen Wellen auf ihn zugerollt, glitzernd im Lichterglanz der Stadt.

Als er die Hotellobby betritt, steht der Portier vor dem Fernseher, der an der Wand hinter dem Tresen hängt. Einige andere Personen stehen auch da und schauen auf den Schirm.

Peter sieht Flammen auf dem Bildschirm, vielleicht an einem Strand, und hinter den Flammen ein Haus. Die Szenerie kommt ihm bekannt vor, nicht nur die Flammen. Er ist in diesem Gebäude gewesen. In der anderen Zeit ist er dort gewesen, in der bösen Zeit, der unbeschreiblich glücklichen Zeit.

Der Portier dreht sich zu den Gästen um und macht eine hilflose Handbewegung.

»¿Que pasa?«, fragt Peter.

»En Estepona. ¡Esta tarde! ¡Estepona!«

Der Mann schüttelt wütend den Kopf. Er sieht aus, als hätte er Angst. In seinem Gesicht spiegelt sich der Terror. Peter erkennt ihn wieder. Terror ist Strafe für etwas, das man nie getan hat.

Er geht hinauf zu dem Hotelappartement, klopft an die Tür und nennt seinen Namen.

Rita öffnet. Sie sieht ausgeruht aus, glücklich.

»Hast du Milch mitgebracht?«, fragt sie.

»Mist«, sagt er. »Die hab ich vergessen.«

»Nicht schlimm. Wir haben eine Flasche spanischen Champagner von der Hotelleitung bekommen. Champagner ist besser als Kaffee.«

»Ich habe bei deiner Mutter angerufen, aber da hat sich niemand gemeldet.«

»Wahrscheinlich machen sie einen Spaziergang. Ich habe vorhin mit ihnen gesprochen.«

»Das war vorhin«, sagt er, »nicht jetzt.«

Er bleibt im Vorraum stehen und gibt eine Nummer in sein Handy ein, lässt es klingeln, steckt das Handy weg, schaut auf.

»Scheiße.«

»Was ist los? Du wirkst ja richtig aufgebracht.«

»Was treiben die um diese Zeit noch draußen?«

»Es ist doch gerade erst kurz nach sieben. Mama macht um diese Zeit gern einen kleinen Spaziergang um den Block … Übrigens hat sie gesagt, dass sie gutes Wetter haben, klar und mild.«

Er schweigt.

»Und außerdem hat sie gesagt, dass sie vielleicht in unser Haus ziehen, weil das bequemer für die Kinder ist.«

»Warum kann sie sich nicht ein Handy anschaffen wie jeder normale Mensch! Sie hat ja nicht einmal einen Anrufbeantworter.«

»Was ist los mit dir, Peter. Bist du betrunken?«

»Nein, noch nicht.«

»Was ist passiert?«

»Nichts ist passiert.«

*

Aber es ist etwas passiert.

Er verlässt den Vorraum.

»Ich gehe duschen«, sagt er.

Er denkt darüber nach, was heute Abend passiert ist. An das Gespräch in Aitors Limousine. Aitor Usetxe. Einst ein junger Mann, so jung wie er selber damals.

Jung in dem Haus am Strand von Estepona.

Die Limousine. Es ist gerade eine Stunde her und fühlt sich an wie ein Jahr. Wie zwanzig Jahre.

Sie waren in den Kreisverkehr eingebogen und dann weiter Richtung Westen gefahren, die Bebauung lichtete sich, aber die wenigen Häuser wurden größer, alles wurde größer und lichter, eine neue Stadt, die in den Jahren seiner Abwesenheit entstanden war. Banken, öffentliche Gebäude, Gebäude mit eisernen Pforten. Die Limousine bog in einen von Palmen gesäumten Boulevard ein, zu beiden Seiten des Boulevards Parks, grüner Rasen. Zwischen zwei Häusern sah er das Meer schimmern, wie ein Gemälde. Die Sonne war im Begriff unterzugehen, sie war größer geworden und färbte alles mit ihrem intensiven Rot.

Sie parkten auf dem Boulevard, unter einem Baum, dessen Name Peter nicht einfiel.

Aitor nickte zur anderen Seite, zu einem Gebäude, das neu aussah, groß und neu. Es war fünfzig Meter entfernt. Mehrere Autos parkten auf der Straße davor und in dem Innenhof, Limousinen, einige von ihnen sicher gepanzert. In dem Gebäude schien eine Bank untergebracht zu sein.

Die Glasfassade schimmerte rot und schwarz im Dämmerlicht.

Aitor schwieg.

Nichts rührte sich auf der anderen Seite des Boulevards. Peter sah zwei Männer, die die Pforten bewachten, keiner von beiden rührte sich. Er registrierte die Waffen, die sie trugen.

»Siehst du das Haus?«, fragte Aitor.

Peter zuckte beim Ton in seiner Stimme zusammen.

»Siehst du es?«, wiederholte Aitor.

»Ich bin ja nicht blind. Vielleicht von der Sonne geblendet, aber nicht blind.«

»In wenigen Minuten kommt ein Mann heraus«, sagte Aitor.

Peter schwieg.

»Hast du mich gehört?«

»Ich bin ja nicht taub. Wer kommt heraus?«

Aitor steckte eine Hand in sein Jackett und zog ein Foto aus der Innentasche. Er hielt es Peter vor die Augen. Das Licht reichte aus, um Details zu erkennen.

»Er wird nicht allein herauskommen«, sagte Aitor. »Üblicherweise ist er von einem kleinen Trupp umgeben.«

Das Foto zeigte einen dunkelhaarigen Mann in Aitors und Peters Alter. Der Mann lächelte, er winkte mit einer Hand und hielt eine Rede oder etwas Ähnliches. Er stand hinter einem Pult, einem Rednerpult, am unteren Bildrand waren einige Hinterköpfe zu sehen.

»Es ist ganz neu«, sagte Aitor. »Hier in der Stadt aufgenommen.«

»Wer ist das?«, fragte Peter.

»Erinnerst du dich nicht an das Gesicht?«

»Nein. Warum sollte ich? Wer ist das?«

»Schau genau hin!« Aitor nickte mit dem Kopf in Richtung Gebäude.

Mehrere Männer kamen heraus.

Ganz hinten gingen zwei Männer hintereinander. Der eine trug einen dunklen Anzug, der andere einen hellgrauen, der an Aitors Anzug erinnerte, als wäre die Farbe im Dämmerlicht nur ein wenig dunkler geworden.

Aitor reichte Peter ein Fernglas.

Er hielt es sich vor die Augen.

»Der im grauen Anzug. Der andere ist sein erster Leibwächter. Bodyguard número uno

Aitor lächelte schwach.

»Der Rest wartet beim Auto«, fuhr er fort.

Peter beobachtete die Männer durch das Fernglas. Der Mann in dem grauen Anzug sagte etwas zu einem anderen, der lächelte. Jetzt lachten mehrere der Männer. Das Bild wurde trübe, als er den Blick auf den Boulevard richtete, wo fünfzehn Meter entfernt drei Männer in dunklen Anzügen neben einer Limousine warteten. Sein Blick kehrte zu dem Mann zurück.

»Wer ist das?«

»Erkennst du ihn nicht?«

Peter antwortete nicht. Er antwortete nicht, weil er mit einem Mal wusste, wen er auf dem körnigen Foto gesehen hatte. Es war wie ein Blick in die Vergangenheit. Er erkannte das Gesicht. Es hatte sich nicht wesentlich verändert.

Peter wusste, dass Aitor wusste, dass er es wusste.

»Ja«, sagte Aitor, als hätte Peter auf seine Frage geantwortet, »das ist unser aller Jesús Maria.«

Peter sah den Mann mit seinem Gefolge auf die Straße treten. Mehrere Autos waren vorgefahren, einige große Lexus waren dabei, den Hof zu verlassen, auf dem das Gebäude stand. Sie sahen aus wie schwarze Panzerwagen.

»Man kann kaum glauben, dass ihm der Name zu seinem Schutz gegeben wurde. Jesús Maria.«

Peter ließ das Fernglas sinken.

»Wie meinst du das?«

»Die Madonna und ihr Sohn. Aber schau ihn dir an, schau dir den Sohn an! Er umgibt sich mit einer ganzen Armee.«

Aitors Gesicht hatte sich plötzlich verdunkelt, als wäre die Dämmerung in seinen Körper eingedrungen. Seine Augen veränderten sich. Er sah aus wie ein Mann, der große Schmerzen leidet. Als wäre der Schmerz in seinen Körper eingezogen, als wäre er von der Sonne in seinen Körper umgesiedelt.

»Aber das wird nicht reichen«, sagte Aitor. »Nichts kann Jesús Maria Montañas schützen.« Er lächelte wieder, doch das Lächeln war meilenweit von seinen Augen entfernt. »Erinnerst du dich, wie wir darüber Witze gemacht haben, Peter? Dass ihr fast die gleichen Nachnamen hattet. Berger und Montañas. Es ist schade, dass du deinen gewechselt hast. Mattéus ist langweiliger.« Er lächelte wieder. »Aber er passt, das ist interessant. Wir befinden uns immer noch in der Heiligen Schrift. Das ist interessant.«

Peter sah die Limousine langsam davongleiten.

»Bald schützt ihn nichts mehr«, sagte Aitor.

»Wie meinst du das?«

»Vor dir, Peter.«

Bevor er antworten konnte, fuhr das andere Auto vorbei. Für den Bruchteil von Sekunden sah Peter Jesús’ Profil auf dem Rücksitz, das plötzlich von der untergehenden Sonne angestrahlt wurde, einer wahnsinnig feuerroten Sonne. Das Profil wurde zu einer scharfen Silhouette, ein perfekter Scherenschnitt.

»Vor mir?«

»Ja. Du wolltest doch wissen, warum du hier bist. Die Antwort ist gerade an uns vorbeigefahren.« Aitor deutete mit dem Kopf auf das entschwindende Auto. »Dort fährt der Mann, den du umbringen wirst.«

Der Chauffeur der Limousine hatte einen wahnsinnigen Flamenco aufgelegt, nachdem sie sich von der Bürgersteigkante losgerissen hatten. Die Lautstärke ließ keine Unterhaltung zu. Aitor starrte geradeaus vor sich hin, als kämpfte er dagegen an, Peter anzuschauen, als fürchtete er, er könnte etwas tun, was er bereuen würde, etwas Gewaltsames.

Sie waren zurück auf dem Weg ins Zentrum. Die Palmen, das Gras, Parks und Gebäude waren schwarz geworden im Dämmerlicht. Von der Sonne war nur noch ein brennendes Band am Horizont über Afrika geblieben. Es war gar nicht weit dorthin. Es gab Menschen, die hatten versucht, die Distanz schwimmend zu überwinden.

Sie bogen in den westlichen Teil der Uferpromenade ein. Die Strände waren jetzt leer. Es schwamm niemand mehr im Meer.

Der Chauffeur stellte die Musik leiser.

»Ich werde dich über die Lokalpolitik informieren«, sagte Aitor. »Unser Jesús lässt sich zur Wahl als Bürgermeister dieser stolzen Stadt aufstellen. Die Wahl findet in zwei Wochen statt. Alle rechnen damit, dass er gewinnt.«

Er drehte sich zu Peter um.

»Du sagst nichts?«

Peter antwortete nicht. Ihm war furchtbar übel, als müsste er sich jeden Moment übergeben. Und damit die Lederbezüge in der neuen Limousine verderben.

»Kö…können wir anhalten? Anhalten!«

Er spürte den Mageninhalt schon in der Kehle. Aitor verstand und gab dem Fahrer ein Zeichen. Das Auto hielt. Die Tür an Peters Seite öffnete sich automatisch. Er warf sich hinaus und übergab sich. Das Erbrochene bedeckte den Beton, auf dem sie parkten. Ihm stiegen Tränen in die Augen. Er war blind.

»Ich verstehe dich«, hörte er Aitors Stimme. »Glaub nicht, dass ich es nicht verstehe. Aber ändern wird es nichts.«

Eine Sekunde lang dachte Peter an Flucht. Davonstürmen, ins Hotelzimmer stürzen, Rita holen, fliehen, fliehen!

Doch in derselben Sekunde wurde ihm klar, dass es sinnlos war.

Er ließ sich zurück in den Lederbezug sinken. Es roch streng, neu, bösartig. Die Übelkeit schwappte noch einmal hoch, legte sich aber wieder. Er blieb sitzen, den Hinterkopf gegen das Leder gelehnt. Seine Kopfhaut war mit einem Schweißfilm bedeckt, sein ganzer Körper war schweißnass.

»Er ist Polizeipräsident in unserer Stadt gewesen«, hörte er Aitors Stimme. Sie klang, als würde sie durch einen langen Tunnel rollen, wie Wellen rollen, er war an dem einen Ende des Tunnels, und es gab keinen Weg hinaus. »Jesús war Polizeipräsident. Kannst du dir das vorstellen? Er ist erst kürzlich zurückgetreten. Um sich der Politik zu widmen.« Die letzten Worte klangen wie Stahl, die Wellen hatten sich in Stahl verwandelt.

»Er war da in jener Nacht«, sagte Aitor jetzt. »Er war am Strand.« Er drehte sich zu Peter um. »Verstehst du?«

»Was? An welchem Strand?«

»Erinnerst du dich nicht? Du warst doch auch dabei. Jesús hat hinter dem Überfall gesteckt, dem Hinterhalt. Ich weiß, dass er es war. Jesús steckt hinter allem.«

»Woher willst du das wissen?«

»Dann erinnerst du dich also?«

»Ich erinnere mich an den Strand.«

»Er hat meinen kleinen Bruder umgebracht!«, sagte Aitor laut.

Peter schwieg. Sie saßen im Dunkeln. Jetzt war es nicht mehr so eilig, irgendwohin zu fahren. Wir wollen nirgendwohin, dachte er. Dies ist das andere Ende des Tunnels. Er schaute zum Horizont. Der war im Abend versunken, über Afrika war es schwarz. Ich befinde mich am Ende des Tunnels, und das Licht ist fort, dachte er. Ein entsetzlicher Gedanke.

Aitor beugte sich zu ihm herüber. Sein Gesicht wurde angeleuchtet, als sich der Fahrer vorn eine Zigarette anzündete.

»Und du bist von der Bühne verschwunden, mein Peter. Wie hast du das geschafft? Das habe ich mich immer gefragt.«

»Ich hatte Glück.«

»Glück? GLÜCK

»Sie haben mich nicht gesehen. Ich war schon oben … am Weg. Ich habe mich in den Dünen versteckt. Hinter den Dünen.«

»Dort gibt es keine Dünen.«

»Es gab jedenfalls ein paar Hügel. Ich weiß nicht, wie du die nennst.«

»Ich glaube dir nicht. Und ich habe dich schon immer fragen wollen, was wirklich passiert ist. All die Jahre im Gefängnis habe ich gedacht, dass ich dich das eines Tages fragen werde.«

»Jetzt hast du es getan.«

Aitors Augen waren schmal geworden. Peter sah es, es war das Einzige, was er in der Dunkelheit sehen konnte.

»Ich könnte dich in diesem Augenblick umbringen«, sagte Aitor. »Wie man ein Eichhörnchen erschlägt.«

»Hast du im Gefängnis daran gedacht, Aitor?«

»Anfangs. Anfangs habe ich das gedacht.«

»Aber jetzt nicht mehr.«

»Nein, jetzt bin ich ruhiger.«

»Jetzt willst du jemand anderen umbringen.«

Aitor antwortete nicht.

»Ich kann es nicht tun«, sagte Peter. »Ich kann es nicht für dich tun.«

»Es geht nicht mehr um mich, mein Freund. Es geht um dich.«

»Es geht um Rache«, sagte Peter. »Es geht um uns beide, aber nicht allein um uns.«

Aitor nahm eine Schachtel dünner Zigarren aus seiner Jacketttasche und zündete sich eine an, ohne Peter eine anzubieten. Wieder wurde sein Gesicht von einer Streichholzflamme angeleuchtet, aber Peter konnte es auch ohne Licht sehen. Ihm stieg der bekannte Zigarrenduft in die Nase, und alles kehrte zurück, wie immer, wenn sich eine Geruchserinnerung meldet. Das Vergangene einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort steht plötzlich vor einem, einer guten Zeit, einer bösen Zeit, einem guten Ort, einem bösen Ort.

»Du hast mich gezwungen hierherzukommen, mir keine Wahl gelassen«, sagte er. »Du hast Kontakte in Schweden, die meine Familie bedrohen. Ich bin gezwungen worden, meine Frau mitzubringen. Und jetzt willst du mich zwingen, einen Fremden zu töten. Ich frage mich ernsthaft, ob es sich dabei um einen schlechten Scherz handelt.«

Aitors Hand schoss vor und packte Peter am Hemdkragen. Peter spürte, wie er sich um seinen Hals zusammenzog. Der Fahrer drehte sich um. Peter sah, dass er eine Pistole in der Hand hielt. Und Aitors Miene war nicht die eines Witzboldes.

»Der Tod meines Bruders war kein Scherz, du Scheißkerl! Der Tod der Kameraden war kein Scherz! Meine Jahre im Gefängnis waren kein Scherz!«

Peter versuchte, sich aus dem Griff zu befreien, indem er sich nach hinten lehnte. Aitor ließ los. Er nahm die Hand weg und gab dem Fahrer ein Zeichen. Die Limousine schaukelte weiter. Sie fuhr durch eine Stadt, die in das Gelb der künstlichen Beleuchtung getaucht war.

Sie waren wieder im Zentrum.

Vor den getönten Scheiben flanierten Menschen vorbei. Es war wie der Blick aus einem Gefängnisfenster auf das Leben außerhalb der Mauern. Aitor und Peter hatten die Plätze getauscht. Das war der erste Schritt.

»Was glaubst du, wie ich dich gefunden habe, Peter Mattéus? Du wolltest verhindern, dass wir dich finden, nicht wahr?« Aitor lächelte. Jetzt wirkte er wieder ruhig. »Warum hast du deinen Namen geändert?«

»Ich musste vorsichtig sein. Das ist doch logisch. Ich war involviert, durch dich, zum Beispiel. Ich musste weggehen und … ein neues Leben beginnen.«

Aitor lachte auf. Es klang wie ein Zischen.

»Und jetzt bist du wieder ›involviert‹, Amigo. Einmal kann man weglaufen, aber man kann nie zweimal vor seiner Verantwortung davonlaufen, wie man sagt.«

»Wer sagt das?«

»Halt’s Maul!«

Die Limousine hielt vor einer Bar, auf dem Bürgersteig standen Stühle und Tische.

Peter sah, wie sich Aitors Hände ballten und wieder öffneten, sich ballten und wieder öffneten. Er spürte ein Ziehen um den Hals. Er wusste, dass Aitor seine Hände am liebsten um seinen Hals schließen würde, seine Finger um seinen Hals pressen, bis seine Augen explodierten.

»Apropos laufen«, sagte Aitor. »Jesús läuft am Strand. Er joggt. Da gibt es eine Stelle, wo sie keine hundertprozentige Sicherheit gewährleisten können. So scheint er es haben zu wollen. Als würde er sich auf den Strand verlassen.«

»Auf den Strand verlassen?«

Aitor nickte.

»Er ist immer am Strand gelaufen. Dort fühlt er sich sicher. Er ist am Strand aufgewachsen. Wusstest du das?«

»Ich weiß so gut wie nichts von ihm. Warum erzählst du mir das alles?«

»Am Strand«, sagte Aitor, »wird es geschehen.«