Atmung stabilisiert sich … Herzrhythmus regelmäßig …
komatöser Zustand … unmöglich, ihn wach zu bekommen …»
Jemand griff Shafqat unter die Arme und zog ihn auf die Füße.
Verschwommen sah er Secchis stoppelbärtiges Gesicht.
«Sie müssen sich ausruhen, Don Shafqat», hörte er die Stimme des Arztes, merkwürdig verzerrt wie das Heranrollen und Verebben einer Meeresbrandung. «Mehr Wunder kann der Glaube nicht vollbringen: Jetzt ist wieder die medizinische Wissenschaft gefragt.»
Das bezweifelte Shafqat, aber er schwieg. Eine Krankenschwester und ein Monsignore führten ihn hinaus.
Langsam kehrten seine Kräfte zurück. Er musste die anderen informieren, unbedingt!
Alexander schob das halb leere Whiskeyglas beiseite. Der Alkohol bekam ihm nicht. Er hatte Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren. Schwerfällig sagte er: «Wenn ich Sie richtig verstanden habe, Signor Solbelli, lässt sich mit der Wahren Ähnlichkeit Christi beweisen, dass die kirchlichen Dogmen Jesu Lehre verdreht haben. Deshalb also sind die Päpste so peinlich darauf bedacht, den Stein zu behüten. Aber warum haben sie ihn nicht einfach vernichtet?»
«Wer zerstört schon, was ihm einmal nützlich werden könnte?» Solbelli zerdrückte den Stummel einer Zigarette in einem schweren Marmoraschenbecher. «Bedenken Sie, dass es in früheren Jahrhunderten etliche Gegenpäpste gab. Während des großen abendländischen Schismas konnten die Christen gleich unter drei Päpsten wählen. Es war jederzeit denkbar, dass eine solche Situation wieder entstand. Wer über die Wahre Ähnlichkeit Christi verfügte, konnte seine Rivalen ausstechen, indem er sich als einzig wahrer Pontifex ausgab, der zum rechten Glauben zurückgekehrt war. Außerdem zerstört man das einzige Abbild des Erlösers nicht so einfach, mag man sich von seiner Lehre auch noch so weit entfernt haben. Das wäre, als würde ein Sohn, der sich mit seinem Vater zerstritten hat, das einzige Foto von ihm verbrennen.»
Der letzte Satz brachte Alexander zum Bewusstsein, dass er sich in einer ähnlichen Lage befand. Allerdings hatte er beschlossen, mehr als die Erinnerung an seinen Vater auszulöschen. Als er Elena gesagt hatte, er werde das Haupt der Zwölf töten, war er sich seiner Sache sicher gewesen. Sein Vater war ein Verräter, ein Verschwörer, ein Mörder. Je länger er aber darüber nachdachte, desto schwankender wurde er. Vielleicht hatte Markus Rosin gute Gründe für das, was er getan hatte. Und wer, wenn nicht sein eigener Sohn, sollte ihm eine Gelegenheit bieten, sich zu rechtfertigen?
Alexander fuhr sich über die Stirn, als könne er so die quälenden Gedanken beiseite schieben, und sagte: «Päpste und Gegenpäpste waren also gleichermaßen an diesem Smaragd interessiert. Auf welcher Seite stand Abbas de Naggera?»
Solbelli stieß einen schweren Seufzer aus und runzelte die Stirn. «Auf der unseren, fürchte ich. Ich kann mir denken, dass Sie das verwirrt. Aber vergessen Sie nicht: Die Jagd nach der Wahren Ähnlichkeit Christi währt schon Jahrhunderte. Damals herrschten raue Sitten.»
«Nicht nur damals», sagte Alexander düster, während er in seiner Erinnerung noch einmal das Attentat vor der Nervi-Halle durchlebte.
«Im Laufe der Jahrhunderte haben auch die Auserwählten ihre Ziele und Methoden geändert», fuhr Solbelli fort. «Heute würden wir keinen Sacco di Roma mehr anzetteln, um an den Smaragd zu kommen.»
«So viel zu den Methoden.» Alexander blickte Solbelli herausfordernd an. «Was ist mit den Zielen? Sie haben einen der Ihren zum Papst gemacht. Ist das nicht genau das, was die Auserwählten schon vor fünfhundert Jahren erreichen wollten?»
«Damals war es das Ziel, heute ist es das Mittel zum Zweck.
Vor Jahrhunderten, als die Menschen noch zutiefst vom Glauben an Gott durchdrungen waren, hätte ein Papst aus unseren Reihen ihnen den rechten Glauben verhältnismäßig leicht verkünden können. Heute, da den großen Kirchen Legionen von U-Boot-Gläubigen angehören, die nur zu Ostern und zu Weihnachten zum Gottesdienst auftauchen, da die wahren Götter der Neuwagen und der Jahresurlaub sind, da Jesus Christus mit Pop-und Filmstars konkurriert, ist ein Wandel im Glauben nicht einfach herbeizuführen. Wäre Gardien ein langes Pontifikat beschieden gewesen, hätte er vielleicht etwas bewegen können, aber nur langsam und bedächtig.»
«Seine großartige Ankündigung, sich bei der Audienz als Wunderheiler zu betätigen, sah mir aber nicht nach bedächtigem Vorgehen aus.»
Solbelli blickte noch bekümmerter drein als zuvor. «Da bin ich Ihrer Meinung, Signor Rosin. Nicht alle von uns waren mit diesem Vorpreschen einverstanden. Gardien fühlte sich durch die sich überstürzenden Ereignisse dazu getrieben, glaubte, auf diese Weise unsere Feinde von weiteren Untaten abhalten zu können. Ein tragischer Irrtum. Er hat die größte Untat damit erst herausgefordert.»
«Wollte mein Onkel ihm den Smaragd übergeben?»
Der Universalgelehrte nickte. «Heinrich Rosin stand kurz davor. Er hat mit Gardien lange Gespräche geführt.»
«Was ist mit Leonardo da Vinci? Gehörte er zu den Ihren?»
«Sagen wir, er war ein Verbündeter. Wie die Heilige Römische Kirche haben auch die Electi im Laufe ihrer Geschichte innere Krisen und Abspaltungen erlebt. So sind mehrere Gruppen entstanden, die zwar dasselbe Ziel verfolgten und auch häufig zusammenarbeiteten, aber doch verschiedene Methoden anwandten.»
Ein verrückter Gedanke schoss Alexander durch den Kopf:
«Waren es etwa auch Auserwählte, die im Zweiten Weltkrieg den Vatikan bombardiert haben?»
Solbelli schien am liebsten im Boden versinken zu wollen.
«Nicht gerade eine unserer Ruhmestaten, ich weiß. Aber die Situation war verfahren. Hitler hielt Rom besetzt und hatte mehr als ein begehrliches Auge auf den Vatikan geworfen. Er hatte mehrere Pläne ausarbeiten lassen, um den Papst zu entführen –
und um die Wahre Ähnlichkeit Christi an sich zu bringen.
Glücklicherweise hatten einige Auserwählte großen Einfluss im britischen Bomberkommando. Wir haben versucht, den Schaden möglichst gering zu halten. Ganz gezielt wurde der Teil des Vatikans bombardiert, wo wir den Eingang zum unterirdischen Versteck des Smaragds vermuteten.» Er stockte und fingerte am Gestell seiner Brille herum. «Wir mussten es tun. Hätte Hitler den Vatikan überfallen und sich des Smaragds bemächtigt, hätte er der Welt einen eigenen Papst präsentiert und einen Glauben verkündet, der nur seinen Zielen gedient hätte. Die Katholiken in den alliierten Staaten wären verunsichert gewesen, hätten als verlässliche Soldaten gegen das Nazi-Regime kaum noch getaugt. Vielleicht wäre es zwischen Katholiken und Protestanten sogar zu bürgerkriegsähnlichen Unruhen gekommen.»
«Das klingt nach den Phantasien eines Thriller-Schreibers», sagte Alexander.
«Es gibt schriftliche Unterlagen über einen Plan mit dem seltsamen Namen ‹Rabat-Föhn›. SS-Truppen in italienischen Uniformen und mit italienischen Waffen sollten nachts in den Vatikan einfallen und unter den hohen Kurialen ein Massaker anrichten. Die Panzerdivision Hermann Göring wäre als Retter in der Not aufgetaucht und hätte den Kirchenstaat besetzt. Papst Pius XII. wäre entweder im Laufe der Kämpfe umgekommen oder in deutsche Schutzhaft genommen worden. Pius muss darüber zumindest vage unterrichtet gewesen sein, denn er hat schriftlich seinen Rücktritt für den Fall verfügt, dass er gegen seinen Willen in Gewahrsam genommen wird.»
«Und woher wusste Hitler von der Wahren Ähnlichkeit Christi? »
Solbelli zuckte mit den Schultern. «Genaues weiß ich nicht.
Die Nazis hatten bekanntlich einen starken Hang zu allem Mystischen und Okkulten. Himmler, der sich für den reinkarnierten König Heinrich I. hielt, ist das beste Beispiel. Er hat nach dem Heiligen Gral und anderen mystischen Gegenständen suchen lassen. Gut möglich, dass die Nazis dabei zufällig auf den Smaragd gestoßen sind.»
Alexander hielt es für wahrscheinlich, dass italienische Totus-Tuus-Mitglieder zu den Faschisten gehört hatten, zu Hitlers Verbündeten. Sein Schädel brummte. Er fragte sich, ob das die Nachwirkungen der Operation waren, der Whiskey oder die wilden Geschichten, die Solbelli ihm auftischte. Er hielt den Privatgelehrten nicht für einen Lügner und doch schien ihm hier die Grenze zwischen Wahrheit und Phantasie fließend zu sein.
Wer konnte nach so vielen Jahrhunderten des geheimen Kampfes schon sagen, wer was genau aus welchen Motiven heraus getan hatte? Abbas de Naggera und Albert Rosin, Leonardo da Vinci und Hitler waren Geschichte. Aber Markus Rosin lebte – ihn konnte er fragen.
Er verdrängte die sich immer wieder in den Vordergrund schiebenden Gedanken an seinen Vater und stellte die Frage, die allen anderen zugrunde lag: «Was hat es mit dem rechten Glauben auf sich, den die Auserwählten propagieren?»
Solbelli hob zu einer Antwort an, doch da klingelte das Telefon.
Orlandi nahm den schweren Hörer von der Gabel des altertümlichen Apparats. Sein ohnehin längliches Gesicht wurde während des Telefonats immer länger. Er stellte nur knappe Fragen: «Wie das?» – «Und sein jetziger Zustand?» – «Was sagen die Kardinäle?» – «Und die Presse?» Dann berichtete er kurz vom Zirkel der Zwölf und nannte die Namen, die er von Alexander erfahren hatte.
Nachdem er das Gespräch mit einem «Gute Arbeit, halten Sie uns unbedingt auf dem Laufenden!» beendet hatte, wandte er sich den anderen zu und sagte mit belegter Stimme: «Gardien …
er lebt! John Kembles Hand ist vor einer Stunde im Vatikan eingetroffen. Es hat gewirkt! Gardien befindet sich in einem relativ stabilen Zustand, aber er liegt im Koma. Shafqat fürchtet um die Sicherheit des Papstes, wenn er im Vatikan bleibt. Und nach allem, was wir von Signor Rosin über den Zirkel der Zwölf gehört haben, ist diese Furcht nur zu begründet. Wir müssen schleunigst handeln!»
«Wie gut, dass ich schon einen Plan habe. Signor Rosins Bericht hat mich darauf gebracht», sagte Donati und stemmte sich aus dem Sessel, um mit steifen Schritten zur Tür zu gehen.
«Ein Angriff auf den Vatikan hat nur Aussicht auf Erfolg, wenn er überraschend kommt – und wenn er von innen erfolgt. Ich werde das Nötige sofort veranlassen.»
Die Hand schon auf der eisernen Türklinke, drehte er sich noch einmal um. «Falls Sie uns beistehen könnten, Signor Rosin, wäre das von unschätzbarem Vorteil.»
«Ich habe unter Eid geschworen, das Leben des Papstes zu beschützen», sagte Alexander. «Natürlich werde ich Ihnen beistehen.»
Doch insgeheim fragte er sich, ob dasselbe Blut, das in Vater und Sohn floss, nicht ein dickeres Band war als ein Eid.
20
Freitag, 15. Mai
Mitternacht war schon vorüber, und die Dunkelheit hatte den Tempelbezirk am Largo di Torre Argentina verwandelt. Die antiken Säulen wirkten keineswegs kläglich und verloren inmitten des Verkehrsgewühls. Auch jetzt brummten Motoren und stöhnten vereinzelte Hupen in die Nacht, aber all das schien weit entfernt, hatte nichts zu tun mit der Welt aus jahrtausendealtem Stein. Die Lichtkegel der Autoscheinwerfer, die hin und wieder über die Säulen und Pinien huschten, waren Blitze, von zornentbrannten Göttern geschleudert, die Rache verlangten für die Verödung ihrer Heiligtümer. Und die Baumkronen schaukelten unter dem erbosten Götteratem, der als kräftiger Wind in die Menschenwelt fuhr.
Immer wieder sah Alexander hinaus auf das Ruinenfeld, während er auf Adriana del Grosso einredete. Natürlich hätten er und seine Begleiter sich den Zugang zu den unterirdischen Gängen erzwingen können. Aber er wollte nicht, dass dieser seltsame Krieg noch mehr unschuldige Opfer forderte. Die Katzennärrin hatte Elena und ihm geholfen, auch deshalb wollte er fair zu ihr sein. Er berichtete ihr von der Gefahr, in der Papst Custos schwebte, und sagte ihr, dass sie helfen könne, den Heiligen Vater zu retten.
«Ich lese Zeitung, und ich weiß, dass Sie als Komplize des Attentäters gesucht werden», erwiderte die Signora. «Aber ich lese auch Gesichter, und in Ihrem stehen Wahrhaftigkeit und große Sorge geschrieben. Die Attentäter haben Ihre Freundin entführt. Ich habe schon bei Ihrem ersten Besuch gespürt, dass Sie viel für die Journalistin empfinden. Sie würden niemals etwas tun, das ihr schaden könnte. Deshalb werde ich Ihnen helfen. Gehen Sie mit Ihren Freunden in die Höhlen, und tun Sie alles, um Seine Heiligkeit zu retten.» Ihre Hand strich über das gestreifte Fell von Tiger, der in ihrem Schoß lag und Alexander wachsam anblinzelte. «Ich habe erfahren, wie wichtig es in der Not ist, Freunde zu haben.»
«Man wird vielleicht herausfinden, an welcher Stelle wir in die Gänge eingedrungen sind, und Sie verhören.»
Die Signora setzte ein schiefes Gangsterlächeln auf. «Ich weiß von nichts. Ich werde sagen, man hätte mich im Schlaf überwältigt und gefesselt.»
«Danke, Signora.» Alexander reichte ihr die Hand.
Sechs Männer bewegten sich im Licht starker Handscheinwerfer durch die Stollen: Alexander, Orlandi, Donati und drei kräftige junge Kerle, von denen er nur die Vornamen kannte.
Alexander hatte Einwände dagegen erhoben, dass Donati sich an dem Unternehmen beteiligte. Mit seinem steifen Bein war der Commissario nicht der beste Mann für den beschwerlichen Weg.
Der aber hatte nichts davon hören wollen und erwiderte:
«Meine Erfahrung und mein Training ersetzen mehr als ein Bein.»
Vielleicht hatte er Recht, dachte Alexander, als er sich daran erinnerte, wie schnell und effektiv Donati bei dem Anschlag auf der Piazza Farnese reagiert hatte.
Sie folgten den Kreidemarkierungen bis zu der Trennwand zwischen Gang und unterirdischer Kapelle. Bereits hier kam Donatis Erfahrung zum Tragen. Er holte Plastiksprengstoff aus seinem Rucksack und befestigte ihn mit geschickten Fingern in der Geröllwand.
«Wird die Explosion nicht oben zu hören sein?», fragte Alexander.
«Ich hoffe nicht», antwortete der Commissario, ohne seine Arbeit zu unterbrechen. «Es ist nur eine kleine Ladung, wohl dosiert. Mit diesem neuen Zeug – eine Weiterentwicklung des guten alten Semtex – lässt sich ein Korken von der Flasche sprengen.»
«Und wenn durch die Sprengung noch mehr einstürzt? Wir alle könnten hier unten verschüttet werden.»
«Darüber mache ich mir keine Gedanken, sonst wäre ich nicht hier.»
Als sie hinter der nächsten Krümmung des Stollens in Deckung gingen, sagte Alexander dem Commissario, wie sehr er seine Gelassenheit bewundere.
«Sie täuschen sich, Rosin, in Wahrheit bin ich sehr aufgeregt.
Ich brenne darauf zu erfahren, was hinter der Trennwand liegt.»
Im nächsten Moment drückte er auch schon auf den Knopf des handtellergroßen Funksenders.
Der Sprengzünder empfing das Signal, und die Druckwelle der Explosion rollte durch den Stollen. Ob der dumpfe Donner ein paar Meter weiter oben gehört wurde, war schwer zu sagen.
Staub drang in Augen, Nasen und Münder. Die Männer spuckten und husteten.
Alexander reinigte sein Gesicht mit einem Taschentuch und spürte dabei ein schmerzhaftes Ziehen seiner um die Nase herum angeschwollenen Haut. Vor ihrer Fahrt zum Largo di Torre Argentina hatte Orlandi ihm den grellweißen Verband abgenommen. Das hautfarbene Pflaster, das jetzt auf der Nase klebte, fiel bei flüchtigem Hinsehen kaum auf.
Langsam schoben die sechs Männer sich um die Biegung und richteten ihre Scheinwerfer auf die Geröllwand. Als der Nebel aus aufgewirbeltem Staub sich verzogen hatte, entdeckte Donati als Erster das Loch in der Wand. Es hatte nur einen halben Meter Durchmesser, aber es war ein Loch.
Mit bloßen Händen erweiterten sie es, ganz vorsichtig Stein für Stein, damit nicht loses Geröll nachrutschte. Endlich war die Öffnung groß genug, dass sie sich hindurchzwängen konnten.
Einer nach dem anderen schob erst den Rucksack mit der Ausrüstung und dann sich selbst durch die Lücke. Und dann standen sie in dem Raum, in dem der Zwölferzirkel seine geheimen Treffen abhielt, in der Edelsteinkapelle.
Ovasius Shafqat fragte sich, ob Jean-Pierre Gardien wirklich am Leben war. Vielleicht verliehen ihm nur die unablässig summenden und piependen Geräte, an die er angeschlossen war, den Anschein von Leben. Der Papst lag noch genauso still und –
scheinbar? – leblos im Bett wie einige Stunden zuvor, als die Ärzte ihn totgesagt hatten.
Am liebsten hätte Shafqat sich noch einmal über ihn gebeugt, sich mit ihm verbunden, um ihn aus dem Koma zu reißen. Doch dieser Wunsch war unsinnig. Er allein war viel zu schwach, seine Kräfte reichten an die Gardiens nicht heran. Der Papst war der Stärkste von ihnen, ein Ausnahmefall. Schon sein erster Kontakt zu dem vermeintlich Toten, dessen letzte Lebensenergien er geweckt hatte, hatte Shafqat völlig entkräftet.
Nur gemeinsam konnten die Auserwählten ihrem Bruder helfen.
«Sie sollten endlich schlafen gehen, Don Shafqat», sagte der selbst hoffnungslos übermüdete Dr. Secchi. Unter den Augen des Arztes hatten sich tiefe Ringe eingegraben, fast noch schwärzer als seine kräftig sprießenden Bartstoppeln.
«Sie auch», erwiderte der Ire.
Secchi lächelte schwach. «Sie haben Ihre Arbeit getan, ich noch nicht. Apropos, wie haben Sie das hingekriegt?»
«Fragen Sie bei Ihrem nächsten Gebet den heiligen John Kemble, Doktor.»
«Das werde ich. Und ich werde ihn bitten, jeder Intensivstation auf dieser Welt eine solche Hand zu spenden.»
Shafqat sah auf das schwarze Zifferblatt seiner Armbanduhr.
Einige Minuten nach Mitternacht; er musste aufbrechen. Nur ungern ließ er Gardien allein. Aber solange Secchi Wache hielt, würde der Papst sicher sein – hoffte er.
«Sie haben Recht, Doktor, etwas Schlaf könnte mir nicht schaden. Gute Nacht. Und stopfen Sie nicht zu viele Pillen in sich rein, um wach zu bleiben.»
Secchi versprach es, und Shafqat verließ nach einem letzten Blick auf den Bewusstlosen die Krankenstation. Allerdings suchte er nicht seine kleine Wohnung im Apostolischen Palast auf. Zielstrebig durcheilte er das weitläufige Gebäude und trat durch eine versteckte Tür, die eigentlich hätte verschlossen sein müssen und die er schon vor Stunden mit einem Dietrich geöffnet hatte, auf die Piazza del Forno hinaus.
Im Schatten der Sixtinischen Kapelle blieb er stehen und atmete tief durch. Der kühle Wind, der vom Tyrrhenischen Meer nach Rom herüberwehte, tat ihm gut und trocknete den Schweiß auf seiner Stirn. Hinter ihm ragte der Apostolische Palast auf, ein finsterer Riesenklotz in wolkenverhangener Nacht. Vor ihm verband sich die üppige Bepflanzung der vatikanischen Gärten mit den verschiedenen Gebäuden, die wie zufällig hingesetzt wirkten, zu einem undeutlichen Gespinst ineinander verschlungener Formen. Ein paar Laternen beleuchteten die Straßen und Plätze des kleinen Staates eher spärlich. Die meisten Fenster waren dunkel. «Beten und arbeiten» hieß hier die Devise, und es wurde früh zu Bett gegangen.
Das weltliche Rom mit seinem Gewirr aus Geschäftshäusern und Wohnblocks starrte mit Hunderten erleuchteter Fenster über die hohe Umfassungsmauer, die den Vatikan von der nahen und doch so fernen Außenwelt abschirmte. Hier galten andere Regeln. Auch der Lauf der Zeit schien im Vatikan verändert.
Das Leben wurde immer noch von Gesetzen und Traditionen aus längst vergangenen Tagen bestimmt, im äußeren Erscheinungsbild genauso wie in den geheimen Motiven der Menschen. Hier einen Wandel herbeizuführen, die Kernsätze kirchlicher Lehren gar umzudrehen, war eine Aufgabe, die selbst Herkules mit Schrecken erfüllt hätte.
Er hegte eine enorme Bewunderung für den Mann, der sich dieser Aufgabe gestellt hatte und dessen Lohn nun darin bestand, in einem Reich zwischen Leben und Tod dahinzudämmern. Mehr als einmal hatte er Gardien, nachdem er zum Papst gewählt worden war, gebeten, sich einen neuen, stärkeren Privatsekretär und Vertrauten zu suchen. Die Antwort war stets gleich ausgefallen: «Niemand kann stärker sein als derjenige, der seine tiefen Zweifel, seine Krankheit an Seele und Körper, überwunden und den wahren Glauben gefunden hat.»
So groß sein Respekt für Jean-Pierre Gardien auch war, in dieser Angelegenheit bezweifelte Shafqat dessen Urteilskraft.
Sicher hatte er seine Zweifel und seine Schwäche überwunden, aber er hatte sie nicht ausgelöscht. Tief in seinem Innern kauerte die an Körper und Seele nagende Bestie und wartete darauf, mit einem Panthersatz hervorzubrechen. In diesen Tagen der Prüfungen spürte er seine Schwäche, gegen die anzukämpfen an seinen Kräften zehrte. Noch wenige Stunden zuvor hätte er den Kampf um ein Haar verloren.
Er hatte in seinem Bett gelegen und versucht, sich ein wenig auszuruhen. Aber der Schlaf, den er so dringend brauchte, wollte nicht kommen. Immer stärker wurde sein Verlangen. Sein Atem rasselte, die rechte, nicht durch einen Verband gestützte Hand zitterte in einem wilden Takt. Als er sich aus dem Bett schwang, gab es für ihn nur eine Erlösung aus der Qual, nur einen Weg, Kraft zu schöpfen.
Mit einer Hand, die seinem Willen kaum noch gehorchte, öffnete er den kleinen Schrank mit der jungfräulichen Whiskeyflasche. Seit seiner Heilung hatte er keinen Tropfen mehr angerührt, so schwer es zuweilen auch gefallen war. Um seinen Widerstandswillen zu stärken, bewahrte er seitdem die Flasche mit irischem Whiskey auf. Jeden Morgen nahm er sie in die Hände, starrte sie an und sagte ihr – und sich selbst –, dass er sie nicht brauche.
Aber jetzt, in diesen schweren Stunden, brauchte er sie!
Es war doch nichts Verwerfliches, seinem entkräfteten Leib eine Stärkung zu gönnen. Hatten Mönche und Ärzte nicht schon im Mittelalter Branntwein als Medizin verkauft, als aqua vita –
Lebenswasser? Und im siebzehnten Jahrhundert hatte man an der Sorbonne wissenschaftliche Untersuchungen über die gesundheitsfördernde Wirkung der Trunkenheit angestellt.
Gerade einem Mann aus einem Land mit langer Whiskeytradition konnte ein kräftiger Schluck doch nicht schaden.
Mit diesen Überlegungen lullte er seinen Verstand ein. Es war wie eine Vorwegnahme des erlösenden Rausches. Die schwere Flasche gab seiner Hand ein wenig Ruhe zurück. Andächtig strichen seine Finger über das glatte Glas. Fast hätte er die Flasche geküsst wie eine Reliquie. Was sie enthielt, war für ihn heilsamer als jede abgehackte Heiligenhand.
Hastig machte er sich daran, den Verschluss aus dünnem Blech aufzuschrauben; dabei sagte er sich, dass er es schließlich nicht nur für sich tue. Nur wenn er stark war, konnte er Jean-Pierre Gardien weiterhin beistehen. Gardien, der ihn geheilt hatte von seinen Zweifeln, seinem Irrglauben, seiner Trunksucht.
Ein klarer Gedanke schob sich schwach, aber hartnäckig durch den dichten Nebel von Beschönigungen: Der Griff zur Flasche war das Letzte, was Gardien gutheißen würde. Shafqat war im Begriff, Gardiens mühsam errungenen Erfolg zu zerstören. Und redete sich selbst auch noch ein, nur so könne er dem Freund helfen.
Er wollte diese Klarsicht nicht und drehte umso schneller an dem widerspenstigen Verschluss, der im Lauf der Jahre regelrecht eingerostet zu sein schien. Vielleicht war es auch deshalb so schwierig, weil ihm nur eine Hand zur Verfügung stand.
Ein stechender Schmerz in seinem Daumen ließ ihn innehalten. Er hatte sich an dem Blech geschnitten. Ein dicker Blutstropfen quoll aus der Wunde und lief, eine rote Spur hinterlassend, über Hand und Unterarm. Der Anblick erinnerte ihn an das Attentat. An all das Blut, das von einer Sekunde zur anderen überall gewesen war. An den Papst, der nur noch ein regloser blutüberströmter Körper war. An den Verrat, der innerhalb der Vatikanmauern verübt wurde. An den Verrat, den er selbst in diesem Augenblick beging.
Angewidert ließ er die Flasche los, und sie zerplatzte auf dem Parkett. Glassplitter und Whiskey spritzten nach allen Seiten.
Der starke Geruch des Alkohols breitete sich im Zimmer aus und weckte Erinnerungen an selige, alle Schmerzen auslöschende Räusche. Er fiel auf die Knie und war kurz davor, die erlösende Flüssigkeit ungeachtet der Splitter vom Boden aufzulecken. Doch dann dachte er an Gardien und widerstand der Versuchung. Taumelnd erhob er sich und wankte ins Badezimmer, wo er den Kopf unter einen kalten Wasserstrahl hielt.
So wie in jener schwachen Stunde das Wasser half ihm jetzt der Nachtwind, einen klaren Kopf und einen festen Willen zu bewahren. Kurz nach seinem Ringen mit sich selbst hatte Orlandi angerufen und ihn über den Plan zu Gardiens Rettung informiert. Wäre Shafqat betrunken gewesen, wäre er für die Rolle, die Orlandi und Donati ihm zugedacht hatten, nicht in Betracht gekommen.
Er verließ die Piazza del Forno und umrundete auf der Via delle Fondamenta den Petersdom, der geheimnisvoller und erhabener wirkte als bei Tag, wenn Tausende lärmender und fotografierender Touristen jede Andacht zerstörten. Hoch über der Hauptapsis ragte die mächtige Halbkugel der von Michelangelo entworfenen Peterskuppel empor und reckte das goldene Kreuz, das ihre Spitze zierte, wie zur Abwehr böser Mächte den dunklen Wolken entgegen. Schafqat konnte in dem Anblick nichts Beruhigendes finden; zu viele Schandtaten waren im Zeichen des Kreuzes begangen worden.
Er hörte Stimmen und erstarrte. Zwei Schatten lösten sich aus dem Durchgang zwischen Stephanskirche und Tribunalspalast.
Schnell sprang er hinter eine der Zypressen, die sich um die Apsis erhoben. Er hoffte, dass seine schwarze Soutane und der Baum ihn davor bewahrten, entdeckt zu werden. Zwar war ein nächtlicher Spaziergang in den Gärten dem Privatsekretär Seiner Heiligkeit nicht verboten, aber er wollte seine Mission nicht gefährden, indem er Neugier erregte.
Dass er richtig gehandelt hatte, erkannte er, als er die Vigilanza-Uniformen der beiden langsam dahinschlendernden Männer sah. Bemerkten sie ihn, würden sie vielleicht Meldung machen. Und zwar ihrem Generalinspektor, Riccardo Parada.
Und seit gestern wusste Shafqat durch Orlandi, dass der Sicherheitschef des Vatikans zu ihren Gegnern zählte.
Vigilanza und Schweizergarde hatten das Attentat zum Anlass genommen, ihre Wachen zu verstärken. Offiziell, um weitere Anschläge zu verhindern. Nur wenige Männer aus den vatikanischen Sicherheitskräften wussten wohl, dass sie in Wahrheit für die Hintermänner des Attentats arbeiteten.
Die Gendarmen kamen dicht an Shafqat vorbei, sie gingen seinen Weg in umgekehrter Richtung. Mit angehaltenem Atem wartete er, bis sie außer Hörweite waren. Er dankte dem Herrn, dass die beiden mehr an ihrer Unterhaltung interessiert waren als daran, die Augen offen zu halten. Sie rechneten wohl nicht wirklich mit einem nächtlichen Eindringling.
Vorsichtig, sich immer wieder nach allen Seiten umblickend, ging er zu der Baustelle an der Tiefgarage und stieg die Fußgängertreppe hinunter. In regelmäßigen Abständen brannten Lampen in der Garagendecke. Weitere Leuchten hingen an den Absperrungen der Bauzonen. Aber wo in dem Gewirr aus Baumaschinen, geparkten Autos und Betonpfeilern lag der Eingang zu dem unterirdischen Labyrinth?
Orlandi hatte ihm in aller Kürze mitgeteilt, dass der Einstieg vermutlich in der Garage zu finden sei. Auf dieses Gebiet waren im Zweiten Weltkrieg die ominösen Bomben gefallen. Wenn Orlandi Recht hatte, musste Shafqat nach einer versteckten Stelle suchen.
Im hinteren Teil der Garage, abgetrennt durch eine Ziegelmauer, führte eine Wendeltreppe noch ein Stück tiefer.
Ein großes Schild hing über dem Treppengeländer: WARTUNGS- UND DEPOTRÄUME
ZUTRITT NUR FÜR BEFUGTE
Shafqat hielt sich in diesem Fall zu allem befugt und stieg die metallenen Treppenstufen hinab. Falls er den Eingang fand, sollte er versuchen, ihn zu öffnen. Orlandi hatte nicht vorhersehen können, wie schwierig es sein würde, sich unter der Erde zu orientieren. Gelang es Shafqat nicht, ihnen entgegenzukommen, sollte er auf sie warten, um sie zum Papst zu führen.
Der enge Gang, in den der untere Treppenabsatz mündete, war nur schwach beleuchtet. Mehrere Türen zu beiden Seiten, nummeriert mit römischen Zahlen, waren verschlossen. Er zog den Dietrich, mit dem er schon die Nebentür im Palast geöffnet hatte, unter der Soutane hervor.
Ein metallisches Klirren drang an seine Ohren, gerade als er den Nachschlüssel ins Schloss der ersten Tür stecken wollte.
Das Geräusch kam von der Wendeltreppe, wo er die schattenhaften Umrisse eines Mannes erspähte. Wieder ertönte das helle Scheppern, als etwas gegen das Treppengeländer stieß.
Vergebens sah er sich nach einer Deckung um. Sein Herz schlug schneller, sein Atem rasselte wie zuvor, als das Verlangen nach Alkohol ihn fast übermannt hatte. Es gab nur eine Möglichkeit, sich zu verstecken: die Abstellräume.
In fieberhafter Eile versuchte er die Tür zu öffnen, die mit der Ziffer I gekennzeichnet war. Seine schweißnasse Hand zitterte.
Der Dietrich entglitt ihm und fiel in eine mit Werkzeugen gefüllte Plastikkiste. Das klirrende Geräusch, viel leiser als das auf der Treppe, klang in Shafqats Ohren wie ein Trompetenstoß.
Er bückte sich, griff in die Werkzeugkiste des Wartungsdienstes und durchwühlte sie, bis er den Nachschlüssel endlich fand. Als er sich wieder aufrichtete, stand der andere Mann nur drei Schritte vor ihm. Er trug die blaugraue Dienstuniform der Schweizergarde. Das große Barett überschattete sein Gesicht.
Die rechte Hand des Schweizers fuhr zur linken Hüfte, und Shafqat erkannte, was da klirrend gegen das Treppengeländer gestoßen war: das Schwert des Gardisten. Er zog es aus der Scheide und erhob es wie zum Schlag. Dabei fiel das Licht aus einer der kleinen Deckenlampen auf die Klinge, und der tödliche Stahl blitzte auf.
Blitze in glühenden Farben flammten im Licht der Handscheinwerfer auf. Funkelnde Edelsteine schmückten die Wände, zu mannsgroßen religiösen Symbolen zusammengefügt, ganz wie die Katzennärrin es beschrieben hatte. Die Wände waren so überreich verziert, dass bloßes Felsgestein kaum zu erkennen war. Die Männer kniffen die Augen zu, so ungewohnt, ja schmerzhaft war das überirdische Aufblitzen bei jedem noch so kleinen Schwenk der Scheinwerfer.
Vor Alexander erstrahlte, eingefasst von einem rubinroten Kreis, auf saphirblauem Untergrund ein rubinrotes Kreuz, und gleich daneben sah er ein rubinrotes Dreieck mit saphirblauer Innenfläche. Beide Zeichen waren Symbole der Dreifaltigkeit.
Als er den Kopf wandte, erblickte er ein Meer aus Saphiren, aus dem ihn ein großer Smaragdfisch, Zeichen des getauften Christen, mit seinem Amethystauge anblinzelte.
Die Katzennärrin hatte beide Male, als sie in der Edelsteinkapelle gewesen war, Kerzen brennen sehen. Ihr Licht war verlöscht, aber es roch nach Feuer und Wachs. Vermutlich hatte die Druckwelle der Explosion die Flammen erstickt.
Die eigenartige Kapelle wäre Grund genug gewesen, von Spannung und Aufregung erfüllt zu sein. Aber Alexander fühlte sich eher erleichtert, so als habe die Sprengung einen Felsblock von seiner Brust gerollt. Die ganze Zeit über hatte er sich gefragt, was geschehen würde, wenn sie Wachen aus dem Zirkel der Zwölf in der Kapelle antrafen. Er hatte keine Angst vor einer gewaltsamen Auseinandersetzung. Wovor er sich fürchtete, war eine Begegnung mit seinem Vater. Als er eingewilligt hatte, den Auserwählten zu helfen, war er seinem Gewissen gefolgt. Auge in Auge mit seinem Vater würde sich erweisen, ob die Stimme des Blutes stärker war. Bei aller Erleichterung wusste er doch, dass die Entscheidung nur aufgeschoben, nicht aufgehoben war.
Bislang hatten die Männer überwältigt geschwiegen. Jetzt sagte Orlandi: «Da ist es!»
Sein Scheinwerfer beleuchtete einen Holzkasten auf dem Altar. In ihrer Schlichtheit schien die Schatulle nicht an diesen Ort zu gehören. Doch sie alle wussten, dass ihr Inhalt wertvoller war als sämtliche leuchtenden Edelsteine an den Wänden.
Ganz langsam, als fürchte er, durch übergroße Hast einen geheimen Zauber zu zerstören, ging Orlandi zum Altar und legte seinen Scheinwerfer auf die Steinplatte. Ehrfürchtig tastete er den Kasten ab. Sein Blick war verklärt.
Donati trat näher. «Auch wenn die Electi Jahrhunderte auf diesen Augenblick gewartet haben – wir sollten uns beeilen. Wir haben in dieser Nacht noch einiges vor uns.»
Orlandi nickte. «Sie haben Recht, Bruder Donati. Ich kann es nur kaum fassen. Es fällt mir unsagbar schwer, mich schon wieder von diesem Smaragd zu trennen.»
«Noch wissen wir nicht, ob er überhaupt in dem Kasten ist», entgegnete der Commissario.
Orlandi wollte den Deckel hochklappen, aber der war durch drei Schlösser gesichert. Donati zog eine Brechstange aus seinem Rucksack und reichte sie dem Professor. Schon beim zweiten Versuch hebelte Orlandi den Kasten auf. Langsam öffnete er den Deckel und sah hinein.
Seltsamerweise fühlte sich keiner der anderen gedrängt, ihm über die Schulter zu blicken. Als sei allein Orlandi befugt, den Stein zu betrachten.
«Er ist es!» Orlandi klappte den Deckel wieder zu. «Die Wahre Ähnlichkeit Christi! »
«Damit wäre Punkt eins unseres Plans nahezu erledigt», sagte Donati in einem geschäftsmäßigen Ton, der nichts mit Orlandis Ergriffenheit gemeinsam hatte. «Jetzt bist du an der Reihe, Silvio.»
Einer der drei jüngeren Männer trat vor und verstaute den Holzkasten in seinem Rucksack. Er sollte zu den Tempelruinen zurückkehren und die Beute mit dem Lieferwagen, mit dem sie gekommen waren, in Sicherheit bringen. Als Silvio durch das Sprengloch kroch und im Dunkel dahinter verschwand, fragte Alexander sich, ob er den geheimnisvollen Smaragd jemals zu Gesicht bekommen würde.
Der Schweizer trat einen Schritt vor, ins Lichtfeld einer Deckenlampe, sodass Shafqat sein Gesicht sehen konnte. Es war ein breites Gesicht, genau passend zu dem großen, kräftigen Mann, der seine Uniform mit jeder Bewegung zu sprengen schien. Was Shafqat erschreckte, war der kalte und feindselige Ausdruck. Ein Blick genügte, um zu begreifen, dass der Gardist zum Töten bereit war. Und als Shafqat sich an den Namen des Mannes erinnerte, wurde ihm klar, dass es sich hier nicht um einen Routinewachgang handelte. Der Gardist gehörte zum Zirkel der Zwölf. Entweder hatte er ihn verfolgt, oder er kontrollierte den Zugang zu den Stollen.
«Haben Sie sich verlaufen, Don Shafqat?», fragte der Soldat in einem Italienisch, das ebenso unbeholfen klang wie das des irischen Geistlichen.
«Ja, so ähnlich», antwortete Shafqat, fieberhaft nach einer glaubhaften Ausrede suchend.
«Warum wollen Sie diese Tür öffnen?»
«Ich dachte, es könnte eine Abkürzung sein.» Als er es aussprach, wusste Shafqat auch schon, wie absurd es sich anhörte.
«Eine Abkürzung wohin, Monsignore?»
«Nach draußen natürlich.»
Der Gardist zeigte mit dem Daumen über seine breite Schulter.
«Da hätten Sie besser die Treppe genommen, über die Sie auch gekommen sind.»
«Das sollte ich wohl», murmelte Shafqat und wollte sich an dem anderen vorbeischleichen.
Der verstellte ihm mit einem schnellen Schritt zur Seite den Weg– «Augenblick mal, Don Shafqat. Sie tragen da einen Dietrich bei sich, nicht wahr?»
«Ja», antwortete der Ire, da er es schlecht leugnen konnte.
«Warum?»
«Das geht Sie nichts an, Adjutant. Lassen Sie mich jetzt durch!»
Shafqat bemühte sich, die Autorität geltend zu machen, die dem Privatsekretär des Papstes zukam. Ein Adjutant der Schweizergarde hätte davon unter normalen Umständen mehr als beeindruckt sein müssen. Doch der Gardist zeigte sich ungerührt. Es war offensichtlich, dass kein Argument und kein Befehl ihn dazu bringen konnte, Shafqat aus der Mausefalle zu lassen, in die er sich selbst begeben hatte.
«Sagen Sie mir jetzt die Wahrheit, Monsignore! Was haben Sie hier unten gesucht?»
Wut stieg in Shafqat hoch. Wut auf die Verschwörer, die sich aufführten, als gehöre der Vatikan ihnen. Selbst wenn es so war
– er wollte nicht klein beigeben und sagte gepresst: «Ich suche die Männer, die für den Anschlag auf Papst Custos verantwortlich sind.»
Der Gardist nahm die Herausforderung an. Er sprang vor, und der erhobene Schwertarm sauste nach unten. Shafqat hatte damit gerechnet und wich zur Seite aus. Er hoffte immer noch, an seinem Gegner vorbeizukommen und ihm zu entwischen. Einen Kampf Mann gegen Mann konnte er, unbewaffnet und mit nur einem gesunden Arm, kaum gewinnen. Auch wenn er vor vielen Jahren ein guter Boxer gewesen war und es in seiner Heimatstadt Killarney bis zum Jugendmeister im Schwergewicht gebracht hatte.
Sein Plan schien aufzugehen. Der Gardist wurde vom Schwung des eigenen Angriffs mitgerissen. Shafqat lief an ihm vorbei, stolperte aber über den Werkzeugkasten und stürzte. Das wäre nicht so schlimm gewesen, wäre er nicht auf seinen verletzten Arm gefallen. Ein höllischer Schmerz durchfuhr ihn, und es verstrichen kostbare Sekunden, die ihm für die Flucht fehlten. Als er sich aufrappeln wollte, traf ihn ein Fußtritt ins Kreuz, der ihn erneut zu Boden warf.
«Da unten liegen Sie schon richtig, Monsignore», höhnte der Gardist. «Bevor Sie aufstehen, werden Sie meine Fragen beantworten.»
Shafqat erinnerte sich an die unsauberen Tricks der Boxer, legte seine Beine wie eine Schere um die Unterschenkel des Uniformierten und brachte ihn ebenfalls zu Fall. Er wollte das Schwert an sich reißen, doch der Schweizer zog es weg, sodass Shafqat in die Klinge griff und sich die rechte Hand gefährlich aufschnitt.
Der Gardist erkannte, dass er den Geistlichen unterschätzt hatte. Er verschwendete keine Zeit damit, sich zu erheben, sondern stieß im Knien zu. Ungläubig starrte Shafqat auf die Klinge, die tief in seine Brust fuhr. Erst als der Schweizer den Stahl wieder herausgezogen hatte, kam Shafqat zu Bewusstsein, dass es sein Blut war, mit dem die Klinge überzogen war. Und jetzt spürte er auch den Schmerz. Es fühlte sich an, als würde sein Brustkörper von innen auseinander gesprengt.
Als Shafqat über dem Werkzeugkasten zusammenbrach, stand der Gardist auf. Das Schwert einsatzbereit in der Rechten, starrte er auf den Iren hinab. Doch der rührte sich nicht. Der Schweizer stieß ein zufriedenes Grunzen aus und bückte sich nach seinem Barett, das heruntergefallen war.
Shafqat wusste, dass dies seine letzte Chance war. Seine pochende Rechte umklammerte einen großen Schraubenschlüssel, den er in dem Werkzeugkasten ertastet hatte. Als der Schweizer sich bückte, erhob er sich mit letzter Kraft und zog den schweren Schraubenschlüssel über den Soldatenschädel mit dem militärisch kurz geschorenen Haar.
Der Schweizer stöhnte und knickte ein.
Shafqat war, als gebe der Boden unter ihm nach. Alles drehte sich, löste sich auf, und dem Schmerz folgte ein erlösendes schwarzes Nichts.
Aus der Schwärze schälten sich Konturen heraus, schemenhaft erst, dann immer deutlicher. Er sah den schwach beleuchteten Gang mit den nummerierten Türen und erinnerte sich an den erbitterten Kampf. Mit der Erinnerung kamen die Schmerzen, aber auch das Gefühl des Triumphs.
Er hatte gesiegt!
Sein Gegner lag wie tot am Boden. Die Schmerzen, die ihm jede Bewegung verursachte, ignorierend, beugte er sich über den anderen.
Da hörte er das Geräusch, das Klappern einer Tür. Er musste fürchten, entdeckt zu werden. Mit einem schnellen Griff packte er das blutige Schwert und zog sich an einer Wand hoch. Er war ziemlich wacklig auf den Beinen, konnte sich gerade noch bis zur Wendeltreppe schleppen und sich dahinter verbergen, ein Schatten im Schatten.
Die gewaltsam aufgebrochene Tür am Ende des Ganges schwang mit lautem Krachen auf, und mehrere Gestalten traten heraus.
«Wo sind wir?», fragte Donati, als sie nach ihrem langen Weg durch das unterirdische Stollensystem in den beleuchteten Gang traten.
«Immer noch unter der Erde», antwortete Alexander. «Aber hier scheinen öfter Menschen herzukommen.» Er blickte sich um. «Vermutlich gehört das alles zur Tiefgarage, aber diesen Gang kenne ich nicht.»
Der Weg von der Edelsteinkapelle hierher war verhältnismäßig einfach gewesen. Zwar hatte es immer wieder Abzweigungen gegeben, aber sie waren den Spuren gefolgt, die aller Wahrscheinlichkeit nach vom Zirkel der Zwölf stammten.
Die meisten Stollen waren am Boden mit feinem Geröll bedeckt, nicht aber der, für den sie sich schließlich entschieden hatten.
Dort schienen häufiger Menschen zu verkehren. Der Gang hatte sie zu einer verschlossenen Tür geführt, die sie gewaltsam aufbrachen. So waren sie in einen großen Geräteschuppen gelangt. Von dessen Seite war die Tür mit Schläuchen und Drahtrollen derart verhängt, dass sie vor zufälliger Entdeckung sicher war. Die Ausgangstür des Schuppens hatten sie ebenfalls aufbrechen müssen, und so waren sie auf diesen schwach erleuchteten Gang gestoßen.
«Zumindest gibt es da hinten eine Treppe.» Donati zeigte ins Halbdunkel des Korridors. «Gleich werden wir mehr wissen.»
Beim Näher treten entdeckten sie die reglose Gestalt, die inmitten einer Blutlache am Boden lag. Alexander überholte den hinkenden Commissario und drehte den schweren Körper um.
Er erkannte den Mann und erschrak. Denn er blickte in die Augen eines Toten.
«Blutige Fußspuren», stieß Donati halblaut hervor.
Der Strahl seines Scheinwerfers glitt über den Estrich. Jemand war in das Blut des Toten getreten und bis zu der Wendeltreppe am Ende des Korridors gelaufen. Der sich immer mehr ins Ovale verlängernde Lichtfleck des Scheinwerfers folgte der Spur. Sie endete nicht am Treppenabsatz, sondern führte weiter hinter das Metallgestell, wo zusammengekauert eine Gestalt in der Uniform der Schweizergarde hockte.
Genau in diesem Augenblick verließ der Gardist sein Versteck; er wollte über die Treppe flüchten. Alexander sah das Schwert in der Hand des Mannes und dann endlich sein Gesicht.
Sosehr dieser Anblick ihn auch schmerzte, jetzt wollte er nur Don Shafqat rächen und verhindern, dass der Mörder flüchtete.
Er ließ seinen Scheinwerfer neben dem Toten liegen, spurtete los, bekam den Flüchtenden an den Unterschenkeln zu fassen und zog ihn mit aller Kraft nach unten.
Beide Männer verloren das Gleichgewicht und bildeten ein ineinander verschlungenes Knäuel aus Leibern und Gliedmaßen, das gegen eine Wand des Korridors prallte. Der Uniformierte hatte bei dem Sturz sein Schwert verloren und verteidigte sich mit bloßen Fäusten. Alexander bekam einen kräftigen Hieb aufs Kinn und beantwortete ihn mit einem Ellbogenstoß in die Rippen.
Ein Schatten fiel auf sie. Es war Orlandi, der eine Impfpistole an den linken Arm des Uniformierten presste. Ein kurzes Zischen, und schon zog der Professor sich wieder zurück.
Alexander spürte, wie der Widerstand in Sekundenschnelle schwächer wurde. Der Kopf seines Gegners fiel zur Seite. Das Betäubungsmittel, das Orlandi dem Schweizer gespritzt hatte, wirkte verblüffend schnell.
Alexander kniete über dem Schlafenden und sah zu Orlandi auf. «Sie sind sehr geschickt darin, Leute ins Reich der Träume zu schicken, Professor. Beschränkt sich Ihre ärztliche Kunst darauf?»
«Ich würde sagen, Sie sollten sich mal an Ihre Nase fassen.
Sind Sie nicht damit einverstanden, dass ich Ihnen eben geholfen habe?»
«Nein!», sagte Alexander hart. «Ich hätte das gern selbst erledigt.»
Orlandi sah ihn zweifelnd an. «Warum?»
«Weil dieser Mann, der für mich wie ein Bruder war, mich verraten hat.»
Auf dem Belvederehof spaltete die Gruppe sich auf. Orlandi, Donati und einer ihrer jungen Begleiter hielten auf den Trakt des Apostolischen Palastes zu, in dem die Krankenstation lag. Sie hofften, die kleine Seitentür, die Shafqat hatte öffnen sollen, auch ohne dessen Hilfe zu finden. Alexander und der drahtige, fast kahlköpfige Mittzwanziger, den sie Dario nannten, übernahmen die Aufgabe, den Ambulanzwagen zu kapern.
Während sie im Häuserschatten auf die Ambulanzgarage zuschlichen, kreisten Alexanders Gedanken um den Mann, der in der Tiefgarage schlief und dessen Uniform er angezogen hatte. Insofern war es ein Glücksfall, dass sie auf Utz Rasser gestoßen waren. Für Don Shafqat allerdings war die Begegnung das Gegenteil gewesen.
Alexander bedauerte, dass sie Rasser hatten zurücklassen müssen. Vielleicht hätte er ihnen wertvolle Informationen über den Zirkel der Zwölf und über Elenas Aufenthaltsort liefern können. Professor Orlandi besaß bestimmt ein Mittel, das ihm die Zunge auch gegen seinen Willen gelöst hätte.
Möglicherweise hätten sie Rasser sogar gegen Elena austauschen können. Aber ihn mitzunehmen wäre höchst beschwerlich gewesen und hätte ihre Mission gefährdet. Die Rettung des Papstes genoss absolute Priorität – abgesehen wohl von der Bergung des geheimnisvollen Smaragds. Alexander konnte nicht sagen, woran den Electi mehr gelegen war.
Der Vorfall in der Tiefgarage hatte seine Stimmung gedämpft.
Er sah noch Orlandi vor sich, wie dieser sich über Shafqat beugte, ihn sorgfältig abtastete und dann die seltsamen Worte sprach: «Es ist kein Leben mehr in ihm. Selbst ich kann nichts mehr für Bruder Shafqat tun.»
Geduckt huschten Alexander und Dario unter den schwach erleuchteten Fenstern der vatikanischen Feuerwache vorbei.
Leises Musikgedudel drang nach draußen. Das halbe Dutzend Männer schlief wahrscheinlich, mit Ausnahme des Wachhabenden, der, vor dem Radio dösend, auf das Morgengrauen wartete und auf das Ende der 24-Stunden-Schicht.
Die kleine Ambulanzgarage lag direkt neben der größeren Feuerwehrgarage, in der die drei Tanklöschzüge und die beiden Drehleiterfahrzeuge einsatzbereit standen. Die verschlossenen Tore der Feuerwehrgarage öffneten sich auf Knopfdruck in weniger als zehn Sekunden; die Ambulanzgarage hatte nicht mal ein Tor, der weiße Wagen konnte ohne Zeitverlust starten. Falls der Papst doch einmal in ein römisches Krankenhaus gebracht werden musste, brauchte keine Zeit mit dem Warten auf eine externe Ambulanz verschwendet zu werden.
Alexander lugte um die Ecke. Eine Neonröhre erhellte die Garage. Die Fahrertür der Ambulanz stand halb offen. Der Fahrer der Einsatzbereitschaft war über dem Lenkrad zusammengesunken. Ein dickes Buch war seinen Händen entglitten und lag hinter der Windschutzscheibe.
Alexander bedeutete Dario, er solle hier warten, und ging leise auf den Ambulanzwagen zu. Der Fahrer schlief nicht so fest, wie er gehofft hatte; Alexanders Schritte schreckten ihn auf. Der Mann blinzelte, und ein Rucken ging durch seinen ganzen Körper. Ihm kam zu Bewusstsein, dass er den schweren Kampf gegen den Schlaf verloren hatte, und er musterte Alexander mit einem unfreundlichen Blick, nicht skeptisch, sondern wütend über die Störung. Wahrscheinlich glaubte er, der Gardist wolle ihn für seine Schläfrigkeit rügen.
«Buona notte», sagte Alexander mit einem breiten Grinsen und zog die Tür auf.
Ehe der Fahrer etwas erwidern konnte, packte Alexander ihn beim linken Arm und zog ihn mit einem heftigen Ruck aus dem Wagen. Kaum fiel der untersetzte Mann ihm aufstöhnend vor die Füße, rammte er ihm auch schon seine ineinander verschränkten Hände in den Nacken. Das war eine schmerzhafte Methode, jemanden schlafen zu schicken, aber die einzige, über die Alexander im Moment gebot.
Nachdem sie den Fahrer in die hinterste und dunkelste Ecke der Garage geschleift hatten, schlüpfte Dario in dessen Dienstoverall, der ihm viel zu knapp war. Er zog den Reißverschluss nur zur Hälfte hoch, was nicht weiter auffiel, wenn er hinter dem Steuer der Ambulanz saß. Alexander kletterte auf den Beifahrersitz und warf den Schmöker nach draußen, damit Dario eine bessere Sicht hatte. Der Schlüssel steckte. Jetzt hieß es warten, bis … bis Darios kleines Funkgerät knackte. «Glas für Flasche, Glas für Flasche, wir haben den Korken sichergestellt. Ende.»
Die verzerrte Stimme gehörte Donati, der sich auch die albernen Codenamen ausgedacht hatte.
«Flasche für Glas, wir bringen den Sektkübel», antwortete Dario. «Ende.»
«Glas für Flasche, verstanden. Ende und aus.»
Als Dario den Motor anließ, erschien das Geräusch Alexander ungewöhnlich laut, wohl weil es ringsum so still war und weil er unter starker Anspannung stand. Er konnte nur hoffen, dass die Männer in der nahen Feuerwache nichts gehört hatten.
Mit Schrittgeschwindigkeit fuhren sie in den Belvederehof, ohne das Licht einzuschalten. Alexanders Augen suchten die dunklen Palastmauern ab und entdeckten schließlich das ersehnte Signal: das mehrmalige Aufblitzen einer Taschenlampe. Dario lenkte den Wagen in die Richtung des Signals: zu einer geöffneten Tür, in der ihre drei Gefährten sie erwarteten. Sie schoben eine Rollbahre mit dem Papst durch die Tür, die dafür gerade breit genug war.
Alexander sprang aus dem Wagen, riss die Hintertür auf und fragte: «Wie ist es gelaufen?»
«Unerwartet gut», antwortete Donati. «Leone und ich mussten vor der Krankenstation einen Gendarmen und einen Schweizer erledigen. Drinnen hielt nur der Leibarzt des Papstes Krankenwache. Er sah aus, als könnte er etwas Schlaf vertragen.»
Während sie Papst Gardien vorsichtig auf die Liege in der Ambulanz umbetteten, betrachtete Alexander das Gesicht des Schlafenden. Es sah nicht friedlich aus, wie er erwartet hatte, wirkte eher angespannt. So als registriere der Heilige Vater alles, was um ihn her geschah.
Orlandi, Donati und Leone stiegen zu Gardien in den Innenraum. Alexander nahm wieder vorn bei Dario Platz und wies ihm den Weg zur Porta Sant’Anna. Immer noch ohne Licht rollte der Wagen im Leerlauf über die abschüssige Straße auf das nachts geschlossene Gittertor zu.
Gebannt starrten die beiden Männer auf das hohe, schwere Gitter, hinter dem die rettende Straße lag. Noch zwanzig Meter, fünfzehn, zwölf …
Zwei Gardisten sprangen aus dem Wachhäuschen vor das Tor und wedelten wild mit ihren weiß behandschuhten Händen.
«Gas, Fernlicht und hupen!», rief Alexander.
Dario befolgte die Anweisung. Der schwere Wagen machte einen Satz und schoss nach vorn.
Die Hupe lärmte ohrenbetäubend. Alexander wollte seinen Kameraden durch das Warnsignal die Möglichkeit geben, sich in Sicherheit zu bringen; die meisten Gardisten wussten schließlich nichts von den Machenschaften des Zirkels. Von der Hupe aufgeschreckt und vom Fernlicht geblendet, sprangen die beiden Schweizer tatsächlich zur Seite.
Der Wagen prallte gegen das Gitter. Dem dunklen Klatschen des ersten Aufpralls folgte ein markdurchdringendes Kreischen, als Metall sich an Metall rieb. Funken sprühten durch die Nacht, die beiden Torflügel sprangen auf und gaben das Fahrzeug frei.
Feine Risse durchzogen die Windschutzscheibe, die nicht mehr lange durchhalten würde. Aber das war unwichtig, solange sie nur die Via di Porta Angelica erkennen konnten.
Dario bog nach links ab, schaltete auf Abblendlicht um und sagte mit einem zufriedenen Grinsen: «Das war ein tolles Ding!»
21
Freitag, 15. Mai, vormittags
Alexander konnte kaum fassen, dass die Entführung des Papstes so reibungslos abgelaufen war. Wäre nicht Don Shafqats Tod zu beklagen gewesen, hätte man von einem Erfolg auf der ganzen Linie sprechen können. Donati hatte den einzig möglichen Plan entworfen: überraschend und, vor allen Dingen, mitten aus dem Vatikan heraus zuschlagen. Hätten sie erst gewaltsam in den Kirchenstaat eindringen müssen, wären Schweizergarde, Vigilanza und italienische Polizei alarmiert gewesen und hätten ein Entkommen verhindert.
Das alles ging Alexander durch den Kopf, als er sein Zimmer in Orlandis Privatklinik verließ. Er hatte geduscht und ein für italienische Verhältnisse ungewöhnlich deftiges Frühstück zu sich genommen. Donatis Rat, sich eine Weile hinzulegen, hatte er in den Wind geschlagen. Der Schlaf einer ganzen Nacht mochte ihm fehlen, aber nach den überstandenen Aufregungen war ihm nicht nach Bettruhe zu Mute. Er hätte vermutlich kein Auge zugetan. Zu sehr brannte er darauf zu erfahren, wie die weiteren Pläne der Auserwählten aussahen.
Über den Wolken war die Sonne aufgegangen und trübes Morgenlicht fiel durch die vergitterten Fenster. In den Gängen brannten noch die Fin-de-Siecle-Lampen, die, wie so vieles hier, überhaupt nicht nach einem Krankenhaus aussahen. Eine etwa zehnköpfige Gruppe von Männern und Frauen eilte an ihm vorbei die Treppe hinauf. Alexander entdeckte Donati und Solbelli unter ihnen und folgte der Gruppe neugierig. Es ging hinauf in den obersten Stock, wo die Gruppe hinter einer zweiflügeligen Tür verschwand. Vor der Tür hielten Dario und Leone Wache. Beide hatten sie eine handliche MP vom Typ Spectre M4 umgehängt, die Schulterstütze angeklappt. Die nur fünfunddreißig Zentimeter lange Waffe, in deren vierreihiges Magazin fünfzig 9-mm-Patronen passten, galt aufgrund ihrer Kompaktheit und Schusskapazität und weil sie so schnell und mit großer Treffsicherheit eingesetzt werden konnte, als ideal für den Personenschutz. Für Alexander war es keine Frage, welche Person Dario und Leone schützten.
Donati war hinter den anderen zurückgeblieben und drehte sich jetzt so unerwartet um, dass Alexander fast mit ihm zusammengeprallt wäre.
«Wohin des Wegs?»
Alexander nickte in Richtung Tür. «Zu Seiner Heiligkeit.»
«Woher wollen Sie wissen, dass der Papst sich hier aufhält?»
«Intuition.»
«Sie wären ein guter Polizist. Trotzdem können Sie da nicht hinein, ebenso wenig wie ich. Nur die Auserwählten dürfen an der Sitzung teilnehmen.»
«Ich dachte, Sie gehören zu den Auserwählten, Commissario?»
«Ich gehöre zu ihnen, aber ich bin keiner von ihnen. Wenn Sie so wollen, arbeite ich für sie, aus Überzeugung, nicht für Geld.
Professor Orlandi hat sich um mich gekümmert, damals, nach der Bombengeschichte in Mailand.» Donatis Gesicht verfinsterte sich bei der Erinnerung. «Orlandi und seinen besonderen Fähigkeiten verdanke ich, dass ich überhaupt noch am Leben bin. Er hat meinen Körper, aber auch meinen Glauben zusammengeflickt, dafür schulde ich ihm und den Auserwählten ewigen Dank.»
«Statten Sie diesen Dank ab, indem Sie uns Schweizern Unterricht erteilen, um auf diesem Weg an Informationen über den Zirkel der Zwölf zu gelangen? Und könnte es sein, das Sie selbst dafür gesorgt haben, dass Sie Bazzini für die Ermittlungen zur Seite gestellt wurden?»
Donati lächelte. «Ich sagte schon, Sie gäben einen guten Polizisten ab, Signor Rosin.»
Ein grauhaariger Kopf erschien in der Tür und sechseckige Brillengläser reflektierten das satte Licht der Deckenlampen.
«Geht’s bei den Herren vielleicht ein wenig leiser?», fragte Solbelli vorwurfsvoll. «Hier drin versuchen ein paar Leute, sich zu konzentrieren.»
«Erklären Sie das Signor Rosin», erwiderte Donati.
«Was will er?»
«Hinein.»
«Ah, verstehe.» Der Gelehrte musterte Alexander. «Na, dann kommen Sie, Signor Rosin.»
«Aber …»
Solbelli erstickte Donatis Protest mit einer herrischen Handbewegung. «Ich kann verstehen, dass Signor Rosin im Bilde sein will. Schließlich hat er einen Eid geschworen, dem Heiligen Vater beizustehen. Traurig genug, dass nur einer aus der ganzen Schweizergarde in der Lage ist, seinen Eid zu halten.
Ich an seiner Stelle würde auch dabei sein wollen.»
Zweifelnd, vielleicht auch ein wenig eifersüchtig, sah Donati zu, wie Alexander durch die Tür ging, die Solbelli gleich darauf schloss.
Kein weiß-steriles Krankenzimmer, keine Infusionen, keine Monitore, die Auskunft über den Zustand des Papstes gegeben hätten. Natürlich nicht. Alexander hätte wissen müssen, dass in dieser
Privatklinik
nichts so war wie in anderen
Krankenhäusern. Man konnte den Raum am ehesten als großes, spartanisch eingerichtetes Schlafzimmer bezeichnen. Ein schmales Bett stand frei in der Mitte. Seine Heiligkeit schien darin einen friedlichen Schlaf zu schlafen.
Rund um das Bett knieten Männer und Frauen, die Auserwählten. Ihre Hände lagen auf dem Kopf des Papstes, auf seiner Stirn, seinem Gesicht. Etliche Arme reckten sich unter die Bettdecke, um den Leib des Schlafenden zu berühren. Es sah aus wie eine kultische Handlung, eine religiöse Zeremonie, die umso seltsamer anmutete, als die Auserwählten ganz normal gekleidet und nicht etwa in Priestergewänder gehüllt waren. Es herrschte vollkommenes Schweigen, alle wirkten höchst konzentriert. Von Alexander schien niemand Notiz zu nehmen.
Solbelli zeigte auf einen gepolsterten Stuhl in einer Ecke.
Alexander nahm schweigend Platz und sah zu, wie der Privatgelehrte sich neben Orlandi an das Kopfende des Bettes kniete, seine Hände auf das Gesicht des Papstes legte und ebenfalls in diesen tranceartigen Zustand sank. Es war so unerträglich still, dass Alexander kaum zu atmen wagte.
Hinterher hätte er nicht sagen können, wie lange er auf dem Stuhl gesessen und die anderen einfach nur angesehen hatte.
Von den Auserwählten schien eine hypnotische Kraft auszugehen, die ihn aus Zeit und Raum entrückte. Ein wohliges Gefühl ergriff von ihm Besitz, warm und prickelnd, als fließe eine geheime Energie durch das Zimmer. Es erinnerte ihn an seinen Besuch bei Papst Custos, vor jener kleinen Ewigkeit von vierzehn Tagen, als der Heilige Vater ihn von seinen Schmerzen geheilt hatte. Jetzt empfand er die gleiche Geborgenheit.
Er war nicht mehr im Geringsten verwundert über die ungewöhnliche Zeremonie. Warum auch? Er hatte es geahnt, bevor er das Zimmer betreten hatte. Nur hatte der rationale Teil seiner selbst die Erkenntnis unterdrückt. So wunderte er sich auch nicht, als der Heilige Vater die Augen aufschlug, sich umblickte und mit leiser Stimme zu den anderen sprach, Worte des Dankes an seine «Brüder und Schwestern» richtete.
Die ließen erschöpft von ihm ab, zitternd, schweißüberströmt, nahezu am Ende ihrer Kräfte. Beim Verlassen des Zimmers stützten sie sich gegenseitig. Nur Orlandi blieb am Bett hocken und sprach leise mit dem Papst.
Solbelli trat heran und lehnte sich schwer atmend gegen die Wand. «Bruder Gardien muss sich ausruhen. Auf was warten Sie noch, Alexander?»
«Auf Erklärungen.»
«Erklärungen wollen Sie also, Alexander. Und auch noch eine ganze Menge, schätze ich.»
«Ich hoffe, es ist nicht zu viel verlangt, aber ich …»
«Sie sind reichlich verwirrt, natürlich.»
Der Papst lächelte verständnisvoll. Jedenfalls legte Alexander sein Mienenspiel so aus. In dem Dämmerlicht, das durch die verhängten Fenster ins Zimmer fiel, war das nicht eindeutig festzustellen.
Mehr als zwölf Stunden war es her, dass Alexander der eigentümlichen Zeremonie beigewohnt hatte, mit der die Auserwählten den Heiligen Vater aus dem Koma geholt hatten.
Alexander hatte für ein paar Stunden Schlaf gefunden, unruhigen Schlaf, angefüllt mit dem Traumgesicht der um Hilfe rufenden Elena; er fühlte sich nicht sonderlich ausgeruht. Ganz anders Custos. Seine Lebhaftigkeit war erstaunlich angesichts der schweren Schussverletzungen. Für ihn schienen nicht zwölf Stunden, sondern zwölf Wochen vergangen zu sein.
Er lag nun in einem anderen, kleineren Zimmer im obersten Stockwerk und wurde weiterhin von zwei Bewaffneten bewacht.
Dario und Leone waren von Männern abgelöst worden, deren Namen Alexander nicht kannte. Auch sie trugen die griffigen Spectre-MPs. Alexander hatte beobachtet, dass weitere bewaffnete Wachen in den ausgedehnten Grünanlagen patrouillierten.
Vor fünf Minuten war Solbelli zu ihm gekommen, hatte ihn zum Papst geführt und sie auf Geheiß des Heiligen Vaters allein gelassen. Zum zweiten Mal traf Alexander diesen Mann unter vier Augen. So vieles war seit ihrer ersten Begegnung geschehen, hatte sich in den zwei Wochen verändert. Von der Beklommenheit, die ihn damals befallen hatte, als Don Shafqat ihn in das private Arbeitszimmer Seiner Heiligkeit führte, spürte er jetzt nichts. Was nicht daran lag, dass der Heilige Vater einen ganz und gar weltlichen Pyjama trug. Brennende Neugier und die Erkenntnis, dass sie beide in dasselbe dunkle Spiel verstrickt waren, verdrängten jede Ehrfurcht.
«Ich will Ihnen keine langen Vorträge halten, Alexander.» Die Stimme des Papstes klang voll und kräftig, nicht wie die eines Schwerverletzten. «Am besten stellen Sie einfach Ihre Fragen.»
Alexander beugte sich vor, sah ihm in die Augen und fragte:
«Eure Heiligkeit, sind Sie der Engelspapst?»
Zu seinem Erstaunen kicherte der Papst. «Bei allen Heiligen, Sie verstehen es, auf den Punkt zu kommen.»
«Sie wollten, dass ich frage.»
«Und Sie sollen Ihre Antwort bekommen: Ja und nein. Ich bin kein überirdisches Wesen, auch wenn das, was Sie in meiner Gegenwart erlebt haben, Ihnen einen anderen Eindruck vermittelt haben mag. Ich bin nicht gesandt worden, um alte Prophezeiungen zu erfüllen. Aber ich will das vollbringen, was seit Jahrhunderten als Aufgabe des Engelspapstes betrachtet wird. Die Kirche soll wieder das Wort Jesu verkünden und nicht die im Laufe zweier Jahrtausende entstandenen Verfälschungen, ja Verdrehungen seiner Lehre. Für alle, die dieses Ziel auch verfolgen, bin ich der Engelspapst – für meine Gegner wohl eher der Antichrist.»
«Und um die Aufmerksamkeit der Welt auf sich zu lenken, wollten Sie Wunder vollbringen.»
«So ähnlich, ja. Ich würde es nicht Wunder nennen, auch wenn die Medien dieses Schlagwort lieben. Ursprünglich wollte ich viel langsamer vorgehen und die Gläubigen behutsam an die Wahrheit heranführen. Doch dann haben die Ereignisse sich überstürzt, angefangen mit dem Mord an Oberst Rosin und seiner Frau – ich musste einfach handeln. Nach unserer ersten Begegnung begann ich mich zu fragen, ob ein schnelleres Vorgehen nicht weitere Opfer verhindern könnte. Und als sich bei der Generalaudienz die Gelegenheit bot, meine heilenden Kräfte zu demonstrieren, habe ich nicht länger gezögert.»
«Für mich ist es ein Wunder, was Sie in der Nervi-Halle vollbracht und was die Auserwählten heute Morgen bei Ihnen erreicht haben, Heiligkeit. Was geschieht da?»
«Um Ihnen das zu erläutern, muss ich Ihnen verdeutlichen, wer ich bin. Schalten Sie doch bitte das Licht ein!»
Alexander kam der Bitte nach. Eine vierflammige Deckenlampe tauchte den Raum in warmes, anheimelndes Licht.
Auf dem Tisch neben dem Bett des Papstes lagen mehrere Bücher neben einer Holzschatulle. Es war der Kasten, den sie in der Nacht aus der Edelsteinkapelle geborgen hatten.
Dieses unscheinbare Behältnis verkörperte für ihn alle Geheimnisse, die sich in den letzten zwei Wochen vor ihm aufgetürmt hatten. Schon vor fünfhundert Jahren hatte sein Vorfahr Albert Rosin für den Kasten – oder für das, was er enthielt – sein Leben aufs Spiel gesetzt.
Er war enttäuscht, als Custos statt zu dem Kasten zu einem großformatigen Buch griff. Die unbekümmerte Art, wie der Papst sich im Bett aufsetzte, passte nicht zu einem Mann, der kürzlich operiert und erst wenige Stunden zuvor aus dem Koma erweckt worden war. Custos blätterte in dem Bildband und zeigte Alexander schließlich ein Gemälde, das auf einer Doppelseite abgebildet war: dreizehn Männer, die, mit den unterschiedlichsten Anzeichen der Erregung, an einer langen Tafel saßen oder gerade von ihr aufgesprungen waren; nur der Mann in der Mitte, der langes Haar und einen Bart trug, saß gelassen auf seinem Platz und streckte in beruhigender Geste die Hände aus.
«Das Abendmahl» , sagte Alexander und fügte nach kurzer Pause hinzu: «Von Leonardo da Vinci.»
Das Universalgenie der Renaissance schien ihn regelrecht zu verfolgen, tauchte immer wieder auf: als Erfinder lederner Taucheranzüge, als Spion und Anführer von Ketzern, jetzt als Maler.
«Bruder Solbelli hat Ihnen bereits gesagt, dass Leonardo im Vatikan weilte, um in den Geheimarchiven zu forschen. Das war im Jahr 1492. Drei Jahre später begann er im Refektorium des Mailänder Dominikanerklosters Santa Maria delle Grazie mit den Arbeiten am Abendmahl. »
«Das hört sich an, als gäbe es da einen verborgenen Zusammenhang.»
«So verborgen ist er gar nicht. Sehen Sie sich das Gemälde in Ruhe an, dann werden Sie erkennen, was Leonardo in Rom herausgefunden hat.»
Der Papst reichte Alexander das Buch. Ihre Hände berührten sich kurz, und Alexander spürte ein warmes, angenehmes Kribbeln. Seine Augen suchten die Reproduktion des berühmten Gemäldes nach etwas Auffälligem ab. Vergeblich.
Der Papst tippte mit dem Zeigefinger auf die zweitäußerste Figur auf der linken Seite. «Wissen Sie, wer das ist?»
«Nein», sagte Alexander, der zwar die Namen der zwölf Apostel kannte, sie dem Gemälde aber nicht alle zuordnen konnte.
«Allgemein wird behauptet, dies sei der jüngere Jakobus», erklärte Custos. «Betrachten Sie einmal erst ihn und dann die anderen Gestalten auf dem Bild!»
Leichte Erregung schwang in der Stimme des Heiligen Vaters mit. Er schien gespannt darauf zu warten, dass Alexander hinter das Geheimnis kam.
Der Schweizer musste das Bild nur bis zur Mitte ansehen, dann rief er: «Jakobus und Jesus sehen sich erstaunlich ähnlich, fast wie …»
«Wie Zwillingsbrüder, sprechen Sie es ruhig aus.» Der Papst nickte zufrieden. «Leonardo hat die Ähnlichkeit bis hin zu der roten Kleidung betont; das Einzige, was die beiden unterscheidet, ist der Mantel, den Jesus um die Schulter geschlungen hat. Sie haben es erkannt, Alexander. Diese Ähnlichkeit Christi mit einem seiner Jünger ist der Schlüssel zur geheimen Botschaft des Bildes. Und sie ist der Grund, weshalb es immer wieder Bestrebungen der Mächtigen gegeben hat, das Gemälde zu zerstören oder es sich anzueignen. Schon der französische König Ludwig XII. war, als er im Jahr 1499
Mailand eroberte, nur mit Mühe davon abzuhalten, das Bild nach Frankreich zu bringen. So ging es all die Jahrhunderte hindurch. Sie wissen, dass im Zweiten Weltkrieg Bomben auf den Vatikan gefallen sind. Nun, auch das Kloster Santa Maria delle Grazie wurde angegriffen, eine Bombe traf das Refektorium. Das Dach und die ganze Wand rechts neben Leonardos Gemälde wurden zerstört. Das Abendmahl blieb nur deshalb weitgehend erhalten, weil es durch Sandsäcke geschützt war. Vor acht Jahren konnte in letzter Minute ein Mafia-Bombenanschlag auf das Refektorium verhindert werden. Auf der Suche nach den Auftraggebern führten Spuren in den Vatikan, wo sie sich, wie üblich, in Luft auflösten.»
«Vor acht Jahren?», fragte Alexander. «Damals verlor Commissario Donati seine Familie bei einem Bombenanschlag in Mailand.»
«Er war der Mafia auf der Spur, wenn auch nicht wegen des Gemäldes. Aber durch seinen Einsatz sind die Pläne zur Vernichtung des Refektoriums aufgeflogen. Wir haben uns nach dem furchtbaren Anschlag um ihn gekümmert. Das war das Mindeste, was wir tun konnten.»
Jetzt begriff Alexander, warum Donati so leidenschaftlich gegen die Verschwörer im Vatikan vorging. Die Auserwählten hatten vermutlich nicht ganz selbstlos gehandelt, als sie dem Commissario im wahrsten Sinne des Wortes wieder auf die Beine halfen. Einen engagierteren Verbündeten in den Reihen der Polizei hätten sie sich nicht wünschen können.
Aber eins verstand Alexander noch immer nicht: «Wenn Leonardo da Vinci etwas mitzuteilen hatte, warum hat er es nicht einfach aufgeschrieben?»
«Hätte er das, was uns sein Gemälde sagt, offen behauptet, wäre er als Ketzer auf dem Scheiterhaufen gelandet. Außerdem waren damals längst nicht so viele Menschen des Lesens mächtig. Ein Bild konnte jeder verstehen, der sich darauf einließ.»
Die Betonung des letzten Satzes machte Alexander klar, dass dies eine Aufforderung an ihn war. Die Worte des Papstes spukten in seinem Hirn umher: Wie Zwillingsbrüder … Diese Ähnlichkeit Christi mit einem seiner Jünger ist der Schlüssel zur geheimen Botschaft des Bildes.
«Jesus hatte Schwestern und Brüder», überlegte er schließlich laut. «Jedenfalls steht das im Matthäus-Evangelium.
Konservative Theologen deuten die Stelle anders, um die These von Marias ewiger Jungfräulichkeit aufrechtzuerhalten. Sie sprechen von ‹Vettern› statt von ‹Brüdern›. Oder sie behaupten, es handele sich um Kinder aus Josefs erster Ehe.»
Der Papst klatschte in die Hände. «Sehr gut, Alexander!
Erinnern Sie sich auch an die Anzahl und die Namen der von Matthäus erwähnten Brüder Jesu?»
«Ich glaube, es waren drei. Jakobus, Josef und Simon.»
«Einer fehlt noch. Der vierte Bruder Jesu hieß Judas.»
«Eure Heiligkeit glauben also, dass es tatsächlich Brüder waren?»
«Ich glaube es nicht, ich weiß es.» Er zeigte auf das aufgeschlagene Buch. «Kehren wir zum Letzten Abendmahl zurück. Natürlich ist das eine Stilisierung, wie auch die Anzahl der Jünger keine historische Tatsache ist, sondern ein Symbol.
Die Zwölf ist die Zahl des geschlossenen Kreises. Es gibt zwölf Stämme Israels, zwölf Edelsteine auf dem Brustschild des Hohenpriesters, zwölf kleine Propheten und demgemäß zwölf Apostel. Zwölf Stunden haben Tag und Nacht, zwölf Monate hat das Jahr, und wir kennen zwölf Tierkreiszeichen.»
«Ich verstehe», sagte Alexander. «Es können auch acht oder vierzehn Jünger gewesen sein, die das letzte Mahl mit Jesus teilten.»
Custos nickte. «Falls es ein solches Mahl in der überlieferten Form überhaupt gegeben hat. Wenn die Zahl der Jünger symbolisch zu verstehen ist, können sie selbst es auch sein.»
«Sie meinen, einige Jünger hat es gar nicht gegeben?»
«Es kann sich durchaus sowohl bei Figuren als auch bei einzelnen Szenen um Fiktion handeln. Leonardo da Vinci hat drei Jünger abgebildet, die zusammengehören und seine Botschaft verkörpern. Neben Jakobus dem Jüngeren ist Judas Iskariot wichtig, hier, in der linken Bildhälfte. Sehen Sie, wie er sich erschrocken zurücklehnt und die rechte Hand um den Beutel mit den dreißig Silberlingen zusammenkrampft? Die ganze Verratsgeschichte ist unter Historikern sehr umstritten.
Wie auch immer Jesus ausgeliefert wurde, die von Leonardo festgehaltene Ankündigung des Verrats und des eigenen Todes durch Jesus ist eine Erfindung der Evangelisten, um zu zeigen, dass Jesus nicht gescheitert ist, sondern gerade durch seinen Tod zum Erlöser der Welt wurde. Dazu mussten Verrat und Tod zu Bestandteilen des göttlichen Plans erklärt werden.»
«Sie sprachen eben von drei Jüngern, Heiligkeit.»
«Schauen Sie hier rechts, die Figur mit dem warnend oder protestierend emporgereckten Zeigefinger. Das ist der ungläubige Thomas. Sein Unglauben, der Verrat des Judas und die Ähnlichkeit von Jesus und dem jüngeren Jakobus sind der Schlüssel zu Leonardos Botschaft. Verstehen Sie?»
«Nicht im Geringsten», bekannte Alexander.
Unbeirrt fuhr der Papst fort: «Um Thomas ranken sich zahlreiche Legenden und apokryphe Schriften. Darin wird er häufig Judas Thomas genannt. Bedenken Sie, dass auch einer von Jesu Brüdern Judas hieß und ein anderer Jakobus.»
Auf einmal sah Alexander so klar, als sei er in die Gedanken des Heiligen Vaters eingetaucht. «Judas, Thomas und Jakobus –
die drei Jünger auf dem Bild sind einer!»
Custos nickte. «Ganz recht. Leonardo hat die Wesenszüge einer Person aufgespalten und auf drei Jünger übertragen.»
«Der Ungläubige, der Verräter und der mit dem Aussehen Jesu», stieß Alexander hervor. «Sie sind eine Person, ein Bruder des Herrn! Aber welcher?»
«Judas, auch bekannt unter den Namen Judas Thomas, Didymos Judas Thomas oder Thomas Didymos. Was so verwirrend klingt, ist in Wahrheit recht einfach. Thomas, im Aramäischen Toma, bedeutet Zwilling. Dieselbe Bedeutung hat der Name Didymos. Jemanden als Thomas Didymos zu bezeichnen, als Zwilling-Zwilling, wäre also überflüssig – es sei denn, der Name soll ein besonderer Hinweis sein. Ein Hinweis darauf, dass Judas, genannt Thomas Didymos …»
«Der Zwillingsbruder Jesu war!», rief Alexander aus und wurde sich dann erst bewusst, dass er dem Papst in die Rede gefallen war. «Ich habe von den Geschichten über diesen Zwillingsbruder gelesen, hielt sie aber für Legenden.»
«Sie sind wahr, leider», sagte Custos. «Denn dieser Judas war in der Tat ein Verräter, nicht nur an seinem Zwilling Jesu, sondern auch an dessen Lehre. Sehen Sie selbst!»
Nun öffnete er den Holzkasten und nahm den Smaragd heraus, dessentwegen Rom vor fünfhundert Jahren verwüstet worden war: die Wahre Ähnlichkeit Christi. Der hühnereigroße Stein strahlte ein intensives Leuchten aus, das mehr zu sein schien als eine Reflexion des Lampenlichts. Es war, als lodere ein Feuer in dem Edelstein. Ein Feuer, das die beiden Gesichter, die Alexander erblickte, als der Papst den Stein langsam drehte, mit Leben erfüllte. Es konnten genauso gut zwei Profile ein- und desselben Gesichts sein, so ähnlich waren sie einander.
Langes Haar fiel bis über die Schultern. Ein vollbärtiges Gesicht, ausdrucksstark und makellos zugleich, als sei der Mann, dem es gehörte, von großer innerer Kraft und Ruhe erfüllt gewesen. Dann aber, als das eine Profil das andere verdrängte, zeigte sich ein neuer Zug. Das Gesicht schien unverändert, und doch wirkte es auf seltsame Weise hart und verschlossen, so als habe eine dunkle Macht von dem Mann Besitz ergriffen.
«Seit dem Sacco di Roma gilt dieser Stein als verschollen», sagte der Papst. «Diese Schutzbehauptung sollte der heiligen römischen Kirche ein weiteres Desaster von der Art ersparen.
Das hat nicht immer funktioniert, wie der Bombenangriff auf den Vatikan gezeigt hat. Aber damals, in der Renaissance, besaß die Behauptung eine gewisse Glaubwürdigkeit; es hieß, man habe den Smaragd Abbas de Naggera ausgeliefert, und der Tod des Spaniers ließ das Verschwinden des Steins als plausibel erscheinen. Der Stein, der ihm tatsächlich ausgehändigt wurde und der danach nie wieder aufgetaucht ist, war die Fälschung, von der Sie in den Aufzeichnungen Ihres Vorfahren gelesen haben. Sie zeigte nur ein Gesicht Jesu – durfte nur eins zeigen, weil die Kirche die Existenz des Zwillings aus guten Gründen verschweigt.»
«Was ist so bedrohlich an ihm?»
«Judas Thomas hat wie Jesus gegen das strenge Judentum der Pharisäer und die Geschäftemacherei in den Tempeln rebelliert.
Die Zwillinge und ihre Anhänger wollten erreichen, dass die Gesetze den Menschen dienen und nicht die Menschen den Gesetzen. Insoweit stimmt die Schilderung des Neuen Testaments. Jesus stieg zum Führer der Bewegung auf, weil er über Kräfte verfügte, die anderen Menschen verwehrt bleiben.
Heute würden wir von paranormalen Fähigkeiten sprechen, damals war schlicht von Wundern die Rede. Kein Wunder war es allerdings, dass Jesus und seine Jünger die Pharisäer und Tempelpriester gegen sich aufbrachten.»
«Aber auch die Römer», warf Alexander ein.
«Ganz recht. Die Unruhe, die durch den Konflikt im römisch besetzten Judäa entstand, hat dem römischen Statthalter Pontius Pilatus zu schaffen gemacht. Seine Hände waren nicht so rein, wie die Evangelisten uns glauben machen wollen, um die Priester und Pharisäer stärker zu belasten. Pilatus hatte ein vitales Interesse daran, die Akte Jesus oder Jeschua, wie die Zeitgenossen ihn nannten, schnell zu schließen. Also stellte er sich auf die Seite der Ankläger und verurteilte den Aufrührer Jeschua zum Tod. Und am Morgen des Rüsttages für das Passafest zogen römische Legionäre, das Volk aufhetzende Priester und die wenigen Anhänger Jeschuas, die es wagten, ihm in seiner schwersten Stunde nahe zu sein, mit dem blutig gepeitschten Verurteilten vom römischen Prätorium zur Schädelstätte, zum Hügel Golgatha.»
Custos sprach mit solcher Eindringlichkeit, als sei er selbst dabei gewesen. Und etwas Seltsames geschah: Die Stimme des Papstes und das Leuchten des Smaragds zogen Alexander derart in die Erzählung hinein, dass er meinte, unmittelbar Zeuge der zweitausend Jahre zurückliegenden Ereignisse zu werden.
Die Kopfhaut von Dornen zerkratzt, von den Schultern bis zu den Füßen voller Wunden und Blutergüsse, war Jeschua ben Joseph nackt zum Schädelberg gewankt. Nach der Auspeitschung war er kaum in der Lage, aufrecht zu gehen. Und es war gut, sich zu bücken, nicht in die Gesichter der Menschen zu sehen, die den Weg säumten.
Nicht Spott und Neugier in vielen Gesichtern waren es, die Jeschua abschreckten. Er fürchtete den Anblick derer, die er liebte, allen voran seine Mutter Mirjam. Sein Körper, eine einzige blutige Wunde, würde sie mehr schmerzen als ihn. Ihn nackt zu sehen, allen Blicken ausgeliefert, würde ihr mehr Würde rauben als ihm, der bald von allen Schmerzen erlöst sein würde. Die Nacktheit war ein Teil der Strafe, die nicht nur den Leib, sondern auch den Geist treffen sollte. Je schneller die Stunde seines Todes kam, desto besser war es für ihn und alle, die ihn liebten.
So war er fast erleichtert, als der Menschenzug die Kuppe Golgathas erreichte. Und der jähe Schmerz, als die Soldaten ihm Nägel durch die Handgelenke und Füße trieben, erschien ihm als willkommener Sendbote der nahen Erlösung. Er spürte die rauen Hände der Legionäre, als sie ihn mitsamt dem Querbalken, den sie Patibulum nannten, anhoben. Auf zwei schwere Holzgabeln gelegt, wurde der Querbalken höher geschoben und glitt mit einem dunklen Knirschen am fest eingegrabenen Längsbalken entlang, bis er in die vorbereitete Kerbe rutschte.
Die Soldaten wischten sich den Schweiß aus den Gesichtern und ächzten in der Sprache der Römer: «Elende Schinderei! Wir sollten leichteres Holz fürs Patibulum nehmen.» – «Das liegt nicht am Holz, sondern an dem Kerl, der dranhängt. Er muss schwere Knochen haben.» – «Vielleicht welche aus Gold.
Würde mich nicht wundern bei einem König.» – «Wieso König?»
Der andere lachte und zeigte auf das Schild, das sie auf Anweisung des Statthalters am Kreuz anzubringen hatten: König der Juden.
Sie schlugen zwischen Jeschuas Beinen einen Stützpflock für den Unterleib in den Längsbalken und nagelten schließlich das Schild über seinem Kopf an. Jeschua erlebte all das wie einen Traum, wollte schon hinübergleiten in eine Welt ohne Qualen, da packte ihn neuer Schmerz und entriss ihn der Betäubung.
Zwei Nägel fraßen sich durch jedes Schienbein ins Holz des Querbalkens.
Wieder bei wachem Verstand, sah Jeschua die schaulustige Menge und hörte ihre Rufe: «Kreuzigt ihn!» – «Tötet den Heuchler!» – «Wenn er König sein will, dann im Reich der Toten!»
Am lautesten schrien die Tempelpriester, die das Volk aufhetzten. Auch viele der Händler und Geldwechsler, deren Geschäfte im heiligen Tempel Jeschua angeprangert hatte, zählten zu den Schreihälsen. Er war eine Gefahr für sie alle, und deshalb wollten sie seinen Tod.
Doch der Blick in die gehässigen Fratzen, von denen viele sein Ende ebenso sehr herbeisehnten wie er selbst, war nicht das Schlimmste. Denn nun sah er sie, Mirjam, seine Mutter.
Umgeben von Freundinnen und dem treuen Johanan stand sie wie versteinert dort und wäre vor Scham und Trauer wohl umgefallen, hätten die anderen sie nicht gestützt.
Es war Jeschua schrecklich, dass er ihr mit seiner Art zu leben so viel Leid zugemutet hatte. Aber hatte sie ihn nicht unterstützt, war sie den schwierigen Weg nicht mit ihm gegangen? Hatte sie nicht leichten Herzens alles Leid auf sich genommen, um Gott wieder den Menschen und die Menschen Gott nahe zu bringen?
Vielleicht war es sein großer Irrtum gewesen, von sich – seinem festen Willen und seinem leichten Herzen – auf seine Gefolgschaft zu schließen.
Mirjams Blick kreuzte den seinen. Sie riss sich los, stürzte in den Staub, kam schwankend wieder auf die Beine und lief zum mittleren der drei Kreuze, wo ihr Sohn zwischen zwei gemeinen Dieben hing. Ihre Freundinnen konnten sie nicht halten, und die Legionäre wollten es nicht. Grinsend verfolgten sie das Schauspiel, das die verzweifelte Mutter und ihr todgeweihter Sohn boten.
Johanan folgte Mirjam und umfasste ihre Schultern, damit sie nicht vor Jeschua niedersank und damit die Legionäre, die Priester, die Pharisäer und die gedankenlosen Krakeeler zu noch mehr Hohn und Spott veranlasste.
Als Jeschua den Freund und die Mutter Arm in Arm erblickte, sammelte er seine Kräfte und sagte: «Die Mutter hat einen neuen Sohn, der Sohn eine neue Mutter. So soll es sein …»
Seine Rede erstarb in einem Hustenanfall. Blutiger Auswurf fiel in den Staub.
Johanan aber hatte ihn verstanden und nickte ihm zu, bevor er Mirjam sanft mit sich zog, zurück zu ihren Freundinnen.
Immer öfter musste Jeschua jetzt husten. Sein festgenagelter Leib bäumte sich auf und wand sich in dem Bemühen, das Gewicht zu verlagern, die Schmerzen zu lindern, seine Kehle nicht mit Blut und Galle zu füllen. Tausend unsichtbare Dolche stachen in seinen Kopf, viel schlimmer als die Dornenkrone, die man ihm im Prätorium aufgesetzt hatte, um ihn als Judenkönig zu verhöhnen. Er konnte kaum atmen, und wenn er nach Luft schnappte, stiegen Blut und Galle in ihm hoch. Die Nägel, die ihm bei jeder Gewichtsverlagerung neue Schmerzen verursachten, hielten ihn wach, verhinderten, dass ihm die Gnade zuteil wurde, endlich in die Schattenwelt zwischen Leben und Tod zu gelangen.
Allmählich lichtete die Menge sich. Das Sterben dauerte zu lange, war zu eintönig, um den Zuschauern noch Kurzweil zu bieten. Dann, als der Himmel sich mehr und mehr verdüsterte, zogen sich auch die meisten Priester und Tempeldiener in den Schutz des Tempels zurück. Die Finsternis mitten am Tag kam aus der Wüste, wo Sturmwind den Sand in solchen Massen aufwirbelte, dass die Sonne verhüllt wurde.
«Chamsin! Chamsin!», schrien die letzten Schaulustigen den Namen des schwarzen Winds hinaus und flohen in die nahe Stadt.
Die hartgesottenen Legionäre wirkten nicht länger unerschütterlich. Für sie war der Sandsturm ein Zeichen dafür, dass die Götter zornig waren. Ihre entsetzten Mienen verrieten, dass sie den sonst so verachteten Juden am liebsten hinterhergelaufen wären. Als dicker Sandnebel die Schädelstätte umhüllte, zogen sie Tücher vor ihre Gesichter und verbargen die Köpfe hinter den länglichen Schilden.
Der Chamsin rollte heran und ließ eine kräftige Tamarinde am Fuß des Hügels bis in die Wurzeln erbeben. Dann wurde es schwarz vor Jeschuas Augen, und Sand drang in jede Öffnung von Gesicht und Leib. Ihm war es nur recht, dass der Sand seine Atemwege verklebte. Umso eher kam der Tod und mit ihm die Erlösung. Doch der Sturm brach nicht mit aller Heftigkeit über Golgatha herein. Er schüttelte nur drohend die sandige Faust und drehte dann so plötzlich ab, wie er über der Wüste erschienen war.
Jeschua erblickte eine Gestalt, die sich undeutlich aus dem zurückweichenden Sandnebel schälte. Er meinte, das Gesicht schon gesehen zu haben, doch es fiel ihm kein Name dazu ein; Schmerz und Erschöpfung ließen ihn keinen klaren Gedanken mehr fassen. Vielleicht täuschte er sich auch, als er glaubte, das faltige Antlitz aus dem weiteren Kreis seiner Gefolgschaft zu kennen. Denn der Mann spottete über den Gekreuzigten und rief den Römern zu, dass es doch schade wäre, wenn der Chamsin der Qual ein zu schnelles Ende bereitete.
«Erlaubt mir, seinen Mund und seine Nase mit Essigwasser zu säubern. Und wenn der Judenkönig etwas davon trinkt, wird jeder Schluck seine Widerstandskraft und damit seine Qual nur verlängern.»
Die Soldaten hielten ihn nicht auf. Ihnen war in diesem Augenblick egal, was mit dem jüdischen Aufrührer geschah.
Fluchend spuckten sie den Sand aus und rieben sich die geröteten Augen.
Der Spötter reckte Jeschua einen Schwamm entgegen, der auf einen gegabelten Stock gesteckt war, so als scheue der Mann sich, das Essigwasser zu berühren. Dabei war das Kreuz nicht sonderlich hoch, und er hätte nur den Arm auszustrecken brauchen, um das Gesicht des Gekreuzigten zu erreichen.
Kühl und feucht strich der Schwamm über Jeschuas Gesicht.
Aber er freute sich nicht über die Erleichterung, die nur eine Verlängerung des Leidens bedeutete, für ihn und für seine Mutter Mirjam, die mit ihren Freundinnen und Johanan auch während des Sandsturms ausgeharrt hatte. Er presste die Lippen aufeinander, um nicht von der Flüssigkeit zu trinken.
«Sauf nur, Judenkönig!», höhnte der Mann vor ihm. «Für dich ist es das Wasser des Lebens! Mein Herr schickt es dir mit eindringlichen Grüßen.»
Unter dem Spott schwang etwas anderes in seinem Ton mit, ein verborgener Ernst. Ein Mahnen, ein Flehen. Und wer war sein Herr? Jetzt erinnerte Jeschua sich deutlicher an den Mann, wenn auch nicht an seinen Namen. Er war einer aus der Dienerschaft des hoch angesehenen Joseph, der dem Sanhedrin angehörte, dem Hohen Rat, der Jeschua zum Tod verurteilt hatte. Joseph, der insgeheim zu Jeschuas Anhängern zählte, hatte das Urteil nicht verhindern können. Als die Tempelwächter Jeschua zur Bestätigung des Urteils dem römischen Statthalter überantworteten, hatte Joseph ihm zugeraunt: «Bleibe stark im Glauben, Rabbi! Ich werde dir beistehen, wo ich kann.»
Als Jeschua sich daran erinnerte, sperrte er sich nicht länger gegen das Essigwasser. Er riss den Mund auf, nahm den Schwamm zwischen die Zähne und sog daran wie ein dürstendes Kind an der Mutterbrust. Die Flüssigkeit erfüllte ihn mit einem heftigen Brennen, das bald wohliger Wärme und dann einer Art Betäubung wich.
War es ein Fehler gewesen, dem Mann zu vertrauen und von dem Schwamm zu trinken? Er dachte an seine vielen Feinde, denen nicht an einer Verkürzung seiner Leiden gelegen war, sehr wohl aber an seinem sicheren Tod. Als er seinen Zorn hinausschreien wollte, kam nur ein Krächzen über seine schon tauben Lippen.
Die Taubheit kroch mit leichtem Kribbeln in jedes Glied und breitete sich bis in die Finger- und Zehenspitzen aus. Er fühlte sich unendlich müde, sah keine Gesichter mehr, keine Menschen, hörte keine Stimmen. Sein eigenes Herz hörte er nicht länger schlagen, zum Atmen war er zu schwach. Aber das spürte er kaum noch, denn alles in ihm erstarb.
«Jeschua hing bereits nach überraschend kurzer Zeit leblos am Kreuz. Üblicherweise dauerte es an die sechsunddreißig Stunden, bis ein Gekreuzigter sein Leben aushauchte, bei Jeschua waren es keine drei gewesen. Der Mann, der ihm zu trinken gegeben hatte, lief eilig zu seinem Herrn, den wir heute als Joseph von Arimathäa kennen. Der suchte Pontius Pilatus auf und bat, den Toten bestatten zu dürfen, bevor der Sabbat kam, an dem jede körperliche Arbeit untersagt war. Pilatus, froh, das leidige Jeschua-Kapitel abschließen zu können, erteilte die Erlaubnis sofort.»
Alexander unterbrach den Heiligen Vater mit einer Frage, die zu den ewigen Streitpunkten unter den Bibelkundlern und Altertumsforschern zählte: «Wo wurde Jesus nun begraben?»
«Sie haben den leblosen Leib in ein großes Leintuch gewickelt und in ein Grab nahe der Schädelstätte gelegt, das Joseph gehörte. Es wurde mit einem großen Stein verschlossen. Ein Trupp Legionäre nahm davor Aufstellung, um zu verhindern, dass die Anhänger Jeschuas sich hier versammelten oder sich des Leichnams bemächtigten. Nur Joseph wusste, dass ein geheimer Gang die Grabkammer mit der Außenwelt verband.
Durch diesen Gang führte er Johanan, den die Heilige Schrift Johannes und den Lieblingsjünger Jesu nennt, und einige andere Eingeweihte. Sie flößten dem scheinbar Toten einen Trank ein, ein Gegengift zu dem Betäubungsmittel, das er aus dem Schwamm aufgenommen hatte. Es war ein Wagnis gewesen, und manch anderer hätte es vielleicht nicht überlebt. Aber Jeschua war stark und verfügte über besondere Kräfte. Er konnte andere Menschen heilen und so konnte er auch seinen eigenen Leib rasch regenerieren. Durch den geheimen Gang, den man sorgfältig wieder verschloss, um Joseph nicht zu verraten, folgte er den Freunden in die Freiheit.»
Nachdem Papst Custos seinen Bericht beendet hatte, herrschte für einige Minuten Schweigen. Alexander brauchte die Zeit, um das Gehörte zu verarbeiten. Und um aus der Vergangenheit, in die die eindringliche Schilderung ihn gerissen hatte, in die Gegenwart zurückzukehren. Die Lebendigkeit der Erzählung hatte ihn so ergriffen, dass er die Qualen des Gekreuzigten selbst zu spüren glaubte. Sand knirschte zwischen seinen Zähnen und er schmeckte die Säure des Essigwassers.
Der Bericht des Papstes entsprach in wesentlichen Zügen der Darstellung in den Evangelien. Dass Jesus dort erst auf der Schädelstätte seiner Kleider beraubt wurde, mochte dem Schamgefühl der Evangelisten geschuldet sein. So strebten auch ganze Regale voller theologischer Abhandlungen nur danach zu
«beweisen», dass der Messias am Kreuz einen Lendenschurz getragen hatte. Doch das war vollkommen unbedeutend, gemessen an der Geschichte mit dem Schwamm und dem, was daraus erwuchs.
«Wenn Jesus … oder Jeschua nicht am Kreuz gestorben ist, sind alle Berichte über seine Auferstehung von den Toten Makulatur», sagte Alexander stockend. «Und wenn das so ist, können wir unser ganzes Christentum vergessen!»
«Nicht das ganze Christentum, aber wesentliche Teile», erwiderte Custos. «Jetzt verstehen Sie wohl, warum es im Vatikan Männer gibt, die selbst vor Mord nicht zurückschrecken, um dieses Geheimnis zu hüten. Schon Paulus hat an die Korinther geschrieben, dass unsere Predigt und unser ganzer Glaube vergeblich sind, wenn Christus nicht auferstanden ist. Damit ist die These, er habe für uns gesühnt, hinfällig. Niemand starb für unsere Sünden, und niemand wird uns von der Last unserer Schuld befreien, wenn wir selbst es nicht tun.»
Alexander schluckte, während er sich der Tragweite dieser Worte bewusst zu werden versuchte. «Ähnliche Gedanken sind auch schon früher geäußert worden – allerdings nicht von einem Papst», sagte er schließlich.
«Ich spüre Ihren Zweifel sehr wohl, Alexander. Sie fragen sich, ob ich nicht doch der Antichrist bin, der gekommen ist, um den Menschen den rechten Glauben zu nehmen. Hören Sie mir noch ein paar Minuten zu, meine Geschichte ist noch nicht zu Ende.»
Der Heilige Vater legte den Smaragd zurück in den Kasten, klappte den Deckel aber nicht zu. Er nahm ein Glas vom Tisch und trank einen Schluck Wasser, bevor er fortfuhr.
«Die Tempelpriester waren misstrauisch und fürchteten den Rabbiner Jeschua selbst im Tod. Um ihn vor ihren Nachstellungen zu schützen, brachte Joseph ihn mitsamt Frau und Kindern in die Wüste hinaus, wo …»
«Mitsamt Frau und Kindern?», unterbrach Alexander ihn ungläubig.
«Jeschua war kein Heiliger, er war ein Rabbiner, ein Prediger.
Und ein anständiger Rabbiner befolgt das Gesetz, das ihm befiehlt, sich eine Frau zu nehmen und Kinder zu zeugen. In Begleitung seiner Frau und der gemeinsamen Kinder gelangte Jeschua in die am Meer gelegene Stadt Joppe, die wir heute als Hafenstadt Jaffa kennen. Joppe besaß noch keinen ausgebauten Hafen, aber es verkehrten zahlreiche größere Handelsschiffe dort, die vor der Küste ankerten und mittels kleinerer Boote be-und entladen wurden. Josephs Geld und Einfluss ermöglichten es, Jeschua und die Seinen an Bord eines solchen Schiffes zu bringen, das noch am selben Tag nach Gallien ablegte. Dort sollten die Verfolgten eine neue Heimat finden.»
«Sie schildern das alles so detailliert, als seien Sie dabei gewesen.»
«In gewisser Weise könnte man das sagen.» Custos griff wieder nach dem Smaragd und drehte ihn so, dass Alexander erst das freundliche und dann das düstere Antlitz sah. «Jeschua-Jesus verlässt also die Bühne unseres Dramas. Auftritt für Judas Thomas oder Judah Toma, den Zwilling des Herrn.»
«Auf den habe ich die ganze Zeit gewartet», seufzte Alexander. «Wo war er, als Jesus gefangen, verurteilt und hingerichtet wurde?»
«Nicht in Jerusalem. Die Zwillinge hatten sich über eine grundsätzliche Frage zerstritten. Jeschua wollte das Judentum von innen erneuern, Judah Toma war das zu langwierig. Er und seine Anhänger plädierten dafür, einen neuen Glauben zu begründen, der die guten Elemente des althergebrachten enthalten, die Gesetze aber weniger streng, weniger einengend für die Menschen auslegen sollte.»
Alexander schnippte mit den Fingern. «Und als sein Zwillingsbruder für tot gehalten wurde, hielt er seine Stunde für gekommen.»
«Mehr noch, Jeschua galt als von den Toten auferstanden. Das war ja gerade der Witz!»
Custos ereiferte sich so, dass er sich verschluckte. Er hustete heftig und Alexander sah das Bild des Blut und Galle spuckenden Gekreuzigten vor sich.
Der Papst trank einen weiteren Schluck Wasser und sagte:
«Wie gesagt, die Tempelpriester und die mit ihnen verbündeten Ratsherren trauten dem Frieden nicht, der mit Jeschuas Kreuzigung eingetreten war. Sie versetzten sich gegenseitig in Unruhe und brachten schließlich Pontius Pilatus dazu, das Grab zu öffnen, um nach dem Leichnam des Gekreuzigten zu sehen.
Ironie des Schicksals, dass sie damit die Legende von der Auferstehung selbst begründet haben. Das Grab war leer und der geheime Gang so gut verborgen, dass es für das Verschwinden des vermeintlichen Toten keine vernünftige Erklärung gab. Das war die Gelegenheit für Judah Toma, sich als den von den Toten Auferstandenen zu präsentieren. Damit hatten er und seine Anhänger genau das gefunden, wonach sie lange gesucht hatten: die göttliche Leitfigur einer neuen Glaubensrichtung.»
«Es müssen doch Menschen aus der Gefolgschaft des echten Jesus den Schwindel bemerkt haben.»
«Vielleicht gab es Skeptiker, denken Sie nur an die Geschichte vom ungläubigen Thomas. Jedenfalls wurden die Auftritte des Auferstandenen klug inszeniert. Wie Sie wissen, erscheint der Herr in den Evangelien seinen Jüngern zumeist unerwartet und nur für kurze Zeit. Und er vermeidet einen zu engen Kontakt.
Johannes schildert, wie Maria Magdalena Jesus nach der Auferstehung sieht und ihn umarmen will. Er aber weicht vor der alten Vertrauten zurück und befiehlt ihr, ihn nicht anzurühren. So ähnlich könnte es sich tatsächlich zugetragen haben.»
«Trotzdem ein gewagtes Spiel.»
«Nein, das war es nicht, weil es gut durchdacht war und zeitlich eng begrenzt zudem. Laut der Apostelgeschichte dauerte der Spuk vierzig Tage, was in etwa stimmen dürfte. Danach wurde in Judäa weder Jeschua noch sein Zwilling je wieder gesehen. Der falsche Messias verschwand von der Bildfläche.
Ob er sich nur bedeckt hielt oder ob er ausgeschaltet wurde, wissen wir nicht. Vielleicht haben ihn sogar die eigenen Anhänger getötet, als sie ihn nicht mehr brauchten. Er hätte ihr Lügengebäude mit einem Wort zum Einsturz bringen können.
Das geschah nicht und die Legende von der Auferstehung durch Gottes Macht war begründet.»
«Hat der echte Jesus nicht versucht, in seine Heimat zurückzukehren?»
«Er ist wenige Jahre nach seiner Ankunft in Gallien gestorben.
Die genauen Umstände sind ungeklärt. Es heißt, er sei einem Anschlag zum Opfer gefallen.»
«Den sein Zwillingsbruder oder dessen Gefolgsleute verübt haben?»
«Vielleicht. Wir wissen es nicht.»
«Das ist alles so … unglaublich …»
Custos hielt den Smaragd hoch. «Sehen Sie sich die Wahre Ähnlichkeit Christi an. Erzählen diese einander gleichenden und doch so unterschiedlichen Gesichter nicht genau das, was Sie von mir erfahren haben – nur ohne Worte?»
Er gab Alexander den Smaragd und der Schweizer betrachtete die Profile ausführlich von nahem. Aus ihnen sprach eine Wahrheit, die sich nicht mit Brief und Siegel beweisen ließ.
Custos hatte Recht, dieser Stein bekräftigte seine Worte besser als jedes geschriebene Dokument. Alexander glaubte dem Papst.
Er brauchte keine Argumente, er hielt die Wahrheit in Händen.
«Wer hat die Gesichter in den Stein geschliffen?», fragte er.
«Warum ist gerade dieser Smaragd eine so wichtige Waffe im Kampf um die Wahrheit?»
«Weil er zu Jeschuas Lebzeiten angefertigt worden ist. Wer sich durch seinen Anblick allein nicht überzeugen lässt, könnte durch wissenschaftliche Analysen feststellen, dass der Smaragd zweitausend Jahre alt ist, also aus den Tagen der großen Zeitenwende stammt. Joseph von Arimathäa, der sowohl Jeschua als auch Judah Toma von Angesicht zu Angesicht kannte, hat die Gesichter schneiden lassen, als ewiges Zeugnis über das Lügenspiel um den falschen Messias.»
Noch eine Frage blieb: «Woher, Heiligkeit, wissen Sie das alles so genau?»
«Es ist teils in mühsamer Arbeit zusammengetragen worden, teils, soweit es das Schicksal Jeschuas betrifft, in meiner Familie überliefert.»
«Sie haben schon einmal von Ihrem Familienerbe gesprochen.»
«Ja, die Fähigkeiten unseres Ahnherrn sind auf viele seiner Nachkommen übergegangen.»
«Ihres … Ahnherrn?»
«Seit zweitausend Jahren lebt meine Familie in Südfrankreich.
Einige meiner Vorfahren sind in andere Länder ausgewandert, auch nach Irland, wo Shafqat geboren wurde. Aber eine Linie ist in der Nähe des Ortes geblieben, wo Jeschua damals gallischen Boden betrat.»
Alexander hatte so etwas geahnt und doch blieb es unfassbar.
Papst Custos, der Heilige Vater, hatte soeben nichts anderes behauptet, als ein Nachfahre Jesu Christi zu sein!
«Aber warum haben Sie, Ihre Verwandten und die Auserwählten Ihre Abstammung über all die Jahrhunderte geheim gehalten?»
«Weil die Kirche es nicht gern gesehen hätte, mit den Kindeskindern ihres Gottessohns konfrontiert zu werden. Noch dazu mit Menschen, die behaupten, dass die kirchliche Lehre nichts mit dem Mann zu tun hat, auf dessen Wort sie sich beruft.
Die Inquisition hätte meine Vorfahren gnadenlos verfolgt. Nein, wir mussten warten, bis wir mächtig genug sind, um uns der Kirche entgegenzustellen. Bis wir die Wahrheit von einer Position verkünden können, die uns Gehör und unseren Worten Glaubwürdigkeit garantiert.»
«Sie meinen die Position des Papstes.»
«Ja. Lange hat es gedauert.»
«Dann … glauben Sie nicht an das, was Sie als Papst verkünden?»
Zweifel stiegen in Alexander auf. Zweifel daran, auf der richtigen Seite zu stehen. Galt der Schwur noch, dem Papst zu dienen und das eigene Leben für ihn hinzugeben, wenn der Papst sein Amt nur benutzte? War dieser Mann überhaupt ein rechtmäßiger Papst?
«Ich glaube nicht an alles, was kirchliche Lehre ist. Aber ich verdamme diese Lehre auch nicht in Bausch und Bogen. Es ist fast wie damals, als Jeschua sich gegen die überstrenge Auslegung des mosaischen Gesetzes wandte. Auch wir müssen die bestehende Ordnung von innen heraus reformieren. Das heutige Christentum mag nicht mehr viel von Jeschuas Lehre enthalten, aber es ist alles, was wir noch davon haben. Es hat die Welt seit zweitausend Jahren geprägt. Fast zwei Milliarden Menschen, über ein Drittel der Weltbevölkerung, nennen sich Christen. Wenn wir diesen Glauben zerstören, zerstören wir die Welt.»
«Sie und die Auserwählten könnten eine neue Religion gründen», wandte Alexander ein.
Custos ließ ein heiseres Lachen hören. «Wäre das in den Augen der Öffentlichkeit etwas anderes als nur eine weitere Sekte von selbst ernannten Jesusgläubigen?»
«Wohl kaum, das stimmt.»
«Das Christentum, wie Paulus und seine Gefolgsleute es verkündet haben, hat sich auf Jeschua berufen, seine Lehre aber verdreht. Jeschua hat die Gleichheit vor Gott gepredigt. Nach seinen Worten war der Geringste so viel wert wie ein König.
Nun sehen Sie sich die Hierarchie der Kirche an, Alexander.
Kann da von Gleichheit die Rede sein?»
«Die Gleichheit wird im Reich Gottes herrschen.»
«Das ist es eben!», stieß der Papst erregt hervor. «Mit der Vertröstung auf das Jenseits wird der Mensch am Gängelband gehalten. Aber die Leiden und Sorgen der Menschen existieren in dieser Welt, ihnen muss in dieser Welt abgeholfen werden.
Der Glaube an Gott kann dabei eine wichtige Rolle spielen, aber er muss die Menschen zu Liebe und Versöhnlichkeit aufrufen, nicht zu Abgrenzung und blindem Gehorsam!»
Custos sprach mit jener Eindringlichkeit, die schon seine Erzählung von Jesu Kreuzigung ausgezeichnet hatte. Alexander konnte sich gut vorstellen, dass der historische Jesus – Jeschua –
über dieselbe Gabe verfügt hatte. Worte wurden zu Visionen und Visionen fügten sich zu einer neuen Wirklichkeit zusammen. Seine Zweifel an der Aufrichtigkeit des Papstes schwanden. Dieser Mann war der Heilige Vater, und Alexander hatte ihm zu Recht Treue geschworen. Vielleicht verdiente dieser Papst mehr Ergebenheit und Unterstützung als jeder andere zuvor.
Alexander wollte den Smaragd zurückgeben. Dabei trafen sich ihre Hände und hielten einander fest. Der Heilige Vater und der Schweizer hatten einen stillen Pakt geschlossen, einander zu vertrauen und zu helfen.
«Ich bin Ihnen zu Dank verpflichtet, Alexander. Sie haben mehr getan, als Ihr Eid es gebietet, indem Sie meine Brüder zur Edelsteinkapelle und in den Vatikan geführt haben. Sie haben mein Leben zweimal gerettet. In der letzten Nacht und am Mittwoch.»
«Aber ich konnte das Attentat nicht verhindern!»
«Sie haben sich gegen den Attentäter geworfen. Wären Sie nicht so mutig gewesen, hätte die Schrotladung mich voll getroffen. Die Kraft aller Auserwählten reicht nicht aus, um einen Toten zu erwecken. Das vermochte nicht einmal Jeschua.»
«Was ist mit den Berichten der Heiligen Schrift über die Totenerweckungen, die Jesus an Lazarus, an der Tochter des Jairus und an dem Sohn der Witwe bei Nain vollzogen hat?»
«Wenn sie tot waren, hat Jeschua sie nicht erweckt. Hat Jeschua sie aber erweckt, so war noch Leben in ihren Körpern.»
Mit einem leisen Stöhnen sackte Custos in die Kissen zurück.
Er sah erschöpft aus und schloss die Augen, unter denen sich tiefe Schatten gebildet hatten. Sein Brustkorb hob und senkte sich im gleichmäßigen Takt. Er schien zu schlafen.
Leise stand Alexander auf und wollte den Raum verlassen.
«Warten Sie!», hielt die Stimme des Papstes ihn zurück. «Ich stehe tief in Ihrer Schuld. Wenn ich irgendetwas für Sie tun kann, sagen Sie es mir bitte.»
«Da gibt es etwas», sagte Alexander und drehte sich zu Custos um. «Ich muss Elena finden.»
22
Sonnabend, 16. Mai
Erwartungsvoll betrat Alexander den Salon, in dem er zwei Tage zuvor mit Orlandi, Solbelli und Donati gesprochen hatte.
Die beiden Letztgenannten erwarteten ihn auch an diesem Vormittag, über eine große Weltkarte gebeugt. Die Karte bedeckte den runden Tisch und war mit dem Marmoraschenbecher beschwert, in dem sich Asche und zerdrückte Stummel türmten.
«Ah, Signor Rosin», begrüßte ihn der Commissario, der gerade einen neuen Zigarillo aus dem Etui nahm. «Gut gefrühstückt?»
«Die Hörnchen waren fast so heiß wie der Cappuccino.»
Alexander trat an den Tisch. «Schwester Ilaria sagte mir, Sie wollten mich sprechen – wegen Elena.»
Donati nickte und zündete seinen Glimmstengel an. «Bruder Gardien hat uns aufgetragen, uns der Sache anzunehmen. Dies ist das Ergebnis unserer Überlegungen.» Er klopfte mit dem verchromten Feuerzeug auf die Weltkarte. Mehrere Orte waren mit rotem Filzstift eingekreist, viele in Südamerika. Andere Markierungen galten den Bahamas, Gibraltar und einer Inselgruppe vor der französischen Küste. «Mit dem Zirkel der Zwölf allein kommen wir nicht weiter. Der Zirkel muss Helfer außerhalb des Vatikans haben, das hat das Attentat gezeigt. Wir halten es für mehr als wahrscheinlich, dass es tatsächlich eine Verbindung zwischen dem Zirkel und Totus Tuus gibt. Elena Vida hat seit Jahren über den Geheimorden recherchiert. Grund genug, sie zu kidnappen.»
«Ganz Ihrer Meinung», sagte Alexander. «Ich denke, Ihre Erkenntnisse über diese Verbindung sind nicht neu. Was sonst könnte Sie, Signor Solbelli, bewogen haben, sich für Ordensaussteiger wie Elena zu engagieren?»
«Ihr Scharfsinn lässt mich erblassen», erwiderte Solbelli mit einem dünnen Lächeln.
Alexander tippte mit dem Zeigefinger auf einige der roten Punkte. «Dies sind also die Stützpunkte des Ordens.»
«Die wichtigsten, von denen wir wissen», bestätigte Donati.
«Dass Totus Tuus in Südamerika stark vertreten ist, kann ich mir vorstellen», meinte Alexander. «Erzkatholische Länder, eine naiv-gläubige Bevölkerung und korrupte Regierungen. Was wünscht eine geheime katholische Bruderschaft sich mehr? Aber was macht der Orden auf den Bahamas, in Gibraltar und auf den Kanalinseln?»
«Was viele große Organisationen und sogar Regierungen dort tun: Steuern sparen. Totus Tuus mit seiner stark weltlichen Ausprägung ist an etlichen Unternehmen beteiligt. Man könnte guten Gewissens von einem Finanzimperium sprechen. Und diese drei Steueroasen sind bei dem Orden besonders beliebt.»
«Zugegeben eine recht große Auswahl an Orten, wo man Elena versteckt halten könnte», meldete Solbelli sich zu Wort.
«Sie könnte natürlich auch weiterhin in Rom oder sonstwo in Italien festgehalten werden, aber das entspräche nicht dem Stil von Totus Tuus. Niedere Ordensmitglieder werden ihrer Umgebung entfremdet, um sie ganz in den Bann zu ziehen.»
«Dann sollten wir auch Südamerika ausschließen, Signorina Vidas Heimat», schlug Donati vor.
Solbelli grunzte unwillig. «Südamerika ist groß. Totus Tuus hat nicht nur in Brasilien Stützpunkte.»
Alexanders Zeigefinger stieß erneut auf die Karte hinab, auf die kleine Gruppe von Inseln, die der französischen Küste vorgelagert waren. «Sie ist hier!»
«Warum ausgerechnet auf den Kanalinseln?», fragte Solbelli.
«Weil Ihr Vater damals angeblich über dem Ärmelkanal abgestürzt ist?»
«Mein Vater ist fast jedes Jahr ein paar Tage mit mir in Urlaub gefahren. Zuvor oder anschließend ist er jedes Mal auf die Kanalinseln geflogen – um sich zu entspannen, wie er sagte.
Mich hat er nie mitgenommen, obwohl ich ihn oft darum gebeten habe. Inzwischen glaube ich nicht mehr, dass er dort Ferien gemacht hat.»
«Signor Rosin könnte Recht haben», sagte Donati und sah Solbelli an. «Denken Sie nur an Brecqhou.»
«Breckwas?», fragte Alexander.
«Brecqhou.» Donati zog einen Kugelschreiber aus der Innentasche seines Jacketts und zeigte mit der Spitze auf einen winzigen Punkt in der Inselgruppe. «Das hier ist Sark, mit einer maximalen Ausdehnung von fünf Kilometern Länge und zwei Kilometern Breite der kleinste unabhängige Staat unter dem Schutz der britischen Krone. Obwohl die Kanalinseln dicht vor Frankreich liegen, werden sie außen- und verteidigungspolitisch von Großbritannien vertreten. Innenpolitisch sind sie unabhängig, zählen nicht einmal zur Europäischen Union.»
«Der Kelch ist an ihnen vorübergegangen», seufzte Solbelli.
«Diese Unabhängigkeit ermöglicht eine Steuergesetzgebung, die jede Menge Banken, Konzerne und Milliardäre anlockt», fuhr Donati fort. «Eine Einkommensteuer von maximal fünfundzwanzig Prozent, keine Umsatzsteuer und andere Nettigkeiten. Sark ist noch einmal ein Sonderfall. Die Insel wird, fast wie im Mittelalter, von einem Feudalherrn regiert, dem Seigneur. Dort herrscht ungeschriebenes Gewohnheitsrecht, das auf die Zeit der Normannen zurückgeht. Brecqhou liegt vor Sarks Westküste und ist mit seinen fünfundsechzig Hektar zu klein, um auf der Karte eingezeichnet zu sein.»
«Kaum größer als der Vatikan», bemerkte der Privatgelehrte.
«Und nicht weniger geheimnisumwittert.»
Donati steckte den Kugelschreiber wieder ein. «Bruder Solbelli hat Recht. 1993 wurde Brecqhou für eineinhalb Millionen Pfund Sterling in Privathand verkauft. Strohmänner eines internationalen Finanzkonsortiums haben das Eiland erworben und unter strengster Geheimhaltung ausbauen lassen.
Niemand darf die Insel ohne Genehmigung betreten, niemand weiß, was dort vor sich geht. Und jetzt raten Sie mal, wer in diesem Finanzkonsortium seine Finger hat?»
«Totus Tuus», sagte Alexander, ohne zu raten. «Was ist denn gebaut worden?»
«Ein Schloss», antwortete Donati. «Ein riesiges Schloss im gotischen Stil.»
Solbelli fügte hinzu: «Eher eine Festung. Mit Zinnen, Türmen und Wehrgängen – wie aus einem Ritterroman.»
«Wozu?», fragte Alexander.
«Das wüssten viele gern», sagte Donati. «Aber man kommt eher in Fort Knox hinein als in dieses Schloss. Sonst gibt es nicht viel zu sehen auf Brecqhou, nur ein paar Wirtschaftsgebäude und einen Hubschrauberlandeplatz.»
Nach kurzem Überlegen sagte Alexander: «Wenn ich Sie beide richtig verstanden habe, ist dieses Brecqhou ein rechtsfreier Raum.»
«Rechts- und steuerfrei», nickte Solbelli. «Die Kanalinseln sind ein rechtlicher Sonderfall, Sark ist der Sonderfall eines Sonderfalls, und Brecqhou … Wie soll ich es sagen?»
«Wer auf Brecqhou sitzt, kann tun, was immer er will», sekundierte Donati.
«Dann bin ich umso mehr davon überzeugt, dass ich ihn dort finde», sagte Alexander mit finsterem Blick auf die Karte.
«Sie sprechen wohl von Ihrem Vater.» Solbelli rückte seine Brille zurecht und musterte den Schweizer. «Wollten Sie nicht Elena suchen?»
«Auf Brecqhou finde ich beide, das spüre ich. Ich muss nur auf die Insel gelangen.»
«Sie könnten Hilfe gebrauchen», stellte Donati fest. «Zurzeit benötigen wir hier in Rom leider jeden Mann und jede Frau. An Geld und Ausrüstung soll es Ihnen nicht mangeln, aber für einen allein ist die Sache riskant.»
«Machen Sie sich keine Sorgen, Commissario. Ich weiß schon, wer mir helfen wird.»
Mitten am Nachmittag war die Gegend ausgestorben wie in tiefster Nacht. Der hoch gewachsene Mann mit dem kurz geschnittenen rotblonden Haar sah sich suchend um, nachdem er aus seinem Honda gestiegen war. Der Wagen stand in einer Straße, die eher zu einem Abbruchviertel als zu einem Wohngebiet gehörte. Der Honda hatte schon ein paar Jahre auf dem Buckel, und der schilfgrüne Lack war stumpf geworden, aber neben den zerbeulten Kisten, die da am Straßenrand standen, wirkte er wie eine Nobelkarosse.
Die Häuser waren noch älter und verrotteter als die Autos.
Heillos ineinander verschachtelt, schienen sie eher organisch gewachsen als planvoll erbaut. Hier ging ein Dach nahtlos auf ein anderes Gebäude über, da spross ein ganz und gar unpassender Anbau aus einer Wand, und dort war, ebenso nachträglich wie unverträglich im Baustil, ein weiteres Geschoss auf ein Flachdach gesetzt worden. Etliche scheibenlose Fenster blinzelten müde aus abgasgeschwärzten, mit Graffiti besprühten Mauern. Das Ganze erweckte den Eindruck eines monströsen Tiers, das scheinbar träge schlief, in Wahrheit aber darauf lauerte, den Fremden zu verschlingen.
Der Mann ging durch den Nieselregen und suchte vergeblich nach Hausnummern, von Namensschildern in den Eingängen ganz zu schweigen. Wie die Post sich hier zurechtfand, blieb ihm ein Rätsel. Aber wer hier wohnte, wartete nicht auf Rechnungen, konnte sie ohnehin nicht bezahlen, wollte vielleicht auch gar nicht gefunden werden. Umso unverständlicher war ihm, wieso der Mann, den er suchte, hier sein Domizil hatte. Wer immer konnte, machte einen großen Bogen um die Borgate, die trostlosen römischen Vorstädte. Die Siedlungen rund um das alte Rom hatten gar nicht so schnell wachsen können, wie Zuzügler aus den armen Landstrichen Italiens hereingeströmt waren. Die Menschen waren hier nicht reicher und nicht glücklicher geworden, nur abgestumpfter und hoffnungsloser.
Auf einem Hinterhof kickte eine Gruppe Halbwüchsiger lustlos einen schlaffen Lederball hin und her. Erst als der Fremde ein paar Scheine in ihre schmuddeligen Hände wandern ließ, schenkten sie ihm Beachtung. Und einer kam mit, um ihm das Haus mit der Nummer 34 zu zeigen. Er konnte nur hoffen, dass die anderen ihnen nicht heimlich folgten, um ihm auch den Rest seines Geldes abzunehmen. Der dürre Sechzehnjährige mit dem verfilzten Haarschopf führte ihn tief in das Gewirr aus Hinterhöfen und Baracken, bis zu einer Treppe, die zu einer Kellerwohnung führte.
«Hier ist’s», sagte der Wuschelkopf.
«Im Keller?»
«Der Rest vom Haus ist ’ne Ruine.»
Und damit verschwand er im Eiltempo.
Es gab keine Hausnummer, es gab kein Namensschild, es gab nicht mal eine Klingel. Der Rotblonde klopfte mehrmals laut und energisch. Er wollte sich schon etwas anderes überlegen, als die Tür plötzlich aufflog.
Kräftige Hände packten ihn am rechten Arm, zerrten ihn herein und schleuderten ihn in eine Ecke. Er stolperte, riss einen Hantelständer um und ging zu Boden. Die Hanteln folgten ihm mit lautem Gepolter.
Ein weitläufiger Raum drehte sich um ihn. Fenster schien es nicht zu geben. Unter der Decke brannten schmucklose Lampen.
An den Wänden hingen großformatige, knallbunte Plakate alter Sandalenfilme: Charlton Heston in Ben Hur, Kirk Douglas in Spartacus, Richard Burton, Jean Simmons und Victor Mature in Das Gewand.
Durchdringender Schweißgeruch verursachte ihm Übelkeit, und über ihm stand Victor Mature. Verschwitzt, ein dünnes Netz-Shirt über dem gewaltigen Brustkorb, die klobigen Fäuste zum Schlag erhoben. Nur mit einem schnellen Tritt gegen das Schienbein konnte er den Muskelprotz am Zuschlagen hindern.
Der Koloss fiel auf eine seiner Hanteln und stöhnte vor Schmerz.
Alexander zog sich an der Wand hoch und keuchte:
«Verdammt, reden wir miteinander, oder schlagen wir uns? Und wenn wir uns schlagen, warum?»
«Rosin?», ächzte Spartaco Negro. «Was haben Sie mit Ihren Haaren gemacht?»
«Gefärbt. Das wird polizeilich gesuchten Papst-Kidnappern ausdrücklich empfohlen.»
Sein Blick fiel auf eine Sonderausgabe des Messagero, die halb aufgeschlagen auf einem Stuhl lag. Seit Elenas Entführung spuckte die Zeitung täglich Extrablätter mit den neuesten Meldungen und Gerüchten zur «Papstaffäre» aus. Die aktuelle Nummer, die noch herb-süßlich nach Papierleim und Druckerschwärze roch, sprach schon in ihren Überschriften Bände: Angeschossener Papst entführt – Wegen Beihilfe zum Attentat gesuchter Gardist hilft beim Kidnapping – Eindringen der Entführer in den Vatikan für Vigilanzachef unerklärlich –
Privatsekretär des Heiligen Vaters ermordet in Vatikanischen Gärten gefunden.
Offenbar war es den Verschwörern gelungen, den unterirdischen Gang zu verheimlichen.
Spartaco erhob sich und drückte eine Hand gegen den Bauch, mit dem er auf die Hantel geprallt war. «Ich dachte, Sie sind einer von denen. Okay, reden wir.»
«Das ist die bessere Alternative.» Alexander zeigte auf das Ben-Hur- Poster. «Apropos. Der Stummfilm mit Ramon Novarro ist um einiges besser.»
«Weiß ich. Aber versuchen Sie mal, davon ein Originalposter zu ergattern.»
«Verstehe.»
Spartaco, den er mitten aus dem Krafttraining gerissen hatte, fuhr sich über die schweißbedeckte Stirn. «Ich muss was trinken.»
«Gleichfalls.»
Während das Muskelpaket zur Kochnische ging und den großen Kühlschrank aufzog, sah Alexander sich in dem Kellerbunker um. Ein schmales Bett war in eine Ecke gequetscht. Die spartanische Lagerstatt und die Kochnische waren alles, was entfernt an eine Wohnung erinnerte. Der Rest des Raums war zu einer Hälfte ein Bodybuilding-Studio und zur anderen ein mit Computern, Monitoren und Kabeln vollgestopftes Hackerzentrum.
«Meine Recherche-Ecke», sagte Spartaco, als er Alexanders Blick bemerkte. Er stellte eine Flasche Mineralwasser und zwei Plastikbecher auf den dreieckigen Küchentisch.
Alexander setzte sich zu ihm. «Was macht Ihr Bein?»
«Wenn ich nicht dran denke, tut’s gar nicht mehr weh. Was macht der Papst?»
«Ihm tut’s auch kaum noch weh. Wir haben denen einen dicken Strich durch die Rechnung gemacht.»
«Verrückt.»
«Ist eine lange Geschichte. Wir sollten uns jetzt um Elena kümmern.»
Spartacos Rechte schoss vor und umklammerte Alexanders linkes Handgelenk. Ein Griff wie ein Schraubstock. «Haben Sie eine Spur von ihr?»
«Ich denke, ich weiß, wo sie ist.»
«Warum sind wir dann noch nicht unterwegs?»
«Wir müssen ein paar Vorkehrungen für die Reise treffen.»
«Je eher wir anfangen, desto eher geht’s los. Wohin reisen wir?»
«Auf die Kanalinseln.»
23
Dienstag, 19. Mai
Sark war ein altes Piraten- und Schmugglernest, und genauso sah es aus. Schroff und abweisend reckte sich der steile Fels mit dem Hochplateau aus dem blaugrünen Meer, erhaben über die unablässig anrollenden Wellen, die sich an ihm brachen und zu schaumiger Gischt zerstoben. Möwenschwärme kreisten wachsam über der Steilküste, bereit, sich jederzeit auf das blütenweiße Ausflugsschiff zu stürzen, das vor einer halben Stunde von Guernsey abgelegt hatte. Die schrillen Schreie der Seevögel gingen im monotonen Brummen der Schiffsmotoren unter. Die Castle Cornet war die erste Fähre, die an diesem Morgen Guernseys Hauptstadt St. Peter Port mit Kurs auf Sark verlassen hatte, und entsprechend wenige Passagiere hatte sie an Bord. Die meisten Touristen saßen um die Zeit noch bei Kaffee oder Tee, Schinken, Ei und Würstchen. Vor fünfzehn Minuten hatte die Castle Cornet die kleine Insel Herrn passiert, die näher an Guernsey als an Sark lag, jetzt steuerte sie mit striktem Westkurs ihr Ziel an.
Sark wuchs mit jeder Minute vor dem Bug der Fähre. Einzelne Buchten und Klippen schälten sich aus dem eintönigen Graubraun des Felsgesteins, Stück für Stück enthüllte die Insel ihr Gesicht. Mehrere Gesichter. Die Menschen auf der Castle Cornet erkannten, dass Sark nicht eine kompakte Landmasse war. Der südliche Teil, Little Sark, hing nur über einen schmalen Landstreifen mit dem Rest zusammen. Noch weniger Verbindung zum Hauptteil des Eilandes schien der östlich vorgelagerte Felsen zu haben, auf den die Fähre unbeirrt zuhielt.
«Brecqhou!», sagte Spartaco inbrünstig, während er das kleine Stück meerumwogten Landes durch sein Fernglas betrachtete.
Es klang wie ein Schwur, die geheimnisvolle Insel nicht ohne Elena zu verlassen.
Sie standen auf dem Ausflugsdeck und starrten gebannt auf Brecqhou, das sich immer deutlicher aus dem Schatten Sarks löste und eigene Konturen gewann. Gierig griff Alexander nach dem Fernglas. Spartaco, der mit seinem frischen Igelhaarschnitt gewöhnungsbedürftig aussah, holte die sündhaft teure Pentax-Kamera aus seiner Umhängetasche und begann die Insel zu fotografieren.
Das Fernglas enthüllte Alexander die Einzelheiten des schmalen Eilands, das sich von Norden nach Süden hinzog.
Über den hohen Steilhängen am Nordende standen auf gewelltem Hügelland mehrere lang gestreckte Wirtschaftsgebäude. Zur Mitte hin wurde die Küstenlinie flacher und gab den Blick auf das pompöse Schloss frei, so groß und klotzig, dass es die ganze Insel zu erdrücken schien. Vor der zur offenen See gelegenen östlichen Mauer befand sich eine niedrigere, ebenfalls mittelalterlich wirkende Bastion, so als müsste das Schloss gegen Angriffe verteidigt werden.
Tatsächlich war die Küste an dieser Stelle am flachsten. Es war wohl der einzige Punkt, den nicht steile, zerklüftete Klippen abschirmten. Ein gewundener Weg führte hinunter zum Meer und endete bei einem Barackenkomplex, vermutlich Bootsschuppen. Zum Süden hin wurde die Insel wieder hügelig.
Dort standen ein paar vereinzelte Häuser und Schuppen rund um den leeren Hubschrauberlandeplatz.
«Sieht so einladend aus wie die Insel des Dr. Moreau», sagte Alexander. «Und wirkt trotz der Bebauung ausgestorben wie Robinsons Eiland.»
«Vielleicht ist Camelot verwaist, weil Artus und die Ritter seiner Tafelrunde gerade den Heiligen Gral suchen», meinte Spartaco, während er die Kamera öffnete, um den Film zu wechseln.
Den Gral oder die Wahre Ähnlichkeit Christi, dachte Alexander.
Die Castle Cornet drehte nach Norden ab, um an Brecqhou vorbei Sark anzulaufen. Der Schlenker an Brecqhous Ostküste entlang war ein Umweg, ein Service für die Touristen. Viel näher wäre das große Fährschiff auch nicht an das wenig einladende Eiland herangekommen. Rund um die kleine Insel, wie auch an vielen Stellen vor der Küste von Sark, ragten zerklüftete Felsen aus dem Wasser.
Alexander, der in den vergangenen Tagen jede nur auffindbare Broschüre über die Kanalinseln verschlungen hatte, wusste, dass noch viel mehr der gefährlichen Brocken unter der Wasseroberfläche darauf lauerten, einen Schiffsrumpf aufzuschlitzen. Wer Brecqhou anlaufen wollte, brauchte ein kleineres Boot, und selbst dann war es für einen Ortsunkundigen ein schwieriges Manöver. Die Einheimischen nannten solch einen Felsen «Boue», was «versunkener Stein» bedeutete. Der Begriff stammte aus dem normannischen Französisch, aus der Zeit, als die Normannen über die Kanalinseln geherrscht hatten.
Jeder größere Boue hatte einen eigenen Namen – den eines Fischers oder eines Schiffes, dem er zum Verhängnis geworden war.
Mit beschleunigtem Tempo rauschte die Fähre an der unwirtlichen Nordküste Brecqhous vorbei, und die Gouliot-Passage kam in Sicht. Ein schmaler natürlicher Kanal zwischen der kleineren Insel und Sark. Wütend über die Einengung schlug das Meer mit hohen, Gischt sprühenden Wellen gegen die Westküste Brecqhous und die Ostküste Sarks, von denen eine schroffer und abweisender war als die andere. Meer und Fels lagen hier in einem unermüdlichen, Jahrtausende währenden Kampf, der jeden zu zermalmen drohte, der sich zwischen die Fronten wagte. Bei diesem Anblick verstand Alexander, warum die kleinere Landmasse den Namen Brecqhou trug, «Insel der Schlucht».
«Die Entfernung zwischen beiden Inseln soll dreiundsiebzig Meter betragen», bemerkte er.
Spartaco ließ die Kamera sinken und knurrte: «Das sind selbst für einen guten Schwimmer dreiundsiebzig Meter zu viel.»
«Und wenn zwei gute Schwimmer sich mit einer Leine, die sie miteinander verbindet, absichern?»
Der Italiener sah ihn an wie einen Vollidioten. «Dann wird man zwei tote gute Schwimmer, die an einer Leine hängen, aus dem Meer fischen.»
Die von schäumenden Wellen aufgewühlte Durchfahrt verschwand hinter Sarks Klippen. Indem sie die spitze Landzunge im Norden Sarks umrundeten, entglitt ihren Blicken auch Brecqhou, die Insel, derentwegen sie unter falschen Namen, mit gefälschten Papieren und auf unterschiedlichen Wegen auf die Kanalinseln gekommen waren. Ohne die finanzielle und organisatorische Hilfe der Auserwählten wäre ihnen das alles nicht möglich gewesen.
Alexander, noch immer mit rotblondem Haar, war jetzt Marian Fuchs, freier Handelsvertreter aus München. Er war von Rom mit dem Zug nach München gefahren und von dort per Flugzeug über London-Heathrow nach Guernsey gekommen. Spartaco trat als Claudio Argento auf, von Beruf Wirtschaftsprüfer. Mit seinem neuen Kurzhaarschnitt sah er richtiggehend seriös aus.
Er war von Roms internationalern Flughafen Leonardo da Vinci nach Paris geflogen und hatte dort den nächsten Zug nach Saint-Malo genommen. Von der bretonischen Hafenstadt war es mit einem Fährkatamaran nach Guernsey weitergegangen, wo sie sich gestern Abend getroffen hatten.
Sie wohnten mitten in St. Peter Port, im Pandora Hotel. Ein paar Meter weiter unten auf der langen Hügelstraße Hauteville stand die Maison Victor Hugo, das Haus, in dem der französische Dichter während seiner Exiljahre auf Guernsey gewohnt hatte. Sie hatten das Hotel allerdings nicht aus touristischen, sondern aus rein pragmatischen Erwägungen ausgewählt. Es lag nahe am Hafen und hatte Meerblick. Bei gutem Wetter konnte man die Umrisse von Sark deutlich sehen.
Auf Sark zu wohnen war ihnen zu riskant erschienen. Die Insel war erheblich kleiner als Guernsey und so nah an Brecqhou gelegen – da drohte ihnen viel eher Entdeckung.
Mochte Totus Tuus auch auf Guernsey seine Spione haben, zwischen den Tausenden Touristen waren Alexander und Spartaco auf jeden Fall sicherer.
Die Castle Cornet umrundete die Landzunge Point Robert an Sarks Ostküste und ließ den strahlend weißen Gebäudekomplex des Leuchtturms, der sich festungsartig über den Klippen erhob, hinter sich zurück. Bald verlangsamte die Fähre ihre Fahrt, schob sich vorsichtig zwischen den Boues hindurch und lief in den tidenunabhängigen Hafen La Maseline ein, der ebenfalls an der Ostküste lag, zwischen natürlichen Steilhängen und von Menschenhand errichtetem Mauerwerk.
Zwei Männer von der Bootsbesatzung halfen den Passagieren auf den Kai. Durch einen Felstunnel ging es auf einen unbefestigten Platz, wo traktorgezogene Busse warteten. Nur Traktoren fuhren auf Sark mit Motorkraft. Alle anderen Motorfahrzeuge hatte der Seigneur von der Insel verbannt, und auch Flugverkehr gab es hier nicht. Als die Traktoren die Anhänger mit den Ausflüglern die waldgesäumten Serpentinen zum hundert Meter über dem Meeresspiegel gelegenen Inselplateau hinaufzogen, war eine dichte Staubfahne ihr ständiger Begleiter. Der Tag versprach warm und sonnig zu werden. Rom mit seinen düsteren Wolken schien Alexander unendlich weit entfernt und doch, wenn er an Brecqhou dachte, bedrohlich nahe.
Auf dem Plateau warteten Pferdekutschen. Wem die nicht zusagten, der ging in das kleine Dorf, um sich ein Fahrrad zu mieten. Oder er machte sich, wie Alexander und Spartaco, zu Fuß an die Erkundung des ruhigen, grünen Fleckens, den Victor Hugo ein Feenschloss voller Wunder und Algernon Swinburne ein berauschendes Eiland genannt hatten. Die beiden Männer aus Rom hatten keinen Sinn für die Naturschönheiten, die sie mit Hilfe einer Landkarte auf fast gerader Linie von Ost nach West durchquerten. Vorbei an stillen Weihern, grasenden Schafen und romantischen Häuschen marschierten sie, die wärmenden Strahlen der allmählich höher kletternden Sonne im Rücken, zur Landspitze von Gouliot. Von hier aus sahen sie direkt nach Brecqhou hinüber und in die tosende Gischt der Gouliot-Passage.
Es war ein in jeder Hinsicht enttäuschender Anblick. Die Granitfelsen an der Ostküste von Brecqhou verbargen den größten Teil der Insel, und nur ein Zipfel des Schlosses war zu sehen. Die Passage, so aufregend das Schauspiel der sich zornig aufbäumenden Wassermassen auch war, wirkte aus der Nähe betrachtet noch viel weniger einladend als von Bord der Castle Cornet aus. Ungerührt schoss Spartaco seine Fotos, mochte der Brodem atomatisierten Wassers auch bis zu ihnen heraufspritzen.
«Sie haben Recht, Spartaco.» Missmutig starrte Alexander in die Schlucht. «Nicht mal Johnny Weissmüller wäre da durchgekommen.»
«Höchstens in einem Boot», erwiderte der Italiener. «Und das wäre noch riskant genug. Von Anlegen könnte nicht die Rede sein, schon gar nicht nachts. Das geht nur an der Westküste.»
Alexander nickte. «Wir brauchen ein kleines, leichtes Boot!»
Ein kleines, leichtes Boot war die Saints Bay, aber auch ein verflucht teures. Der Bootsverleiher in St. Peter Port schien darauf zu bauen, dass auf den Kanalinseln keine Habenichtse Urlaub machten. Oder er hatte Alexander – dem angeblichen Münchner, der so gern auf dem Starnberger See segelte –
angemerkt, wie scharf er auf die kleine Schaluppe war. Das wendige, überaus seetüchtige Boot war genau das, wonach er schon bei zwei Bootsverleihern vergeblich gesucht hatte, und da er von den Auserwählten großzügig bedacht worden war, hatte er den exorbitanten Preis ohne Feilschen akzeptiert. Ein zweites kleines Vermögen war für ihre nicht sehr umfangreiche, aber nützliche Ausrüstung draufgegangen, die Spartaco besorgt hatte.
Die Saints Bay. fasste gerade mal die beiden Männer und ihre Gerätschaft, doch mehr war für die knapp fünfzehn Kilometer zwischen Guernsey und Brecqhou auch nicht nötig.
Ihre Chancen, zumindest bis vor die Küste von Brecqhou zu kommen, standen gut, waren sie doch beide geübte Segler.
Spartaco hatte das Segeln im Meer vor Ostia geübt, Alexander hatte es von seinem Vater gelernt, während ihrer Ferien am Vierwaldstätter See. Eine Erinnerung, die ihm genauso weit weg erschien wie der Vater, den er einmal gehabt hatte.
Spartaco, der auf offener See erfahrener war, hielt die Steuerstange und beobachtete den Kompass in der kardanischen Aufhängung. Bei Tageslicht hätte er nach Sicht navigieren können, aber eine Stunde vor Mitternacht war das Meer aus Wasser von einem Meer aus Dunkelheit umschlungen. Auf den Inseln änderte das Wetter sich schnell. Wo am Tag eine strahlende Sonne am Himmel gestanden hatte, zogen jetzt große Wolkenbänke mit dem Wind nach Westen.
Alexander kauerte vorn im Boot und hielt durch ein bi-okulares Nachtsichtgerät, ein französisches Modell vom Typ Sopelem LISP, Ausschau. Wo immer Spartaco den handlichen Restlichtverstärker aufgetrieben hatte, er war eine höchst dankenswerte Erwerbung. Zwar war das durch die Wolkendecke dringende Licht der Gestirne nur schwach, aber dem Mikrokanalverstärker des LISP reichte es aus. Er zauberte ein fremdartig verzerrtes Bild des Meeres auf den phosphoreszierenden Bildschirm, verwandelte die dunklen Wellen in weiß leuchtende Schlangen, die im finsteren Nichts einen exotischen Tanz aufführten. Alexander beachtete das unwirkliche Schlangengewimmel nicht. Für ihn zählten nur feste Objekte, die unveränderlich aus dem Meer ragten. Felsen. Ein leistungsstarker Scheinwerfer wäre hilfreicher gewesen, aber auch verräterisch.
Der Seegang war stärker als am Tag, und das leichte Boot tanzte nur so auf den Wellen. Mit ihrem kurzen Kiel war die Saints Bay bei jedem Absturz in ein Wellental nahe daran, sich zu überschlagen. Die Brecher warfen sich über das Boot und die Männer darin, die von Glück sagen konnten, dass sie Neoprenanzüge trugen. Alexander hatte keine Angst vor dem Kentern. Er und Spartaco hatten sich selbst ebenso festgezurrt wie ihr Gepäck. Außerdem trugen sie Rettungswesten. Sollte das Boot kippen, würde es sich dank der schaumgefüllten Flotationskammern sofort wieder aufrichten. Neben der Leichtigkeit des Gefährts der Hauptgrund, weshalb er sich für die Saints Bay entschieden hatte.
Eine riesige, weiß schillernde Masse schob sich auf seinen Bildschirm. Es sah aus wie ein Berg aus zerfließendem Kalk: Sark, das noch mit Brecqhou verschmolzen war.
Er rief die Nachricht seinem Begleiter zu, der sie mit einem knappen Nicken bestätigte. Dicht am Wind segelte Spartaco auf die Inseln zu.
Ein Motorboot hatten sie nicht gewollt, weil der Lärm sie verraten hätte und weil das Gewicht angesichts der unzähligen Boues ein zu großes Risiko bedeutet hätte. Je leichter das Boot, desto geringer die Gefahr, dass der Rumpf aufgeschlitzt wurde.
Der Wind frischte auf und vertrieb die Wolken. Mond und Sterne beleuchteten die Inselmasse, die jetzt mit bloßem Auge zu erkennen war. Alexander wusste nicht, ob er froh darüber sein sollte. Die Boues waren so leichter zu entdecken – aber die Saints Bay und ihre Insassen auch.