Adriana kriecht in die Richtung, aus der der Laut kommt, und spürt plötzlich einen Luftzug im Gesicht. Aufgeregt schiebt sie sich schneller voran, bis sie enttäuscht gegen eine weitere Wand stößt. Ihre Hände ertasten grobe, unbehauene Steine. Aber dann findet sie eine Lücke. Dort liegt loses Geröll. Sie räumt es in fieberhafter Hast beiseite, ohne darauf zu achten, dass sie sich die Haut an Händen und Armen abschürft und dass ihre Fingernägel abbrechen.
Endlich ist die Lücke groß genug, dass Adriana sich hindurchzwängen kann. Dabei berührt sie etwas Weiches, das zurückspringt und ein erschrockenes Fauchen ausstößt.
«Hab keine Angst, Kätzchen», sagt Adriana, leise, um das Tier nicht noch mehr zu erschrecken. «Vielleicht können wir uns gegenseitig helfen. Kennst du einen Weg, der nach oben führt?»
Die Antwort besteht aus einem Miauen, von dem sie nur hoffen kann, dass es «ja» heißt.
Die Katze läuft weg, und Adriana folgt ihr hastig, noch immer auf allen vieren. Dann wird der Gang größer, so dass sie erst in geduckter Haltung laufen und sich schließlich ganz aufrichten kann.
Der Luftzug ist stärker geworden. Irgendwann sieht sie vor sich ein winziges Licht. Es ist nur ein Glimmen und doch ein gewaltiger Hoffnungsschimmer, denn es bedeutet auch, dass sie nicht erblindet ist.
Wieder hört sie die Katze miauen. Es klingt wie eine Aufforderung: «Komm schon, Adriana, folge mir!»
Als Adriana um eine Ecke biegt, wird das Licht heller. Es ist ein seltsames Leuchten von unwirklichem Glanz. Bestimmt kein Tageslicht. Aber sie kennt auch keine Lampe, die in einer solchen Vielfalt blauer, roter und grüner Farbtöne leuchtet. Am ehesten lässt es sich mit von Kerzen beleuchteten Kirchen-fenstern vergleichen, wie man sie sieht, wenn man abends durch den Vatikan streift.
Beim Weitergehen, dem magischen Leuchten entgegen, sieht sie zum ersten Mal die Katze, die zu ihrer Führerin durch die unterirdische Welt geworden ist. Ein mageres Tier mit dunklem, struppigem Fell. Für Adriana, die schon glaubte, niemals mehr ein lebendiges Wesen zu sehen, ist es die schönste Katze der Welt. Dankbar folgt sie ihr. Die Hoffnung, einen Weg aus dem unterirdischen Gefängnis zu finden, lässt sie jeden Schmerz vergessen.
Noch eine Biegung, und sie bleibt überrascht stehen, vor sich die Quelle des seltsamen Lichts. Es ist ein unglaublicher Anblick. Der unterirdische Raum ähnelt einer Kapelle, obwohl solch ein Gotteshaus sich im ganzen Vatikan nicht findet, jedenfalls nicht über der Erde. Auf dem kleinen Altar stehen rund um einen hölzernen Kasten mehrere Kerzen. Einige sind erloschen, andere brennen. Ihr Licht wird von den Wänden zurückgeworfen, wodurch das unwirkliche Leuchten entsteht.
Denn die Wände sind mit Hunderten von Edelsteinen geschmückt, deren Farben sich vermischen: Das Grün von Smaragden, das Rot von Rubinen, das Blau von Saphiren und das Violett von Amethysten.
Alles ist so fremdartig, so verwirrend, dass Adriana für kurze Zeit vergisst, in welcher Zwangslage sie sich befindet. Staunend betrachtet sie die Wände und erkennt, dass die Edelsteine Muster bilden. Hinter dem Altar formen unzählige Amethyste ein Kreuz, so groß wie ein Mensch. Wer hat diesen Raum geschaffen, wer die Kerzen entzündet?
Und dann denkt sie: Wenn jemand hierher kommt und sich um die Kerzen kümmert, muss es einen Weg nach draußen geben.
Einen Weg in die Freiheit!
Vorhin, in dem dunklen Gang, ist sie an einigen Abzweigungen vorbeigekommen. Aber sie weiß nicht, wohin diese Wege führen, ob sie nicht wiederum an einer Mauer enden.
Die Katze schlüpft durch ein Eckloch dicht über dem Boden.
Mit Mühe und Not kann Adriana, die eine Kerze vom Altar mitnimmt, sich ebenfalls durch die Öffnung quetschen. Dabei zerreißen ihre Kleider, aber sie denkt jetzt nicht an die tadelnden Worte ihrer Mutter.
Wieder muss sie kriechen, etlichen Windungen folgen, bis der Gang endlich weiter wird. Luftiger. Heller.
Frische Luft und Tageslicht!
Sie beginnt zu laufen, stolpert, fällt, rappelt sich wieder hoch und rennt weiter. Bis sie im Freien steht. Endlich!
Das Licht ist so grell, dass ihre Augen tränen. Durch den nassen Schleier erkennt sie ihre Führerin, die sich zu anderen Katzen gesellt. Sie aalen sich im hohen Gras einer Wiese, die von Ruinen umgeben ist.
«Hier, bei den republikanischen Tempeln, bin ich heraus-gekommen», schloss Signora del Grosso ihren Bericht. «Die Katze hat mir das Leben gerettet.»
«Dann haben Sie unter der Erde eine Strecke von fast zwei Kilometern zurückgelegt», staunte Alexander. «Und Ihr Weg hat unter dem Bett des Tibers entlanggeführt.»
«So ist es», sagte die Katzennärrin leichthin. «Aber die Carabinieri, die mich fanden, wollten mir auch nicht glauben.
Sie haben mich in ein Krankenhaus gebracht und am nächsten Tag zurück in den Vatikan, wo ich Nuccio wieder sah.»
«Er hatte den Bombenangriff also auch überlebt?», fragte Elena.
«Ja, aber es hatte ihn schwer erwischt. Es war wohl mein Glück im Unglück, dass ich in die Höhlen gefallen bin, die von den Explosionen erst aufgerissen und dann wieder verschüttet wurden. Das hat mir weitere Verletzungen erspart. Der arme Nuccio wurde von mehreren Bombensplittern getroffen. Einer saß so dicht an seinem Herzen, dass er nicht herausoperiert werden konnte. Nuccio del Grosso hatte immer darunter zu leiden. Als wir 1960 heirateten, wussten wir beide, dass es keine lange Ehe sein würde, aber wir haben nicht damit gerechnet, dass er schon in den Flitterwochen stirbt. Seitdem bin ich allein und versuche, den Katzen von Rom meinen Dank abzustatten.»
«Was war das für ein Bombenangriff?», fragte Alexander.
«Der Vatikan war im Zweiten Weltkrieg doch neutrales Gebiet.»
«Das war der Bomberbesatzung und ihrem Befehlshaber egal.»
«Ihrem Befehlshaber?», wiederholte Alexander. «Heißt das, der Vatikan wurde gezielt bombardiert?»
«Offiziell ist das nie geklärt worden. Sowohl die Deutschen als auch die Alliierten haben jede Verantwortung abgelehnt. Ich habe an dem Flugzeug keine Hoheitszeichen gesehen, aber damals wusste ich nicht mal, was Hoheitszeichen sind.
Allerdings kam einige Tage später ein Prälat aus dem Staatssekretariat in unsere Wohnung und zeigte mir ein Heft mit Darstellungen verschiedener Flugzeuge. Er wollte wissen, ob ich den Bomber erkennen würde. Tatsächlich habe ich eine entsprechende Flugzeugform in dem Heft gefunden. Ich weiß noch, dass es auf den Seiten mit den britischen Maschinen war.»
Alexander hörte gespannt zu und beugte sich weit über den Tisch. «Was geschah dann?»
«Der Prälat wurde blass und sagte, ich solle darüber strengstes Stillschweigen bewahren. Danach habe ich nie wieder etwas über die Sache gehört.»
«Haben Sie jemandem von der unterirdischen Kapelle erzählt?»
Die Frage kam von Elena, die vermutlich dasselbe dachte wie Alexander: Der edelsteingeschmückte Raum unter der Erde musste identisch sein mit dem Ort, an dem Papst Clemens VII.
einst dem Zirkel der Zwölf den Eid abverlangt hatte.
«Nein. Als die Carabinieri mir schon nicht glauben wollten, dass ich unter der Erde vom anderen Tiberufer herübergekommen war, hielt ich es für besser, die Kapelle nicht zu erwähnen. Nur Nuccio habe ich davon berichtet, als er aus dem Krankenhaus kam. Vielleicht hätte ich die Kapelle selbst irgendwann für eine Einbildung meines überreizten Verstandes gehalten, hätte ich sie viele Jahre später nicht noch einmal gesehen.»
Elena stieß einen Laut der Überraschung aus. «Sie waren noch einmal dort, Signora?»
«Wir mussten lange nach dem Weg suchen. Damals, als ich der Katze folgte, habe ich ihn mir natürlich nicht eingeprägt.
Und es gibt viele alte Stollen und Schächte unter Rom.»
«Wer ist wir? » , fragte Elena.
«Monsignore Borghesi und ich. Als ich ihn vor acht oder neun Jahren kennen lernte, lebte er noch als Benefiziat im Vatikan.
Wie Sie beide kam auch er unter irgendeinem Vorwand zu mir.
Er täuschte Interesse an meiner Arbeit vor und versprach, Kollekten für die herrenlosen Katzen Roms durchzuführen.
Aber ich habe schnell gemerkt, dass er etwas anderes wollte.
Nicht Signora del Grosso interessierte ihn, sondern die kleine Adriana Vivarelli, die als Kind im Vatikan einen unterirdischen Gang entdeckt hatte. Borghesi hatte irgendwo darüber gelesen und fragte mich, ob ich etwas von einem geheimen Versammlungsort unter der Erde wüsste, so eine Art Kirche.»
«Und Sie haben ihm die Edelsteinkapelle gezeigt», schlussfolgerte Alexander.
«Es hat ihn eine beachtliche Spende gekostet.»
«Und? Was wollte Borghesi dort?»
«Ich habe nicht die geringste Ahnung. Ich war nur seine Führerin. Es war ein seltsames Erlebnis. In der Kapelle hatte sich nichts verändert, als wären seit dem Bombenangriff nur Tage und nicht Jahrzehnte vergangen. Die Kerzen brannten wie ehedem auf dem Altar, aber außer uns war niemand dort. Wer immer sich um die Kerzen kümmerte, glaubte wohl, die Stollen, durch die wir gekommen waren, hätten keinen Ausgang, und rechnete daher nicht mit ungeladenem Besuch. Borghesi hat sich nicht lange in der Kapelle aufgehalten. Er hat sich ein paarmal fassungslos um sich selbst gedreht und dann den Altar angestarrt. Die vielen Edelsteine schienen ihn gar nicht zu interessieren. Irgendwann stand ihm plötzlich der Schweiß auf der Stirn und er sah ängstlich aus. So schnell wie möglich wollte er die Kapelle wieder verlassen.»
Elena zwinkerte der Katzennärrin zu. «Haben Sie nicht ein paar Edelsteine mitgenommen, Signora? Damit hätten sie eine Menge Katzenfutter kaufen können.»
Hastig schlug die alte Frau ein Kreuz. «Gott bewahre mich vor solcher Dummheit! Diese Kapelle ist entweder verflucht oder ein heiliger Ort. Auf jeden Fall bringt es nichts Gutes, von dort etwas zu stehlen.»
Alexander ging die ganze Zeit etwas im Kopf herum. «Stand der Holzkasten bei Ihrem letzten Besuch in der Kapelle noch da? Hat Borghesi deshalb so auf den Altar gestarrt?»
«Ich habe nicht darauf geachtet», antwortete Signora del Grosso zu seiner Enttäuschung. «Und ich habe Borghesi auch nie wieder zur Kapelle begleitet.»
«Er war noch öfter dort?», fragte Elena.
«Drei- oder viermal, immer nachts. Ganz überraschend tauchte er hier auf und erkaufte sich mit einer Spende den Durchgang zu den Stollen. Er kam mir immer sehr aufgeregt vor, ängstlich geradezu.»
«Warum?», wollte Elena wissen.
«Ich habe ihn nicht nach dem Grund gefragt. Das ging mich nichts an.»
Alexander brauchte nur einen Blick mit Elena zu wechseln, um zu erkennen, dass sie dasselbe dachte wie er. Also sprach er es aus: «Signora, würden Sie uns zu der Kapelle führen?
Selbstverständlich gegen eine Spende für Ihre Katzen.»
Die alte Frau lachte gackernd. «Ich kann mich kaum noch bewegen, und da soll ich durch die engen Gänge kriechen?
Vielen Dank! Schon damals, als ich Monsignore Borghesi führte, hatte ich Mühe.» Sie legte eine bedeutungsvolle Pause ein und raunte dann: «Außerdem spukt es unter der Erde!
Manchmal höre ich von ferne Stimmen, mal sprechen sie, dann singen sie.»
«Hier unten?», hakte Elena nach.
Die Katzennärrin bejahte. «Wenn man den unterirdischen Gängen in Richtung Vatikan folgt, hört man es manchmal.»
«Ah», machte die Journalistin. «Etwa dort, wo die Edelsteinkapelle liegt?»
«Ganz genau. Dort treffen sich die Geister!»
«Können Sie uns den Weg wenigsten beschreiben, Signora?», bat Elena.
«Warum beschreiben? Folgen Sie einfach den Kreidepfeilen, die Borghesi damals an die Felsen gezeichnet hat!»
17
Alexander lenkte den Lichtstrahl der alten Taschenlampe auf sein linkes Handgelenk und sah, dass der große Zeiger seiner Armbanduhr den kleinen vollkommen verdeckte. Draußen erreichte die Sonne gerade den Zenit, was jedoch für die Römer nur von Belang war, falls die Wolken einen Blick auf die Sonne freigaben. Hier unten wäre es stockfinster gewesen ohne die Lampe, die Signora del Grosso ihnen, selbstredend gegen eine
«Spende», mitgegeben hatte. Die Katzennärrin hatte sie ein kurzes Stück in das unterirdische Netzwerk geführt, bis sie den ersten halb verblassten Kreidepfeil entdeckten. Von da an waren sie allein weitergegangen.
Fast eine Stunde war das jetzt her, und er fragte sich, wie lange sie noch bis zur Edelsteinkapelle unterwegs sein würden. In der Luftlinie mochten es vom Largo di Torre Argentina bis zum Vatikan nur knapp zwei Kilometer sein, aber das unterirdische System alter Gänge folgte seinen eigenen, verwinkelten Gesetzen. Hinzu kam, dass es ein beschwerlicher Weg war.
Immer wieder mussten sie sich bücken, besonders niedrige Stellen sogar auf allen vieren passieren.
Borghesi hatte sich mit dem Anbringen der Wegmarkierungen keine große Mühe gegeben. Sollten sie einmal die richtige Abzweigung verpassen, konnte das üble Folgen haben. Es war durchaus möglich, dass sie sich rettungslos verirrten oder in einen Schacht stürzten und sich sämtliche Knochen brachen.
Alexander war sich nicht sicher, ob Signora del Grosso sich die Mühe machen würde, Schritte zu ihrer Rettung zu unternehmen.
Gespendet hatten sie schließlich schon. Einmal durchzuckte ihn der beunruhigende Gedanke, dass die Alte sie absichtlich auf einen Irrweg geschickt haben mochte. So wie die Hexe Hänsel und Gretel in eine Falle lockt?
Und dann hörte der Gang, dem sie seit der letzten Abzweigung, seit knapp fünf Minuten, folgten, plötzlich auf. Als im selben Augenblick die Taschenlampe zu flackern begann, stieß Alexander einen Fluch aus. Sofort schaltete er die Lampe aus, um die schwache Batterie für den Rückweg zu schonen.
«Gute Nacht, Marie», knurrte er und dachte an die Geldscheine, die er der Alten in die Hand gedrückt hatte. «Man kann wirklich sagen, unser Ausflug war für die Katz.»
«Vielleicht haben wir einen Pfeil übersehen», sagte Elena.
«Oder wir haben übersehen, dass unsere Katzennärrin wahrhaftig närrisch ist. Wenn man sein halbes Leben und mehr hier unten verbringt, muss man ja wunderlich werden. Ich hatte aber …»
«Still!», zischte sie. «Ich höre etwas.»
Alexander verstummte, hörte aber nichts.
«Eben waren da Geräusche», sagte Elena so leise, als könne jemand sie belauschen. «Schritte und Stimmen.»
«Wo?»
«Hinter dieser Wand. Warte!»
Als er die Lampe kurz aufflammen ließ, sah er Elena die Wand abtasten.
«Wir sind doch auf dem richtigen Weg», stellte sie befriedigt fest. «Hier muss in den letzten Jahren ein Erdrutsch runtergegangen sein. Die Steine sind relativ lose. Man könnte versuchen, sie wegzuräumen.»
In diesem Augenblick hörten sie etwas, das Alexander bei Signora del Grosso stumme Abbitte leisten ließ. Der seltsame, dumpfe Gesang klang tatsächlich wie von Geisterstimmen her-vorgebracht. Alexander spürte Elenas Hand an seinem Arm. Bei genauerem Hinhören erkannte er, dass es kein eigentlicher Gesang war, sondern ein monotones Gemurmel mehrerer Stimmen.
«Wohl und Wehe der Kirche liegen in dieser Schatulle. Nie darf sie in unbefugte Hände fallen, nie dürfen andere Augen ihren Inhalt schauen als die der Gott Ergebenen. Dafür zu sorgen, sind die zwölf tapfersten und treuesten Männer zusammengekommen. Wir, die wir den Zirkel der Zwölf bilden, geloben bei unserer Ehre, unserem Seelenheil und der Gnade Gottes, das Geheimnis um die Wahre Ähnlichkeit Christi, das uns anvertraut ist, zu bewahren!»
Alexander war sprachlos. Hier in der Finsternis, irgendwo unter dem Vatikan – das vermutete er jedenfalls –, schienen sich Gegenwart und Vergangenheit zu vermischen. Es waren beinahe dieselben Worte wie in Albert Rosins Aufzeichnungen. Worte, die Papst Clemens VII vor fast fünfhundert Jahren gesprochen hatte. Konnte es wirklich sein dass dieses Ritual ein halbes Jahrtausend überlebt hatte?
Oder saßen sie einem gewaltigen Täuschungsmanöver auf, einem Schabernack, der eigens für ihn und Elena veranstaltet wurde? Aber niemand außer der Katzennärrin wusste, dass sie hier waren. Und die Alte hatte die Groteske, die jenseits der Geröllmauer veranstaltet wurde, kaum in so kurzer Zeit inszenieren können. Oder doch?
Auch Elenas Erregung wuchs, was er am stärker werdenden Druck ihrer Hand erkannte. Keiner von ihnen sagte etwas.
Gebannt lauschten sie dem Geschehen hinter dem Geröll, auch wenn es schlecht zu verstehen war.
«Ich heiße euch an dem heiligen Ort unserer Gründung willkommen, Brüder des heiligen Zirkels», sagte eine Stimme, die Alexander seltsam berührte. Sie klang einerseits vertraut und doch wieder so dumpf und fremd, dass er sie nicht einordnen konnte.
«Deine treuen Brüder grüßen dich, Haupt der Zwölf», antworteten mehrere Stimmen wie aus einem Mund. «Mögen aus unserem Zirkel Stärke und Weisheit erwachsen.»
Als der Anführer des Zirkels wieder sprach, überlegte Alexander krampfhaft, woher er die Stimme kannte.
«Unser Kreis ist unvollständig. Einer fehlt in unseren Reihen.
Er musste von uns gehen, weil Stärke und Weisheit ihn verlassen hatten. Er ist vom Pfad der Wahrhaftigkeit abgewichen und hat den Treueschwur gebrochen. Besonders schmerzlich ist das, weil er mein Stellvertreter war. Ein anderer muss an seine Stelle treten, und dazu habe ich nach alter Tradition ein Mitglied der Garde erkoren. Wenn ich nicht bei euch sein kann, wird Bruder Anton das Haupt unseres zwölfgliedrigen Körpers sein. Nimmst du die Pflicht auf dich, Bruder?»
«Ich erkenne die Bürde und gelobe, sie zu tragen», lautete die Antwort.
Selbst durch die Steine hindurch hörte Alexander deutlich, dass es sich um eine raue Stimme handelte, eine befehls-gewohnte Stimme. Ihm ging auf, dass Bruder Anton kein anderer war als Oberstleutnant Anton von Gunten. Umso mehr konzentrierte er sich nun auf die Stimme des Anführers, der jetzt wieder das Wort ergriff.
«Unsere Zahl soll die der Apostel sein, so will es das Gebot.
Und am getreulichsten befolgen wir es, wenn die Pflicht vom Vater auf den Sohn übergeht. Ich hatte gehofft, es so halten zu können, aber wie ich höre, ist mein Wunsch weit davon entfernt, in Erfüllung zu gehen.»
«Leider zeigt Alexander sich sehr verschlossen gegenüber unseren Interessen», sagte eine neue Stimme, die er auf Anhieb erkannte. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken, während er weiter lauschte: «Ich habe immer wieder versucht, ihn in Gesprächen für unsere Wertvorstellungen und Ziele zu begeistern, aber er ist nicht darauf eingegangen. Es tut mir Leid.»
«Mir auch», erwiderte der Anführer. «Ich weiß allerdings nicht, was mich mehr erschüttert, Alexanders Uneinsichtigkeit oder die Tatsache, dass Anschläge auf sein Leben verübt worden sind.»
Die Stimme hatte einen vorwurfsvollen Klang angenommen.
Einen Klang, an den Alexander sich erinnerte. Und da wusste er, wer der Anführer, das Haupt der Zwölf, war. Er wusste es, aber er konnte es nicht glauben, wollte es nicht wahrhaben.
«Es gab einige Kommunikationsstörungen», erklärte von Gunten ungewohnt kleinlaut. «Aber die Schuld liegt nicht nur auf unserer Seite. Alexander wird zunehmend gefährlich für uns.
Ich habe ihm Sonderurlaub verordnet, damit er uns in dieser kritischen Phase nicht noch mehr auf den Pelz rückt. Er steckt seine Nase in unsere Angelegenheiten, ohne auf unserer Seite zu stehen.»
«Wir sollten versuchen, ihn auf unsere Seite zu ziehen», entgegnete der Anführer. «Das ist deine Aufgabe, Bruder Utz.»
«Ich werde mich bemühen, sie zu erfüllen, Haupt der Zwölf.»
Es war die Stimme von Utz Rasser, die Alexander eben einen Schauer über den Rücken gejagt hatte.
Er fühlte sich verraten und verkauft, hatte er Utz doch für seinen besten Freund gehalten. Nun ahnte er, dass er die ganze Zeit getäuscht worden war.
«Alexander Rosin ist vielleicht ein Problem, aber bei weitem nicht das drängendste», mischte sich eine weitere Stimme ein. «Der Anlass unserer außerordentlichen Zusammenkunft ist der Mann, der den Heiligen Stuhl besetzt und sich Papst Custos nennt.»
«Der Usurpator ist der Antichrist», rief die Stimme eines alten Mannes.
«Davon müssen wir leider ausgehen», sagte düster der, der zuvor gesprochen hatte, und Alexander erkannte den Staatssekretär des Vatikans, Domenico Kardinal Musolino. «Und wenn er morgen auf der Generalaudienz seine Ankündigung verwirklicht, besteht kaum noch eine Aussicht, ihn vom Stuhl Petri zu verjagen.»
«Wie sollen wir das verhindern?», fragte die alte Stimme, und auch zu ihr fiel Alexander ein Gesicht ein, das des Kardinalprotodiakons Gianfranco Tamberlani.
«Ich werde es verhindern.» Das war zweifellos Riccardo Parada, der Sicherheitschef des Vatikans. Energisch fuhr er fort:
«Der, der sich Heiliger Vater nennt, wird die Audienzhalle nicht erreichen, nicht lebend. Ich habe bereits entsprechende Vorkehrungen getroffen und brauche nur das Einverständnis des Zirkels.»
«Wann … soll es geschehen?», fragte die monotone Stimme von Monsignore Wetter-Dietz.
«Kurz bevor er die Audienzhalle betritt», antwortete Parada.
«Also in der Öffentlichkeit?» Wetter-Dietz klang erschrocken.
«Etwa ein Attentat?»
«Warum nicht?», entgegnete Parada. «Wenn ein Papst so kurz nach seiner Wahl stirbt, wuchern die Gerüchte sowieso in alle nur denkbaren Richtungen. Das Wort ‹Attentat› wird in jeder Zeitung und jeder Nachrichtensendung fallen. Warum nicht gleich ein Attentat inszenieren und die Schuld durch fingierte Indizien den Feinden des Glaubens in die Schuhe schieben?»
«Der Glaube hat viele Feinde», versetzte Musolino mit leichtem Sarkasmus.
«Ich spreche von den Moslems. Gardien hat die Aussöhnung mit dem Islam angekündigt. Den strenggläubigen Anhängern des Propheten Mohammed schmeckt das ebenso wenig wie uns.
Was liegt näher, als der Welt einen radikal fundamentalistischen Moslem als Papstmörder zu präsentieren?»
«Ein guter Gedanke», lobte das Haupt der Zwölf. «Und ein guter Plan, falls er funktioniert.»
«Dafür verbürge ich mich», sagte der Generalinspektor des Vigilanzakorps.
«Wer ist dafür, dass wir Bruder Riccardo mit der Bereinigung dieser Angelegenheit betrauen?», fragte das Haupt der Zwölf und erhielt ein vielstimmiges «Ich» zur Antwort. «Dann ist es beschlossen, dass Bruder Riccardo uns von dem Teufel im Papstrock befreien soll!»
Dann ist es beschlossen, dass Bruder Riccardo uns von dem Teufel im Papstrock befreien soll!
Der Satz hallte Alexander noch in den Ohren wider, als sie das unterirdische Labyrinth längst verlassen hatten und in einem Café am Corso Vittorio Emanuele saßen. Draußen floss träge der Autoverkehr dahin. Geschäftsleute im Anzug oder eleganten Kostüm und mit Kamera und Stadtplan bewaffnete Touristen eilten an den großen Fenstern vorüber. Dicke Regentropfen klopften schwer und dumpf gegen die Scheiben. Die Welt hatte ihn und Elena wieder, aber sie kam ihm unwirklich vor. Sie hatten soeben eine andere Welt kennen gelernt, die nur ein paar Meter unter ihnen lag. Dort hatten ein paar Männer über das Schicksal der oberen Welt beratschlagt. Und entschieden.
Die Erinnerung an die Stimmen, die er erkannt hatte, schnürte ihm die Kehle zu. Obwohl er sehr durstig war, rührte er sein Bitter Lemon kaum an. Er konnte einfach nicht. Die Gesichter der Männer, der Verschwörer gegen den Papst, die im Vatikan einflussreiche Posten innehatten, zogen an ihm vorüber: Der neue Kommandant der Schweizergarde, der Sicherheitschef, der Staatssekretär, der Kardinalprotodiakon und Vorsitzende des Obersten Gerichtshofs, der Pressesprecher – die Verschwörer schienen an alles gedacht und alle wichtigen Posten besetzt zu haben.
Aber die Ohnmacht, die er angesichts dessen verspürte, war nicht das Schlimmste. Dass er von seinem Freund Utz verraten und benutzt worden war, wog für ihn sehr viel schwerer. Doch am meisten machte ihm der Anführer des Zirkels zu schaffen, das Haupt der Zwölf. Sobald er nur an die Stimme und das Gesicht – an ihn! – dachte, wurde Alexander schlecht. Tische, Stühle und Menschen begannen sich um ihn zu drehen. Sein Magen revoltierte.
Er sprang auf, lief zur Toilette und erbrach sich. Danach hielt er seinen Kopf lange unter den Kaltwasserhahn. Am liebsten hätte er die Erinnerung an das, was er in den letzten Stunden erfahren hatte, einfach weggespült. Der Zwiespalt der Gefühle drohte ihn zu zerreißen. Er wünschte, er hätte die unterirdischen Stollen nie betreten.
«Du siehst schlecht aus», sagte Elena, als er sich wieder zu ihr an den Ecktisch setzte. «Kein Wunder nach allem, was wir gehört haben. Dich muss es besonders getroffen haben. Mit diesem Utz Rasser bist du gut befreundet, nicht?»
«Das dachte ich – bis heute.»
Seine Stimme klang kratzig. Seit sie im flackernden Licht der schwächer werdenden Taschenlampe das Stollensystem verlassen hatten hatte er kaum ein Wort gesagt. Kurz nachdem der Beschluss, den Papst morgen zu töten, gefasst worden war, hatte die Versammlung sich aufgelöst. Vorher hatte Alexander noch die Stimmen von Gardekaplan Franz Imhoof und drei Gardisten identifiziert: Oberleutnant Roland Schnyder, Adjutant Walter Stückelberger und Feldweibel Kurt Mäder. Kameraden, mit denen er Seite an Seite gedient hatte und die ihn – wie er jetzt annehmen musste – in jeder Sekunde ausspioniert hatten.
Am Ende der Zusammenkunft hatten alle dieselbe Eidesformel gesprochen wie zu Beginn. Daraufhin hatten auch Alexander und Elena die unterirdische Welt verlassen. Mit der erlahmenden Lampenbatterie wäre es zu gefährlich gewesen, einen Umweg zur Edelsteinkapelle zu suchen – falls es überhaupt einen gab.
«Utz war für mich wie ein Bruder», sagte er hilflos.
«Vielleicht sollte er genau das sein. Dein Treubruder!»
«Du meinst …»
«Ich habe den Eindruck, dass es zwischen Totus Tuus und dem Zirkel der Zwölf einige Gemeinsamkeiten gibt. Auch ich habe mich so elend gefühlt wie du, damals, als ich von Schwester Bianca verraten wurde. Totus Tuus und der Zirkel wenden offensichtlich ähnliche Methoden an. Dir ist doch klar, dass Rasser auf dich angesetzt war, oder?»
«Ja», sagte er matt.
«Und klar scheint auch zu sein, dass dein Onkel ebenfalls zu den Verschwörern gehörte. Aber wohl nicht mit ganzem Herzen, sonst hätten sie ihn nicht als Verräter bezeichnet. ‹Er musste von uns gehen, weil Stärke und Weisheit ihn verlassen hatten. Er ist vom Pfad der Wahrheit abgewichen und hat den Treueschwur gebrochen.› So hat das so genannte Haupt der Zwölf es doch ausgedrückt.»
«Ich weiß.» Es lag auf der Hand, dass der Anführer damit Heinrich Rosin gemeint hatte.
«Der Zirkel der Zwölf hat Oberst Rosin eiskalt liquidiert. Und das Gleiche soll morgen mit dem Papst geschehen.» Elena schüttelte den Kopf. «Verrückt! Ich komme mir vor wie im Irrenhaus.»
«Willkommen im Club.»
In Elenas Gesicht trat ein entschlossener Ausdruck. «Wir müssen etwas unternehmen! Wir kennen die Namen der Verschwörer, jedenfalls zum Teil. Wir müssen sie auffliegen lassen. Heute noch.»
«So? Und wer soll das übernehmen? Anton von Gunten und die Schweizergarde etwa? Oder die Vigilanza unter Riccardo Parada? Du kannst natürlich auch die Kurienkardinäle informieren. Ich schätze, man wird dich entweder an Musolino oder an Tamberlani verweisen.»
«Die Polizei! Wir werden die Polizei verständigen.»
«Die hat im Vatikan keine Befugnis, es sei denn, sie wird von dort zu Hilfe gerufen», sagte Alexander. «Aber das werden Musolino und Parada zu verhindern wissen.»
«Die Polizei könnte den Vatikan informieren.»
«Und würde wieder an Musolino oder Parada geraten. Gib es auf, Elena! Der Zirkel der Zwölf verfügt über alle Schaltstellen.»
«Verdammt, wenn ich aufgeben wollte, hätte ich das damals getan, als Mutter Assunta mich blutig peitschen ließ! Ich habe mich für den anderen Weg entschieden. Du weißt, dass ich mir geschworen habe, Totus Tuus das Handwerk zu legen, um jeden Preis. Und ich würde meinen Kopf darauf verwetten, dass der Zirkel der Zwölf mit dem Orden in Verbindung steht. Wenn es gar nicht anders geht, sorge ich dafür, dass der Messagero in einer Sonderausgabe über das geplante Attentat auf den Papst berichtet.»
«Deine Bosse würden dich auslachen und dir erläutern, was für Konsequenzen eine solche Verunglimpfung hochrangiger Personen aus dem Vatikan nach sich zöge. Selbst wenn eine Sonderausgabe gedruckt würde, wäre Wetter-Dietz sofort mit einem Dementi zur Stelle. Du vergisst, dass wir nichts beweisen können, Elena. Nichts.»
Ihre Faust ließ den leichten Kunststofftisch tanzen, was ihnen ein paar neugierige Blicke einbrachte. «Das können wir doch! Der verschüttete Weg zur Edelsteinkapelle lässt sich frei räumen.»
«Und was dann? Selbst wenn wir die Kapelle der Öffentlichkeit präsentieren und einen Verbindungsweg zwischen der Kapelle und dem Vatikan entdecken – das ist noch lange kein Beweis für das, was wir gehört haben. Zumal ich nicht glaube, dass der Geheimgang ausgerechnet in Musolinos oder Tamberlanis Schlafzimmer endet.»
Elena sah ihn durchdringend an. «Dann musst du es tun, Alex.
Der Papst hat schon einmal mit dir gesprochen. Du könntest versuchen, ihn zu warnen.»
«Seine Handynummer hat er mir nicht gegeben. Der Zirkel der Zwölf hat mich schon auf der schwarzen Liste, wie du selbst gehört hast. Meinst du, Musolino und Konsorten würden in dieser Situation zulassen, dass ich zu Seiner Heiligkeit vordringe?»
«Ich glaube fast, du willst dem Papst nicht helfen», sagte Elena sichtlich enttäuscht.
Zu ihrer Überraschung erwiderte er: «Damit liegst du vielleicht gar nicht so falsch.»
«Aber du hast den Treueeid auf ihn geleistet!»
«Haben von Gunten und Utz das nicht auch getan?»
«Was ist mit dir los, Alex? Du redest, als wärst du einer aus diesem grotesken Verschwörerzirkel.»
«Vielleicht bin ich das ja. Vielleicht hätte ich auf der anderen Seite der Geröllmauer sein sollen, in der Kapelle. ‹Unsere Zahl soll die der Apostel sein, so will es das Gebot. Und am getreulichsten befolgen wir es, wenn die Pflicht vom Vater auf den Sohn übergeht.› Das hat er doch gesagt, oder?»
«Ja. Und?»
Alexander hatte auf die Tischplatte gestarrt. Unendlich langsam hob er den Kopf und sah Elena traurig an. «Der Anführer, das Haupt der Zwölf, ist mein Vater.»
Als sie zum Gianicolo zurückkehrten, hörte es auf zu regnen.
Sie machten einen Spaziergang. Ein kräftiger Wind trug die vielfältigen Gerüche der Metropole vom Tiber herüber.
Alexander sah auf die Stadt wie die kaiserlichen Landsknechte und Söldner, die am fünften Mai 1527 hier oben kampiert hatten. In den Wirren, die auf die Plünderung Roms folgten, war der Zirkel der Zwölf entstanden; Albert Rosin hatte es in seinem Geheimen Bericht beschrieben. In der fünfhundert Jahre zurückliegenden Vergangenheit fanden sich die Wurzeln der ungeheuerlichen Ereignisse dieser Tage, bis hin zu dem Mord an Heinrich Rosin und der Verschwörung gegen Papst Gustos.
Aber sosehr er sich auch bemühte, Alexander bekam die Wahrheit nicht zu fassen. Zu vieles lag noch im Dunkeln.
«Was ist mit dem Zirkel der Zwölf geschehen? Warum wendet er sich gegen den Papst?»
Dass er laut gedacht hatte, merkte er erst, als Elena antwortete:
«Wir haben es doch gehört. Für den Zirkel ist Jean-Pierre Gardien nicht der rechtmäßige Papst. Die Männer dort unten haben ihn Usurpator und Antichrist genannt. Teufel im Papstrock haben sie gesagt.»
«Aber warum? Weil er die verkrusteten Kirchenstrukturen reformieren will?»
Elena, die sich auf eine Bank gesetzt hatte, stand auf und trat an seine Seite. «Es muss damit zusammenhängen. Die Verschwörer haben jedenfalls eine Heidenangst vor der Audienz morgen. Was immer Papst Gardien dort vorhat, für sie scheint es der reinste Horror zu sein. Alex, willst du mir wirklich nicht mehr über deine Begegnung mit dem Papst erzählen? Es könnte wichtig sein. Du musst nicht glauben, dass …»
«Dass du es im Messagero bringst? Nein, das glaube ich nicht.» Er dachte an das Versprechen, das er dem Heiligen Vater gegeben hatte, aber auch an den heiligen Eid, den er geleistet hatte, nämlich den Papst zu beschützen. Und er spürte, dass die Verpflichtung durch den Eid stärker war. «Seine Heiligkeit sagte etwas von intensiven Gesprächen mit meinem Onkel. Sie seien einander nahe gekommen, und es sei schwer, ihn zu verlieren.»
«Sehr interessant», fand Elena. «Klingt ganz so, als hätte Oberst Rosin dem Papst etwas über den Zirkel der Zwölf erzählt. Der Zirkel muss es erfahren und daraufhin seine Ermordung beschlossen haben.»
«Das würde passen, aber es bringt uns auch nicht weiter.»
«Immer mit der Ruhe, Alex. Was war noch? Du sagtest, der Papst hätte dich seine heilenden Kräfte spüren lassen.»
Er berichtete von seinem Schwächeanfall und davon, wie er frei von allen Schmerzen in den Armen des Papstes wieder zu sich gekommen war. «Ich habe ihn gefragt, ob er mir die Schmerzen genommen hätte, und er sagte etwas von einem Familienerbe. Darauf bin ich nicht weiter eingegangen, was ihn irgendwie zu enttäuschen schien. Aber ich kann mich irren. Der ganze Vorfall war höchst verwirrend.»
«Ein Familienerbe? Das hat er gesagt?»
«Genau das war der Ausdruck, den er benutzte. Warum?»
«Das wäre ein Ansatz zum Recherchieren.»
«Wir haben keine Zeit zum Recherchieren, Elena. Morgen stirbt der Papst!»
«Nur, wenn wir es nicht verhindern.»
Später saßen sie zwischen all den Kuscheltieren in Elenas Dachwohnung und stocherten lustlos in einem Bohnensalat herum, den sie auf die Schnelle aus ihren Vorräten gezaubert hatte. Zuvor hatte sie Spartaco angerufen und ihn mit einer Recherche betraut. Er sollte herausfinden, ob Jean-Pierre Gardiens Vorfahren durch irgendwelche Wunderheilungen aufgefallen waren. Nach dem Gespräch hatten Elenas schlanke Finger unentschlossen über der Telefontastatur geschwebt.
«4686 ist das Polizeipräsidium, und Donatis Durchwahl ist die 372», hatte Alexander gesagt. «Aber es bringt nichts.»
Elena hatte es eingesehen und auf den Anruf verzichtet.
Jetzt sprachen sie über Alexanders Vater und suchten vergeblich nach einem Grund, warum er seinen tödlichen Unfall über dem Ärmelkanal nur vorgetäuscht hatte. Als sie damit nicht weiterkamen, wechselte Elena das Thema, wohl auch, um Alexander von seinem düsteren Brüten abzulenken. Sie erzählte, dass es gerade unter dem Vatikan zahlreiche Stollen und Schächte geben musste.
«Der Zirkus des Nero befindet sich unter dem Vatikangelände und man hat diverse Nekropolen dort gefunden. Vielleicht wurde der Gang zu den republikanischen Tempeln als geheimer Fluchtweg angelegt, als ein unterirdisches Gegenstück zum Passetto.»
Alexander hörte nur mit halbem Ohr zu. Eine andere Frage beschäftigte ihn, und er sprach sie aus: «Was wusste Pater Borghesi? In welcher Verbindung stand er zum Zirkel der Zwölf?»
«Es könnte doch sein, dass er ihm einmal angehört hat.
Schließlich haben wir heute erfahren, dass der Zirkel nicht mehr nur aus Angehörigen der Schweizergarde besteht.»
«Du meinst, er war ein Abtrünniger?» Alexander war skeptisch.
«Warum nicht? Er ist ermordet worden wie dein Onkel.»
«Aber Borghesi lebte seit Jahren in den Bergen. Da musste es schon damals, als er den Vatikan verließ, zu einem Bruch mit …
mit was oder wem auch immer gekommen sein.»
«Vielleicht hat er dem Zirkel auch nicht angehört. Aber er könnte durch Zufall etwas erfahren haben. Als Benefiziat von Sankt Peter ist er den Verschwörern möglicherweise auf die Spur gekommen und hat dann weitergeforscht.» Elena stieß ihre Gabel in den Salat, führte sie aber nicht zum Mund. «Allerdings mag ich keine Zufälle. Schließlich war er der Beichtvater deines Onkels.
Auf diese Weise kann der Zusammenhang entstanden sein.»
«Über Totus Tuus?»
Elena nickte. «Als er sich geißelte, hat er die Bußformel des Ordens benutzt. Und er muss von deinem Vater gewusst haben.
Jedenfalls ergäben seine letzten Worte dann einen Sinn: Ich habe ihn gesehen, er lebt! »
Hätte er Freude darüber empfinden müssen, dass sein Vater lebte? Was er Markus Rosin bei der Zusammenkunft des Zirkels hatte sagen hören, dämpfte jedes Glücksgefühl. Alexander wusste nicht, was ihn mehr betrübte: dass sein Vater sich gegen den Papst verschworen hatte oder dass er dem eigenen Sohn vorgaukelte, er sei tot.
Er erzählte Elena von seinem Vater und von seiner Einsamkeit. «Vater erschien mir immer fremd. Ich glaube, er hat Mutters Tod nie ganz verwunden und mir, wenn auch nur unterbewusst, die Schuld gegeben. Immerhin ist sie bei meiner Geburt gestorben. Oft habe ich ihn verwünscht, wenn er mich nach einem Ferienausflug wieder allein ließ. Erst als ich von seinem tödlichen Unfall erfuhr, habe ich gespürt, wie viel er mir bedeutete. Vielleicht gerade, weil ich so wenig von ihm hatte.
Wäre meine Mutter am Leben gewesen, hätte sie das sicher etwas ausgeglichen.»
Elena hörte ihm zu wie sein bester Freund, den er heute verloren – nein, den er nie gehabt hatte. Sanft streichelte sie seinen Arm und seine Wange wie die Mutter, die er nicht gekannt hatte. Und irgendwann lag sie in seinen Armen wie die Geliebte, die er schmerzlich vermisste.
Eng umschlungen taumelten sie zu dem noch von der letzten Nacht zerwühlten Bett. Alexander sank rücklings auf die Matratze. Hastig zog Elena ihre Jeans und den Slip aus und schwang sich rittlings auf ihn. Sie öffnete seine Hose und führte ihn in ihren Schoß. Ihre Schenkel umklammerten ihn mit ungeahnter Kraft, und er überließ ihr willig die Führung. Mit geschlossenen Augen genoss er die Erregung, in die sie ihn versetzte, und auf dem gemeinsamen Höhepunkt stieß er voller Leidenschaft den Namen der Geliebten aus: «Juliette!»
Von einer Sekunde zur anderen zog Elena sich von ihm zurück und rutschte zur Seite. Als er sie ansah, lag nicht Enttäuschung in ihrem Back, sondern die Aufforderung an ihn, sich zu erklären.
Er wusste, dass der Zeitpunkt gekommen war, an dem er sein Geheimnis preisgeben musste. Den Grund für seinen tiefen Schmerz über das, was die Medien als «Gardemord»
bezeichneten. Seine Erinnerung wanderte sieben Jahre zurück zu einem heißen Sonntag im August …
Fregene!
An überhitzten Sommertagen ein Zauberwort für die Römer.
Jedenfalls für die, die den Zauber bezahlen können. Die Masse der Römer, die sich kein Sommerhaus in den Bergen leisten oder die Stadt aus beruflichen Gründen in den heißesten Wochen des Jahres nicht verlassen kann, flüchtet am Wochenende an den hoffnungslos überfüllten Strand von Ostia.
Wer hier im Meer badet, in das die Abwässer Roms und Ostias gespült werden, ist mutig. Die anderen drängen sich dicht an dicht an dem langen, verschmutzten Strand, über dem sich das Gedudel zahlloser Radiorekorder mit dem Schreien und Kreischen unzähliger Kinder zu einem dicken Teppich betäubender Töne verknüpft.
Fregene ist anders. Leiser, ruhiger, sauberer, erholsamer, intimer.
Als junger, spärlich entlohnter Gardist hätte Alexander kaum Zugang zu einer der kleinen privaten Badebuchten. Daher hat er das Angebot seiner Tante, sie nach Fregene zu begleiten, nur zu gern angenommen. Sein Onkel Heinrich hat an diesem Sonntag wieder einmal zu viele dienstliche Angelegenheiten zu regeln, als dass er den Vatikanstaat verlassen könnte.
«Ist es auch kein zu großes Opfer für dich, den Sonntag ausgerechnet mit deiner Tante zu verbringen?», hat Juliette gefragt, als sie den Lancia aus der vatikanischen Tiefgarage lenkte. «Noch kannst du es dir überlegen. Du musst mir keinen Gefallen tun.»
«Du tust mir einen Gefallen», hat er geantwortet, und es war ehrlich gemeint.
Er mag Juliette, in der er eher eine Freundin sieht als seine Tante. Die spontane, lebenslustige Art der attraktiven Frau zieht ihn an, und manchmal vergisst er vollkommen, dass sie zwanzig Jahre älter ist als er. Seinen Onkel erlebt er anders, sehr ernst und in sich gekehrt. Vielleicht ist das die Voraussetzung, um die Schweizergarde des Papstes zu befehligen.
Alexander fragt sich oft, ob er eines Tages sein wird wie sein Onkel und sein Vater, ob er in die Fußstapfen der beiden treten wird. Sollte es so kommen, dann erst in vielen Jahren. Noch genießt er es zu leben, ohne sich ständig den Kopf über Dienstpläne, Beförderungsvorschläge und Sicherheitsmaßnahmen zu zerbrechen. Heute hat das ungezwungene Leben einen Namen: Fregene.
Er liegt im Schatten einer einzelnen Pinie auf der Parzelle, die Juliette für diesen Sonntag vom Besitzer der privaten Badeanstalt gemietet hat. Die einzelnen Parzellen sind von kleinen Kanälen umgeben, an deren Böschungen das Schilfrohr so hoch aufragt, dass es die Sonnenanbeter vor neugierigen Blicken schützt. Die Hände im Nacken verschränkt, liegt Alexander auf einer flauschigen Decke und starrt durch seine Sonnenbrille in den blauen Himmel, über den winzige weiße Wölkchen ziehen, allein zu dem Zweck, das tiefe Sommerblau nur noch mehr zu betonen.
Die Parzelle hat nur zwei Zugänge. Einen dort, wo ein Fahrweg über einen der Kanäle führt. Der Lancia verstellt die Einfahrt. Durch die getönten Brillengläser sieht es so aus, als verschmelze die dunkelblaue Lackierung mit dem Himmel. Die andere Öffnung führt zum Meer; gerade ist Juliette noch einmal baden gegangen. Große Schilder an der Einfahrt der privaten Badebucht versichern, dass moderne Filtersysteme das Wasser sauber halten. Wie Alexander seine Tante einschätzt, wäre sie so oder so schwimmen gegangen.
Ein Schatten fällt auf ihn, und tausend winzige Wassertropfen spritzen auf seinen nur mit einer Badehose bekleideten Körper.
Er zuckt zusammen und rollt sich zur Seite. Juliette steht lachend über ihm.
Es gibt kein Entkommen. Er bleibt still liegen und bewundert sie. Der schwarze Badeanzug mit dem tiefen Rückenausschnitt bringt ihre Figur wunderbar zur Geltung. Ihr Bauch ist flach, ihre Haut straff und zart wie die einer jungen Frau.
«Es war herrlich. Du hättest noch mal mit reinkommen sollen, Alexander. Jetzt wirst du eh nass!»
Sie lacht noch immer, hell und klar, als sie sich auf ihn sinken lässt, um ihn ganz mit ihrer Feuchtigkeit zu bedecken. Er liegt wie erstarrt unter ihr. Dieser Körperkontakt hat eine Reaktion zur Folge, die ein Neffe seiner Tante gegenüber nicht zeigen sollte.
Juliette hebt ihre dünnen schwarzen Brauen. «Aber was seh ich denn da! Hat der ungezogene Junge schmutzige Gedanken?»
Ehe er es verhindern kann – in Wahrheit will er es gar nicht verhindern –, greift sie in seine Hose. Ihre schlanken Finger umschließen sein Fleisch. Er ist in ihrer Hand und genießt es, wie sie ihn presst und knetet. Mit der anderen Hand nimmt sie ihm die Sonnenbrille ab und lässt sie achtlos ins Gras fallen. Ihr Gesicht ist dicht über seinem, ihre Augen brennen sich in seinen fest. Sie will seine Reaktionen in sich aufsaugen wie ein ausgetrockneter Schwamm das Wasser. Seine Lust, seine Jugend, seine Begierde, an allem will sie teilhaben und es bis zum Grund auskosten.
Sie lacht nicht mehr, lächelt nicht einmal. Ihr ernster Ausdruck und ihr starrer Blick sind wie eine Hypnose, der er sich nicht entziehen kann und nicht entziehen will. Ihr Atem geht schneller und streift seine Wangen, heiß wie ein Wüstenwind. Ihr Kopf hängt wie der einer Schlange über ihm, bereit zum Zustoßen, falls er, die Beute, eine falsche Bewegung macht. Aber es gibt nur eine Bewegung für ihn: Sein Körper windet sich in dem Rhythmus, den Juliette bestimmt.
Er hat das Gefühl, seine Hose müsse zerreißen. Juliette spürt die Feuchtigkeit in ihrer Hand. Blitzschnell zuckt ihr Kopf zurück, und ihre Hände streifen seine Badehose nach unten. Ihre feucht glänzenden Lippen, die eben noch halb geöffnet über seinem Gesicht schwebten, schließen sich um sein pulsierendes Fleisch und saugen sich fest.
Nur kurz denkt Alexander daran, dass sie seine Tante ist und dass es falsch ist, was sie tun. Seine Lust und seine Begierde sind ungleich stärker als jeder Zweifel. Er spürt Juliette, die ihn mit ihrem warmen Mund umschließt, und in diesem Augenblick will er nichts mehr als das. Selbst das Kitzeln ihres Haars an seinen Schenkeln steigert seine Erregung. Beide wissen, dass sie einander schon lange unterschwellig begehren. Als sie ihm diesen Ausflug nach Fregene vorschlug, hat Alexander insgeheim gehofft, dass sie ihrem Verlangen nachgeben würden. Er hätte den ersten Schritt nicht gewagt, nicht bei der Frau seines Onkels.
Aber das ist sie für ihn nicht mehr. Jetzt ist sie seine Geliebte.
Die kleinen Wolken ziehen in Richtung Horizont, und der Schatten der Pinie wird länger und länger, ohne dass sie es bemerken. Sie kennen nur noch einander und ihre gemeinsame Lust. Sie liegen sich in den Armen, bis die Sonne als roter Ball im Meer versunken ist. Als eine frische Brise ihre erhitzten Körper kühlt, spüren sie ihren Hunger.
In einem der zahlreichen Strandclubs, Gilda on the Beach, essen sie gegrillten Fisch und Muschelsalat, bevor sie zurück nach Rom fahren. Unterwegs biegt Juliette in einen Feldweg ab, hält an und knöpft ihr leichtes Sommerkleid auf. Darunter ist sie nackt. Er greift nach ihren kleinen Brüsten und streichelt sie, bis die Warzen ganz hart sind. Juliette stößt die Wagentür auf und rutscht vom Sitz. Ihre Hände öffnen seine Hose, und sie vergräbt den Kopf in seinem Schoß. Noch einmal bereitet sie ihm und damit auch sich selbst höchste Lust, bevor der magische Tag erlischt.
«Bist du in Gedanken bei ihr, wenn wir … zusammen sind?»
Alexander zögerte lange mit der Antwort. Er wollte weder Elena etwas vormachen noch sich selbst.
«Manchmal», sagte er schließlich. «Es ist dann, als würde sich ein Bild vor das andere schieben. Ich empfinde viel für dich, Elena, aber ich habe auch viel für Juliette empfunden. Du und ich, wir kennen uns erst seit ein paar Tagen. Mit Juliette verband mich» – er suchte nach dem richtigen Wort, ohne es zu finden –
«eine lange Zeit.»
Elena nickte leicht, beinahe verständnisvoll. Sie schien erleichtert darüber, dass er ehrlich war. «Ging das die ganzen Jahre hindurch?»
«Ja. Im Sommer sind wir oft zu unserer Bucht in Fregene gefahren. Sonst haben wir uns in einem kleinen, verschwiegenen Hotel in Trastevere getroffen.»
Er blickte aus dem Fenster, als könne man das Hotel von Elenas Wohnung aus sehen. Aber die Dächer von Trastevere bildeten in der einsetzenden Dämmerung ein undurchdringliches Gewirr aus sich auflösenden Konturen und Schatten. Von hier oben sah es aus wie eine Traumlandschaft, unwirklich wie jener ferne Sommertag am Meer.
«Und dein Onkel? Hat er nie etwas gemerkt?»
«Keine Ahnung. Wenn er es wusste oder ahnte, hat er es sich nicht anmerken lassen. Auf der Rückfahrt an dem bewussten Sonntag hat Juliette mir erklärt, dass ihr Liebesleben seit ein paar Jahren praktisch erloschen war. Sie gab Heinrich die Schuld, sagte, er habe urplötzlich kein Interesse mehr am Sex gehabt. Vielleicht war er sogar froh, dass ich in dieser Hinsicht seinen Part übernommen habe.»
«Das riecht nach Totus Tuus. Vollkommen der Deine, Herr, und nicht ein Sklave des Fleisches. So lernt man es bei den Verführern.»
«Mag sein», sagte Alexander. «Aber ganz war er den Verführern offenbar nicht verfallen. Sonst hätte das Haupt der Zwölf, mein Vater, nicht den Befehl gegeben, ihn und Juliette zu ermorden.»
Seine Stimme war frostig geworden und doch nicht kalt. Zorn schwang in ihr mit, Hass.
«Was hast du vor?», fragte Elena.
«Mein Vater hat alle verraten. Mich, als er seinen Tod vortäuschte. Heinrich und Juliette, als er sie ermorden ließ. Und jetzt den Papst, den er ebenfalls umbringen will. Ich muss ihn aufhalten. Und ich muss ihn bestrafen.»
«Alex, was meinst du damit?»
«Ich werde ihn töten!»
18
Mittwoch, 13. Mai
Alexander stand im strömenden Regen und starrte auf den Eingang zur Nervi-Halle. Die Vigilanzagendarmen vor der Halle und die römischen Polizisten drüben auf dem Petersplatz waren zahlreicher vertreten als sonst. Trotzdem hatten sie alle Hände voll zu tun, die Enttäuschten davon abzuhalten, die Audienzhalle zu stürmen. Die Halle war zum Bersten voll.
Noch nie hatte Alexander so viele Behinderte und Schwerkranke versammelt gesehen. Natürlich waren nicht nur Römer zur Generalaudienz erschienen. Die Medien hatten das Sonntagsgebet des Papstes über die ganze Welt verbreitet. Schon am Montagmorgen hatten Reisebüros auf allen Kontinenten Kurztrips nach Rom angeboten – zu der erwarteten Wunderheilung.
Der Heilige Vater musste mit solch einem gewaltigen Ansturm gerechnet haben. Dass er seinen Aufruf an die Kranken, zur Mittwochsaudienz zu kommen, trotzdem unters Volk gebracht hatte, zeigte nur, wie wichtig ihm sein Anliegen war. Welcher Art dieses Anliegen auch sein mochte, eins stand für Alexander fest: Der Einsatz seiner heilenden Kräfte war für Custos nur das Mittel zum Zweck.
Die Ordnungskräfte kämpften den Eingangsbereich der Audienzhalle frei. Auf dem Petersplatz herrschte mittlerweile genau solches Gedränge wie in der Halle. Die vielen tausend und abertausend Menschen, die zwischen den Kolonnaden standen und auf die noch weißen Großbildschirme starrten, konnten kaum einen Finger rühren. Und das war noch nicht alles. Die breite Via della Conciliacione war heute für den Autoverkehr gesperrt.
Erwartungsvolle Menschen füllten die Straße fast bis zum Tiber.
Schirme, tief ins Gesicht gezogene Kapuzen und das Plastik von billigen Regencapes, so weit das Auge reichte.
Obwohl die Gendarmen die enttäuschten Pilger zurück-gedrängt hatten, ging es vor der Nervi-Halle mehr als lebhaft zu.
Viel mehr Presse als sonst war erschienen. Ü-Wagen standen Stoßstange an Stoßstange, unzählige Kameras und Mikrofone waren aufgebaut. Schon die Ankunft des Papstes sollte als großes Spektakel live um den Erdball gehen. Custos persönlich hatte die Anweisung gegeben, allen interessierten Medien eine Sonderakkreditierung zu erteilen. Was immer er vorhatte, der Welt sollte auch nicht eine Sekunde seines Auftritts vorenthalten werden. Die Last der Verantwortung, die Alexander spürte, wurde ein wenig erträglicher, als er sich klarmachte, dass der Heilige Vater sich wahrscheinlich auch dann nicht von seinem Vorhaben hätte abbringen lassen, wenn es gelungen wäre, ihn vor dem Attentat zu warnen.
Gleichwohl war Alexander, der neben Elena und Spartaco Negro inmitten der Medienmeute stand, von großer Unruhe erfüllt. Immer wieder fragte er sich, ob Seine Heiligkeit die Halle überhaupt erreichen würde. Wohl nicht, wenn es nach dem Zirkel der Zwölf ging.
Und seine Unruhe wuchs, als er von Guntens verschlossenes Gesicht sah. Der neue Gardekommandant wirkte angespannt wie ein Feldherr am Morgen der Schlacht. Auch die Ehrenwache, mit der von Gunten aufmarschierte, war alarmierend. Laut Dienstplan hätte an diesem Tag das Romandgeschwader die Wache stellen müssen, aber der Oberstleutnant hatte das kurzfristig geändert. Es waren Deutschschweizer, Angehörige der beiden anderen Geschwader, die selbst bei trübem Wetter leuchtende Galauniformen angelegt hatten. Drei Mitglieder des mysteriösen Zirkels waren unter ihnen: Utz Rasser, Walter Stückelberger und Kurt Mäder. Ob die andere Hälfte der Ehrenwache mit dem Zirkel in Verbindung stand oder gar in den Attentatsplan eingeweiht war, blieb Alexander schleierhaft.
Aber er musste damit rechnen. Wenn der Verdacht zutraf, dass der Zirkel der Zwölf und Totus Tuus in irgendeiner Weise miteinander in Verbindung standen, war es nicht unwahrscheinlich, dass weitere Gardisten zu den Verschwörern gehörten. Dann bildete der Zirkel nur die Spitze des Eisbergs.
Eine groteske Vorstellung ergriff von ihm Besitz: Er sah die Ehrenwache auf den Papst zustürzen. Ihre Hellebarden und Schwerter hieben auf den Heiligen Vater ein, bis nur noch blutige Fleischklumpen von ihm übrig waren. – Aber nein, so plump würde der Zirkel nicht vorgehen. Was hatte Riccardo Parada doch bei der unterirdischen Zusammenkunft gesagt: Was liegt näher, als der Welt einen radikal fundamentalistischen Moslem als Papstmörder zu präsentieren?
Alexander zerbrach sich den Kopf, wie der Anschlag ablaufen würde. Er erinnerte sich an den Unterricht bei Stelvio Donati: Die Feinde des Friedens sind von Natur aus gefährlich. Wenn sie sich aber in die Enge gedrängt fühlen, wenn aus Verblendung blinder Hass wird, ist mit dem Undenkbaren zu rechnen. – Die Bombe geht gerade dann hoch, wenn man am wenigsten damit rechnet.
War es im Wortsinn eine Bombe, die Papst Custos beseitigen sollte? Dann würden viele andere mit ihm sterben oder schrecklich verstümmelt werden. Dieser Gedanke war nicht einmal abwegig, der Zirkel der Zwölf schien keine Skrupel zu kennen. Und da die Sicherheitsvorkehrungen für die Audienz Riccardo Parada oblagen, durfte es für die Attentäter keine Schwierigkeit darstellen, an geeigneter Stelle einen Sprengsatz zu platzieren.
Alexander sah zum Sicherheitschef des Vatikans hinüber.
Parada, in einen Trenchcoat mit hochgeschlagenem Kragen gehüllt, sprach angeregt mit von Gunten. Erörterten sie gerade die letzten Details des Anschlags? Es zerrte an Alexanders Nerven, zur Untätigkeit verdammt zu sein. Er hatte einen Eid geschworen, den Papst zu beschützen, und konnte doch nichts tun. Er war beurlaubt, trug nicht die Gardeuniform und fühlte sich ausgeschlossen, verloren. Andererseits konnte er froh sein, dass er dem Zirkel, den Verschwörern und Attentätern, nicht angehörte.
Stimmte das denn? Immer wieder ertappte er sich bei der Vorstellung, wie es wäre, mit seinem Vater Seite an Seite zu stehen. Die Sehnsucht nach dem Vater und der Hass auf den Mann, der ihn verraten und Juliette getötet hatte, stritten erbittert in ihm, wollten ihn schier zerreißen. Ein Gedanke ließ ihm keine Ruhe, drang immer tiefer in ihn wie ein Wurm, der sich in sein Gehirn bohrte: Standen Markus Rosin und der Zirkel der Zwölf womöglich auf der richtigen Seite? War Jean-Pierre Gardien tatsächlich ein Usurpator? War er der Antichrist?
Von Gunten drehte sich um, und ihre Blicke begegneten sich.
Ahnte der Oberstleutnant, dass der Gardist, den er in den Urlaub abgeschoben hatte, mehr wusste? Alexander ballte die Hände.
Er war kurz davor, sich auf seinen Kommandanten zu stürzen und die Wahrheit aus ihm herauszuprügeln.
Die ganze Wahrheit! Wie das Attentat ablaufen sollte. Warum Papst Custos für den Zirkel der Antichrist war. Welche Pläne die Zwölf verfolgten. Ob er seinen Vater lieben oder hassen sollte.
«Ruhig, Alexander, wir können nichts tun, noch nicht!»
Elena stand neben ihm und flüsterte ihm die beschwichtigenden Worte ins Ohr. Ihre Nähe tat ihm gut, besänftigte ihn. Er hatte keine Ahnung, was aus ihm werden würde. Seit sie von Juliette wusste, hatten sie sich nicht mehr geliebt. Falls Elena sich von ihm verraten fühlte, konnte er es ihr, die mit Verrat aufgewachsen war, nicht verübeln. Er mochte sie ehrlich und hoffte sehr, sie würde zu ihm zurückfinden.
Auch wenn er nicht sicher war, ob er Juliette ganz würde verdrängen können.
Spartaco warf ihm einen skeptischen Blick zu. Eine dicke Kamera hing vor seiner Brust, geschützt durch eine Regenplane.
Er ahnte nichts von dem Attentat. Elena hatte ihm nur gesagt, er solle auf alles gefasst sein. Alexander hegte noch immer Misstrauen gegenüber dem Freizeitgladiator, aber zumindest hielt er ihn nicht mehr für den Einbrecher in der Waffenkammer.
Nach dem, was sie gestern mit angehört hatten, nahm er an, dass er da gegen einen Gardisten gekämpft hatte. Vielleicht konnte er mit Spartaco nicht recht warm werden, weil er in ihm einen Rivalen um Elenas Gunst sah.
Die Wolken hatten sich immer dichter zusammengezogen.
Obwohl es zehn Uhr vormittags war, herrschte ein diffuses Dämmerlicht. Ein grell gezackter Lichtfinger, der in mehreren Verästelungen plötzlich auf die Ewige Stadt niederfuhr, sorgte wenige Sekunden lang für unerwartete Helligkeit. Sie war noch nicht ganz erloschen, als der grollende Donner folgte, so laut, dass die Menschen zusammenzuckten. Gleich darauf leckte ein weiterer Blitz über Roms Dächer und tauchte die Wagenkolonne, die mit Schrittgeschwindigkeit vor die Audienzhalle rollte, für einen Moment in kaltes Licht. Die aufgeregten Rufe der Pressemeute und von Guntens Befehle wurden vom zweiten Donnerschlag übertönt.
Sämtliche Kameras richteten sich auf den schweren Mercedes, in dem der Papst mit Ovasius Shafqat, Aldo Tessari und dem Chauffeur Ferdinando Zanni saß. Der Wagen hielt vor der Ehrenwache, die stocksteif im Regen stand. Tessari, der eine Regenjacke über seinem Anzug trug, stieß die Beifahrertür auf und spannte noch im Aussteigen einen großen schwarzen Schirm auf.
Hektisch blickte Alexander in die Runde. Nur zu genau erinnerte er sich an das Gespräch, das er vor elf Tagen mit Donati geführt hatte: Autos sind gefährlich! – Noch gefährlicher als die Fahrt im Wagen ist allerdings das Ein- oder Aussteigen.
– Unordnung und Ablenkung. Zwei Faktoren, die Attentätern sehr gelegen kommen. – Wir können gepanzerte Limousinen bauen, aber der Weg von oder zu einem Wagen bleibt höchst gefährlich.
Unordnung und Ablenkung. Genau das geschah im Augenblick. Aldo Tessari, der eigentlich den Papst hätte beschützen sollen, war vollauf mit seinem Schirm beschäftigt.
Vielleicht spielte das keine Rolle, er konnte ja durchaus auch zu den Verschwörern gehören. Vielleicht war es aber auch die Gelegenheit, auf die die Feinde des Papstes gewartet hatten.
Nun, da der Papst ausstieg und sich, gefolgt von Don Shafgat, unter den Schirm begab.
Aber wie sollte Alexander einen Attentäter erkennen? Das trübe Licht und der Regen verschleierten die Gestalten. Die Presseleute hatten die Mützen tief in die Stirn gezogen. Kameras wurden vor die Gesichter gehalten.
Bei einem Kameramann stutzte er. Der Mann trug eine grüne Allwetterjacke mit der Aufschrift World News auf dem Rücken.
Alexander kannte den Sender nicht. Das dunkle, zum Teil von einer seltsam länglichen Kamera verdeckte Gesicht mit dem schwarzen Vollbart war ihm unbekannt und schien ihm doch seltsam vertraut. Als er genauer hinsah, hellte seine Erinnerung die Gesichtsfarbe auf, und der Bart verschwand. Auf einmal wusste Alexander, dass der Bart ein vorspringendes, eingekerbtes Kinn kaschierte.
Und er sah eine andere, ebenfalls von Regen getränkte Szene vor sich. Die Piazza Farnese vor dem Seminargebäude der römischen Polizei; zwei Männer, die aus dem Wagen einer Straßenreinigungsfirma stiegen; einer mit kräftigem, eingekerbtem Kinn. Ihre seltsamen Geräte waren keine Reinigungsapparate, sondern Gasdruckwaffen. Ähnlich der
«Kamera», die der Bärtige dort auf den Papst richtete. All das schoss Alexander in wenigen Sekundenbruchteilen durch den Kopf, und er hörte die Stimme des Waffenspezialisten: Eine automatische Gasdruckflinte der Pancor Corporation, Typenbezeichnung Jackhammer. – Die Schrotmunition hat auf eine Entfernung von bis zu vierzig Metern eine verheerende Wirkung.
Keine zehn Meter trennten den Papst von dem
«Kameramann».
Ungefähr dieselbe Entfernung lag zwischen Alexander und dem Attentäter.
Es ging um Mikrosekunden.
Er spurtete los und sah zeitlupenartig, wie der Bärtige seinen Zeigefinger um den Abzugshebel krümmte.
In Alexanders Kopf flogen die Gedankensplitter durcheinander wie eine von der Jackhammer ausgespuckte Schrotladung: …
eine Warnung an den Papst … Feinde des Friedens … schwebt der Heilige Vater ständig in der größten denkbaren Gefahr …
Die letzten Meter. Alexander setzte zu einem Sprung an, den er bei Meister Funakoshi gelernt hatte.
Unordnung und Ablenkung … gefährlicher ist das Ein- oder Aussteigen … Revolvertrommel für zwölf Schuss Zwölferschrotpatronen … verheerende Wirkung …
Sein rechter Fuß berührte die linke Schulter des Attentäters in dem Augenblick, als die Schrotladung aus der Mündung jagte.
Zu spät, durchfuhr es Alexander wie ein jäher Schmerz. Einen Sekundenbruchteil zu spät!
Das trockene Geräusch der Detonation ging in dem überraschten Aufschrei des vermeintlichen Kameramanns unter.
Alexanders Angriff riss ihn von den Füßen. Die Gasdruckflinte fiel mit hellem Scheppern zu Boden, und die Plastikteile der Kameraverkleidung sprangen von der Waffe ab. Die beiden Männer wälzten sich im Zweikampf auf dem regennassen Asphalt.
Alexander warf einen Blick zur Papstlimousine. Der alte Ferdinando Zanni hatte seine Chauffeursmütze verloren und war über dem Lenkrad zusammengesunken. An seiner rechten Schläfe klaffte ein blutiges Loch. Da die Wagentüren geöffnet waren, hatte die Panzerung ihn nicht schützen können.
Don Shafqat war von der Schrotladung halb ins Fahrzeug geworfen worden. Nur seine Beine ragten nach draußen.
Stöhnend wälzte er sich vor der Rückbank hin und her.
Vor dem Fahrzeug lag Tessari, das Gesicht zur Hälfte weggerissen. Noch im Tod hielt der Vizeinspektor der Vigilanza den Schirm umklammert.
Neben ihm lag der Heilige Vater. Reglos. Das weiße Gewand von roten Flecken gesprenkelt.
Die Erkenntnis, dass er versagt hatte, ließ Alexander erstarren.
Der Attentäter nutzte die Gelegenheit. Sein rechter Fuß traf den Schweizer mitten im Gesicht. Der Schmerz war mörderisch.
Alexander war, als würde ihm die Nase ausgerissen. Schwarze und rote Blitze tanzten vor seinen Augen. Ein Blutstrom ergoss sich aus der misshandelten Nase über Mund und Kinn.
Alexander hustete und spuckte.
Der Attentäter sprang auf und rannte zu einem grünen Ü-
Wagen mit der Aufschrift World News.
Zwei Schemen huschten an Alexander vorbei und nahmen die Verfolgung auf: Elena und Spartaco.
Alexander wollte Elena rufen und sie zurückhalten, weil er um ihr Leben fürchtete, aber er verschluckte sich an seinem Blut und brachte nur ein klägliches Würgen hervor.
Der Motor des Ü-Wagens sprang an, während der Attentäter sich ins offene Heck rettete. Spartaco war fast bei dem Fahrzeug. Ein Gesicht erschien im heruntergelassenen Beifahrerfenster, dann Arm und Hand mit einer schwarz glänzenden Automatik. Zwei Schüsse, unmittelbar hintereinander abgefeuert, und Spartaco sackte zusammen.
Nun hatte Elena das Heck des Wagens erreicht, und Alexander atmete auf. Sie befand sich für den Schützen im toten Winkel.
Hoffentlich blieb sie dort!
Da tauchte der Attentäter wieder auf, streckte die Arme aus dem Heck und zog Elena in den Wagen. Eine Sekunde später schlug ein Komplize die Heckklappe zu.
Der Ü-Wagen schoss aus der Parkreihe, schrammte an zwei anderen Fahrzeugen entlang und raste mit aufheulendem Motor davon. Zwei echte Kameramänner, die das Geschehen gebannt und doch routiniert aufzeichneten, konnten gerade noch zur Seite springen.
Alexander stockte der Atem. Taumelnd kam er auf die Beine und wischte sich mit dem Jackenärmel das Blut aus dem Gesicht. Obwohl es aussichtslos war, stolperte er dem kleiner werdenden Ü-Wagen hinterher.
Elena!
Er musste ihr helfen.
«Alexander Rosin will fliehen!», rief hinter ihm von Gunten.
«Er ist der Komplize des Mörders. Ergreift ihn!»
Aus dem Chaos wild durcheinander schreiender, hin und her laufender Menschen und aufheulender Alarmsirenen lösten sich die Männer der Ehrenwache. Als sie, allen voran Utz Rasser, mit erhobenen Hellebarden auf ihn zustürmten, begriff Alexander den tödlichen Ernst seiner Lage. Der Zirkel der Zwölf wollte ihn beseitigen!
Zwei Fiats der Vigilanza, die den Ü-Wagen verfolgen wollten, krachten hinter Alexander ineinander und versperrten seinen Verfolgern den Weg. Er nutzte den Vorsprung und rannte am Palast des Heiligen Offiziums entlang hinaus auf die Piazza Sant’Uffizio.
Noch herrschte allgemeine Verwirrung, auch unter Gendarmen und Gardisten. Niemand traf Anstalten, ihn aufzuhalten. Das einzige Hindernis war die unüberschaubare Masse der Pilger, durch die er sich mit harten Ellbogen kämpfte. Der Ü-Wagen, der sich ebenfalls mit Gewalt einen Weg gebahnt haben musste, war nicht mehr zu sehen.
Gerade hatte Alexander die letzten Absperrgitter hinter sich gebracht, da hörte er laute Rufe und wusste sofort, dass sie ihm galten. Die federbuschbesetzten Helme der Ehrenwache ragten aus der Menge empor. Von Gunten mit gezücktem Säbel, Rasser und Mäder mit ihren Hellebarden. Die restlichen Schweizer hingen ein Stück zurück.
Endlich erreichte Alexander die Via di Porta Cavalleggeri. Da die Straße für den normalen Autoverkehr freigegeben war, verlor sich hier der Pilgerandrang. Er konnte sich frei bewegen, aber wohin?
Von Gunten und die anderen kamen näher. Hatte er überhaupt eine Chance?
Ein weinroter Fiat Tempra schoss heran und hielt mit quietschenden Reifen vor ihm an. Der Fahrer hatte so scharf gebremst, dass es nach verbranntem Gummi roch. Nun beugte er sich herüber und stieß die Beifahrertür auf.
«Steigen Sie ein, schnell!» Es war Stelvio Donati.
Alexander war klar, dass er sich später wundern musste, wenn er den Häschern entkommen wollte. Von Gunten, Rasser und Mäder kamen bereits im Laufschritt näher. Also schwang er sich in den Wagen und saß noch nicht ganz, als Donati schon einen wahren Kavaliersstart hinlegte. Nur mit Mühe konnte Alexander die Tür zuziehen. Die Verfolger verschwanden im Rückspiegel, wie auch der ganze Vatikanstaat.
Doch die quälende Erinnerung blieb. Das Bild, wie Elena in den U-Wagen gezerrt wurde.
Und das Bild von Papst Custos, der in seinem Blut lag.
Sämtliche Schleusen des Himmels waren geöffnet, und die Welt löste sich in Regen auf. Hilflos rasten die Scheibenwischer auf der Windschutzscheibe hin und her, gegen die dicken Wasserschleier vermochten sie kaum etwas auszurichten. Straße und Gebäude verschwammen zu schemenhaften Umrissen. Die siebzig bis achtzig Stundenkilometer die Stelvio Donati fuhr, erschienen Alexander geradezu halsbrecherisch. Seine einzige Hoffnung war, dass der Wolkenbruch nicht nur ihre Fahrt zu einem lebensgefährlichen Unternehmen machte, sondern auch mögliche Verfolger behinderte.
Der Commissario blickte unverwandt auf die wasserüberspülte Fahrbahn und lenkte den Wagen über eine breite Straße, die Alexander als Via Gregorio VII. identifizierte. Es ging nach Westen. Das war auch schon alles, was er über ihr Ziel wusste.
Donati schwieg eisern und Alexander wollte seine Konzentration nicht stören. Er saß mit zurückgelegtem Kopf da und drückte ein Taschentuch gegen seine blutende Nase.
Donati hatte das Autoradio eingeschaltet. Ein Regionalsender berichtete über das Attentat, durchsetzt von einem ständigen Knattern, das auf die atmosphärischen Störungen durch das Gewitter zurückging: «… überstürzen sich die Meldungen aus dem Vatikan. Die heutige Generalaudienz, von der ganzen Christenheit mit Spannung erwartet, hat sich zu einer blutigen Tragödie entwickelt. Einzelheiten sind noch nicht bekannt. Dem Vernehmen nach hat ein Attentäter mit einer Schrotflinte in dem Moment auf die Papstlimousine geschossen, als der Heilige Vater ausstieg. Mehrere Personen wurden getötet oder verletzt.
Zu den Opfern zählt auch Papst Gardien. Nach neuesten Meldungen soll er tödlich getroffen sein. Der Attentäter, der mehrere Helfer hatte, konnte in einem Ü-Wagen mit der Aufschrift World News entkommen. Polizei und Carabinieri sperren zur Stunde Rom nach allen Richtungen ab. An sämtlichen Ausfallstraßen werden Kontrollen eingerichtet, die
…»
«Gut, dass wir Rom nicht verlassen wollen», brach Donati endlich sein Schweigen. «Wir sind bald am Ziel.»
Er bog auf eine schmalere Straße ab, die Alexander auch bei besserer Sicht nicht erkannt hätte. Allmählich wurde die Bebauung spärlicher. Eichen und Pinien säumten den Straßenrand. Der Regen fuhr mit Urgewalt auf die Bäume nieder und riss zahlreiche Äste ab. Einer schlug mit lautem Krachen aufs Autodach.
Der Radiosprecher berichtete mit sich vor Aufregung fast überschlagender Stimme: «Soeben erreicht uns die Meldung, dass zu den Helfern des Attentäters ein Schweizergardist gehören soll, der ebenfalls flüchtig ist. Seine Beteiligung an dem Mordanschlag könnte erklären, wie es möglich war, dass die Attentäter dem Heiligen Vater so nahe gekommen sind. Der Name des flüchtigen Gardisten ist Alexander Rosin. Es handelt sich um den Neffen des vor zwei Wochen im Vatikan ermordeten Gardekommandanten Oberst Heinrich Rosin.
Spekulationen über eine Verbindung zwischen den beiden Anschlägen dürften nicht unberechtigt sein.»
«Ganz bestimmt nicht», stieß Alexander hervor und lachte zynisch. Ein neuerlicher Hustenanfall schüttelte ihn. Bittersüßer Blutgeschmack füllte seinen Mund. Er würgte den Auswurf in sein ehemals weißes Taschentuch, das jetzt dunkelrot war.
«Gleich haben wir es geschafft», erklärte Donati, ohne ihn anzusehen. «Dann erhalten Sie ärztliche Hilfe.»
«Wo? Im Polizeikrankenhaus?»
«Nein.»
Der Tempra ruckelte über einen unbefestigten Weg, der von Bäumen und Büschen gesäumt wurde. Vom Regen herabgerissenes Astwerk zerbarst unter den Rädern. Donati bremste und hielt schließlich vor einem drei Meter hohen Eisentor. Zu beiden Seiten des geschlossenen Tores erstreckte sich eine nicht minder hohe Steinmauer, die mit Stacheldraht und Glasscherben bewehrt war. Ein Schild neben dem Tor verkündete: Clinica Privata. Professore R. Orlandi.
Eine Privatklinik. Donati hatte offenbar nicht zu viel versprochen. Weshalb der Polizist ihm, dem gesuchten Attentäter, bei der Flucht half, anstatt ihn festzunehmen, blieb Alexander allerdings ein Rätsel.
Der Commissario hämmerte auf seine Hupe ein. Ein Wachmann kam aus seinem Häuschen jenseits der Mauer, sah kurz zu dem Wagen und betätigte einen verborgenen Schalter.
Das Tor glitt zur Seite und verschwand in der Mauer. Als der Fiat durch die Einfahrt rollte, bemerkte Alexander eine an der Mauer installierte Videokamera, die ihren Weg verfolgte.
Der Wachmann, der eine einfache dunkle Uniform und darüber ein Regencape trug, winkte, was Donati mit einem knappen Nicken quittierte. Das Tor glitt zurück in seine alte Position. Der Tempra fuhr um eine buschbewachsene Biegung, und die Mauer, die mehr an ein Gefängnis als an eine Klinik erinnerte, verschwand aus Alexanders Blickfeld.
«Was für eine Klinik ist das?», fragte er. «Was wird hier behandelt?»
«Alles Mögliche.»
«Meinen Sie nicht, dass Sie mir eine Erklärung schulden?», versetzte Alexander säuerlich.
«Dafür, dass ich Sie gerettet habe?»
«Zum Beispiel. Ich bin Ihnen sehr dankbar, Commissario, aber ich glaube nicht, dass Ihre Handlungsweise mit Ihren dienstlichen Pflichten in Einklang steht.»
«Es gibt höherrangige Pflichten», sagte Donati.
Er schien die Unterhaltung mit dieser geheimnisvollen Äußerung als beendet anzusehen. Stumm lenkte er den Wagen durch einen verlassenen Park. Alexander fühlte sich an eine der Villen erinnert, die mit ihren weitläufigen Grünanlagen einst vom Renaissance-Adel als Lustschlösser errichtet worden waren und heute den Bürgern Roms Entspannung und Erholung boten.
Nur dass diese Anlage der Öffentlichkeit zweifellos nicht zugänglich war. An Rosenhecken, großen Springbrunnen und antiken Statuen vorbei ging es zu einem imposanten vierstöckigen Renaissancebau.
Donati hielt auf einem unbefestigten Vorplatz. Mehrere Fahrzeuge parkten da rund um eine Statue von Jupiter Fulgur, dem Gott des Blitzes. Die alte Himmelsgottheit schien nur auf ihre Ankunft gewartet zu haben. Grell fuhr ein Blitzstrahl aus den Wolken und beleuchtete die Statue, die drohend einen stilisierten Blitz in der Hand hielt. Das untere Ende des Marmorblitzes war abgebrochen, und Jupiter fehlte das halbe Gesicht, was Alexander schmerzlich an den niedergeschossenen Aldo Tessari erinnerte. Dem Blitz folgte dumpfes Donnern und das zerfetzte Gesicht versank im Dämmer dieses lichtlosen Tages.
Über aufgeweichten Schlammboden liefen sie zum zweiflügeligen Hauptportal. Ein Dreiecksgiebel, der auf Säulen nach ionischem Vorbild ruhte, schützte den Eingangsbereich vor dem Regen. Als Alexander sich umblickte, sah er direkt in eine Überwachungskamera.
Ein Torflügel schwang auf. Eine blonde Frau in eng sitzender Schwesterntracht bat sie herein und musterte Alexander besorgt.
«Sie sehen aber gar nicht gut aus, Signore.»
«Ihm geht’s auch gar nicht gut, Ilaria», ahmte Donati ihren fürsorglichen Tonfall nach. «Wäre gut, wenn der Professor sich Signor Rosin ansehen könnte. Ich muss den Wagen in die Garage fahren. Vielleicht ist er schon zur Fahndung ausgeschrieben.»
«Ich werde den Professor verständigen und mich um Signor Rosin kümmern», versprach Schwester Ilaria mit einem verheißungsvollen Lächeln.
Donati wandte sich wortlos um und hinkte wieder in den Regen hinaus.
Was für eine Klinik dies auch sein mochte, unter anderen Umständen hätte Alexander sich hier mit Freuden einweisen lassen. Jetzt aber achtete er kaum auf Ilarias verführerischen Hüftschwung, als er ihr durch weitläufige Gänge folgte. Die Wände waren mit Fresken geschmückt, die im Glanz frischer Restaurierungen erstrahlten. Professor Orlandi musste gut betuchte Patienten haben.
Die blonde Frau, deren Alter er auf etwa fünfunddreißig schätzte, führte ihn in ein Ordinationszimmer, in dem moderne medizinische Apparate eine halbwegs gelungene Symbiose mit antiken Möbeln, großen Ölgemälden und schweren Brokatvorhängen eingingen. Die Fenster hinter den Vorhängen waren durch starke Gitterstäbe gesichert. Als Alexander versuchte, sich den Anblick der Klinik von außen zu vergegenwärtigen, erinnerte er sich, dass die Fenster, soweit er sie hatte sehen können, alle vergittert waren. Er hatte den Eindruck, sich im komfortabelsten Gefängnis der Welt zu befinden.
Schwester Ilaria sprach leise ein paar Worte in ein Telefon, dann säuberte sie vorsichtig sein Gesicht. Die sanfte Berührung ihrer Hände und der schwere Duft ihres Parfüms übten eine beruhigende Wirkung auf ihn aus. Er schloss die Augen, atmete tief durch und genoss Ilarias Nähe und Wärme. Der Wahnsinn der letzten Stunde fiel von ihm ab. Er hätte sich halbwegs entspannt gefühlt, hätten ihm nicht die Trauer um Papst Custos und die hämmernde Sorge um Elena auf der Seele gelegen.
«Willkommen in meinem Haus, Signor Rosin», sagte eine hohe, dünne Männerstimme und riss ihn aus dem kurzen Traum falscher Geborgenheit. «Ich bin Renato Orlandi.»
Die Nonchalance des hoch gewachsenen, dünnen Mittfünfzigers im altmodischen grauen Dreiteiler verblüffte Alexander. Donati war schweigsam gewesen wie eine Sphinx.
Der Professor und seine Schwester dagegen verhielten sich, als sei er mal eben zur Sprechstunde hereingeschneit. Sie mussten doch wissen, dass der Papst erschossen worden war und dass ihr Patient als Komplize des Mörders gesucht wurde.
Er ergriff die ausgestreckte Rechte des Professors und schüttelte sie matt. Der gescheiterte Versuch, den Papst zu beschützen, und die anschließende Flucht hatten ihn erschöpft.
Vielleicht ließ er deshalb alles mit sich geschehen. Was sonst hätte er auch tun sollen? Sich der Polizei stellen? Von Gunten und Parada hätten schon dafür gesorgt, dass man ihm nicht glaubte.
Orlandi hob die Brauen und sah ihn an wie einen dummen Jungen. «Na, wo drückt der Schuh?»
«Der Schuh hat in mein Gesicht gedrückt», brummte Alexander. «Ich dachte, das sieht man.»
«In der Tat.»
Als Orlandi sich über ihn beugte, kitzelte der Geruch von Pfeifentabak Alexanders Nase. Immerhin konnte er noch riechen.
Der Professor stieß einen kurzen Seufzer aus. «Da werde ich wohl am besten gleich operieren.»
«Operieren?», rief Alexander. «Was? Wozu?»
«Die Nase natürlich. Damit Sie wieder frei atmen können.
Außerdem wollen Sie doch nicht für den Rest Ihres Lebens aussehen wie Belmondo.» Orlandi wandte sich zu Ilaria um.
«Schwester, bereiten Sie alles vor.»
«Ja, Herr Professor.»
Nachdem sie den Raum verlassen hatte, zog Orlandi die Jacke aus und hängte sie sorgfältig über einen Stuhl. Dann krempelte er die Ärmel seines blütenweißen Hemdes bis über die Ellbogen hoch und machte sich an einem Schrank mit Arzneifläschchen zu schaffen.
«Sie sollten sich auf die Liege dort legen und Jacke und Hemd ausziehen», sagte er, als er sich wieder zu Alexander umdrehte.
In der rechten Hand hielt er einen kleinen, durchsichtigen Plastikzylinder, der in einer langen Nadel auslief. «So kann ich Ihnen die Spritze am besten geben.»
«Jetzt auch noch eine Spritze?»
«Nur keine Angst, mein Bester. Die Operation wird schmerzhaft. Sie werden für die Betäubung noch dankbar sein.»
Als die Nadel in seinen Oberarm fuhr und das Zimmer kurz darauf vor seinen Augen zu verschwimmen begann, fragte Alexander sich, ob er richtig gehandelt hatte, als er zu Stelvio Donati in den Wagen stieg. Bleierne Müdigkeit senkte sich über ihn. Ein panischer Versuch, gegen das betäubende Schweregefühl anzukämpfen, scheiterte kläglich. Sein letzter Gedanke, bevor um ihn her alles finster wurde, galt Elena.
19
Donnerstag, 14. Mai
Der Anblick des Krankenzimmers hatte etwas Deprimierendes.
All das klinisch saubere Weiß und die hochmodernen Apparaturen mit ihrem wichtigen Tuten und Piepen konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass dies das Vorzimmer zum Jenseits war. Ob zum himmlischen Frieden oder zum Fegefeuer, darüber machte er sich im Augenblick keine Gedanken. Zur Zeit ging es schlichtweg um Leben und Tod. Fast meinte er, durch den eigentümlichen aseptischen Geruch der Krankenstation den süßlichen Hauch des Todes, der Verwesung, wahrzunehmen.
Der Patient lag reglos in seinem Bett, wie er es den ganzen letzten Tag und die Nacht hindurch getan hat, hilfloses Objekt in den behandschuhten Händen der Ärzte. Sie beugten sich über ihn, tuschelten hinter ihren Mundschutzmasken miteinander und betrachteten stirnrunzelnd die grünen und gelben Monitore der lebenserhaltenden Geräte.
Ein kleiner, stämmiger Mann drehte sich um. Schweiß perlte auf seiner Stirn. Als er den Mundschutz mit einer müden Bewegung abstreifte, enthüllte er ein teigiges Gesicht, das durch den Stoppelbart etwas unpassend Verwegenes erhielt.
Dr.
Salvatore Secchi, der Leiter des vatikanischen Gesundheitsdienstes und Leibarzt des Papstes, hatte seit vierundzwanzig Stunden um das Leben seines Patienten gekämpft.
Jetzt schüttelte er traurig den Kopf und sagte mit brüchiger Stimme: «Es ist sinnlos, der Papst ist tot.»
Ovasius Shafqat fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen.
Natürlich hatte er damit rechnen müssen, und doch – gerade dieser Papst hätte leben sollen!
Der Privatsekretär des toten Papstes taumelte zurück, als könne er Dr. Secchis Auskunft negieren, indem er auf Distanz zu dem Arzt ging Dabei stieß er mit dem linken Arm, der bandagiert war und in einer Schlinge steckte, gegen einen Medizinschrank. Ein höllischer Schmerz durchzuckte seine ganze linke Seite, aber das war bedeutungslos im Vergleich zu seiner Verzweiflung.
Es gab gewiss mutigere Männer als ihn, aber er hätte sein Leben gegeben, um Jean-Pierre Gardien zu retten. So viel hing von diesem Mann ab. Welche Hoffnungen hatten die Auserwählten mit seiner Wahl zum Papst verbunden, Hoffnungen für die ganze Welt!
Warum nur hatte die Schrotladung des Attentäters den Papst mit voller Wucht getroffen und ihn, Shafqat, nur am Arm verletzt? Wäre er für den Papst gestorben, so wie Tessari und Zanni, es wäre der beste Tod gewesen, den er sich wünschen konnte. Dieses Ende aber war die schlechteste Möglichkeit des Weiterlebens.
«Es sind zu viele Schrotkugeln nahe beim Herzen eingedrungen.» Shafqat hörte Secchis Worte wie aus weiter Ferne. «Wir mussten die Kugeln entfernen, damit Seine Heiligkeit überhaupt eine Lebenschance hatte. Aber diese Chance war gering. Zu gering.»
Shafqat konnte den Anblick des Krankenbetts nicht länger ertragen. Die reglose Gestalt des Ermordeten mit den Schläuchen und Elektroden an seinem Körper wirkte wie ein Hohn auf den Mann, der als Papst Custos angetreten war, um die Welt zu verändern. Benommen wandte der Ire sich ab und sah aus dem Fenster über die Dächer und Gärten des Vatikans, die sich hinter dem Apostolischen Palast erstreckten. Die Morgendämmerung mit ihrem unwirklichen Licht und den langen Schatten ließ den Stadtstaat noch bizarrer erscheinen, als er es ohnehin war.
War es richtig gewesen, Gardien hier zu behandeln, innerhalb dieser abgeschlossenen, konservativen, in vielerlei Dingen rückständigen Welt? Er zweifelte nicht an den Fähigkeiten von Dr. Secchi und seinem Team, aber in der Gemelli-Klinik hätten mehr Ärzte mit ihrem gesammelten Wissen zur Verfügung gestanden.
Papst Johannes Paul II. hatte man damals, als er durch den Attentäter Ali Agca schwer verwundet worden war, ins Gemelli-Krankenhaus gebracht, und er hatte überlebt. Andererseits hatte gerade dieser Vorfall den Anstoß gegeben, im Apostolischen Palast ein eigenes kleines Krankenhaus einzurichten. Ein Krankentransport durch Roms verstopfte Straßen kostete wertvolle Zeit und ein Aufenthalt des Papstes in einem römischen Krankenhaus wäre für die Medien ein gefundenes Fressen gewesen.
Shafqat wischte seine Bedenken beiseite. Die apostolische Krankenstation war zwar klein, aber medizintechnisch auf dem neuesten Stand. Und die Ärzte des vatikanischen Gesundheitsdienstes arbeiteten hauptberuflich an den großen Kliniken Roms und verfügten daher über reiche Berufserfahrung. Die meisten Kurienkardinäle hatten Domenico Musolinos Entscheidung, Papst Custos im Vatikan zu behandeln, begrüßt. Nicht wenige unter ihnen hätten es einfach unschicklich gefunden, wenn der Heilige Vater sich unter tausend gewöhnlichen Sterblichen in einem öffentlichen Krankenhaus hätte betreuen lassen. Eine Einstellung, die auf frühere Jahrhunderte zurückging, als die häusliche Pflege für einen Kranken tatsächlich die beste gewesen war. Dass sich seither manches verändert hatte, wollte nicht in die kurialen Betonköpfe hinein. Nicht umsonst hatte einmal ein Journalist geschrieben, einige Kardinäle seien so steif, dass sie beim Sprechen knarrten und quietschten.
«Der Heilige Vater ist gestorben. Rufen wir alle zusammen, die anwesend sein müssen, wenn die Hammerfrage gestellt wird.»
Das sagte Musolino, der dem Papst schon am Vortag die Letzte Ölung erteilt hatte. Der Kardinalstaatssekretär war, wie auch Kardinalprotodiakon Tamberlani, seit dem Attentat nicht von der Seite des Schwerverletzten gewichen.
Shafqat sah Übermüdung, aber keine Trauer in dem faltigen Gesicht des Staatssekretärs. Im Gegenteil, die tief liegenden Augen versprühten eine Energie, die in diesem Moment höchst unpassend wirkte. Vielleicht hing es damit zusammen, dass Musolino neben dem Amt des Staatssekretärs auch das des Camerlengos der heiligen römischen Kirche bekleidete. Ein Amt, dessen wahre Bedeutung erst zum Tragen kam, wenn ein Heiliger Vater verschieden war. In der Sedisvakanz, der Zeit zwischen dem Tod eines Papstes und der Wahl des neuen, leitete der Camerlengo die Kirche – und er organisierte die anstehende Papstwahl. Das war eine schwierige Aufgabe, die ein großes Maß an Energie und Durchsetzungskraft erforderte. Doch Musolino strahlte noch mehr aus. Jede Faser seines Körpers wirkte angespannt. Er schien sich geradezu auf die vor ihm liegende Aufgabe zu freuen.
Die Hammerfrage!
Es war alte Tradition, sie nach dem Tod eines Papstes zu stellen. Shafqat wusste das. Doch alles in ihm sträubte sich gegen die Vorstellung, dass die Prozedur auf die leblose Gestalt dort im Krankenbett angewendet wurde. Damit würde Jean-Pierre Gardien endgültig tot sein.
Als ein dunkelhäutiger Monsignore aus dem Staatssekretariat, der stumm in einer Ecke gesessen hatte, zur Tür ging, um den Befehl seines Herrn auszuführen, stellte Shafqat sich ihm in den Weg.
«Nicht, bitte!» Er sah zu Musolino hinüber. «Eminenz, warten Sie noch mit der Hammerfrage. Gewähren Sie mir ein paar Minuten allein mit Seiner Heiligkeit.»
Verwunderung malte sich in Musolinos sonst so beherrschten Zügen. «Das sieht das Protokoll nicht vor, Don Shafqat.»
«Ich weiß, aber trotzdem …»
Shafqat war sich der Kläglichkeit seines Vorstoßes bewusst und brachte den Satz nicht zu Ende. Er fühlte sich überfordert.
Er war schwach, ein Sünder. Warum hatte Gardien gerade ihn zum Vertrauten erkoren?
Wenn doch nur John Kembles Hand käme! Schon gestern Mittag hatte er sie in einem heimlichen Telefonat angefordert.
Die Aussichten standen zwar schlecht, aber vielleicht konnte er Gardien auf diese Weise doch helfen.
«Die Formalitäten müssen erledigt werden», sagte Musolino weihevoll. «Es ist an der Zeit, die Hammerfrage zu stellen.»
Das Aufblitzen in seinen Augen zeigte deutlich, dass es ihm um mehr ging als um Formalitäten.
Als der dunkelhäutige Monsignore auf Musolinos Wink hin den Raum verließ, schwanden Shafqats Hoffnungen.
Schwester Ilaria trat ein, und Alexander hoffte, endlich Neuigkeiten zu erfahren. Er war erst vor wenigen Minuten aufgewacht und hatte mit Schrecken festgestellt, dass es schon dämmerte. Das Gewitter hatte sich gelegt, nur noch schwach klopfte der Regen gegen die vergitterten Fensterscheiben. Er hatte aufstehen wollen, doch war das einfacher gedacht als getan. Er fühlte sich unendlich müde und matt, als habe ein Sukkubus sämtliche Lebensenergie aus ihm herausgesaugt. Jetzt versuchte er noch einmal, sich im Bett aufzurichten, und merkte, dass noch etwas anderes ihn zurückhielt. Er war an Armen und Beinen festgeschnallt!
«Guten Morgen, Signor Rosin», flötete Ilaria und stellte ein schwer beladenes Tablett auf den Nachttisch. «Sie haben die Nacht hoffentlich gut überstanden?»
«Was soll das?», knurrte er und zerrte an den straffen Lederriemen. «Bin ich ein Gefangener?»
«Professor Orlandi hielt es für besser. Sie durften sich nach der Operation nicht aufs Gesicht legen. Einen Moment.»
Während sie sich über das Bett beugte, um die Riemen zu lösen, kam ihm eine beunruhigende Erkenntnis. Das diffuse Licht, das durchs Fenster hereinfiel, stammte nicht von der Abenddämmerung.
«Was haben Sie eben gesagt, Schwester? Guten Morgen?»
«Etwas dagegen?»
«Welchen Tag haben wir denn?»
«Den vierzehnten natürlich.»
«Dann habe ich fast vierundzwanzig Stunden geschlafen!»
Ilaria hatte den letzten Riemen geöffnet und lächelte ihn an.
«Das hat Ihnen gut getan, nicht wahr? Der Professor hat Ihnen ein starkes Schlafmittel gegeben, weil er meinte, das sei bei Ihrer physischen und psychischen Erschöpfung das Beste.» Sie rückte das Tablett zurecht. «Und jetzt frühstücken wir ordentlich!»
Er verspürte nicht den geringsten Hunger. Dafür bedrängten ihn hundert Fragen. «Was ist mit Elena? Ist der Papst wirklich tot? Und der Attentäter, ist er …»
«Später», säuselte Ilaria. «Das können Sie alles später klären, Signor Rosin. Jetzt wollen wir frühstücken.»
Sie goss aus einem verzierten Kännchen dampfenden Tee in eine Tasse mit demselben Dekor. Wütend schlug er sie ihr aus der Hand. Die Schwester taumelte zurück und riss dabei das ganze Tablett zu Boden. Die teure Kanne zersprang. Brötchen, Margarine, Marmelade, Wurst und Käse verteilten sich auf dem Parkett.
«Ich habe keinen Hunger! Begreifen Sie das?»
«Ich schon.» Sie machte einen Schmollmund. «Aber dass der Professor dafür Verständnis aufbringen wird, bezweifle ich.»
«Rufen Sie ihn her und fragen Sie ihn!», verlangte Alexander.
Die Unterhaltung mit Schwester Ilaria brachte ihn nicht weiter; er hoffte, dass Orlandi seine Fragen beantworten würde.
«Wie Sie wünschen, Signore.»
Sie griff nach dem Hörer des Telefons, das neben seinem Bett an der Wand hing.
Er stand langsam auf und bekämpfte ein Schwindelgefühl, das die Wände ins Kreiseln bringen wollte. Beiläufig stellte er fest, dass er einen blauen Pyjama trug. Auf nackten Füßen wankte er durch das luxuriöse Krankenzimmer zum Fenster. Vor einem Wandspiegel, eingefasst in einen aufwendig geschnitzten Rahmen, blieb er stehen. Im ersten Augenblick glaubte er, eine Mumie glotze ihn aus dem Spiegel an. Sein Gesicht war bandagiert. Nur Augen, Mund und ein Stück Nase schauten hervor.
Als seine Hände unwillkürlich zum Gesicht fuhren, sagte Ilaria streng: «Lassen Sie das besser! Professor Orlandi wird Ihnen schon sagen, wann Sie den Verband abnehmen können.
Übrigens wird er gleich hier sein. Sie legen sich am besten wieder hin.»
Aber er ging weiter zum Fenster und blickte auf den Vorplatz der ominösen Privatklinik. Der Park dahinter sah chaotisch aus.
Der Sturm hatte Äste geknickt und abgerissen, Bäume und Buschwerk halb entlaubt. Der unbefestigte Platz war ein Meer aus Schlamm, durch das sich Reifenspuren zogen. Bei seiner Ankunft hatte ein halbes Dutzend Wagen dort geparkt, jetzt waren es doppelt so viele. Donatis Fiat befand sich nicht darunter. Es war noch immer stark bewölkt. Das Unwetter hatte sich nicht verzogen, sondern nur eine Pause eingelegt. Vor dem Haus stand Jupiter Fulgur und schwang den zerstörerischen Blitz.
Zwei Männer betraten den Raum, Orlandi und Donati.
«Hinlegen oder wenigstens ins Bett setzen, aber nicht mit nackten Füßen hier herumstehen!», befahl der Professor.
Alexander gehorchte, um langwierige Diskussionen zu vermeiden. Orlandi schickte Ilaria, die inzwischen das verschüttete Frühstück und die Scherben aufgesammelt hatte, hinaus.
«Sie haben wohl ein paar Fragen», meinte der Professor.
«Aber sagen Sie mir erst, wie es Ihnen geht.»
«Ein leichtes Schwindelgefühl, und mein Gesicht ist ganz taub.»
«Wunderbar», befand Orlandi. «Dann ist alles normal.»
Alexander konnte nicht länger an sich halten und fragte: «Hat man Elena gefunden?»
Donati trat an sein Bett und setzte eine betrübte Miene auf.
«Leider nicht. Sie und der Attentäter sind spurlos verschwunden. Die Kollegen haben nur den Ü-Wagen gefunden.»
«Etwa wieder an der Stazione Termini?»
«Nein», antwortete der Commissario. «Der Wagen stand verlassen auf dem Hinterhof einer stillgelegten Schreinerei am Westhang des Gianicolo. Ich komme gerade aus dem Präsidium.
Zum Glück stehe ich nicht unter Verdacht. In dem Chaos und bei dem Wolkenbruch gestern hat sich niemand das Kennzeichen meines Wagens gemerkt.»
«Wie schön für Sie!», brummte Alexander.
Er machte sich schwere Vorwürfe, weil er Elena nicht aus der Sache herausgehalten hatte. Aber wie hätte er das tun können?
Obwohl er sich immer wieder sagte, dass Elena sich ohnehin nichts vorschreiben ließ, fühlte er sich verantwortlich für das, was mit ihr und Spartaco geschehen war. Er erkundigte sich nach Negro.
«Er ist mit einem blauen Auge davongekommen», sagte Donati. «Genauer ausgedrückt, mit einem leichten Streifschuss am Bein.»
Er berichtete, dass auch Ovasius Shafqat nur leicht verletzt war. Tessari und Zanni waren auf der Stelle tot gewesen, aber das hatte Alexander nicht anders erwartet. Hatten die Verschwörer mit Tessari einen der Ihren geopfert, um ihr Ziel zu erreichen? Und falls Tessari nicht zu ihnen gehörte, musste sein Tod Riccardo Parada umso gelegener kommen. Der Vigilanzachef würde wohl dafür sorgen, dass Tessaris Nachfolger zum Kreis der Verschwörer zählte.
«Und der Papst?», fragte er mit belegter Stimme.
«Obwohl ihn etliche Kugeln getroffen haben, war noch Leben in ihm. Da ein Transport ins Krankenhaus zu gefährlich erschien, hat man ihn auf die Krankenstation im Apostolischen Palast gebracht. Nach unseren Informationen besteht wenig Hoffnung, wenn auch …»
Das leise Klingeln des Telefons unterbrach Donati.
Orlandi nahm ab und lauschte dem Anrufer. Bestürzung lag auf seinem Gesicht, als er den Hörer mit einer mechanischen Bewegung einhängte. Sein Blick pendelte zwischen Donati und Alexander.
«Sprechen Sie ruhig, Professor», sagte Donati. «Wenn wir vorankommen wollen, müssen wir einander vertrauen.»
«Ich fürchte, es gibt kein Vorankommen mehr.» Orlandis Stimme klang noch heiserer als gewöhnlich. «Der Anruf kam aus dem Vatikan. Musolino will die Hammerfrage stellen.»
Sie alle wussten, was das bedeutete.
Eine Tradition, viele Jahrhunderte älter als die Intensivstation im Apostolischen Palast, wurde in dem Krankenzimmer befolgt.
Über das Gesicht des Heiligen Vaters war ein weißes Tuch gedeckt. Bis auf Dr. Secchi hatten alle Ärzte und Schwestern den Raum verlassen. An ihre Stelle waren kirchliche Würdenträger getreten, deren rote und schwarze Farben einen starken Kontrast zum allgemeinen Weiß der Krankenstation bildeten. Die Tradition verlangte, dass die Hammerfrage in Anwesenheit des Päpstlichen Zeremonienmeisters, der Geheimsekretäre und des Kanzleivorstehers der Apostolischen Kammer gestellt wurde. Sie alle und weitere hohe Geistliche drängten sich um das Krankenbett, das zum Totenlager geworden war.
Für Ovasius Shafqat, der mit den Kardinälen Musolino und Tamberlani am Kopfende des Bettes stand, war es eine Szene wie aus einem Albtraum. Und er konnte kaum hoffen, daraus zu erwachen.
Der dunkelhäutige Sekretär Musolinos, der eine Stunde zuvor gegangen war, die kurialen Würdenträger zusammenzurufen, hielt seinem Herrn einen kleinen schwarzen Koffer hin. Nach einem Blick in die Runde erledigte Musolino seine erste Pflicht als Kardinalcamerlengo. Er nahm das weiße Tuch vom Gesicht des Papstes und reichte es Tamberlani. Musolino klappte den Koffer auf und nahm einen kleinen silbernen Hammer heraus.
Er beugte sich über den Pontifex, schlug leicht mit dem Hammer gegen dessen Stirn und fragte mit lauter Stimme:
«Jean-Pierre Gardien, lebst du, oder bist du tot?»
Genauestens befolgte er die Tradition, die es verlangte, dass der Papst mit seinem bürgerlichen Namen angesprochen wurde.
Sosehr Shafqat es auch ersehnt hatte, Gardien antwortete nicht.
Auch dann nicht, als Musolino den Vorgang zweimal wiederholte, wie es die geheiligte Regel vorschrieb.
Nachdem die Frage zum dritten Mal unbeantwortet geblieben war, richtete der Camerlengo sich auf, drehte sich zu den anderen um und sagte feierlich: «Wahrhaftig, der Papst ist tot.»
Alles war verloren! Shafqat war speiübel und er rang nach Atem.
Dennoch registrierte er, dass nur in einigen der ihn umgebenden Gesichter Trauer und Beklemmung standen. Papst Gardien hatte sich durch seine unkonventionelle Art und durch seine verwegenen Pläne zur Erneuerung der Kirche in seinem engsten Umfeld alles andere als beliebt gemacht. Manch einer schien sogar erleichtert, dass es gestern nicht zu der weltweit mit Spannung erwarteten Audienz gekommen war.
Eifrig gingen der Camerlengo, die Angehörigen der Apostolischen Kammer und Dr. Secchi daran, die Identität des Toten zu beurkunden und den Totenschein auszustellen. Mit dem negativen Ausgang der Hammerfrage galt Custos für die Kirche als tot, sein Pontifikat war erloschen.
Jetzt galt es, sich auf die Wahl des nächsten Papstes zu konzentrieren. Shafqat hätte Gift darauf genommen, dass es diesmal kein Reformer wie Gardien sein würde, sondern im Gegenteil ein erzkonservativer Kardinal. Als er die Geschäftigkeit beobachtete, mit der Gardiens Ableben beurkundet wurde, kam ihm ein Satz in den Sinn, der nach dem Tod des vorherigen Papstes in der Presse gestanden hatte: Wenn ein Papst stirbt, macht man eben einen neuen.
Der Raum leerte sich. Man hatte das Wichtigste gesehen und gehört und brannte darauf, die Neuigkeit nach draußen zu tragen. Es war ein offenes Geheimnis, dass mancher Monsignore, Erzbischof und auch Kardinal einem Vatikanisten als Informant diente. Dafür gab es Gegenleistungen der unterschiedlichsten Art – von einem guten Essen bis hin zu anderen fleischlichen Genüssen. Bevor Monsignore Wetter-Dietz das Ende von Custos’ Amtszeit offiziell bekannt gab, würde es in Rom schon die Runde machen: « II Papa e morto! »
– «Der Papst ist tot!» Und alle Kirchenglocken würden läuten.
Ein Mann in der Uniform der Vatikanpost schob keuchend einen kleinen Wagen mit einem schweren Paket durchs Gedränge und rief: «Eine Eilsendung für Don Shafqat! Ist eben angeliefert worden.»
Musolino warf dem Postbeamten einen strafenden Blick zu.
«Hat der Herrgott Sie verlassen, Mann? Jetzt ist wohl kaum der richtige Augenblick, die Post auszuteilen!»
«Aber Don Shafqat hat mich beauftragt, ihm das Paket unter allen Umständen sofort zu bringen», rechtfertigte der Postbeamte sich. Im Angesicht der hohen Würdenträger zog er sein schweißfleckiges hellblaues Hemd glatt und strich die dunkle Krawatte zurecht.
«Das stimmt», mischte Shafqat sich ein.
Eilig trat er zu dem Postler und betrachtete die Sendung.
Tatsächlich, sie kam aus England! Seine fast schon erloschene Hoffnung loderte wieder auf.
«Eine Unterschrift bitte, Hochwürden.»
Der Postbeamte hielt ihm Klemmbrett und Kugelschreiber unter die Nase, und er bestätigte den Empfang.
Mit fliegenden Fingern öffnete Shafqat das Paket. Unter zwei Schichten dicken Packpapiers kam eine mit Styroporkugeln gefüllte Metallkiste zum Vorschein. In das Styropor war sorgsam ein Kasten aus Eichenholz gebettet. Hastig überflog er den beiliegenden Brief des Bischofs von Hereford, bevor er den Holzkasten öffnete.
Die Kurialen, die sich neugierig um ihn geschart hatten, stöhnten auf und wichen zurück, als sie den Inhalt erblickten.
Shafqat dagegen war kein bisschen erschrocken. Er hatte gewusst, was ihn erwartete, hatte es früher schon einmal gesehen. Die schwärzliche, mumifizierte Klaue mochte aussehen wie aus dem Fundus eines Gruselkabinetts, aber sie war eine Reliquie. Bevor sie abgehackt wurde, hatte die Hand dem Priester John Kemble gehört, der anno 1679 hingerichtet und 1970 heilig gesprochen worden war.
Als Shafqat die Klaue aus dem Kasten hob, traten die Kurialen noch weiter zurück. Andächtig starrte er auf das mumifizierte Stück Mensch und rätselte, ob das Wunder, das er vor vielen Jahren erlebt hatte, sich wiederholen würde.
«Was ist das, Don Shafqat?», fragte Musolino in demselben unduldsamen Ton, in dem er mit dem Postbeamten gesprochen hatte.
«Eine Hand.»
«Wir sind nicht hier, um uns von Ihnen zum Narren halten zu lassen», wies der Staatssekretär ihn zurecht.
Shafqat hielt die Hand hoch, sodass alle sie sehen konnten.
«Das ist die Hand des John Kemble, eine anerkannte Reliquie unserer Kirche in England. Ich habe den Bischof von Hereford gebeten, sie uns zu schicken, weil ich hoffe, damit Seiner Heiligkeit helfen zu können.»
«Helfen?», krähte der alte Tamberlani. «Ja, wie denn das?»
«Ich habe schon einmal erlebt, wie Kembles Hand Wunder gewirkt hat», sagte Shafqat, der auf einmal eine merkwürdige Gelassenheit verspürte, so als übertrage die Reliquie eine geheime Kraft auf ihn. «Damals war ich ein junger Priester an der Kirche St. Francis Xavier in Hereford, wo diese Reliquie aufbewahrt wird. Als Pater Christopher Jenkins von St. Francis Xavier nach einem Schlaganfall in ein tiefes Koma fiel, sahen die Ärzte keine Chance mehr für ihn. Ich war dabei, als Jenkins’
Stellvertreter, Pater Tumelty, die Hand vom Altar holte und auf Pater Jenkins’ Stirn legte. Kurz darauf erwachte Jenkins aus dem Koma, und nach einiger Zeit verschwanden auch die durch den Schlaganfall verursachten Beeinträchtigungen.»
Ein Detail hatte Shafqat den Kurialen verschwiegen: Er, Pater Ovasius Shafqat, hatte den Pater in den Armen gehalten, als Anthony Tumelty ihm die Kemble-Hand auf die Stirn legte.
«Ob die Hand das Wunder vollbracht hat oder nicht, spielt keine Rolle», rief Tamberlani, offenbar verärgert über Shafqats Aktionismus. «Der Fall in Hereford war anders gelagert. Damals ging es um einen Priester, der im Koma lag. Unser Heiliger Vater aber ist tot!»
«Was kann es dann schaden, wenn ich die Reliquie zu ihm bringe?»
«Die Medien werden davon erfahren», schnaubte der Kardinalprotodiakon. «Wir machen uns lächerlich!»
«Geistliche der heiligen römischen Kirche machen sich lächerlich, wenn sie die Reliquie eines Heiligen benutzen?», fragte Shafqat. «Wie kann das möglich sein, Eure Eminenz?»
Musolino machte eine beschwichtigende Handbewegung gegenüber Tamberlani, der kurz vor einem cholerischen Anfall stand, und sagte: «Lassen wir Don Shafqat gewähren. Er hat ganz Recht, wir sollten über den Hohn der Medien erhaben sein.
Außerdem soll man uns nicht nachsagen, wir hätten irgendetwas unversucht gelassen, um Papst Custos zu retten. Die Medizin hat ihre Chance gehabt, legen wir das Schicksal des Pontifex also mit der Kraft und Gefasstheit unseres Glaubens in Gottes Hand.»
Einige der Anwesenden grinsten unverfroren. In Gottes Hand.
Ein paar gaben durch Gesten zu erkennen, dass sie Shafqat für einen Spinner hielten. Ein Sekretär der Apostolischen Kammer führte ein unsichtbares Glas zum Mund, woraufhin einige in der Runde über den irischen Trunkenbold kicherten.
Von all dem unbeeindruckt, trat Ovasius Shafqat mit der schwarzen Hand zum Krankenbett. Jetzt würde sich erweisen, ob Jean-Pierre Gardien den richtigen Mann zu seinem Privatsekretär erwählt hatte. Und ob Shafqats Kraft, sein Glaube, stark genug war.
Trotz seiner Sorge um Elena und der Trauer um den Papst fühlte Alexander sich etwas besser, als er Schwester Ilaria durch mehrere Gänge und über eine breite Steintreppe mit kunstvoll verziertem Geländer ins oberste Stockwerk folgte. Er sah weder andere Schwestern noch Patienten. An ein Krankenhaus erinnerte hier nichts als Ilarias weiße Tracht, die sich über ihren verführerischen Formen spannte. Zweimal hörte er undeutliche Stimmen hinter verschlossenen Türen.
Er hoffte, gleich mehr über dieses Haus und die hier versammelten Menschen zu erfahren; Donati und Orlandi hatten es ihm zugesagt. Er hatte geduscht und das zweite Frühstück, das Ilaria ihm brachte, brav verzehrt. Seine Entschuldigung hatte sie mit einem verständnisvollen Lächeln akzeptiert. Das taube Gefühl in seinem Gesicht wich allmählich, und seine Lebensgeister erstarkten. In den frischen Kleidern, die Ilaria ihm gebracht hatte, hätte er sich ganz normal gefühlt, wäre nicht der Verband um sein Gesicht gewesen.
Sie führte ihn in einen Salon, dessen altertümliche Ausstattung hundert Jahre alt sein musste. Hinter den Rauchschwaden, die das riesige Zimmer durchzogen, entdeckte er klobiges Mobiliar und protzige Ölschinken. Drei Männer saßen um einen runden Tisch und rauchten, was das Zeug hielt. Donati zog an einem halb heruntergebrannten Zigarillo, Orlandi an einer abgegriffenen Bruyereholzpfeife, und der dritte Mann, der in einem ledergebundenen Buch las, hatte sich eine filterlose Zigarette zwischen die Lippen geklemmt. Ihn hatte Alexander hier nicht erwartet.
«Setzen Sie sich zu uns, Signor Rosin», sagte Orlandi. «Bei einer Parlamentärspfeife und einem Glas Feuerwasser lässt sich’s besser reden.»
«Danke nein, ich bin praktizierender Nichtraucher», entgegnete Alexander und starrte noch immer ungläubig auf den Mann mit dem Buch.
Der erwiderte seinen Blick durch große, dicke Brillengläser und sagte auf Deutsch: «Guten Tag, Herr Rosin. Schade, dass wir uns unter solchen Umständen wieder sehen. Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, dass ich meine Freunde mit dem Inhalt dieses Buches vertraut gemacht habe.»
«Ihre Freunde?» Alexander setzte sich in einen der ausladenden Clubsessel und musterte Remigio Solbelli skeptisch. «Ich glaube, jetzt sind ein paar Erklärungen fällig.»
«Verständlich, dass Sie Fragen haben», sagte der Privatgelehrte jetzt auf Italienisch. «Doch zunächst müssen Sie uns ein paar Antworten geben.»
Alexander versteifte sich, er war das Rätselraten leid. «Nicht ein Wort bekommen Sie von mir zu hören, wenn Sie mir nicht Rede und Antwort stehen.»
Donati rutschte unwillig in seinem Sessel herum. «Ich habe Sie vor Ihren Gardekameraden gerettet und Professor Orlandi hat Ihre Nase zusammengeflickt. Dafür schulden Sie uns die Bereitschaft zu kooperieren, Rosin.»
«Wenn Sie das glauben, machen Sie sich mit dem Gedanken vertraut, dass Sie an einen höchst zahlungsunwilligen Schuldner geraten sind.»
«Aber bitte, meine Herren, so kommen wir nicht weiter.»
Orlandi fuchtelte mit seiner Pfeife herum wie ein Dirigent mit seinem Stab, als wollte er einen anderen Takt vorgeben. «Lassen Sie uns höflich sein und Signor Rosins Fragen beantworten, dann wird er auch höflich sein. Wir sitzen in einem Boot. Und wir müssen einen Plan entwickeln. Auch wenn unser Bruder Gardien tot ist, dürfen wir nicht aufgeben. Retten, was noch zu retten ist – das muss jetzt die Parole sein.»
Er fragte Alexander, was er trinken wolle. Schwester Ilaria brachte ihm einen mit Wasser verdünnten Whiskey und verließ den Raum.
«Stellen Sie also Ihre Fragen, Signor Rosin», bat Orlandi.
«Wer sind Sie?», fragte Alexander. «Und was sind Ihre Ziele?»
«Das nenne ich auf den Punkt kommen», sagte Orlandi. «Und ich will Ihnen genauso knapp und präzise antworten. Wir sind ein Kreis von Christen, die sich Electi nennen, die Auserwählten. Warum? Weil wir wissen, dass und wie die Lehre Christi im Laufe zweier Jahrtausende verfälscht wurde. Unser Ziel ist es, Christi Wort wieder zur Maxime des kirchlichen und christlichen Handelns zu machen. Jean-Pierre Gardien, der zu unserem Kreis gehörte, hätte als Pontifex der heiligen römischen Kirche dieses Ziel verwirklichen können. Jetzt ist es wieder in weite Ferne gerückt.»
«Also hat der Zirkel Recht», entfuhr es Alexander. «Gardien war tatsächlich ein Usurpator auf dem Heiligen Stuhl. Der Antichrist!»
«So ein Blödsinn», sagte Orlandi scharf. «Wie kann jemand der Antichrist sein, der Christi wahre Lehre vertritt? Und wie kann jemand ein Usurpator sein, der ordnungsgemäß zum Papst gewählt worden ist. Sicher haben wir bei der Wahl ein wenig Politik hinter den Kulissen gemacht, aber das tun andere in der Kurie auch. Schon lange haben wir uns bemüht, einen der Unseren auf den Stuhl Petri zu setzen. Dass die Kardinäle des rechten und des linken Flügels sich bei der letzten Wahl nicht auf einen Kandidaten einigen konnten, hat uns endlich zum Durchbruch verholfen. Entnervt von der langen Prozedur haben viele für Gardien gestimmt, der bislang unauffällig war und ihnen harmlos erschien, wie eine gut zu führende Marionette.»
Solbelli beugte sich vor. «Haben Sie eben vom Zirkel der Zwölf gesprochen, Alexander?»
«Das habe ich», sagte Alexander in dem fatalen Bewusstsein, dass schon wieder er es war, der die Antworten gab. «Nach fast fünfhundert Jahren existiert der Zirkel noch oder schon wieder.»
«Das wissen wir», unterbrach der Privatgelehrte ihn zu seinem Erstaunen. «Aber was wissen Sie davon?»
«Elena und ich haben ein Geheimtreffen des Zirkels belauscht und mit angehört, wie das Attentat auf den Papst beschlossen wurde.»
«Warum haben Sie uns nicht sofort verständigt?», bellte Donati. «Wir hätten Gardien retten können!»
«Wen hätte ich verständigen sollen? Professor Orlandi, den ich noch gar nicht kannte? Signor Solbelli, den Kastellan der Engelsburg? Oder Sie, Commissario, der Sie mir offensichtlich auch nicht alles über sich erzählt haben? Was hatten Sie gestern beim Vatikan zu suchen?»
«Viele von uns waren dort, um Gardien im Notfall beizustehen», erwiderte Donati. «Er hatte etwas Großes vor, und niemand wusste genau, wie es ausgehen würde.»
Solbelli beugte sich vor. «Alexander, erzählen Sie uns alles, was Sie über den Zirkel erfahren haben!»
Nach kurzem Überlegen kam Alexander der Bitte nach. Er brauchte Verbündete, wenn er Elena helfen wollte. Also erzählte er den drei Auserwählten alles, sagte ihnen sogar, wer das Haupt der Zwölf war.
«Dann liegt der Smaragd noch immer in der unterirdischen Kapelle», stellte Solbelli fest und klopfte auf das Buch. «Seit fünfhundert Jahren womöglich. Wie Albert Rosin es beschrieben hat.»
«Was zur Hölle hat es mit diesem Smaragd nur auf sich?», rief Alexander; der Whiskey hatte ihm die Zunge gelöst. Offenbar machte ihm das Betäubungsmittel, das Orlandi ihm gegeben hatte, auch für kleine Alkoholmengen anfällig. Er fragte sich, ob der Professor ihm deshalb einen Drink angeboten hatte.
«Man müsste den Stein in Händen halten, um das genau zu sagen», murmelte Solbelli, mehr zu sich selbst.
«Warum nicht?», fragte Donati. «Signor Rosin kann uns zu der Kapelle führen.»
«Das ist es!» Orlandi schnippte mit den Fingern und richtete sich auf. «Das ist der Plan, mit dem wir unser Ziel doch noch erreichen könnten. Wir müssen die Wahre Ähnlichkeit Christi in unseren Besitz bringen!»
«Warum?» Alexander war skeptisch.
«Das ist eine lange Geschichte, zu deren Erörterung uns jetzt die Zeit fehlt», antwortete Solbelli. «Ich will versuchen, Ihnen das Wichtigste in einer Kurzfassung zu erzählen.»
Ein starker, unbekannter, süßlicher Duft stieg in seine Nase.
Wenn er die Augen schloss, meinte er, sich in einem überirdischen Rosengarten aufzuhalten. War das der Duft der Heiligkeit? Christliche Chroniken berichteten von einem unerklärlichen Duft, den spätere Heilige und ihre Reliquien verströmt haben sollten. Ging dieser Duft auch von Kembles Hand aus, die er, vor dem Krankenbett kniend, auf Jean-Pierre Gardiens Stirn drückte?
Unsinn, sagte sich Shafqat, das muss Einbildung sein. Er hatte so viel über Heilige und ihre Reliquien gelesen, dass er den Geruch wahrzunehmen glaubte. Er wusste, dass es nur eine Kraft gab, auf die er setzen konnte: seine eigene.
Er umarmte den leblosen Papst und sprach leise das Vaterunser in lateinischer Sprache. Letzteres tat er, damit die umstehenden Kurialen glaubten, die Umarmung geschehe zum Zwecke des Gebets. In Wahrheit verhielt es sich genau umgekehrt: Er betete, um Gardien möglichst nahe zu kommen.
Seine Kraft musste auf den Papst übergehen. Darauf richtete er all sein Denken und Wollen, seine ganze Konzentration.
Auch Kembles Hand war nur ein Vorwand. Wirklich? War Pater Jenkins damals nur aus dem Koma erwacht, weil er seine, Shafqats, heilende Kräfte verspürt hatte? Vielleicht war die schwarze Klaue doch mehr als ein mumifiziertes Stück Fleisch und Knochen, besaß sie die Macht, verborgene Kräfte zu wecken und zu verstärken.
Nach all den Jahren wusste Shafqat noch immer nicht, ob er froh sein sollte, dass er Jenkins hatte helfen können. Für die Öffentlichkeit hatte John Kembles Hand das Wunder gewirkt.
Doch die Medienberichte hatten die Aufmerksamkeit einer kleinen Gruppe, die sich Electi nannte, auf ihn gelenkt.
Die Auserwählten hatten ihn als einen der Ihren erkannt. Was er von ihnen erfuhr, hatte ihn in eine so tiefe Glaubenskrise gestürzt, dass er seine Zweifel an der Kirche, an Jesus und an Gott im Alkohol zu ertränken suchte. Er war nahe daran gewesen, sich zu Tode zu saufen, als ein Auserwählter mit besonders starken Kräften seinen angegriffenen Körper heilte.
Und in langen Gesprächen hatte derselbe Mann auch seine Seele gestärkt: Jean-Pierre Gardien.
Jetzt hatte Shafqat Gelegenheit, seine Schulden bei Gardien zu begleichen. Eine ungeheure Wärme durchströmte den Iren, verbunden mit einem Kribbeln, als lade er sich elektrisch auf.
Als er es kaum noch ertragen konnte, spürte Shafqat, wie etwas aus seinem Körper in den des Papstes strömte, eine Art abfließende Energie. Er schwitzte wie in der heißesten Sauna und fühlte sich von Sekunde zu Sekunde schwächer.
Irgendwann rutschte er von Gardiens Bett auf den Boden.
Undeutlich vernahm er Tamberlanis Stimme: «Da haben wir’s.
Er hat sich zu sehr in seinen Heiligenwahn hineingesteigert. Ich glaube, Sie sollten sich um Don Shafqat kümmern, Dr. Secchi.»
Der Arzt erwiderte: «Ich glaube, ich sollte mich eher um Seine Heiligkeit kümmern!»
Kräftige Hände packten Shafqat und zogen ihn zur Seite, bis er mit dem Rücken gegen eine Wand lehnte. Er fühlte sich wie von dichtem Nebel umgeben, schwach und nur halb bei Sinnen.
Schattenhafte Gestalten in Weiß eilten durch den Raum und verständigten sich mit knappen Zurufen. Er hörte viele lateinische Ausdrücke. Es war nicht das Latein der Kirche, sondern das der Mediziner.
Wie seine Augen bloß Schemen wahrnahmen, so hörten seine Ohren nur Gesprächsfetzen: «… Lebensfunktionen stärker …