«Weshalb?»

Alexander erzählte, dass Daneggers Kleider trotz des starken nächtlichen Regens knochentrocken gewesen waren. Und er berichtete von dem Einbruch in die Waffenkammer, obwohl von Gunten befohlen hatte, den Vorfall geheim zu halten. Er vertraute Donati. Irgendjemandem musste er sich anvertrauen.

Der Commissario stieß zwei, drei dichte Rauchwolken aus.

«Ich an Ihrer Stelle hätte auch Zweifel, Signor Rosin.»

«Ja, aber wer und was steckt dahinter, wenn Danegger es nicht getan hat?»

«Solange der wahre Schuldige sich nicht zu erkennen gibt, können Sie ihm nur über das Motiv näher kommen. Sie haben mich gefragt, ob Ihr Onkel aus ähnlichen Gründen ermordet worden sein könnte wie die Männer, über die wir im Unterricht gesprochen haben. Warum?»

«Weil ich mich frage, ob der Anschlag meinem Onkel als Person gegolten hat oder vielmehr seiner Stellung und damit mittelbar auch dem Papst.»

«Eine sehr gute Überlegung.»

«Aber was sollte der Mord an meinem Onkel bewirken?», fragte Alexander zweifelnd.

«Schwer zu sagen bei den wenigen Anhaltspunkten. Vielleicht war es eine Warnung.»

«Eine Warnung? An wen?»

«An den Papst. Eine eindringlichere Warnung kann man sich doch kaum vorstellen: Wir haben den Kommandanten deiner Leibgarde umgebracht und genauso können wir dich jederzeit umbringen.»

«Wenn das so wäre, was will der wahre Mörder mit seiner Warnung dann erreichen?»

«Finden Sie es heraus und Sie haben ihn.»

Während er im Scampolo auf Utz Rasser wartete, dachte Alexander über seinen Besuch beim Papst und sein Gespräch mit Donati nach. Wenn der Mord an seinem Onkel tatsächlich eine Warnung für Papst Custos darstellte, dann war es wahrscheinlich, dass der Heilige Vater etwas wusste oder ahnte.

Warum hatte er Alexander zu sich kommen lassen? Um ihn zu warnen oder um herauszubekommen, ob er im Bilde war?

Das Scampolo war ein schummriges Lokal mitten im Borgo Pio, im «frommen Dorf». Das urwüchsige Viertel direkt gegenüber dem Sant’Anna-Tor hatte allen Abriss- und Modernisierungsversuchen widerstanden. Selbst Mussolini hatte es nicht beseitigen können, als er ganze Straßenzüge niederwalzen ließ, um Platz für die Via della Conciliazione zu schaffen. Zahlreiche Lokale drängten sich in der alten Pilgersiedlung aneinander. In einigen aßen Mitarbeiter des Vatikans, andere waren zu Touristenfallen mutiert. Das Scampolo hatte seinen ursprünglichen Charme bewahrt. Der Wirt zählte mehr auf treue Stammkundschaft als auf durch Handzettel und Lockvögel herbeigeschaffte Touristenströme.

Alexander, der an einem im Halbschatten liegenden Ecktisch saß, nippte lustlos an seinem Grappa, sah zur Tür und dann auf die Uhr. Gleich halb neun, und um acht hatte Utz kommen wollen. Von Gunten hatte ihn gebeten, das verschwundene Waffenbuch aus dem Gedächtnis zu rekonstruieren, so gut es eben möglich war. Es konnte nur Flickwerk sein, und auch das nur für die letzten Wochen, aber Utz wollte es trotzdem versuchen. Anscheinend hielt ihn die Arbeit länger auf, als er geglaubt hatte.

Nach seiner Rückkehr in den Vatikan war Alexander zu von Gunten beordert und über den Anschlag auf der Piazza Farnese befragt worden.

Der Oberstleutnant hatte sich erleichtert darüber gezeigt, dass Alexanders Name in den Medien nicht gefallen war: «Nach dem Mord an Oberst Rosin hat die Garde schon genug zwielichtige Schlagzeilen gemacht.»

Im Fernseher über dem Tresen lief ein Bericht über den heutigen Anschlag. Zum Glück waren Donati und die Gardisten schon fort gewesen, als das Kamerateam eintraf. Ausführlich wurden die beiden zerschossenen Wagen gezeigt, zersplitterte Scheiben, zerfetzte Armaturen, durchlöcherte Polster. Der kahlköpfige Waffenspezialist hatte Recht gehabt: Es grenzte an ein Wunder, dass sie mit heiler Haut davongekommen waren.

Der Moderator im Studio berichtete, dass die Täter noch immer flüchtig seien und dass es keine näheren Hinweise auf ihre Identität gebe. Es werde aber angenommen, dass es sich um einen Racheakt der Mailänder Mafia gegen Commissario Donati handele.

Der folgende Filmbeitrag rollte die Ereignisse auf, die sich acht Jahre zuvor in Mailand zugetragen hatten. Ein Foto zeigte Stelvio Donati und seine Familie bei einem Straßenfest. Donati sah zwanzig Jahre jünger aus, sein Haar war dunkel, die Haut straff, seine Augen leuchteten. Selbst die jetzt so schmalen Lippen wirkten voller, lebendiger. Seine Frau war hübsch, ein wenig üppig, mit kurzen blonden Locken. Der Sohn schien nach ihr zu kommen, die kleine Tochter nach dem Papa.

Das nächste Foto zeigte die Zerstörung. Man sah nur das ausgebrannte Wrack eines Autos, aber das genügte, um einen Eindruck der schrecklichen Explosion zu bekommen. Es war nach einem Sonntagsausflug geschehen, Donati hatte etwas getrunken, und deshalb hatte seine Frau sich ans Steuer gesetzt.

Er war noch nicht ganz eingestiegen, als sie den Zündschlüssel herumdrehte – und den Zünder der Bombe auslöste. Allein aus diesem Grund war er am Leben geblieben.

«Eine schreckliche Geschichte. Man sollte nicht glauben, dass Menschen zu so etwas fähig sind.»

Die junge Frau, die vor Alexander stand, war sehr attraktiv.

Das kurz geschnittene dunkle, fast schwarze Haar, die ausgeprägten Wangenknochen und die dunkle Färbung der Haut verliehen ihr ein südländisches Aussehen. Das Gesicht kam Alexander bekannt vor, aber er konnte es nicht einordnen. Die Frau wirkte außerordentlich groß, was an den hohen Absätzen ihrer schwarzen Pantoletten liegen mochte.

Ihre langen, schlanken Beine steckten in engen schwarz-grauen Nadelstreifenjeans. Über dem hautengen pinkfarbenen Top trug sie einen zur Hose passenden Jeansblazer.

«Reichlich voll hier.» Sie warf einen verzweifelten Blick über die gut besetzten Tische. «Bei Ihnen ist nicht zufällig noch ein Platz frei?»

«Zufällig doch.» Alexander lächelte und fand es plötzlich gar nicht mehr bedauerlich, dass Utz sich verspätete. «Möchten Sie was trinken?»

«Gern. Eine Cola, bitte.»

Alexander rief es der Bedienung hinter dem Tresen zu.

«Ich heiße Elena.»

«Alexander.»

«Ihr Name klingt so wenig italienisch wie Ihre Aussprache.

Gehören Sie zur Schweizergarde?»

Er lachte. «Sind Sie Hellseherin?»

Sie lachte auch. «Nein, nur mittelmäßig intelligent. Der Vatikan ist bloß einen Steinwurf entfernt. Ihr Alter und Ihr Haarschnitt, dazu Ihr Name und Ihr, Verzeihung, etwas gebrochenes Italienisch.»

Die Bedienung brachte die Cola, und der Fernsehmoderator berichtete, das heutige Attentat sei nach dem Sicherheitsunterricht für Angehörige der Schweizergarde verübt worden.

Elenas Augen weiteten sich. «Tatsächlich? Waren Sie etwa dabei?»

Alexander nickte.

«Und? Wie ist es gewesen?»

«Nicht schön.»

Weiter sagte er nichts, um klarzustellen, dass ihm das Thema nicht behagte.

Sie reagierte sofort. «Ich wollte nicht zu neugierig sein. Sprechen wir von etwas anderem. Wie wird man Schweizergardist?»

«Sie kämen nicht in Frage.»

«Weil ich eine Frau bin?»

«Ja. Außerdem sprechen Sie zu gut Italienisch und sind, wenn Sie Ihre Schuhe ausziehen, etwas zu klein für den Job.»

«Das heißt was?»

«Nur Schweizer können Schweizergardisten werden.»

«Klar, ist ja nicht die Fremdenlegion. Und weiter?»

«Voraussetzungen sind beste Gesundheit und eine Mindestgröße von einsvierundsiebzig. Ein Gardist muss seinen Militärdienst bei der Schweizer Armee abgeleistet haben. Er muss römisch-katholisch sein und die mittlere Reife oder eine abgeschlossene Berufsausbildung sowie einen untadeligen Ruf vorweisen.»

«Der letzte Punkt klingt lustig. Wie macht man das?»

«Man geht zu seinem Pfarrer und lässt sich den untadeligen Ruf schriftlich bestätigen.»

«Natürlich. Und weiter braucht es keine Voraussetzungen?»

«Ein Gardist muss ledig und darf nicht schwul sein.»

In Elenas grünen Augen blitzte es auf. «Das sind zwei besonders interessante Punkte, finde ich.»

«Die Kurie sieht das genauso.»

Wieder lachten sie beide. Alexander genoss es. Zum ersten Mal seit der Mordnacht fühlte er so etwas wie Normalität.

Einmal nicht an Heinrich und Juliette denken, einfach nur unbeschwert sein, mit einer Frau lachen. Noch dazu mit einer, die ihm ausnehmend gefiel.

Deshalb war er, als Utz hinter Elena auftauchte, ganz und gar nicht begeistert. Verwirrt beobachtete er, wie Utz die Frau unsanft an der Schulter packte und vom Stuhl hochriss.

«Was suchen Sie hier?», fuhr Utz sie an. «Lassen Sie uns in Ruhe!»

Sein Griff war so fest, dass Elena vor Schmerz das Gesicht verzog. Alexander sprang auf und stieß Utz von ihr weg. Die Bedienung und die übrigen Gäste starrten verwundert zu ihnen herüber.

«Bist du verrückt geworden, Utz?»

«Nein, du, dass du dieser Schnüfflerin Auskunft gibst!»

«Schnüfflerin?»

«Hat sie dir nicht gesagt, dass sie Journalistin ist?»

Plötzlich wusste Alexander, wo er Elena schon gesehen hatte.

Sie war die Vatikanistin, die Monsignore Wetter-Dietz auf der Pressekonferenz nach dem Einbruch in der Waffenkammer gefragt hatte.

«Ich muss mich schon wieder entschuldigen», sagte sie nun.

«Ich hätte gleich mit der Wahrheit rausrücken sollen. Ich heiße Elena Vida und bin Redakteurin beim Messagero. Außerdem bin ich beim Pressesaal des Heiligen Stuhls akkreditiert.»

«Sie haben Ihren Spruch aufgesagt, jetzt können Sie gehen!», brummte Utz.

Elena beachtete ihn nicht. Ihr Blick heftete sich auf Alexander.

«Bitte, reden Sie mit mir! Ich weiß, dass etwas nicht in Ordnung ist. Was genau ist vorletzte Nacht in der Waffenkammer vorgefallen?»

«Sie war auch am Sant’Anna-Tor und hat versucht, die Kameraden auszuquetschen», erklärte Utz. «Sie hat sich nach dir erkundigt, Alex.»

Alexander sah Elena an. «Ist das wahr? Sie haben gewusst, wer ich bin?»

«Ja, aber ich …»

«Gehen Sie jetzt bitte!», unterbrach er sie. «Die Cola übernehme ich. Manch einer hat für seine Beschränktheit ein höheres Lehrgeld hinblättern müssen.»

Er fühlte sich gekränkt. Die heitere Seifenblase, in der er für kurze Zeit geschwebt und seine Sorgen vergessen hatte, war jäh zerplatzt. Unbeschwertheit hatte sich in Lüge und Misstrauen verwandelt.

Im Gehen wandte Elena sich noch einmal um. «Alexander, ich meine es gut mit Ihnen.»

«Natürlich», antwortete er kalt. «Jedenfalls so lange, wie es Ihre Auflage hebt. Buona sera!»

Als sie allein waren, sagte Utz: «Da bin ich gerade noch rechtzeitig gekommen. Die Kleine dachte wohl, sie kann dich mit ihren Katzenaugen und ihrem Knackarsch um den Finger wickeln.»

«Fast wäre es ihr gelungen», sagte Alexander leise.

«Kein Wunder, das Biest sieht verdammt gut aus.» Utz grinste verschwörerisch. «Trinken wir was?»

«Betrinken wäre mir lieber.»

«Das ist der beste Vorschlag, den ich heute gehört habe.» Utz wandte sich zur Theke um und bestellte eine Karaffe vom roten Hauswein.

Ein scharfer Abendwind pfiff um die alte Kirche in den Albaner Bergen. Das Blattwerk der Bäume raschelte unablässig im Auf-und Abschwellen einer geisterhaften Melodie. Oder war es das Rauschen seines eigenen Blutes, das er hörte, weil er die Hände gegen seine Ohren presste? Mit geschlossenen Augen, die Ellbogen auf die fleckige Platte des einfachen Holztisches gestützt, saß der einstige Monsignore da und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Einmal schreckte er hoch, weil er glaubte, das Brummen eines Motors gehört zu haben. Die weit heruntergebrannte Kerze auf dem Tisch, um die sich ein Kranz zerschmolzenen Wachses gebildet hatte, entriss nur einen Teil der Wohnküche dem Dunkel. Als der Geistliche zum Fenster ging, stolperte er über eine Kiste mit Äpfeln. Er drückte die Nase gegen das fleckige Fensterglas, aber draußen war nichts zu sehen. Kein Scheinwerferlicht, kein Strahl einer Taschenlampe.

Nur die Schatten der Nacht, die im diffusen Mondlicht verschwammen. Wahrscheinlich war es kein Automotor gewesen, sondern nur der heftige Wind, der durch die Kronen der alten Eichen und Steinlinden fuhr.

Seine Unruhe war nur zu erklärlich. Zwei Abende zuvor hatte Heinrich Rosin ihn besucht, und jetzt war der Oberst tot. Der Geistliche zweifelte nicht daran, dass es einen Zusammenhang gab zwischen dem Mord und der mysteriösen Kassette, die der Oberst ihm zur Aufbewahrung gegeben hatte. Die Offiziellen im Vatikan mochten noch so viel von der Kurzschlusshandlung eines überforderten Gardisten faseln, der Pater erkannte die Handschrift des Ordens. Die Angehörigen jener unheilvollen Vereinigung, der er selbst einmal angehört hatte, waren noch nie zimperlich gewesen, wenn es darum ging, ihre Interessen zu wahren. Er hatte aus dieser Erkenntnis die Konsequenzen gezogen – so wie jetzt Heinrich Rosin.

Abrupt wandte er sich um und starrte auf das gelbe Licht der Kerze. Was sollte er tun? Erst heute hatte er aus der Zeitung von Rosins Tod erfahren. Was auch immer der Gardekommandant gegen den Orden unternommen hatte, jetzt lag alles in den Händen des Paters. Und eine Entscheidung konnte er nur treffen, wenn er wusste, was Rosin ihm anvertraut hatte.

Er ging in seine spartanisch eingerichtete Schlafkammer, zog die Kassette unter dem rostigen Bettgestell hervor und trug sie zurück in die Küche, wo er sie auf den Tisch stellte. Dann knöpfte er seine zerschlissene Soutane auf und zog den Schlüssel aus einer Innentasche. Nach einem kurzen Augenblick des Zögerns steckte er ihn ins Schloss.

Ein Buch lag in der Kassette, ein verblüffend altes Buch. Es war jahrhundertealt, das sah er sofort. Die altertümliche Handschrift war in Deutsch abgefasst. Er beherrschte diese Sprache recht gut, konnte sie aber besser sprechen als lesen.

Doch er hatte Zeit.

Geheimer Bericht des Guardiknechts

Albert Rosin aus Zürich über die

merkwürdigen Ereignisse, deren Zeuge

er zu Zeiten der Heiligen Liga von

Cognac in Rom und andernorts wurde

Dessen erster Teil

Benvenuto Cellini, dieser eingebildete Narr von einem Goldschmied, trägt die Schuld an dem ganzen Unglück. Wäre er nicht mit seinen Schießkünsten so vorwitzig gewesen, hätte das Schlimmste verhindert werden können, das glaube ich sicher.

Ohne den hitzköpfigen Florentiner wäre Tausenden von Menschen der qualvolle Tod, wäre etlichen Kaufleuten und Bankherren der Raub ihrer sämtlichen Habe, wäre unbescholtenen Jungfrauen der gewaltsame Verlust ihres allerhöchsten Gutes und wäre Rom, der Mutter aller Städte, die unbändige Verwüstung und Ausplünderung erspart geblieben.

Elender, hochnäsiger Cellini!

Doch sollte ich diesen Bericht, der die bekannten Ereignisse von der Plünderung Roms verknüpft mit solchen Vorkommnissen, die nur wenige Eingeweihte bezeugen könnten, etwas früher beginnen, nämlich am fünften Mai Anno Domini 1527, als der heilige Tag des Herrn die langen Abendschatten über Rom sah – und vor seinen Toren die endlosen Heerschlangen des zerlumpten Söldnerpacks, das zum Sturm auf die Ewige Stadt rüstete.

Begonnen hatte das Unglück mit dem unaufhaltsamen, verheerenden Marsch gen Rom jenes gewaltigen kaiserlichen Heeres, das entstanden war, als sich zu Beginn des Februars Frundsbergs deutsche Landsknechte bei Piacenza mit den italienischen und mehrheitlich spanischen Söldnern des heimatlosen Herzogs von Bourbon vereinigten. Kaiser Karl hatte den mächtigen Haufen von mehr als zwanzigtausend wüsten Reisläufern ausgesandt, um die Heilige Liga von Cognac zu bezwingen. So nannte sich das Bündnis, zu dem sich unser allergnädigster Papst Clemens VII. mit dem allerchristlichsten König Franz von Frankreich, mit dem Herzog von Mailand, mit Florenz und mit der Republik Venedig aus Sorge um den Frieden in der Christenheit und die Freiheit der italienischen Länder zusammengetan hatte. Das war ein Jahr vor jenem unheilvollen Sonntag gewesen, an dem das feindliche Heer vor Rom erschien.

Ich, der Zürcher Albert Rosin aus des Heiligen Vaters treuer Schweizer Leibwache, stand an jenem Sonntagabend nebst meinen Kameraden auf den Mauern des Vatikans und sah mit zunehmender Sorge, wie die Neronischen Wiesen sich mit den Kaiserlichen füllten. Selten hat man solch einen abgezehrten, zerrissenen Haufen erblickt. Kaum ein Mann, dessen Kleidung heil, dessen Rüstung vollständig war. Viele gingen barhäuptig, nur das verfilzte Haar über den hageren Gesichtern, deren vor Mordlust und Raubgier verblendete Augen gierig zu uns herüberstarrten. Mit ein wenig Erleichterung nahmen wir zur Kenntnis, dass der deutsch-spanische Heerhaufen weder schweres Geschütz noch Belagerungsgerät mit sich führte. All das hatten die Landsknechte, die schon seit langem ihres Soldes harrten, wie unsere Kundschafter bereits berichtet hatten, zurück nach Ferrara geschickt, um möglichst schnell nach Rom zu gelangen, das sie reich an Schätzen und schwach an Verteidigern wähnten.

Zu Recht!

Ohne den Heiligen Vater eines Fehlers zeihen zu wollen, ist der Gedanke wohl nicht falsch, dass er unklug handelte, als er die zweitausend Recken des Giovanni dalle Bande und eine gleiche Zahl Eidgenossen aus seinen Diensten entließ. War es ihm wirklich so schwer gefallen wie dem stets mittellosen Kaiser Karl, den Sold aufzubringen? Jetzt fehlten uns die Männer wie einem Blinden das Licht.

Als die Kaiserlichen näher und näher gegen Rom vorrückten, hob der Papst eiligst Milizen aus und bat die Reichen und Edelblütigen um ihre Hilfe bei der Verteidigung der Stadt. Viele schickten ihre Bewaffneten nur zögerlich oder gar nicht, weil sie ängstlich waren und es vorzogen, sich im Schutz der Wachen in ihren Palästen zu verschanzen, einer zwanzigtausendköpfigen Feindesschar standen drei- oder viertausend schlecht gerüstete Verteidiger gegenüber. Und wir Schweizer Guardiknechte, stolze wenige 189 Mann.

Die Sonne sank draußen an der Tibermündung ins Tyrrhenische Meer, müde des Anblicks immer neuer Heerscharen, die Rom wie eine lebendige Mauer umschlossen.

Unterhändler des Herzogs von Bourbon ließen neue Hoffnung aufkeimen, dass Rom verschont werden möge. Ich stand neben dem geöffneten Tor, durch das sie zum Apostolischen Palast ritten. Unter den Hauptleuten bemerkte ich eine Gestalt, die vom Kopf bis zu den Füßen in einen dunklen Mantel gehüllt war und noch dazu einen Rapphengst ritt. Mantel und Fell waren von derselben Nachtschwärze, sodass mir Reiter und Ross als ein einziges Wesen erschienen, wie ein Kentauros. Und obgleich mir ein Blick in das Gesicht des schwarz Gewandeten verwehrt blieb, spürte ich Gefahr von ihm ausgehen. Mir war, als drücke ein unsichtbares Schwert gegen meine Kehle.

Als Knechte herbeigelaufen kamen, die Pferde zu halten, und die Unterhändler aus den Sätteln stiegen, verrutschte für einen Augenblick die Kapuze des Schwarzen, und es war ein Anblick, der mich schaudern machte. Ein hartes, entschlossenes Gesicht mit scharfen Kanten und tiefen Falten. Gnadenlos stachen zwei dunkle Augen, in denen ein Höllenfeuer loderte, aus dem erschreckenden Antlitz. Unsere Blicke kreuzten sich kurz, und ich senkte den meinen. Als ich erneut zu den Unterhändlern spähte, hatte der Fremde sein Gesicht wieder verhüllt.

Ich ließ die Furcht erregende Gestalt nicht aus den Augen, als wir die Gesandtschaft zu Papst Clemens führten. Unser Hauptmann höchstselbst, der mir wohlgesinnte Herr Kaspar Röist aus meiner Heimat Zürich, kommandierte die Begleitung.

Der Heilige Vater erwartete uns unter der Bewachung getreuer Kameraden, an deren Spitze Herkules Göldli stand. Clemens VII. verharrte ruhig unter dem Baldachin aus rotem Damast, von dem goldene Fransen hingen. In würdevoller Haltung saß er, umringt von Kardinälen und Bischöfen, edelblütigen Herren und Sekretären, auf seinem mit rotem Samt bezogenen Stuhl, die edlen Züge vollkommen gelassen. Fast spöttisch schienen seine Mundwinkel zu zucken, als die rauen Kriegsleute in seiner Gegenwart ihre Schritte verlangsamten, so als wüssten sie nicht recht, ob sie sich ihrem geistigen Oberhaupt oder dem Erzfeind ihres Kaisers gegenübersahen.

Keiner der Gesandten hatte, wie die Sitte es erfordert hätte, Mütze und Handschuhe im Vorzimmer abgegeben, und keiner war an der Schwelle zum Konsistorium auf die Knie gesunken.

Jetzt aber, im Angesicht Seiner Heiligkeit, besannen sich zumindest einige der Feinde auf ihre Christenpflicht. Sie entblößten ihre Häupter, fielen vor dem Papst auf die Knie und küssten seine Füße, die auf einem roten Tuchkissen ruhten. Die das taten, waren durchweg spanischer und italienischer Abkunft, während die von Luthers Ketzereien verseuchten Deutschen dem Heiligen Vater die Ehrerbietung verweigerten.

Und auch der Vermummte traf keine Anstalten, das Haupt der Christenheit gebührend zu grüßen. Aufrecht und starr wie eine Säule stand er im Hintergrund, als ginge ihn all das nichts an.

Aus der Gruppe deutscher Hauptleute löste sich ein Mann von vielleicht dreißig Jahren und annehmbarem Aussehen, dessen Kleider trotz des langen Marsches recht sauber und heil erschienen. Er trat vor den Papst und stellte sich in durchaus verständlichem Italienisch als Sebastian Schertlin vor, was allgemeinen Eindruck machte. Ich hatte bereits von dem erfahrenen Soldaten gehört, der sein Handwerk beim alten Frundsberg erlernt hatte. Als studierter Mann verstand der Herr Schertlin sich auf den Umgang mit dem Federkiel ebenso wie auf die Handhabung des Schwertes – was ich mir selbst in aller Bescheidenheit auch zubilligen möchte. Er hatte bei der Vertreibung des Herzogs Ulrich von Württemberg ebenso wie bei der Niederwerfung der deutschen Bauern mitgetan, hatte in den Türkenkriegen und bei Pavia gefochten und war für seine großen Taten in jener bekannten Schlacht zum Ritter geschlagen worden.

Vor dem Papst war er so kühn wie im Felde, unverblümt verlangte er die Zahlung von dreihunderttausend Scudi «als Lohn für meine wackeren Soldaten und die Gefolgschaft meiner Kameraden hier», wie er sich auszudrücken beliebte.

«Als Lohn, sagt Ihr?» Papst Clemens beobachtete ihn mit unverhohlenem Spott. «Nun, wir wüssten nicht, warum wir die Söldner entlohnen sollten, die Kaiser Karl angeworben hat, um den Frieden der Christenheit zu stören. Uns und der Kirche haben sie wohl kaum einen Dienst erwiesen.»

Der Hauptmann Schertlin erwiderte ruhig und ernst: «Nicht für einen bereits geleisteten Dienst verlangen wir den Lohn, sondern für einen, den wir noch erbringen werden.»

«Ihr sagt seltsame Dinge, Hauptmann.» Clemens blickte in die Runde und erntete von den Mutigsten seiner Gefolgschaft ein pflichtschuldiges Lächeln. «Gewiss könnt Ihr uns sagen, worin dieser wichtige zukünftige Dienst bestehen soll.»

«Das ist leicht erklärt: Wenn wir das geforderte Geld erhalten, das uns für Hunger, Kälte, Regen und Mühsal entschädigt, werden wir von Rom abmarschieren, ohne dass auch nur einem Menschen in der Stadt ein Leid geschehen ist.» Handelte es sich auch um bedeutungsschwere Worte, blieb Sebastian Schertlin dabei doch so ruhig, als habe er lediglich einen Becher Wein und ein Stück Fleisch bestellt.

Der Papst beugte sich vor, und ein lauernder Ausdruck trat in sein Gesicht. «Und was habt Ihr für den Fall anzukündigen, dass wir Eurer unverschämten Forderung nicht nachkommen?»

«Wir werden diese Stadt einnehmen und zerstören, und alle, die in ihr wohnen, werden sterben. Mit ihrem Hab und Gut ist unser Sold gesichert.»

«Und Ihr meint, wir werden uns nicht verteidigen?»

«Ihr werdet uns nicht lange standhalten», antwortete Schertlin in einem Tonfall, in dem man unverrückbar feststehende Tatsachen verkündet. «Fünf oder zehn von uns kommen auf einen von euch. Wir haben nichts zu verlieren, sind hungrig und wollen endlich unseren Sold.»

«Wenn Ihr die Summe erhaltet, ist der Rückzug Eurer Truppen dann gewiss?»

Der Hauptmann nickte. «Der Prinz von Oranien und der Herzog von Bourbon verbürgen sich dafür.»

Clemens stieß einen schweren Seufzer aus. «Eure Forderung ist ungerecht und überzogen, aber wir wollen ein Blutvergießen vermeiden und erklären uns bereit, zweihunderttausend Scudi an Eure Männer auszuzahlen.»

«Dreihunderttausend!»

«Das ist zu viel!», rief der Papst voller Wut. Jede Selbstbeherrschung war von ihm abgefallen.

«Eher zu wenig in Anbetracht der Strapazen, die wir auf uns nahmen, um nach Rom zu kommen.»

«Niemand hat Euch gerufen!»

«Und doch sind wir hier, und nur mit dreihunderttausend Scudi in den Taschen gehen wir wieder fort.»

«Ihr seid unverschämt!»

«Und in der Überzahl.»

Clemens sank auf seinen Stuhl zurück und sagte leise:

«Dreihunderttausend Scudi können wir nicht aufbringen. Nehmt die angebotenen zweihunderttausend oder versucht Euer Glück in der Schlacht.»

«Das werden wir, und das Glück wird mit uns sein.»

«Aber nicht Gott!», schrie der Heilige Vater durch den Saal, und es klang wie ein Fluch. Ein paar der spanischen und italienischen Hauptleute zuckten unübersehbar zusammen.

Da trat der Vermummte vor und streifte seine Kapuze ab. Der Anblick seiner harten Züge zog Kardinäle, Bischöfe, Ritter und Soldaten gleichermaßen in den Bann. Sie alle starrten ihn an wie eine Ausgeburt des Teufels. Und seine Stimme, kalt und klirrend wie zwei zusammentreffende Klingen, unterstrich diese Wirkung noch: «Eure Heiligkeit mögen gestatten. Es gibt für Euch eine Möglichkeit, die fehlenden hunderttausend Scudi auszugleichen.»

Der Auftritt des Mannes war umso wirkungsvoller, als er sich bislang völlig ruhig verhalten hatte. Es war, als sei ein Dämon aus dem Nichts aufgetaucht und mitten unter die Versammelten gefahren. Auch der Heilige Vater, unser Papst, war weit davon entfernt, seine ruhige, überlegene Haltung zurückzugewinnen.

«Sprecht!», forderte er den Fremden, der sich nicht einmal vorgestellt hatte, mit krächzender Stimme auf.

«Verzeiht meine Vorsicht, aber was ich zu sagen habe, ist allein für die Ohren Eurer Heiligkeit bestimmt.»

Diese Worte trugen dem Mann in der dunklen Kutte missmutige, wenn nicht feindselige Blicke der kaiserlichen Hauptleute ein, doch keiner von ihnen wagte es, seinen Unmut in Worte oder gar Taten zu kleiden.

Auch das Gesicht des Papstes verfinsterte sich. «Ihr und Eure Begleiter habt mich schon genug verhöhnt, so braucht Ihr auch jetzt keine Rücksicht zu nehmen. Sagt ruhig vor allen, was Ihr vorzubringen habt.»

Statt zu antworten, trat der Unbekannte flink unter den Baldachin und beugte sich über den Heiligen Vater. Kaspar Röist, Herkules Göldli und ich sprangen augenblicklich hinzu, die beiden Erstgenannten mit gezücktem Schwert, ich mit der Hellebarde, deren Spitze ich gegen den Hals des Fremden drückte.

«Rührt Euch nicht, sonst stoß ich zu!», fuhr ich ihn an und war bereit, meine Warnung mit Blitzesschnelle in die Tat umzusetzen.

Meine übrigen Kameraden hatten ihre Klingen gegen die Hauptleute gerichtet, und für bange Augenblicke sah es so aus, als sollte die Unterhandlung in einem Gemetzel enden.

Der schwarz Gewandete verzog den Mund zu einem schiefen, freudlosen Lächeln. «Deine Entschlossenheit ehrt dich, Schweizer, aber ich habe nicht vor, Seiner Heiligkeit Gewalt anzutun. Ich bin nicht einmal bewaffnet. Nur um zu vermeiden, dass meine geheimen Worte an unbefugte Ohren dringen, näherte ich mich dem Heiligen Vater.»

Langsam streckte er seine Hände aus den weiten Ärmeln, um zu zeigen, dass er keine Waffe in ihnen verborgen hielt.

«Wir danken dir, mein Sohn», sprach Papst Clemens mich an.

«Aber wir glauben diesem Fremdling. Wenn er seine Worte unbedingt flüstern will, so soll er es tun.»

Zögernd wich ich zurück und ebenso zögernd folgten mir unser Hauptmann Kaspar Röist und sein Leutnant Herkules Göldli. Wachsam und mit Sorge beobachteten wir, dass der Schwarze sich über unseren Heiligen Vater beugte wie ein riesenhafter Rabe, der nach seiner Beute pickt. Für einen Augenblick meinte ich wirklich, der Fremde werde Seine Heiligkeit auf der Stelle verschlingen, und kalte Schauer rieselten mir über den Rücken.

Der Papst war unversehrt, als der Schwarze wieder neben die Hauptleute trat, jedenfalls äußerlich. Sein Gesicht aber war aschfahl geworden, die Augen flackerten wie die eines in die Enge getriebenen Wildes, und die Hände umfassten in krampfhaften Zuckungen die Armlehnen seines Stuhls. Jetzt blickte auch er den Fremden an wie den Leibhaftigen.

«Nun», sagte der Unheimliche mit forderndem Unterton. «Wie steht Eure Heiligkeit zu dem Vorschlag?»

Unser Heiliger Vater rang nach Luft und musste mehrmals ansetzen, bis seine bebenden Lippen endlich die Worte formten:

«Wer … wer seid Ihr? Und woher wisst Ihr das?»

«Mein Name ist nicht wichtig, doch wenn es Euch gefällt, so nennt mich Abbas de Naggera. Woher ich es weiß, ist ebenso wenig von Belang. Von Bedeutung ist nur, dass ich es weiß!»

«Ihr könnt es nur wissen, so Ihr mit den bösen Mächten im Bunde seid!»

Der Schwarze stieß ein triumphierendes Lachen aus. «Dann gebt Ihr also zu, dass ich die Wahrheit traf!»

Clemens biss auf seine Unterlippe und schwieg. Als er sich wieder gefangen hatte, sagte er: «Was Ihr sucht, befindet sich nicht hier. Ich habe es fortschaffen lassen, als der Heerhaufen in die Nähe von Rom gelangte.»

«Ihr solltet wissen, dass sich versündigt, wer lügt, Heiligkeit.»

Der Papst wollte etwas erwidern, aber der dreiste Kerl, der sich Abbas de Naggera nannte, schnitt ihm das Wort ab: «Ich weiß, dass Ihr lügt. Und meine Geduld ist am Ende. Also antwortet mir: Geht Ihr auf meinen Vorschlag ein oder nicht?»

Es gab niemanden im Konsistorium, dessen Augen nicht am Heiligen Vater gehangen hätten. Mochte auch keiner außer ihm und dem Herrn de Naggera wissen, worüber sie stritten, so waren zwei Dinge doch uns allen klar: Was der Schwarze vorgeschlagen hatte, war so ungeheuerlich, dass Clemens nicht darauf eingehen konnte. Und ging er nicht auf den Vorschlag ein, würde er Rom und womöglich alle Menschen in dieser Stadt der Raubgier und Mordlust des verwahrlosten Söldnerhaufens opfern.

Lange schien es, als könne der Papst sich nicht zu einer Entscheidung durchringen. Doch dann richtete er sich mit einer ruckartigen Bewegung auf, als wollte er aufspringen und seinen Widerpart zu Boden schmettern.

«Ich kann nicht tun, was Ihr verlangt!»

«Dann stirbt Rom», erwiderte der andere.

«Vielleicht wird Rom sterben, aber eines ist sicher: Eure schwarze Seele wird niemals ins Himmelreich gelangen, nicht in tausend Jahren!»

«Ihr mögt Recht haben», sagte Abbas de Naggera ernst. «Aber wo immer ich für meine Sünden büße, Ihr werdet nicht fern sein, Heiligkeit.»

Mit dieser Dreistigkeit wandte er sich zum Gehen, und die Hauptleute schlossen sich ihm an. Als wir die Gesandtschaft aus dem Vatikan reiten sahen, ahnte ich, dass uns Schreckliches bevorstand. Aber noch lagen die Abendschatten zwischen uns und dem blutigen sechsten Mai. Dem Tag, an dem die meisten meiner Kameraden sterben und ich die Bekanntschaft des unglückseligen Goldschmieds Cellini machen sollte.

Lange nachdem die Gesandten des Herzogs von Bourbon längst jenseits unserer Mauern verschwunden waren, stand Papst Clemens der Schrecken noch ins Gesicht geschrieben. Nicht der Schrecken angesichts dessen, was Rom und uns allen drohte, sondern die Furcht vor dem, was Abbas de Naggera ihm zugeraunt hatte. Allen, die Zeugen dieser Begegnung gewesen waren – den Kardinälen und Bischöfen, den Sekretären und uns Guardiknechten –, verlangte er das Versprechen ab, darüber stillzuschweigen. Und wenn ich diesen Geheimen Bericht dennoch verfasse, so deshalb, weil ich glaube, die Kenntnis über die merkwürdigen Ereignisse im Jahre des Herrn 1527 könnte eines fernen Tages von Wichtigkeit sein. Ich ergreife die Feder in der festen Absicht, dass niemand diese Aufzeichnungen zu lesen bekommt außer meinen Söhnen und deren Söhnen. Sie mögen, so schwer sie auch an der Verantwortung vor sich und Gott dem Allmächtigen zu tragen haben werden, entscheiden, ob sie anderen davon künden sollen oder nicht.

Es ward Nacht, und der Heilige Vater und seine hohen Würdenträger beteten und sangen in der Sixtinischen Kapelle zu Gott dem Herrn um Gnade und Beistand. In bitterem Gegensatz zu ihren heiligen Gesängen stand der Lärm aus der Stadt, diesseits und jenseits der Mauern, wo Verteidiger und Belagerer ihre Vorkehrungen trafen. Vom Hügel des Janikulus, den die Landsknechte und Söldner eingenommen hatten, glomm der Schein unzähliger Feuer Unheil verkündend zu uns herüber. Wir schliefen wenig in dieser Nacht. Auch wer nicht Wache hielt, tat kaum ein Auge zu und dachte bang an das, was der Morgen unweigerlich über Rom bringen würde – den Ansturm der wüsten Meute.

Kaum schob sich blasses Morgenrot über die östlichen Dächer und Zinnen, da griff der Feind von allen Seiten an. Angetrieben von Trommelschlag und Flötenklang, von Kriegsgeschrei und Spottgesang, wälzte er sich in so großer Zahl und mit solcher Macht vorwärts, dass der Fall unserer Mauern nichts anderes war als eine Frage verrinnender Stunden.

Die Männer des Herzogs von Bourbon waren über Nacht nicht untätig gewesen und hatten sich aus Weidenruten und den Latten zerbrochener Zäune einfache, aber höchst nützliche Sturmleitern gebaut. Schnell erreichten sie den Tiber, und nur die braunen Fluten hielten sie dort auf. Trossknechte plünderten die Wassermühlen und schleppten schwere Getreidesäcke an Land, bevor sie Feuer an die Gebäude legten. Die Kaiserlichen brachten erbeutete Geschütze in Stellung und erwiderten unseren Beschuss, der große Lücken in ihre Reihen riss.

Doch Gott im Himmel schien uns verlassen zu haben. Er sandte dichten Morgennebel aus, der den Männern an unseren Geschützen das Zielen unmöglich machte. Verhüllt von den grauen Schwaden konnten die Feinde den Ponte Sisto überqueren und ins Borgo-Viertel eindringen. Nur der Kampf Mann gegen Mann hätte sie jetzt noch aufhalten können, doch dazu waren wir viel zu wenige. Und der Morgennebel hatte sich noch nicht verzogen, als die Feinde der Christenheit in den Vatikan einfielen.

«Der Papst!», schrie Hauptmann Röist, als die Angreifer Sankt Peter und den Vatikanpalast bedrängten. «Bringt unseren Heiligen Vater in Sicherheit, in die Engelsburg!»

Der trutzige Koloss von Castel Sant’Angelo reckte seine mächtigen Mauern durch den Nebeldunst wie ein ungeschlachter Riese. Schon einige Monate zuvor, als die aufrührerischen Herren von Colonna durch Rom zogen, hatte Seine Heiligkeit sich dort mit Erfolg verschanzt. In der Burg lagerten Vorräte und Munition für lange Zeit. Im Verlauf der letzten Nacht waren viele große Truhen mit den Habseligkeiten des Papstes und seiner Kardinäle in die Festung geschleppt worden. Alles war vorbereitet, das Haupt der Christenheit erneut an den sicheren Ort zu bringen.

«Wo ist Papst Clemens?», fragte Kaspar Röist besorgt.

«Er betet in der Sixtinischen Kapelle, immer noch oder schon wieder», antwortete Herkules Göldli.

«Dann geht zu ihm und bringt ihn zur Engelsburg», befahl der Hauptmann. «Und benutzt den Passetto!»

Der Passetto, der kleine Korridor, war ein Teil der alten Stadtmauer Papst Leos IV., den Papst Nikolaus III. zu einem ver-deckten Gang ausbauen ließ, welcher den Vatikan mit der Engelsburg verband. Oben standen römische Bogner und Arkebusiere auf der bezinnten Mauer und schleuderten Pfeile und Bleikugeln in die Menge der immer zahlreicher herandrängenden Feinde.

Während der Leutnant Göldli mit einer Schar von Guardiknechten zur Sixtinischen Kapelle eilte, warf der Hauptmann Röist sich den heranrückenden Landsknechten entgegen. Dass es Deutsche waren, verriet das laute Geschrei, mit dem sie diesen Luther zum Papst ausriefen.

Ich selbst hatte von Röist den Befehl erhalten, mich mit einer Rotte Männer in Reserve zu halten, um mögliche Lücken in unserem schwachen Verteidigungsring zu schließen. Und das war auch bitter nötig, denn die Schar des Hauptmanns wurde rücklings von einer zweiten Gruppe Feinde eingeschlossen. Jetzt war es an meinen wenigen Männern und mir, den Hauptmann und die Seinen zu retten.

Es war ein wüstes Durcheinander, ein einziges Hauen und Stechen, und schon bald waren unsere Klingen und Rüstungen, unsere Hände und Gesichter blutverschmiert. Rings um mich herum starben die Kameraden mit der Tapferkeit wahrer Schweizer.

Als ich mir mit der Hellebarde einen Weg durch die Landsknechte gekämpft hatte, sah ich meinen Hauptmann. Aus mehreren Wunden blutend, war er in die Knie gesunken. Zwei Landsknechte, von denen einer den Bidenhänder und der andere den langen Spieß führte, bedrängten ihn, und er verteidigte sich mühsam mit Schwert und Dolch. Gerade hatte er die breite Klinge des Bidenhänders abgewehrt, da wollte der Spießer in seinem Rücken ihm den Todesstoß versetzen. Ich stürmte vor und stieß einen lauten Schrei aus, um seine Aufmerksamkeit von Kaspar Röist abzulenken.

Der rotbärtige Spießer bemerkte mich und ließ tatsächlich vom Hauptmann ab, um sich mir zuzuwenden. Das linke Bein vorgereckt, übte er einen Ausfall und streckte mir die blutige Eisenspitze seiner Waffe entgegen, als sei ich dumm genug, geradewegs hineinzurennen. Ich hatte den Punkt genau berechnet, an dem ich meinen Ansturm beenden musste, um dem Stoß zu entgehen. Kaum stand ich, da sauste auch schon meine Hellebarde auf den Schaft des Spießes herab, und mein gekrümmter Reißhaken entriss dem erstaunten Landsknecht seine Waffe.

Strauchelnd ging er zu Boden. Als er sich ächzend erhob und nach dem Schwert an seiner Seite fasste, war ich längst bei ihm.

Das stählerne Beil meiner Hellebarde, das auf seinen Rücken krachte, spaltete den Plattenharnisch in zwei Teile. Wieder wurde der Rotbart auf den Boden geschleudert, bäuchlings lag er zu meinen Füßen. Mit dem nächsten Schlag drang meine Hellebarde so tief in seinen Rücken ein, dass ich die Knochen bersten hörte. Ein wildes Zucken lief durch seinen Leib, dann lag er still und tot vor mir.

Und Kaspar Röist?

Auch er lag am Boden, inmitten einer unaufhörlich größer werdenden Blutpfütze. Neben ihm war der Landsknecht niedergestreckt, der den Bidenhänder geführt hatte. Seine Hände umklammerten den Schwertknauf noch, aber in seiner Kehle klaffte eine tiefe Wunde.

Als ich mich über meinen Hauptmann beugte, schlug er, dessen Wunden nicht zu zählen waren, die Augen auf und fragte mit leiser, zitternder Stimme: «Wo ist der Heilige Vater?»

Ich blickte zum Passetto hinüber und sah Herkules Göldli mit den Seinen nahen. Bei ihnen befanden sich Kardinäle und Bischöfe sowie Papst Clemens, der auf einem großen Schimmel saß. Fabien Maurois, der französische Stallknecht des Heiligen Vaters, führte das Tier am Zügel. Vermutlich hatte man den Schimmel geholt, damit Seine Heiligkeit im Falle einer Gefahr leichter entkommen konnte. Ich hielt es dennoch für keinen guten Einfall, gab man Clemens auf diese Weise den Blicken des Feindes doch allzu deutlich preis.

«Er wird gleich in Sicherheit sein», beruhigte ich den Hauptmann, um den es schlecht bestellt war. Nur sofortige Ruhe und Pflege konnten ihm noch helfen. Ihn durch den langen Fluchtweg bis zur Engelsburg zu bringen war zu gefährlich.

Gottlob hatten unsere Schweizer die Landsknechte samt und sonders niedergemacht, wenn auch um den Preis schrecklicher Verluste. Ich rief drei Männer herbei und beauftragte sie, den Hauptmann in sein Quartier und in die Obhut seiner Gemahlin, der Frau Elisabeth Klingler, zu bringen. Sie trugen ihn davon, und es war das letzte Mal, dass ich Kaspar Röist sah. Später kam mir zu Ohren, dass eine Meute Spanier den Verwundeten vor den Augen seiner Gemahlin auf grausame Weise niedergemetzelt hatte.

Diese spanischen Teufel!

Sie erwiesen sich als hundertmal schlimmer als die deutschen Landsknechte. So auch jetzt, als plötzlich eine Schar von ihnen der Gruppe um den Heiligen Vater entgegenstürmte, ohne Kriegsruf und Schlachtgesang, was sie noch viel unheimlicher erscheinen ließ. Und dann sah ich, was sie antrieb: Ein Mann in schwarzer Kutte, wohl kein anderer als Abbas de Naggera, stand hinter dem Haufen und zeigte mit ausgestrecktem Arm auf Seine Heiligkeit.

Herkules Göldlis Mannen gerieten in arge Bedrängnis, obschon der hünenhafte Leutnant, der den Namen des wackeren Halbgottes mit vollem Recht trug, den Bidenhänder in einem fort kreisen ließ und einen Angreifer nach dem anderen mit zerfetzter Brust, zerrissener Kehle oder abgeschlagenem Haupt niedermähte. Doch die Spanier kannten kein Zögern und kein Zaudern, als hätte der unheimliche Schwarze ihnen durch einen geheimen Zauber jede Furcht genommen. Vielleicht aber war der Schrecken, der von ihm ausging, auch viel größer als jede Todesfurcht.

Der Schimmel scheute und durchbrach mit lautem Wiehern die Reihen der unermüdlich Kämpfenden. Hätte Papst Clemens sich nicht an der Mähne festgehalten, wäre er wohl aus dem Sattel geschleudert worden. Einige Spanier verfolgten ihn.

Ich sammelte die wenigen Männer um mich, die aus meiner Rotte und des Kaspar Röists Schar noch übrig und zum Kämpfen in der Lage waren, und wir eilten dem Heiligen Vater entgegen.

Ein Spanier blieb stehen, legte die Armbrust an, zielte kurz und schoss. Schon glaubte ich den Heiligen Vater verloren, doch der Bolzen fuhr in den Hals des Schimmels. Das Ross strauchelte unter verzweifeltem Gewieher und kam zu Fall.

Papst Clemens wurde aus dem Sattel geschleudert und stieß gegen eine Mauer.

Zwei Feinde sprangen über das kläglich schreiende, sich am Boden wälzende Ross und erreichten den sich mühsam aufsetzenden Papst als Erste. Ungehindert hätten sie mit ihren blutverschmierten Klingen sein Leben auslöschen können, aber seltsamerweise schienen sie das nicht zu wollen. Sie zerrten den Papst auf die Füße, wollten ihn offenbar lebendig fangen. Als Clemens das erkannte, wehrte er sich und riss sich los. Er stolperte und fiel abermals an der Mauer zu Boden.

Mit zwei Gefährten, dem Hans Gutenberg aus Chur und dem Ueli Zaugg aus Glarus, erreichte ich den Schauplatz. Unsere Übermacht schien für den Heiligen Vater die Rettung zu sein.

Da blieb der Ueli mit einem erstickten Aufschrei stehen, ließ sein Schwert fallen und fasste mit beiden Händen an seinen Kopf. Der spanische Armbruster hatte nachgeladen und seinen Bolzen meinem Kameraden ins linke Auge gejagt. Der Unglückliche fiel zu Boden und wand sich in heftigen Schmerzen. Der verwünschte Armbruster ließ die Waffe fallen und zog einen Katzbalger, um seinen Kameraden zu Hilfe zu eilen. Nun war die Übermacht auf deren Seite.

Der Gedanke an meinen verwundeten Gefährten machte mich rasend, und ich sprang dem Armbruster entgegen. Meine Hellebarde besaß eine größere Reichweite als sein Schwert.

Noch bevor er seine Kameraden erreichte, durchtrennte meine Beilklinge seinen Hals, und sein Haupt rollte über den Boden.

Der kopflose Spanier, aus dessen Hals das Blut sprudelte, blieb aufrecht stehen und hob noch den Katzbalger zum Schlag, bevor er endlich zusammenbrach und sein verdientes Ende nahm.

Hans Gutenberg musste derweil sich und den Papst gegen die beiden anderen Feinde verteidigen. Als er abermals die Hellebarde schwang, um den Schwerthieb des einen abzuwehren, erachtete der andere Spanier die Gelegenheit für günstig, den Hans mit seiner Partisane zu durchbohren. Ich kam gerade noch zur rechten Zeit und konnte den Partisanenschaft mit einem schnellen Hieb zerschmettern. Während der hohlwangige Söldner überrascht auf seine zerbrochene Waffe starrte, rammte ich ihm meine Stahlspitze in den Unterleib. Er brach zusammen und jaulte wie ein geprügelter Hund.

Nun hatte Gutenberg sich von dem zweiten Spanier gelöst und riss ihn mit dem Hellebardenschaft von den Füßen. Eine geschickte Drehung und ein daraus hervorgehender Schlag mit der Beilklinge, und er spaltete dem Söldner das Haupt.

Unser Heiliger Vater dankte Hans und mir mit überschwänglichen Worten.

Noch einmal hatten es unsere tapferen Schweizer Guardiknechte geschafft, den Feind zurückzudrängen. Der Weg zum Passetto war frei, der düstere Abbas de Naggera nirgends mehr zu erblicken. Als habe er sich in Luft aufgelöst, nachdem sein finsterer Plan fehlgeschlagen war. Tote und Verwundete bedeckten den heiligen Boden des Vatikans. Darunter viele, die manches Mal Seite an Seite mit mir gefochten hatten. Ein ganzer Haufen Gefallener lag nahe der Basilika rund um den großen Obelisken mit der goldenen Kugel, in der die Asche des Julius Caesar ruhte.

Vergebens suchte ich nach der Leiche des düsteren Spaniers und eine unheilvolle Ahnung beschlich mich: Er war weder gefallen noch geflohen, vielmehr hatte er sich zurückgezogen, um mit stärkerer Söldnermacht zurückzukehren. Abbas de Naggera wollte Papst Clemens zweifellos lebendig in seine Gewalt bringen, aus einem Grund, den wohl nur sie beide kannten.

Das laute Krachen einer Kanone irgendwo in unserer Nähe riss mich aus meinen Betrachtungen und ich rief: «Hans, wir müssen die Gelegenheit nutzen. Bringen wir Seine Heiligkeit in die Engelsburg!»

Mit meinem Schwert beendete ich die Qualen des Schimmels.

Auch Ueli Zaugg lag noch wimmernd am Boden, die Hände vors Gesicht gepresst. Zögernd hielt ich das Schwert über ihn, doch dann stieß ich es zurück in die Scheide. Ich brachte es nicht über mich, den Waffenbruder zu erlösen. Wir konnten ihn nicht mit uns nehmen, mussten unsere ganze Aufmerksamkeit dem Papst widmen, dem jederzeit neue Gefahr drohen konnte.

Er hatte sich beim Sturz am Bein verletzt und Hans Gutenberg stützte ihn. Ich ging mit wachsam erhobener Hellebarde voran, und wir erreichten den Passetto gerade rechtzeitig, um einem neuen spanischen Sturmangriff zu entkommen.

Bevor ich in das kühle Gemäuer des Fluchtgangs eintauchte, erkannte ich draußen noch Abbas de Naggera, der jetzt im Sattel eines Rappen saß und seine Männer mit lautem Schreien antrieb.

Er begriff, dass seine Beute ihm entwischt war, und sein zorniger Blick erschien mir schlimmer als das Mündungsfeuer einer Feldschlange.

Die Schützen über uns auf der Mauer hielten die Spanier auf, während unter dem Befehl des Herkules Göldli der Rest der Guardiknechte den Passetto betrat und den Fluchtweg hinter sich verschloss. Endlich erreichten wir die Engelsburg, wo sich Soldaten und geflohene Römer ängstlich zusammendrängten. Der Anblick des geretteten Papstes gab ihnen neuen Mut. Mir aber war elend ums Herz, als Herkules Göldli uns zum Zählappell antreten ließ: Von 189 Schweizern waren nur 42 übrig.

Der Vatikan war in Feindeshand, und über dem Palast wehte Kaiser Karls gelbe Flagge mit dem doppelköpfigen schwarzen Adler. Außer den festen Mauern der Engelsburg schien ganz Rom von den Kaiserlichen überrannt. Die Morgennebel hatten sich verzogen, als ich neben Herkules Göldli und Hans Gutenberg auf der Matthäus-Bastion stand und Ausschau hielt.

Überall loderten Feuer und stiegen Rauchsäulen auf, die sich über Rom zu finsteren Wolken zusammenballten.

Vergebens trachteten die Feinde danach, auch die Engelsburg zu nehmen. Ohne Unterlass schlugen unsere Geschütze breite Breschen in die Scharen von Söldnern und Landsknechten. Das Haupttor der Burg stand offen und gewährte den Schutz suchenden Römern Einlass. Armselig und bemitleidenswert wirkten die verängstigten, von Wunden gezeichneten und vom Feuer geschwärzten Gestalten, die sich, oft mit letzter Kraft, durch den Toreingang schleppten.

Während unsere Bastionen mit ihren Hauptbüchsen, Kartaunen, Haufnitzen und Feldschlangen die Masse des Feindes von der Engelsburg fern hielten, versuchten kleine, teils berittene kaiserliche Stoßtrupps, die den Geschossen zu entgehen vermochten, im Schutz des Flüchtlingsstroms in unsere Festung einzudringen. Einer dieser Trupps – schon wieder die verwünschten Spanier – gelangte gar bis vor das Tor.

Es war eine Reiterschar und in ihrer Mitte erblickte ich Abbas de Naggera. Er trug noch die schwarze Kutte, aber die Kapuze war ihm vom Haupt gerutscht.

Ich ließ Göldli und Gutenberg einfach stehen und rannte, einen unchristlichen Fluch ausstoßend, über den Wehrgang zum Tor, wo ich den Torhüter anbrüllte, er solle endlich das Fallgitter herunterlassen.

Tatsächlich hatte sich die Schar des finsteren Spaniers erklecklich vergrößert. Ein ganzer Haufen Fußkämpfer hatte sich, wie aus dem Nichts gekommen, zu ihm gesellt. Vermutlich hatten sie sich als Flüchtlinge ausgegeben. Allein unseren Armbrustern, die in den beiden Prozessionskapellen am Brückenkopf postiert waren und deren Bolzen reiche Ernte unter den Spaniern hielten, war es zu verdanken, dass die listigen Angreifer nicht durch das Tor kamen.

Endlich rasselte das Fallgitter zu Boden, und die letzten Flüchtlinge gelangten gerade noch hindurch. Das scharfe Gesicht des Herrn de Naggera, der abermals so kurz vor dem Ziel gescheitert war, verzerrte sich vor Wut.

Ich entriss einem Arkebusier zu meiner Linken, der gerade nachgeladen hatte, die Waffe und legte auf den Spanier an. Eins glaubte ich fest: Dieser Mann war ein Dämon, oder doch zumindest beinahe. Ihn vom Antlitz dieser Erde zu tilgen schien mir ein größeres Verdienst zu sein als das Töten von hundert Söldnern. Kaum sah ich den Schwarzen vor meinem Lauf, drückte ich ab.

Eine Pulverwolke hüllte mich ein und biss in meine Augen, dass sie tränten. Als ich wieder klar sehen konnte, hatte Abbas de Naggera alle Mühe, sein scheuendes, aufsteigendes Ross wieder unter seinen Befehl zu bringen. Offenbar war meine Kugel dicht bei dem Rappen eingeschlagen.

«Der Schuss war nicht schlecht, aber viel zu hastig ausgeführt», posaunte eine muntere Stimme in meinem Rücken.

Sie gehörte einem mit jungenhafter Frische auftretenden Burschen, unter dessen schief sitzender Mütze sich unbändige Locken hervorkringelten. Seine eigentlich ausgesuchte Kleidung war schmutzig und an einigen Stellen zerrissen, sein Gesicht pulvergeschwärzt. In der Hand hielt er eine Arkebuse mit spiegelglattem Rohr. «Ihr habt alle Anlagen zu einem guten Schützen, mein guter Schweizer, aber Ihr müsst noch lernen, Euch nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. Hättet Ihr ein wenig länger gezielt, hättet Ihr statt zwischen die Hufe des Rappen genau zwischen die Augen des Reiters getroffen. Ich nehme doch an, dass Ihr es auf den seltsamen Kauz im Kapuzenmantel abgesehen hattet.»

«Ja, das hatte ich», brummte ich.

Es ärgerte mich, dass ich den Schuss vertan hatte. Abbas de Naggera hatte sein Ross wieder in der Gewalt und zwang es von unserer Burg fort in Richtung Vatikan. Seine Männer folgten ihm. Ich war sicher, dass ich ihm nicht zum letzten Mal begegnet war.

Zudem ärgerte es mich, dass der freche Kerl, der mit der letzten Flüchtlingsgruppe hereingelangt war, sich anmaßte, mir Ratschläge zu erteilen. Er war keineswegs ein Soldat, sondern ein Goldschmied und Bildhauer. Ich kannte sein Gesicht und seinen Namen, weil er für Papst Clemens arbeitete. Benvenuto Cellini stammte aus Florenz, wo er sich jedoch, wie man erzählte, wegen allerlei Händel nicht blicken lassen durfte.

Allerdings trug er die Arkebuse nicht zur Prahlerei mit sich herum. Er sollte ein beachtlicher Schütze sein und war während der großen Pest, um der verseuchten Stadt zu entfliehen, in die Ruinen gegangen, wo er seine Schießkünste bei der Jagd auf Tauben vervollkommnet hatte.

«Dieser seltsame Spanier auf dem Rappen scheint der Anführer der Meute gewesen zu sein, ein wichtiger Mann offenbar.»

Cellini plauderte drauflos, als sei dies ein Tag wie jeder andere, als seien wir nicht von Tausenden Feinden umgeben. «Wirklich zu schade, dass Ihr nicht getroffen habt, sonst hätten diese Hunde da draußen heute zwei gewichtige Führer verloren.»

«Wie meint Ihr das?», brummte ich unwillig.

«Nun, da Ihr so freundlich fragt, werde ich es Euch gern erzählen.» Er stellte sich in Positur, als wollte er seine Botschaft einer riesigen Menge verkünden. «Heute Morgen war ich im Haus des Alessandro del Bene, der mich und meine Freunde gebeten hatte, sein Anwesen zu bewachen. Mein Freund Alessandro und ich, wir gingen mit zwei Begleitern auf Kundschaft, um herauszufinden, wie weit die kaiserlichen Mörder vorgerückt waren – und wären am Campo Santo beinahe mitten unter sie geraten. Wir dachten daran, uns zu unserer Sicherheit zurückzuziehen, aber ich wollte das Feld nicht kampflos räumen und schlug vor, dem gottverfluchten Feind wenigstens eine hübsche Salve hinüberzuschicken. Es wurden sogar zwei Salven daraus, wobei ich auf einen Mann zielte, der sich trotz des Nebels deutlich über die anderen erhob. Vielleicht saß er zu Pferd, vielleicht sah ich ihn auch deshalb so deutlich, weil er ein weiß leuchtendes Gewand über seiner Rüstung trug.

Der Mann fiel und seine Leute machten ein gehöriges Geschrei darum. Auf dem Rückzug teilte ein römischer Soldat uns mit, dass mein Blei in den heimatlosen Herzog gefahren war.»

«In den Herzog Karl von Bourbon?», fragte ich atemlos.

Cellini lächelte selbstzufrieden. «In ebenden.»

«Und … ist er tot?»

«Seine Verwundung war so schwer, dass er ihr bald erlegen ist. Wenn Ihr mich fragt, hätte der Anführer dieser Schändermeute ruhig länger leiden können.» Cellini stieß einen tiefen Seufzer aus. «Sei’s drum. Gottlob, und das ist die Hauptsache, ist er hinüber!»

Er schien sich wahrlich zu freuen, mir aber schwante Böses.

Seit Georg von Frundsberg seine Landsknechte verlassen hatte, geriet der Söldnerhaufen immer mehr aus der Ordnung. Unsere Kundschafter hatten berichtet, dass Frundsberg im März vergeblich versucht hatte, seine über das Ausbleiben ihres Soldes erbosten Knechte zu beschwichtigen. Ihr Aufruhr hatte ihn derart erregt, dass ihn der Schlag getroffen hatte. Seiner Sprache und Kraft beraubt, hatte der alte Jörg zurück nach Ferrara gebracht werden müssen. Seitdem hatte Karl von Bourbon das Heer mehr schlecht als recht geführt. Die Männer schienen ihm nur zu gehorchen, weil es ihnen eben gefiel. Immerhin, er wäre wohl der Einzige gewesen, dessen Stimme sie von den schlimmsten Gräueltaten abgehalten hätte. Nun, da er nicht mehr war, sah ich jede Hoffnung für Rom schwinden. Und für uns.

Das dümmliche Grinsen Cellinis verriet, dass er die Tragweite seiner eitlen Tat nicht erfasste. Darum sagte ich zu ihm: «Wir müssen beide lernen. Ich schieße, ohne zu zielen, und Ihr, ohne zu denken.»

Ein merkwürdiger Blick traf mich, als brauche der Dummkopf Zeit, meine Worte zu verstehen. Sein Lächeln erstarb. «Ihr seid doch bloß neidisch, Schweizer. Am liebsten würde ich Euch fordern!»

Ich wies über die Brüstung hinaus zur anderen Seite des Flusses. «Fordert lieber die da drüben. Die weisen Euch bestimmt nicht ab.»

«Neidhammel!», keifte er, nahm seine Arkebuse hoch und stiefelte davon.

Ich blickte hinüber zum anderen Ufer des Tibers, wo die Kaiserlichen durch die Gassen strömten und unzählige Häuser in Rauch aufgingen. Mir dämmerte, dass dieser schreckliche sechste Mai erst der Anfang des Übels war. Doch ahnte ich nicht, welche Gefahren vor mir lagen und dass dieser Geck Cellini in meinem Abenteuer eine wichtige Rolle spielen sollte.

5

Mittwoch, 6. Mai

Irgendein kritischer Geist hatte einmal gesagt, wenn diese Halle den Eingang zum Himmelreich darstelle, dann brauche Gott dringend einen neuen Architekten. Von außen betrachtet wirkte die Nervi-Halle wie ein Kinoalbtraum von Steven Spielberg. Ein gigantisches Raumschiff schien zur Erde niedergeschwebt zu sein und den Vatikan als Landeplatz auserkoren zu haben. Die Ausmaße der Halle waren so gewaltig, dass sie mit zwei Dritteln ihrer Grundfläche über die Grenzen des vierundvierzig Hektar kleinen Stadtstaates hinausragte. Kalt, streng und funktional hoben sich ihre Mauern von den übrigen Gebäuden der Vatikanstadt ab. Das Vorhaben des Architekten Pierluigi Nervi, die von Papst Paul VI. in Auftrag gegebene größte Audienzhalle der Welt in ihr altehrwürdiges Umfeld zu integrieren, war gründlich fehlgeschlagen.

Den Pilgern, die sich in bis weit auf den Petersplatz reichenden Schlangen geduldig auf die Halle zubewegten, war das gleichgültig. Ihnen ging es einzig und allein darum, die erste Generalaudienz des neuen Papstes mitzuerleben. Petrus war gnädig mit den Schäfchen seines Nachfolgers: Seit einer Viertelstunde regnete es nicht mehr und durch die Lücken in der aufgerissenen Wolkendecke blitzten sogar ein paar vorsichtige Sonnenstrahlen.

Obwohl der Andrang in Anbetracht des neu gewählten Papstes und der Schlagzeilen über den Rosin-Mord besonders groß war, herrschte Routine vor. Straßenhändler, die Erfrischungen oder billigen religiösen Andenkenkitsch feilboten, klapperten die Menschenschlangen ab. Hin und wieder tauchten junge Männer und Frauen in den Schlangen ein, um Sekunden später einen Taschendieb in Handschellen zu einem der Polizeitransporter zu führen, die am Rand des Platzes standen.

Auch das war nichts Besonderes. Der Petersplatz gehörte zwar zum Staatsgebiet des Vatikans, aber aufgrund einer in den Lateranverträgen festgehaltenen Vereinbarung mit der italienischen Regierung sorgte hier die italienische Polizei für Sicherheit. Bewaffnete Uniformierte sollten ganz direkt abschreckend wirken, während ihre Kollegen in Zivil die unvermeidliche Plage der Taschendiebe bekämpften.

Vor dem Eingang der Audienzhalle suchten Angehörige der Vigilanza die Taschen der Pilger nach Waffen ab. Jeder musste seine Eintrittskarte vorweisen. Stichprobenartig verlangten die Vigilanzamänner das Vorzeigen der Pässe und überprüften, ob Name, Geburtsdatum und Passnummer auf der Eintrittskarte mit denen auf dem Ausweis übereinstimmten. Jeder, der an einer Generalaudienz des Papstes teilnehmen wollte, musste sich mindestens einen Tag vorher unter Angabe seiner Personalien um eine Eintrittskarte bemühen. Der Vatikan gab die Daten an die italienische Polizei weiter, und die schickte sie auf der Suche nach Terroristen und gewalttätigen Psychopathen durch ihre Fahndungscomputer.

Sobald sie die Kontrollposten passiert hatten, betraten die Gläubigen und die Neugierigen das Innere der Audienzhalle. Sie war einst zur Entlastung des Petersdoms gebaut worden, doch hatte sie mit einer Kirche wenig gemein. Einzig das bunte Glas der beiden ovalen Fenster in den Längswänden verbreitete einen Hauch alter Kirchenbaukunst. Ansonsten wirkte die weiträumige Konstruktion aus Spannbeton von innen genauso kalt und funktional wie von außen.

Zu beiden Seiten eines schräg abwärts führenden Ganges erstreckten sich endlose Reihen von Klappsitzen aus schwarzem und grauem Plastik, höhenmäßig abgestuft wie in einem Theater.

Über sechstausend Menschen fanden hier üblicherweise Platz.

Jetzt allerdings hatte man ein paar tausend Sitze abmontiert, um über eine größere Zahl an Stehplätzen eine Aufnahmekapazität von mehr als zwölftausend Menschen zu erreichen. Zwischen den zweiundvierzig kahlen Doppelbögen, die das gewellte Dach trugen, saßen unzählige kleine Fenster, die das Tageslicht in winzige Inseln diffuser Helligkeit verwandelten. Keine Kruzifixe, keine Fresken oder Wandteppiche mit religiösen Motiven schmückten den Raum.

Der Gang endete nach über achthundert Metern vor einer erhöhten Bühne mit einem Thron für den Papst und Stühlen für hohe geistliche Würdenträger. Nur hinter dem Thron gab es, abgesehen von den farbigen Seitenfenstern, einen Hinweis darauf, dass diese Halle ein Haus Gottes war: die größte Bronzestatue der Welt, das von Pericle Fazzini geschaffene Relief des Auferstandenen Christus.

Die Pilger drängelten nach vorn, um einen der Sitzplätze zu ergattern. Gendarmen der Vigilanza sorgten dafür, dass die für Ehrengäste und Kranke abgesonderten vorderen Sitzreihen frei blieben. Die Vatikanisten besetzten die in die Wand eingelassene Pressetribüne bis auf den letzten Platz. Auch jede der direkt neben der Tribüne liegenden Übertragungskabinen für Rundfunkreporter war belegt. Pressefotografen und Kamerateams verschiedener Fernsehsender tummelten sich am Rand der Bühne und konnten von der Vigilanza nur mühsam zurückgehalten werden. Sämtliche bedeutenden Fernsehkanäle wollten Bilder von der ersten Generalaudienz des neuen Papstes einfangen, einige übertrugen das Ereignis sogar live.

Die Gendarmen schlossen die Tore, als Oberstleutnant von Gunten mit sechs seiner Gardisten vor dem Eingangsbereich aufmarschierte. Die Ehrenwache für den Papst. Ihr gehörten auch Alexander Rosin und Utz Rasser an. Sie trugen Gala: die bunten Medici-Uniformen, weiße Handschuhe und die glänzenden Helme mit den roten Federbüschen. Die auf den ersten Blick sichtbare Bewaffnung bestand aus der Hellebarde und dem an der linken Seite hängenden Schwert. Nur wer genauer hinsah, entdeckte an ihren Gürteln neben kleinen Funkgeräten das Reizgasspray. Bei einer so gewaltigen Menschenmenge, wie sie an diesem Tag in der Audienzhalle versammelt war, musste man jederzeit mit einem Zwischenfall rechnen.

Riccardo Parada, der einen grauen Dreiteiler trug, trat auf die Gardisten zu und begrüßte von Gunten. «Wir lassen jetzt die Kranken und Behinderten ein. In fünf Minuten kann der Chef kommen. Ich bin gespannt, wie sein erster Auftritt in der Halle abläuft.»

«Ich auch.»

Anton von Gunten zeigte sich nicht nur wortkarg, er machte auch ein reichlich düsteres Gesicht. Alexander konnte ihn verstehen.

Wahrscheinlich war es eine Qual für den kommissarischen Kommandanten, diesen Tag durchzustehen. Es war der sechste Mai, der Tag des Sacco di Roma, der Ehrentag der Schweizergarde. Nach altem Brauch wurden an diesem Tag die jungen Rekruten mit großem Pomp auf dem Uamasushof vereidigt. Unter den Augen Hunderter Gäste, hoher Geistlicher, Politiker und Militärs, Vertreter der Schweizerischen Eidgenossenschaft und natürlich der stolzen Angehörigen schworen die Rekruten im vollen Grangala-Harnisch auf die Gardefahne, dem regierenden Papst und seinen rechtmäßigen Nachfolgern treu, redlich und ehrenhaft zu dienen, bereit, wenn es erheischt sein sollte, das Leben für sie hinzugeben. Auch Alexander hatte diesen Schwur geleistet. In diesem Jahr jedoch fiel die Jubelfeier aus. Zu drückend lastete der Mord am Gardekommandanten auf der Einheit und auf dem ganzen Vatikan. Erst gestern waren Heinrich und Juliette beigesetzt worden. Die Kurie hatte angesichts dessen eine fröhliche Feier für unangemessen erachtet. Die Rekruten würden ihren Eid am Abend nur im Beisein des Gardekaplans und des kommissarischen Kommandanten leisten.

«Ich bin wirklich gespannt», wiederholte Parada, als sei ihm von Guntens Wortkargheit peinlich. «Die Kardinäle scheinen schon zu zittern, wenn sie nur an die unorthodoxen Methoden des Heiligen Vaters denken.»

Von Gunten erwiderte nichts. Offenbar hatte er nicht vor, sich auf eine Diskussion über das Verhältnis des Papstes zur Kurie einzulassen.

Frustriert wandte der Sicherheitschef sich ab und blickte hinüber zum Seiteneingang der Audienzhalle, durch den gerade die letzten Rollstühle geschoben wurden. Er zog ein Funkgerät aus der Jackentasche und sagte: «Tessari für Parada. Wir sind bereit. Der Chef kann kommen.»

Keine fünf Minuten später fuhr eine kleine Kolonne schwarzer Limousinen vor, darin die hohen geistlichen Würdenträger und der Papst. Er saß mit seinem Privatsekretär im Fond eines gepanzerten Mercedes, der von dem alten Ferdinando Zanni gesteuert wurde. Zanni, der zum Apostolischen Palast gehörte wie der Obelisk zum Petersplatz, hatte schon dem vorherigen Papst als Kammerdiener und Chauffeur gedient. Er galt als verlässlich und verschwiegen. Auf dem Beifahrersitz hatte Aldo Tessari Platz genommen.

Die Gardisten nahmen Haltung an, und von Gunten salutierte vor dem aussteigenden Papst. Custos strich sein weißes Gewand glatt und begrüßte Parada und von Gunten.

«Ziemlich viel los da drinnen, wie?»

«Ja, Heiligkeit», antwortete Parada. «Die Halle platzt aus allen Nähten.»

Der Papst kratzte sich verlegen am Hinterkopf. «Möge der Herr geben, dass die Leute mit mir zufrieden sind.»

Aus der Limousine hinter dem Wagen des Papstes war Kardinal Musolino gestiegen. Der Staatssekretär war groß und hager. Sein längliches, faltiges Gesicht wirkte so düster wie seine schwarze Soutane. Musolinos Amtsführung war außerordentlich streng.

Hinter vorgehaltener Hand sprachen seine Untergebenen und andere Mitarbeiter des Vatikans schon mal von «Mussolini» oder nannten ihn «Duce».

Da der Staatssekretär sein Amt bis zum Tod des Papstes innehat, hatten nicht wenige im Vatikan die Hoffnung gehegt, mit dem neuen Papst werde auch ein neuer Kardinal an die Spitze des vatikanischen Staatssekretariats rücken. Doch Custos hatte Domenico Musolino in seinem Amt bestätigt. Vermutlich war es für einen Pontifex wie ihn, der keine große Hausmacht im Vatikan besaß, wichtig, einen erfahrenen und respektierten Premierminister – wie man den Staatssekretär häufig bezeichnete

– zur Seite zu haben.

Alexander wusste nichts darüber, ob der Papst mit seinem Staatssekretär zufrieden war oder nicht. Doch es war ein offenes Geheimnis, dass die Äußerungen des Heiligen Vaters bei Musolino regelmäßig zu Wutausbrüchen führten. Auch die letzte Bemerkung des neuen Oberhirten hatte ihn offensichtlich vergrätzt. Er blickte gen Himmel, als wollte er einen stillen Stoßseufzer aussenden, doch dann folgte er dem Papst in die Audienzhalle.

Zwei Gardisten hielten an der Außentür Wache, zwei blieben am oberen Ende des Ganges zurück. Utz und Alexander begleiteten den Papst nach unten. Bei ihnen waren Shafqat, von Gunten, Parada und Tessari sowie ein Trupp der Vigilanza. Musolino und die anderen Würdenträger folgten in einigem Abstand.

Im Innern der Halle begann der Albtraum eines jeden Leibwächters. Tausende von Menschen sprangen jubelnd von ihren Sitzen auf und drängten an die Absperrgitter zu beiden Seiten des Mittelgangs. Fotoapparate klickten im Takt von Sekundenbruchteilen, Blitze zuckten durch die Halle. Die Scheinwerfer der Fernsehteams warfen dem Papst und seinen Begleitern blendende Lichtbündel entgegen. Nach jedem Schritt blieb Custos stehen, schüttelte Hände und streichelte Kinderköpfe, auf dem Gesicht ein Lächeln, das nicht nur geduldig wirkte, sondern zutiefst erfreut über die Begeisterung und Herzlichkeit, die man ihm entgegenbrachte.

Die Gardisten und Gendarmen hatten alle Mühe, die Gläubigen jenseits der Absperrungen zu halten. Den Papst dabei auch noch hundertprozentig vor einem Attentat schützen zu wollen war eine bloße Illusion. Jede der unzähligen vorschießenden Hände konnte ein verstecktes Messer oder ein Säurefläschchen halten. Alexander starrte in die Gesichter, in die Augen, wie er es bei Commissario Donati gelernt hatte. Ein Attentäter verriet sich zuerst durch seine Augen. Noch bevor die Hand mit dem Messer vorschnellte oder der Zeigefinger sich um den Abzug krümmte, richtete der Blick sich auf das Opfer – in jener seltsamen Starre, die den Entschluss zu töten begleitete.

Wer das rechtzeitig bemerkte, hatte wichtige Sekundenbruchteile gewonnen, sich schützend vor den Heiligen Vater zu werfen oder ihn zu Boden zu reißen.

Doch sie schienen vergeblich nach jenem verräterischen Blick Ausschau zu halten. Ihre ganze Arbeit bestand darin, die jubelnde Menge zurückzudrängen. Besonders Ovasius Shafqat tat sich dabei hervor. Die Bärenpranken des kräftigen Geistlichen lösten immer wieder allzu fest zupackende Hände von den Armen des Papstes und schoben den Heiligen Vater mit sanfter Gewalt vorwärts.

Nach einer halben Stunde erreichte Custos endlich die Bühne.

Als er auf dem Thron Platz nahm, verebbte das ohrenbetäubende Rufen, Singen und Händeklatschen. Gespannte Erwartung machte sich breit – unter den Gläubigen, den Journalisten und den hohen Geistlichen, die zu beiden Seiten des Papstthrons auf der Bühne saßen. Rechts des Papstes hatten auch von Gunten, Parada und Tessari Platz genommen. Alexander nahm an dieser Seite Aufstellung, Utz links vom Thronpodest. Auf dem Podest saßen Musolino zur Rechten und der Kardinalprotodiakon Gianfranco Tamberlani zur Linken des Heiligen Vaters.

Shafqat stand schräg hinter dem Thron und wollte dem Papst eine Hand voll Papiere reichen, Unterlagen für die Rede, aber Custos wies sie lächelnd zurück. Als er zu sprechen begann, sorgten die vor ihm aufgestellten Mikrofone dafür, dass seine Worte auch in der hintersten Ecke der gewaltigen Halle gehört wurden.

«Brüder und Schwestern, meine Kinder, mit freudigem Herzen habe ich euren Jubel und eure Begeisterung vernommen. Doch der heutige Tag erfüllt mich auch mit Trauer. Es ist der sechste Mai, der Tag des Sacco di Roma. Damals, an jenem verhängnisvollen sechsten Mai im Jahre des Herrn 1527, wurden Rom und der Heilige Stuhl ein Opfer von Hass und Gewalt. Heute will ich nicht von der Vernichtung so vieler wertvoller Kunstschätze sprechen und auch nicht vom grausamen Tod zahlreicher unschuldiger Frauen und Kinder, die den Plünderern in die Hände fielen. Sie alle haben unser ewiges Andenken verdient, doch ein schrecklicher Vorfall in jüngster Zeit lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die Verteidiger der Freiheit der Kirche, auf die tapferen Männer der Schweizergarde.»

Auf dieses Stichwort schienen die Vertreter von Fernsehen und Presse nur gewartet zu haben. Sie drängten an die Bühne, und Alexander hatte das unbehagliche Gefühl, dass diesmal er, Utz und von Gunten die Objekte ihrer Begierde waren. Doch er ließ sich vom Blitzlichtgewitter nicht irritieren, verzog keine Miene und sah stur geradeaus in den Zuschauerraum.

«Treue bis in den Tod haben die Schweizergardisten dem Heiligen Vater geschworen», fuhr der Papst fort. «Beim Sacco di Roma haben sie bewiesen, wie ernst es ihnen damit ist.

Hundertsiebenundvierzig Schweizer ließen ihr Leben, darunter ihr Hauptmann Kaspar Röist. Haben die Menschen seit jenen blutrünstigen Tagen etwas dazugelernt? Keine Woche ist es her, dass wieder ein Kommandant der Schweizergarde auf grausame, blutige Weise sein Leben verloren hat. Diesmal sieht es nicht so aus, als sei er für den Heiligen Stuhl gestorben. Einer seiner eigenen Männer soll der Täter sein, dienstliche Misshelligkeiten das Motiv. Ist der Tod von Oberst Heinrich Rosin deshalb weniger bedeutsam als der von Kaspar Röist?»

Custos legte eine bedeutungsschwere Pause ein, bevor er selbst die Antwort gab: «Ich sage nein, im Gegenteil. Wenn Oberst Rosin von einem seiner Untergebenen getötet wurde, dann zeugt diese schreckliche Tat davon, dass Unfriede und Uneinigkeit unsere Welt in Klauen halten. Klauen, die sogar tief in die christliche Kirche gefahren sind. In jenen wüsten Tagen, da Rom der Zerstörung anheim fiel, wurde noch etwas viel Wichtigeres zerstört: die Einheit der Kirche. Es kam zu einer Spaltung, die bis heute fortbesteht. Eine Welt, in der ein Christ nicht neben dem anderen steht und in der ein Schweizergardist den anderen mordet, kann nicht von Gott gewollt sein. Aber aus Zerstörung und Verzweiflung vermag Neues zu erwachsen. Die Plünderung Roms hat die Zeichen für eine Erneuerung der Kurie gesetzt, und die schreckliche Mordtat in den alten Mauern des Vatikans soll für uns alle ein Zeichen zur Besinnung und Umkehr sein. Dass der Bruder den Bruder und die Schwester die Schwester nicht ansieht, muss endlich ein Ende haben. Die Spaltung der christlichen Kirche, ein halbes Jahrtausend alt, muss überwunden werden. Und vielleicht wird die Wiedervereinigung der Christen ein Zeichen für die ganze Welt sein, nicht länger im Hass gegen andere Rassen und andere Glaubensrichtungen zu verharren.

Darum verspreche ich an dieser Stelle, alles dafür zu tun und jedes Opfer zu erbringen, um innerhalb meiner Amtszeit die christliche Kirche wieder zu vereinigen!»

Der einsetzende Jubel war groß, aber durchaus nicht alle frohlockten. Viele der hohen Kleriker saßen mit versteinerten Gesichtern da. Kardinal Musolino ballte die Hände zu Fäusten und erweckte den Eindruck, sich mit aller Gewalt bezähmen zu müssen. Eine Wiedervereinigung der Katholiken mit den Protestanten mochte manchem kirchlichen Würdenträger so unwahrscheinlich vorkommen, wie es vor einigen Jahren noch die Wiedervereinigung Deutschlands gewesen war. Weitaus betroffener aber blickten die Kurialen drein, die dem Papst zutrauten, dass er sein Versprechen verwirklichte. Ein Zusammengehen beider Kirchen unter Opfern konnte nur eins bedeuten: das Aufgeben kirchlicher Dogmen, die Verringerung der eigenen Macht.

Im neuerlichen Trubel gelang es einem Kind, sich zwischen den Fotografen und Kameraleuten hindurchzuzwängen. Ein sechs oder sieben Jahre altes Mädchen in einem blauen Kleid kletterte vor Alexander auf die Bühne. Er wollte die Kleine festhalten, bevor sie das Papstpodest erreichte, aber Custos erhob sich mit einer unmissverständlichen Geste in seine Richtung. Der Schweizer sollte auf seinem Platz bleiben.

Der Heilige Vater beugte sich vor und setzte das Mädchen auf seinen Schoß. «Sag mir deinen Namen, Kind.»

Die Antwort kam zögerlich und leise: «Lea.»

Custos lächelte sie an. «Du möchtest mich also begrüßen, Lea.»

«Nein.»

Einige Zuschauer lachten und auch der Papst schmunzelte.

«Nein?», fragte er. «Weshalb bist du dann zu mir gekommen?»

«Weil du gesagt hast, dass du der ganzen Welt helfen willst.

Das stimmt doch, oder?»

«Ich will es versuchen, ja.»

Eine skeptische Falte bildete sich über der Nase des Mädchens. «Kannst du der Welt helfen oder nicht?»

«Das ist eine schwierige Aufgabe, besonders wenn die Welt sich nicht helfen lassen will. Siehst du das ein, Lea?»

Das Mädchen dachte angestrengt nach und nickte. «Natürlich ist das schwer. Aber du könntest es schaffen, nicht?»

«Mit ein wenig Glück und vor allem mit der Hilfe Gottes könnte ich das.»

«Die Welt ist ja auch groß und es gibt so viele Menschen», seufzte Lea verständnisvoll. «Einzelnen Menschen zu helfen ist bestimmt einfacher.»

«Das ist es.»

«Gut.» Die großen braunen Augen des Mädchens blitzten auf.

«Dann hilf bitte meiner Mama!»

«Wo ist sie denn?»

Lea zeigte in den Zuschauerraum. «Da unten.»

«Hat sie dich geschickt, damit du mich um Hilfe bittest?»

«Nein, ich bin einfach losgelaufen.»

«Und deine Mama konnte dich nicht festhalten?»

«Wie denn, wenn sie sich nicht bewegen kann?»

«Ich verstehe», murmelte Custos. «Deine Mama ist krank, nicht wahr?»

«Ja. Sie ist gelähmt von dem Unfall, bei dem mein Papa gestorben ist. Er ist jetzt schon bei Gott, weißt du?»

«Sicher ist er da.» Der Papst setzte das Mädchen ab und erhob sich. «Bring mich zu deiner Mama, Lea.»

Fotografen und Kameraleute überschlugen sich fast, um einzufangen, wie der Papst mit dem kleinen Mädchen an der Hand von der Bühne stieg. Die Vatikanisten wären am liebsten von der Pressetribüne in den Zuschauerraum gesprungen.

Alexander entdeckte Elena Vida auf der Tribüne und schaute rasch weg. Der Gedanke an die Begegnung mit der schönen Journalistin vor vier Tagen schmerzte ihn und lenkte ihn von seinen Aufgaben ab.

Leas Mutter war vom Hals an abwärts gelähmt. Ihr Rollstuhl stand zwischen anderen vor der vordersten Sitzreihe. Auf den Stühlen dahinter saßen die betreuenden Pfleger oder Angehörige. Custos beugte sich zu der gelähmten Frau hinunter und sprach leise mit ihr. Er nahm sich Zeit und schien die Anwesenheit der vielen tausend anderen Menschen ganz vergessen zu haben. Unvermittelt schloss er die Frau in die Arme und drückte sie gegen seine Brust, wie ein Vater, der sein Kind in inniger Umarmung liebkost.

Alexander verfolgte die Szene gebannt und konnte später nicht sagen, ob der Papst und die Frau eine Minute oder zehn in dieser engen Umarmung verharrt hatten. Irgendwann erfasste den Heiligen Vater ein heftiges Zittern. Es sah aus wie ein plötzlicher Anfall von Schüttelfrost. Noch immer hielt er die Frau fest. Das Zittern wurde stärker.

Nun hielt es Alexander nicht länger auf seinem Platz.

Zeitgleich mit Don Shafqat sprang er von der Bühne – und kam gerade rechtzeitig, um den Papst aufzufangen. Wie von der Faust eines Unsichtbaren getroffen, löste Custos sich von der Frau im Rollstuhl und taumelte rückwärts. Hätte Alexander nicht die Hellebarde fallen gelassen und Seine Heiligkeit gehalten, wäre Custos zu Boden gegangen. Der Papst zitterte nach wie vor am ganzen Leib, ein dicker Schweißfilm bedeckte seine Stirn und sein Gesicht. Er schien sich vollkommen verausgabt zu haben.

Als Shafqat den Geschwächten von der anderen Seite stützte, fiel Alexanders Blick auf Leas Mutter. Auch sie zitterte am ganzen Körper. Aber das war verständlich, hatte sie sich doch aus ihrem Rollstuhl erhoben. Mit ungelenken Bewegungen trat sie zu ihrer Tochter und schloss sie in die Arme, wie es der Papst zuvor mit ihr getan hatte.

Fotografen und Kameramänner arbeiteten im Akkord, und der Saal war erfüllt von jubelnder Raserei. Jemand schrie: «Ein Wunder! Ein Wunder!»

Auch Utz Rasser hatte seinen Posten auf der Bühne verlassen.

Er und Alexander stützten den geschwächten Papst auf dem Weg zum Hinterausgang. Don Shafqat setzte Fäuste und Ellbogen ein, um ihnen einen Weg durch die Pressemeute zu bahnen. Als sie den Saal verließen, tobte die Menge hinter ihnen noch immer vor Begeisterung.

Die Wagenkolonne stand inzwischen am Hinterausgang der Nervi-Halle. Ferdinando Zanni hielt eine Tür des gepanzerten Mercedes auf und sah den erschöpften Papst besorgt an.

Willenlos wie eine Puppe ließ Custos sich in den Fond des Wagens bugsieren.

Shafqat setzte sich neben ihn und herrschte Zanni an: «Los, fahren Sie schon! Seine Heiligkeit braucht Ruhe. Und die Presse kann jeden Moment hier auftauchen.»

Der Mercedes rauschte in Richtung Apostolischer Palast davon.

Würdenträger der Kurie traten aus dem Hinterausgang. Die Kardinäle Musolino und Tamberlani führten ein erregtes Gespräch mit Monsignore Wetter-Dietz.

«Wir müssen eine Erklärung abgeben», stammelte der Pressesprecher. «Mein Gott, die Sache ist live über acht Fernsehsender gegangen. Der Rest der Welt wird es spätestens in den Abendnachrichten sehen. Eine offizielle Presseerklärung ist unumgänglich.»

«Sicher, aber nicht sofort.» Musolino klang, als müsse er sich gewaltsam zu Ruhe zwingen. «Wir werden ohne Hast überlegen, wie wir den Vorfall erklären. Jetzt nur keine Panik!»

«Sie haben gut reden, Eminenz», erwiderte Wetter-Dietz verbissen.

«Ich rufe Sie an, Monsignore.» Musolino stieg in den dunkelblauen Lancia, in dem Tamberlani bereits Platz genommen hatte. Der Chauffeur vom vatikanischen Fahrdienst wollte die Tür schon zuschlagen, da blickte der Staatssekretär Alexander an. «Adjutant Rosin, begleiten Sie uns! Ich möchte mich mit Ihnen unterhalten.»

«Aber … ich habe Dienst!»

«Als Kardinalstaatssekretär bin ich Ihr oberster Vorgesetzter, abgesehen von Seiner Heiligkeit, oder?»

«Ja, Eminenz.»

Musolino bedachte ihn mit einem kalten Lächeln. «Dann nehmen Sie es als Befehl, wenn Sie wollen. Steigen Sie ein!»

Alexander und Kardinal Musolino durchschritten endlose Säle voller christlicher Kunstwerke; man konnte den Eindruck gewinnen, das Staatssekretariat sei ein Teil der Vatikanischen Museen. Auf dem Damasushof hatte Musolino sich von Tamberlani verabschiedet und war mit Alexander in den Trakt des Apostolischen Palastes getreten, der im dritten Stock die Räumlichkeiten des Staatssekretariats beherbergte.

Bis jetzt hatte er kein einziges Wort mit dem Gardisten gesprochen. Das änderte sich, sobald sie in seinem Büro waren, das im Vergleich mit den Prachtsälen davor recht nüchtern wirkte. Ein großer Schreibtisch voller Akten und Papierstapel, ein Computer und mehrere Telefone zeigten an, dass in der Schaltzentrale der päpstlichen Verwaltung nicht repräsentiert, sondern gearbeitet wurde.

Musolino öffnete einen Wandschrank, der sich als kleine, aber feine Bar entpuppte, und ging mit einer Flasche Weinbrand und zwei Gläsern zu einer Sitzgruppe mit einem Glastisch. Dahinter stand eine einsame Zimmerkonifere. Er bot Alexander einen Platz an und setzte sich selbst, nachdem er ihnen eingeschenkt hatte.

Als der Kardinal ihm ein Glas zuschob, hob Alexander abwehrend die Hand. «Danke, Eminenz, aber ich bin im Dienst.»

«Ich auch. Trotzdem brauche ich einen Schluck auf den Schreck. Sie sehen so aus, als ginge es Ihnen nicht anders. Also trinken Sie schon.»

Alexander trank und genoss die Wärme, die sich in seinem Innern ausbreitete. Die Anspannung, die er seit der Begegnung des Papstes mit der gelähmten Frau gespürt hatte, fiel von ihm ab.

Er lehnte sich in dem Lederpolster zurück und hätte fast vergessen, dass der Mann, der ihm gegenübersaß und sein Glas in großen Zügen leerte, der Stellvertreter des Heiligen Vaters war.

Es klopfte und ein korpulenter Mann in Priestertracht trat ein.

Mit unsicherem Blick sah er Musolino an.

«Was gibt’s, Failoni? Ich hatte doch gesagt, ich will nicht gestört werden.»

«Ich weiß, Eminenz, aber dauernd ruft der Pressesaal hier an.

Die Leitungen brechen unter den Anfragen nach einer Stellungnahme zur Audienz zusammen.»

«Eine Stellungnahme wird es erst auf der Pressekonferenz geben.»

«Und wann wird die stattfinden, Eminenz?»

«Wenn ich mir eine Stellungnahme überlegt habe.»

Musolinos Mitarbeiter schoss das Blut in den Kopf. «Jawohl, Eminenz, ich werde Sie nicht mehr behelligen.»

Als Failoni gegangen war, wandte Musolino sich mit einem müden Lächeln an Alexander. «Wirklich eine dumme Geschichte. Als hätten wir im Augenblick nicht genug Ärger.

Aber wem sage ich das? Sie sind von der traurigen Affäre ja direkt betroffen. Ihr Onkel und Ihre Tante, nicht wahr?»

«Ja, Eminenz.»

Alexander versteifte sich. Mit einem Schlag war die Anspannung wieder da. Er hatte das Gefühl, dass jetzt der ungemütliche Teil begann. Musolino kam ihm vor wie eine Schlange, die ihr Opfer in Sicherheit wiegt, bevor sie unvermutet zustößt.

«Wirklich tragisch», seufzte der Staatssekretär. «Oberst Rosin war ein hervorragender Mann. Ich möchte Sie zu Ihrer Haltung in dieser Angelegenheit beglückwünschen, Adjutant. Sie haben große Disziplin bewiesen, auch gestern bei der Trauerfeier. Ich habe Sie beobachtet.»

«Warum?»

«Eine gute Frage.» Musolino füllte die Gläser auf. «Allein aufgrund Ihres Namens sind Sie kein gewöhnlicher Gardist. Seit fünfhundert Jahren dient Ihre Familie dem Heiligen Stuhl. Seine Heiligkeit hat heute vom Sacco di Roma gesprochen. Unter den Gardisten, die das Gemetzel überlebten und Papst Clemens in den Schutz der Engelsburg brachten, war Ihr Vorfahr Albert Rosin. Mit Ihrem Vater und Ihrem Onkel haben wir innerhalb weniger Jahre zwei der besten Kommandanten verloren, die die Schweizer je hatten. Wir – ich und viele andere im Kardinalskollegium – würden uns glücklich schätzen, wenn eines Tages wieder ein Oberst Rosin die Garde befehligte, vielleicht ein Oberst Alexander Rosin.»

Alexander war verwirrt. Er hatte einen Angriff erwartet und erhielt stattdessen eine Art Lob. Wollte Musolino ihn einlullen?

«Ich fühle mich geehrt, aber ich bin nur Adjutant und weiß nicht, welche Wege der Herr für mich bereithält.»

Musolinos dunkle Augen wurden starr. Alexander musste an den Blick eines Attentäters denken. «Sie sind berufen, Alexander, so wie Ihre Vorfahren berufen waren. Sonst hätten Sie sich gar nicht erst für den Dienst in der Garde entschieden.

Gewiss werden Sie nicht der unmittelbare Nachfolger Ihres Onkels sein, aber eines Tages wird die Garde wieder auf das Kommando eines Rosin hören, da bin ich mir sicher. Ihre vorzügliche Haltung in dieser Sache beweist es. Immerhin haben Sie einiges durchgemacht. Erst der Doppelmord an Ihren Verwandten, dann der Überfall in der Waffenkammer, und zu alledem werden Sie auch noch in das Attentat auf diesen Polizisten verwickelt. – Übrigens, glauben Sie noch immer, dass der Einbruch in der Waffenkammer etwas mit dem Mord an Ihrem Onkel und Ihrer Tante zu tun hat?»

Alexander griff zu seinem Glas, um Zeit zu gewinnen. Er fühlte sich wie auf dem Prüfstand, so als könne der Kardinal mit seinem starren Blick Gefühle und Gedanken lesen. Und er spürte, dass von seiner Antwort mehr abhing, als er im Augenblick ermessen konnte.

Er trank nur einen kleinen Schluck und erwiderte: «Vermutlich hat Oberstleutnant von Gunten Recht, wenn er sagt, dass die beiden Vorfälle nichts miteinander zu tun haben. Wer immer sich in der Waffenkammer zu schaffen gemacht hat – er hat den Aufruhr um die Morde genutzt und das Ausgabebuch für die Dienstpistolen mitgehen lassen, um den Anschein eines Zusammenhangs zu erwecken. Danegger ist schließlich tot und kann somit für den Vorfall in der Waffenkammer nicht verantwortlich sein.»

Musolino lächelte befriedigt. «Sie denken logisch und lassen sich nicht von irgendwelchen düsteren Gefühlen leiten, obwohl Sie allen Grund dazu hätten. Das gefällt mir sehr. Durch die leidige Vakanz der Kommandantenstelle wird es wohl bald zu einigen Beförderungen kommen. Ich denke, Sie sollten sich darauf einrichten, sich demnächst das Rangabzeichen eines Leutnants ans Barett zu heften.»

«Danke, Eminenz, Ihr Vertrauen ehrt mich.»

Alexander zwang sich zu unverbindlicher Freundlichkeit. Aus irgendeinem Grund gelang es ihm nicht, sich ehrlich über die in Aussicht gestellte Beförderung zu freuen.

Der Kardinal beugte sich vor wie ein Verschwörer. «Da wir gerade von Vertrauen reden, welchen Eindruck haben Sie von dem Vorfall in der Audienzhalle? Ganz unter uns natürlich, Sie können aufrichtig sein.»

«Ich verstehe nicht recht. Sie waren doch dabei, Eminenz.»

«Aber Sie haben den Heiligen Vater aufgefangen, standen ganz nahe bei ihm, haben ihn angefasst!»

«Ja … und?»

«Haben Sie eine seltsame Ausstrahlung gespürt, eine Kraft, die von ihm ausging?»

Allmählich verstand Alexander. «Sie meinen, ob es sich um eine Wunderheilung gehandelt hat?»

«Das fragt sich derzeit die ganze Welt. Und natürlich auch ich.

Schließlich muss ich Monsignore Wetter-Dietz sagen, was er der Öffentlichkeit mitteilen soll. Ist der Papst ein Mann mit besonderen Kräften? Oder war die Frau gar nicht so krank, wie sie getan hat?»

«Ich denke, letzteren Punkt wird man durch ärztliche Atteste klären können.»

«Sicher. Aber was ist mit dem Heiligen Vater?»

«Das Einzige, was ich gespürt habe, war seine große Erschöpfung. Er war auf geradezu beängstigende Weise geschwächt.»

«Und sonst nichts?»

«Nein», antwortete Alexander ehrlich.

Musolinos Kiefer mahlten, sein Blick ging durch Alexander hindurch. Offenbar stellte die Antwort ihn nicht zufrieden.

Schließlich fragte er: «Was war eigentlich vor fünf Tagen?»

«Wie meinen Sie das, Eminenz?»

«Seine Heiligkeit ließ Sie in sein Privatbüro kommen. Sie waren sehr lange bei ihm.»

«Das stimmt.»

«Ich weiß, dass es stimmt.» Musolino wurde lauter. «Warum waren Sie so lange dort?»

«Das darf ich nicht sagen, Eminenz.»

Für einen Augenblick sah es so aus, als wollte der Kardinal aufspringen und ihn anbrüllen. Aber er beherrschte sich und fragte mit mühsam unterdrückter Erregung: «Warum dürfen Sie mir das nicht sagen, Adjutant Rosin?»

«Weil ich Seiner Heiligkeit versprechen musste, Stillschweigen zu bewahren.»

«Als Kardinalstaatssekretär bin ich die rechte Hand des Heiligen Vaters. Mein Wort kommt gleich nach seinem.»

Alexander hielt dem bohrenden Blick stand. «Sie sagen es, Eminenz.»

Musolino lief genauso rot an wie zuvor Failoni. Seine Mundwinkel zuckten, die Augen weiteten sich. Sekundenbruchteile später hatte er sich wieder unter Kontrolle.

Er erhob sich und sagte kalt: «Ihre Treue zum Heiligen Vater ehrt Sie, Adjutant Rosin. Das ist der Geist, von dem schon vor fünfhundert Jahren der Gardist Albert Rosin erfüllt war. Ich werde es mir merken. Sollten Sie in irgendeiner Form Hilfe benötigen oder sich mir anvertrauen wollen, haben Sie keine Scheu. Ich bin immer für Sie da.»

Alexander stand auf und verabschiedete sich mit militärischer Knappheit. Unter den gegebenen Umständen konnte er mit dieser freundlichen Variante eines Rauswurfs mehr als zufrieden sein.

Das Hilfsangebot des Staatssekretärs stimmte ihn angesichts der frostigen Wendung, die das Gespräch genommen hatte, allerdings skeptisch. Zumal er Ähnliches schon von Oberstleutnant von Gunten und von Monsignore Imhoof gehört hatte, und natürlich vom Heiligen Vater. Für seinen Geschmack gab es im Vatikan entschieden zu viele Menschen, die ihm behilflich sein wollten, ohne dafür einen erkennbaren Grund zu haben.

6

Mittwoch, 6. Mai, nachmittags

Marcel Daneggers Beisetzung war nur ein Abglanz der Trauerfeier für Heinrich und Juliette Rosin, doch die Schweizergarde erwies auch dem toten Adjutanten ihren Respekt.

Die Särge des ermordeten Ehepaars waren, feierlich in der Peterskirche aufgebahrt, von etwa zwanzig Kardinälen und über dreißig Bischöfen umringt gewesen, und Kardinal Musolino höchstpersönlich hatte die Totenmesse zelebriert. Alexander hatte das Ganze erlebt wie einen seiner häufigen Träume, in denen er dem Tod begegnete: intensiv, bedrückend und doch unwirklich, als wäre er von den Särgen mit den Toten und von den vielen hundert Trauergästen durch eine dicke gläserne Wand getrennt. Er hatte Verwandte gesehen, die ihm nicht näher standen als die gesichtslosen Touristen, die er beim alltäglichen Wachdienst kontrollieren musste. Von einigen entfernten Onkeln, Tanten, Cousins und Cousinen wusste er kaum die Namen. Ihre Anwesenheit hatte ihm nur umso schmerzlicher bewusst gemacht, dass Heinrich und Juliette die beiden letzten Menschen gewesen waren, denen er sich enger verbunden gefühlt hatte. In die Leere des Verlustes hatte sich das nagende Schuldgefühl gemischt, und er war froh gewesen, als die Gräber endlich zugeschüttet waren und die Nacht ihr schwarzes Tuch über die Kuppeln und Dächer der Vatikanstadt warf.

An Marcel Daneggers Trauerfeier nahmen beileibe nicht so viele Menschen teil, auch keine Kardinäle und Bischöfe.

Monsignore Imhoof hielt den Trauergottesdienst in der Gardekapelle San Martino ab. Begleitet vom Trommeln des Regens auf das Dach, sprach der hochwürdige Herr Kaplan von der Tat eines Verzweifelten und Verwirrten und von der Schuld, die ihre Erlösung in barmherziger Vergebung finde. Und er sprach von der Kameradschaft, die in der Schweizergarde hochgehalten werde und trotz der Bluttat auch dem Adjutanten gelte. Dass so viele Gardisten zugegen waren, bestätigte seine Worte. Hätte die Garde dem toten Kameraden die letzte Ehre verweigert, hätten nicht zwei auf große Bidenhänder gestützte Gardisten in Galauniform am Kopfende des Sarges gestanden und wäre der Sarg nicht am Ende des Gottesdienstes von sechs uniformierten Gardisten aus Daneggers Geschwader auf den Friedhof getragen worden.

Auch Alexander trug die Galauniform und im Gleichschritt mit den anderen folgte er dem Sarg. Wohl niemand hätte es ihm verübelt, wenn er an dieser Beerdigung nicht teilgenommen hätte, doch es fiel ihm nicht schwer, Danegger das letzte Geleit zu geben. Gestern, bei Heinrich und Juliette, war seine Brust wie zugeschnürt gewesen, und er hatte um jeden Atemzug ringen müssen. Heute war er beinahe gelassen, allenfalls spürte er drängende Neugier, aber weder Schmerz noch Hass. Denn er hielt Marcel Danegger nicht für schuldig, auch wenn ihm die konkreten Beweise fehlten. Als der Sarg ins Grab hinuntergelassen wurde, war Alexander, als werde hier nicht der Täter beerdigt, sondern ein weiteres Opfer.

Ein Gardist nach dem anderen trat an das Grab, um eine Schaufel Erde auf den Sarg zu werfen. Ihnen folgten Angehörige und Freunde des Toten, die Erde und Blumen in die Tiefe warfen.

Daneggers Eltern blieben lange vor dem Grab stehen, die Mutter in Tränen aufgelöst, der Vater mit steinernem Gesicht.

Ganz zum Schluss trat eine junge Frau im schwarzen Hosenanzug vor, und ihre Hände zitterten, als sie einen Rosenstrauß in das Erdloch fallen ließ. Sie war zierlich. Ihr langes blondes Haar war mit einer schwarzen Schleife zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Einige Strähnen hatten sich gelöst und hingen ihr ins Gesicht. Ihre Augen waren verquollen, ihre Wangen gerötet; offensichtlich hatte sie viel geweint. Lange blieb sie vor dem Grab stehen, bis sie sich abrupt umdrehte und in den Reihen der Trauernden untertauchte.

Alexander wandte sich an Utz Rasser, der neben ihm stand.

«Das Mädchen kommt mir irgendwie bekannt vor.»

Utz grinste schräg. «Du solltest deine Klamotten nicht immer in der Stadt kaufen. Danegger war cleverer und hat sie sich geangelt. Sie heißt Raffaela und arbeitet als Verkäuferin im Magazin.»

Daneggers Freundin! Alexander fühlte sich wie elektrisiert.

Unterbewusst hatte er gehofft, auf der Beerdigung einen Hinweis zu finden, der ihn bei seiner Suche nach den wahren Hintergründen des Mordes weiterbrachte. Wenn diese Raffaela mit Danegger gegangen war, wusste sie womöglich Dinge von ihm, die er seinen Kameraden nicht anvertraut hatte.

Er ließ Utz einfach stehen und bahnte sich einen Weg durch die Menge. Eilig folgte er der Frau, deren schwarz gekleidete Gestalt hinter dem Regenschleier mit dem dunklen Fleck einer ausladenden Steineiche zu verschmelzen drohte. Er sah nur noch den blonden Schopf, der bei jedem Schritt auf und ab hüpfte.

Mit der linken Hand das schlingernde Schwert an seiner Hüfte festhaltend, begann er zu laufen. Was seine Kameraden dachten, kümmerte ihn nicht. Vermutlich glaubten sie, er habe es nicht länger ausgehalten, am Grab des Mannes zu stehen, der seine Verwandten auf dem Gewissen hatte.

Als er die Steineiche erreichte, hatte er Daneggers Freundin aus den Augen verloren. Unter der belaubten Baumkrone blieb er stehen und suchte den Friedhof nach ihr ab. Er sah Bäume, Grabsteine und Statuen, aber keine Raffaela. Als eine heisere Stimme ihn von hinten ansprach, fuhr er zusammen.

«Beneide die Toten, die hier liegen, nicht um ihre Ruhe, mein Sohn. Viele von ihnen mussten vor ihren Schöpfer treten, ohne ihre diesseitigen Angelegenheiten geregelt zu haben. Bei aller Trauer solltest du dich freuen, dass du Gelegenheit hast, deine weltlichen Dinge ins Reine zu bringen.»

Alexander wandte sich um und erblickte einen durchnässten alten Mann in schwarzer Soutane. Er war mager, der Stoff seines viel zu weiten Gewandes warf zahllose Falten und verlieh ihm das Aussehen einer klerikalen Vogelscheuche. Das Gesicht lag halb im Schatten eines altertümlichen Priesterhuts, auf dessen breiter Krempe sich der Regen sammelte. Auf der schmalen Nase saß eine Brille mit lupendicken Gläsern.

«Monsignore Borghesi!», entfuhr es dem überraschten Schweizer.

«Pater», berichtigte der Geistliche mit seiner brüchigen Stimme. «Den Monsignore habe ich abgelegt, als ich den Vatikan verließ.»

Giorgio Borghesi hatte zu den Benefiziaten gehört, den

«Begünstigten». Papst Bonifatius VIII. hatte den Orden nach dem Jubeljahr 1300 eingesetzt, um den Kanonikerorden beim religiösen Dienst in der Peterskirche zu unterstützen. Soweit Alexander wusste, war Borghesi, als er noch im Vatikan lebte, der Beichtvater seines Onkels gewesen. Das Letzte, was er über den Priestermönch gehört hatte, war das Gerücht, er habe sich in die Albaner Berge zurückgezogen. Umso erstaunter war er, dem Alten hier zu begegnen.

Alexanders Gesicht schien Bände zu sprechen, denn der Geistliche sagte: «Eigentlich wollte ich schon gestern kommen, zur Beerdigung von Oberst Rosin und seiner Gemahlin, aber ich bin aufgehalten worden. Vielleicht ist es besser so. Bei der Bestattung soll ein ziemlicher Auftrieb geherrscht haben.»

«Ja», erwiderte der noch immer verwirrte Alexander.

«Kardinal Musolino, die Kurienkardinäle und Bischöfe …»

«Gut, dass ich erst heute gekommen bin.» Borghesi blickte auf und sah Alexander an. Seine Augen wirkten hinter den dicken Brillengläsern seltsam verschwommen, aber vielleicht lag es auch nur an dem Schatten, den die Hutkrempe warf. «Was ich dir zu sagen habe, Alexander Rosin, ist nur für deine Ohren bestimmt. Und doch – eigentlich weiß ich nicht, ob ich es dir überhaupt anvertrauen darf …»

Alexander war plötzlich unwohl zumute. Die Szene hatte etwas Unheimliches. Der alte Benefiziat war wie ein Gespenst vor ihm aufgetaucht. Es war, als hätte der Regen alle anderen Menschen verschluckt. Nur dumpf, wie aus einem der Gräber heraus, drang die Musik der Gardekapelle an Alexanders Ohren. Die Männer vom Musikgeschwader spielten das Lied vom guten Kameraden.

Er fuhr mit der behandschuhten Hand in seinen Kragen, um das Regenwasser fortzuwischen, und sagte härter, als er es eigentlich wollte: «Zum Rätselraten bin ich nicht aufgelegt, Hochwürden.

Wenn Sie mir etwas zu sagen haben, ziehe ich klare Worte vor.»

«Es geht um deinen Onkel, vielmehr um sein Vermächtnis.»

«Sein Vermächtnis? Ich glaube, ich verstehe nicht ganz, Pater Borghesi.»

Statt sich näher zu erklären, blickte der Alte erschrocken über die Schulter, in die Richtung von Daneggers Grab. Jetzt sah auch Alexander die dunkle Gestalt, die sich undeutlich zwischen den Büschen abzeichnete. Der oder die Unbekannte kam auf sie zu.

«Ich kann jetzt nicht mehr sagen, es ist zu gefährlich. Außerdem sollte ich es dir besser zeigen. Bitte bewahr Stillschweigen über unsere Begegnung. Zu niemandem ein Wort, hörst du? Und besuch mich bald in Santa Maria a Lago di Albano!»

Eilig lief Borghesi davon, in dieselbe Richtung wie vorhin das Mädchen, und verschwand hinter Bäumen und Grabsteinen.

Statt seiner sah Alexander nur noch die verwitterte Statue eines Engels mit mahnend erhobener Hand und sorgenvollem Gesicht.

Der Störenfried, der unter die Eiche trat, schützte sich durch einen großen, stark gewölbten Schirm vor dem Regen. Mit seiner dürren Gestalt und der Brille wirkte er wie eine jüngere Ausgabe des alten Benefiziaten. Hätte es nicht das Gebot des Zölibats gegeben, hätte man ihn für Borghesis Sohn halten können.

«Sie hätten vielleicht doch nicht zu dieser Bestattung kommen sollen, Adjutant Rosin», sagte Gardekaplan Imhoof besorgt.

«Ich habe gesehen, wie Sie plötzlich davonliefen. Es war wohl zu viel für Sie.»

«Sie haben Recht, Monsignore. Ich habe die Belastung unterschätzt.»

«Ruhen Sie sich aus, Alexander. Niemand erwartet, dass Sie zum gemeinsamen Essen erscheinen.»

«Ich werde Ihren Rat befolgen. Danke, Hochwürden.»

Alexander wollte schon gehen, da fragte Imhoof noch:

«Übrigens, mit wem haben Sie eben gesprochen? Von weitem sah er aus wie ein Geistlicher, aber ich konnte ihn nicht erkennen.»

«Ich kannte ihn auch nicht», log Alexander. «Er hat sich nach dem nächsten Ausgang aus dem Vatikan erkundigt.»

«Dann kam er wohl nicht aus Rom?» In Imhoofs wässrigen Augen lag ein ungewohnt fester Blick, der etwas Prüfendes an sich hatte.

Alexander hielt dem Blick stand und antwortete: «Es hatte nicht den Anschein.»

Warum hatte er Monsignore Imhoof angelogen? Die Frage beschäftigte ihn auf dem Weg zur Kaserne ebenso wie die, was Pater Borghesi eigentlich von ihm gewollt hatte. Zermürbten die Ereignisse der letzten Tage allmählich seinen Verstand, sodass er niemandem mehr traute, nicht einmal dem Kaplan der Garde?

Außerdem wollte ihm einfach nicht in den Kopf, wieso der Heilige Vater der gelähmten Frau vor aller Augen geholfen hatte. Ihn, Alexander, hatte er zu strengem Stillschweigen verpflichtet, was seine besonderen Kräfte anging, und jetzt zeigte er sie quasi vor der Weltöffentlichkeit! Irgendetwas musste in den vergangene fünf Tagen geschehen sein.

In seinem Zimmer zog Alexander die durchnässte Uniform aus und schlüpfte in einen Jogginganzug. Er schaltete den Fernseher ein und nahm sich eine Dose Eistee aus dem kleinen Kühlschrank. Nach zweimaligem Umschalten fand er einen Sender, der die außerordentliche Presseerklärung zur morgendlichen Generalaudienz übertrug.

Zu Beginn flimmerte ein Zusammenschnitt der Audienz über den Bildschirm. Der Schwerpunkt lag eindeutig auf der Begegnung des neuen Papstes mit dem kleinen Mädchen und seiner gelähmten Mutter. In Großaufnahme sah Alexander das überraschte, unendlich glückliche Gesicht der geheilten Frau.

Wenn die Gefühle nur vorgetäuscht waren, hatte sie einen Oscar verdient. Die Kamera schwenkte auf den Papst, der von Alexander und Don Shafqat gestützt wurde. Das Gesicht des Heiligen Vaters war gezeichnet von der Erschöpfung, die Alexander aus nächster Nähe mitbekommen hatte.

Eine Moderatorin erklärte, noch immer habe man die Identität und die Krankheitsgeschichte der auf so wundersame Weise geheilten Frau nicht erhellen können. Sowohl der Vatikan als auch die römischen Behörden hüllten sich in Schweigen, teilte sie in vorwurfsvollem Ton mit. Und ein wenig schnippisch fragte sie, ob man nun vom Vatikansprecher Aufklärung erwarten dürfe.

Bernhard Wetter-Dietz saß auf dem gewohnten Platz im Konferenzraum des Pressesaals und blickte mit unbewegter Miene auf Kameras und Vatikanisten. Die heftige Erregung seines Publikums prallte wirkungslos an ihm ab. In den gewohnt trockenen Worten berichtete er von der Generalaudienz und erwähnte fast beiläufig, dass Papst Custos einer im Rollstuhl sitzenden Frau beim Aufstehen geholfen habe. Die Vatikanisten bestürmten ihn mit Fragen nach dem wunderbaren Charakter dieses Vorgangs. Er warf einen kurzen Blick auf das vor ihm liegende Manuskript. Natürlich war er vorbereitet. Er gestattete sich ein dünnes, überlegenes Lächeln – für seine Verhältnisse schon eine Art Gefühlsausbruch.

«Es gibt echte Wunder, zu denen von Gott Auserwählte befähigt sind, und es gibt Ereignisse, die uns wie Wunder erscheinen und gleichwohl mit menschlichem Verstand zu erklären sind. In früheren Jahrhunderten glaubten die Menschen, in der Berührung eines Herrschers oder Kirchenfürsten oder auch nur seiner Kleidung liege eine Heil bringende Kraft. Selbst den Überresten von hingerichteten Verbrechern hat man diese Wirkung zugeschrieben, und das Öl, in denen solch Unglückliche zu Tode gesotten wurden, hat man als heilendes Mittel verkauft. Bei tief religiösen Menschen mag dieser Glaube auch heute fortwirken und im Verein mit der emotionalen Anspannung, die eine unmittelbare Begegnung mit Seiner Heiligkeit mit sich bringt, verloren geglaubte Kräfte in einem geschwächten Körper freisetzen.»

Für einen Augenblick schwiegen die Vatikanisten. Selbst die redegewandten Journalisten mussten die gedrechselte Erklärung erst verarbeiten. Dann prasselten Fragen über Fragen auf Wetter-Dietz ein, die ihn sämtlich unbeeindruckt ließen. Seine Antworten klangen wie vorgefertigt: Nein, Hinweise auf wundersame Heilkräfte Seiner Heiligkeit lägen nicht vor.

Selbstverständlich könne man den Vorfall während der Generalaudienz rational erklären, er habe es doch eben getan. Er bedaure, aber nähere Angaben über die Frau im Rollstuhl könne man schon aus Gründen des Datenschutzes nicht machen und natürlich auch deshalb nicht, weil Sitte und Anstand es verböten.

Es schien ganz so, als sei der Vatikansprecher nicht aus der Fassung zu bringen. Bis eine junge Frau sich erhob, den Kopf mit dem kurz geschnittenen Haar kämpferisch vorreckte und fragte: «Monsignore Wetter-Dietz, stimmt es, dass der Heilige Vater, als er noch Erzbischof von Marseille war, ähnliche angebliche Wundertaten vollbracht hat? Ich bin im Besitz von alten Pressemeldungen, die das belegen.»

Die starre Maske des Monsignore zerfiel. Für zwanzig, dreißig Sekunden zeigte sich Erstaunen in seinem Gesicht, Erschrecken.

Die Hände, die er zuvor ruhig gefaltet hatte, zuckten unbeherrscht.

«Die Presseerklärung … ist beendet!», brachte er schließlich stammelnd hervor. Dann erhob er sich und verließ den Raum wie von Dämonen gehetzt.

Eine Fernsehkamera zoomte auf die Fragestellerin. Ihre Mundwinkel waren spöttisch nach oben gezogen und ihre grünen Augen blitzten triumphierend auf. Es war Elena Vida.

Als er auf dem Glockenturm stand und durch eine der bogen-förmigen Öffnungen nach Rom hinüberblickte, war er froh, wieder in den Bergen zu sein. Er hatte den kurzen Aufenthalt im Vatikan als bedrückend empfunden, was nicht nur an dem Wolkengespinst lag, das sich über der Ewigen Stadt zusammenzog. Hier draußen schien die Abendsonne, aber trotzdem war ihm kalt ums Herz. Die Bedrohung, die vom Vatikan ausging, streckte ihre unsichtbaren Finger auch nach ihm aus, spätestens seit Heinrich Rosins überraschendem Besuch.

Pater Giorgio Borghesi bückte sich, hob die lose Bodenplatte an und zog die Metallkassette aus ihrem Versteck. Er hatte sie auf den Glockenturm gebracht, bevor er nach Rom fuhr. Seine Schlafkammer erschien ihm als Aufbewahrungsort nicht sicher genug. Natürlich hätte er das Buch auch mitnehmen und dem jungen Rosin übergeben können. Vielleicht wäre er dann aller Sorgen um Heinrich Rosins Vermächtnis ledig gewesen. Aber das hatte er zu riskant gefunden. Im Vatikan, im Herzen der Verschwörung, war Albert Rosins Geheimer Bericht nicht sicher. Gerade darum hatte Oberst Rosin die Kassette ja in die Berge gebracht.

Jetzt zweifelte der Pater an der Richtigkeit seines Handelns. Er war zu Alexander Rosin gefahren, weil er geglaubt hatte, das Buch aus dem sechzehnten Jahrhundert sei bei einem Angehörigen der Familie Rosin am besten aufgehoben. Was aber, wenn der Gardeadjutant sich als zu jung, zu wenig gefestigt erwies? Konnte der Neffe des ermordeten Kommandanten da bestehen, wo sein Onkel versagt hatte?

An jenem Abend, als er die Kassette geöffnet hatte, war Borghesi mit seiner Lektüre nicht über das erste Drittel der Aufzeichnungen hinausgekommen. So groß sein Drang, die ganze Geschichte zu erfahren, auch gewesen war, seine Angst vor dem Wissen um das Geheimnis Albert Rosins hatte gesiegt.

Jetzt aber, da er erneut alles in Zweifel zog, hatte er sich entschieden, auch den Rest zu lesen. Wenn Alexander Rosin versagte, war es vielleicht an ihm, Giorgio Borghesi, dem Bösen entgegenzutreten.

Also öffnete er die Kassette abermals, schlug das Buch auf und vertiefte sich in Albert Rosins Bericht.

Geheimer Bericht des Guardiknechts

Albert Rosin aus Zürich über die

merkwürdigen Ereignisse, deren Zeuge

er zu Zeiten der Heiligen Liga von

Cognac in Rom und andernorts wurde

Dessen zweiter Teil

Armes, gebranntes, geschändetes Rom! Wer noch Tränen hatte, mochte weinen ob all der grausigen Untaten, die sich unter unseren Augen abspielten. Wir anderen standen Tag um Tag und Nacht um Nacht auf den Mauern der Engelsburg und mussten hilflos mit ansehen, wie der Stadt und ihren Bürgern Gewalt und Spott zuteil wurden. Ganze Straßenzüge gingen in Flammen auf. Nur die großen Paläste, in denen die Reichen und Edlen sich mit ihrem Gefolge verschanzt hatten, blieben verschont, bildeten steinerne Inseln in dem Meer aus Feuer. Das hatte seinen guten Grund, wie wir bald erfuhren. Die Eingeschlossenen wurden von den Belagerern um hohe Lösegelder erpresst, so mancher nicht nur einmal. Und viele Paläste wurden, wenn in ihnen nichts mehr zu holen war, schließlich doch gestürmt und verwüstet. Ein paar wenige Glückliche, die dem Mordbrand entkamen und in unsere Burg gelangten, berichteten davon.

Wir sahen das Leid der Menschen, die man auf offener Straße zu Tode quälte. Und noch des Nachts hörten wir die erbärmlichen Schreie der geschändeten Frauen, der adligen Töchter und der frommen Nonnen, die man aus den Klöstern gezerrt und zur bösen Freude der Besatzer zusammengetrieben hatte. Gaben die Spanier sich dem Foltern und Morden auf besonders grausame Weise hin, so war es den lutherischen Deutschen ein wahrer Heidenspaß, unseren Heiligen Vater den Papst zu verhöhnen. Zu lustigem Flötenklang führten sie vor unseren Mauern unheilige Prozessionen auf, bei denen ein Esel die Papstkrone trug und verlotterte Strolche sich in erbeutete Kardinalsgewänder hüllten. Sie sangen sündige Lieder und ergingen sich wieder und wieder darin, diesen verwünschten Luther zum Papst auszurufen.

Ihr schändliches Treiben beschäftigte die Plünderer in solchem Maß, dass sie die Engelsburg weitgehend unbehelligt ließen. Sie hatten die Festung mit Laufgräben umschlossen und gaben sich damit zufrieden, uns wachsam zu beäugen, wie auch wir nicht mehr tun konnten, als ihnen zuzusehen. Offenbar hielten sie Rom und den Vatikan für die leichtere Beute. Wir wiederum waren nur dreitausend an der Zahl, darunter viele nicht im Kampf erprobt, Herren aus dem geistlichen Stand, Schreiber und Sekretäre. Die Hoffnung auf Entsatz schwand zusehends dahin.

Zwar lagerte der Herzog von Urbino mit dem Heer der Heiligen Liga von Cognac auf den Höhen vor Rom, doch traf er keine Anstalten, die Kaiserlichen zu vertreiben. Entweder war er nicht mit Mut gesegnet, oder er ließ sich, da er früher von den Päpsten viel zu erdulden gehabt hatte, mehr von seinem alten Groll als von seiner jetzigen Pflicht leiten.

Wagten sich doch einmal ein paar vorwitzige Belagerer aus ihren Stellungen, brachte das treffliche Feuer unserer Geschütze sie rasch wieder zurück in die Gräben oder um den Kopf. Dieser Benvenuto Cellini, von dem ich bereits berichtete, mochte ein Prahlhans sein, doch prahlte er nicht ohne Grund. Aufs Schießen und vor allem aufs Treffen verstand er sich wahrhaftig. Bald stieg er zu unserem besten Bombardier auf, dem die fünf Hauptstücke auf der höchsten Bastion unterstellt wurden, droben beim Engel, von wo aus man in alle Himmelsrichtungen blicken und feuern konnte.

Als an einem sonnigen Morgen ein etwa zehnköpfiger Reisigentrupp im gemächlichen Schritt und ohne zum Angriff erhobene Waffen über die Engelsbrücke auf die Burg zuhielt, ließ Cellini zwei seiner Geschütze laden und auf die Reiter richten.

Ich stand dicht bei den Geschützen und sah im hellen Morgenlicht, dass der vorderste Reiter die Parlamentärsfahne schwenkte.

«Haltet ein, nicht feuern!», schrie ich Cellini zu. «Seht Ihr denn nicht des Unterhändlers Fahne?»

«Doch, doch, sie ist ein hervorragendes Ziel. Gleich kann der Schweinehund damit dem Teufel zur Begrüßung winken.»

Und er ließ sich tatsächlich eine Lunte geben, um seinen Vorsatz auszuführen. Eilig sprang ich hinzu, riss ihm die brennende Lunte aus der Hand und trat sie mit meinem Absatz aus. Cellini funkelte mich höchst erbost an, und wir gerieten in ein Handgemenge, bis hinter uns ein Ruf erscholl: «Was soll das? Warum ringt ihr miteinander statt mit den Feinden?»

Wir wandten uns um und erblickten einen stattlichen Herrn in edler Kleidung. Es war der Edelmann Antonio di Santa Croce, dem unser Herr Papst sämtliche Bombardiere unterstellt hatte. Ich erklärte ihm den Grund unseres Streits und er gab mir Recht.

Nachdem er Cellini den Beschuss der Unterhändler ausdrücklich untersagt hatte, was mir einen vernichtenden Blick des Getadelten eintrug, begab der Edelmann sich zum Quartier des Papstes, um ihn über die neue Entwicklung zu unterrichten. So kam es, dass die Reiter dank meines Eingreifens die Engelsbrücke ungeschoren überqueren konnten. Bald sollte ich mir wünschen, ich hätte den schießwütigen Narren gewähren lassen.

Weit über die Brüstung gebeugt, starrte ich auf die Reiter hinunter und erkannte mehrere Gesichter. Es waren viele der Hauptleute, die am Abend des fünften Mai als Unterhändler in den Vatikan gekommen waren. Auch der Herr Schertlin befand sich unter ihnen sowie der unheimliche Abbas de Naggera. Der Spanier war nicht länger in das Gewand eines Mönchs gehüllt, sondern trug Mütze, Wams und Hosen eines Kriegsmannes, aber alles in schlichtem Schwarz.

Wie sehr stach davon der Reiter an seiner Seite ab, auch er ein Spanier, der mir nur zu gut bekannt war. Rufino Ossori hieß der hagere Mann, der wenige Monate zuvor noch Seiner Heiligkeit als Sekretär gedient hatte. Dann hatte man ihn in der päpstlichen Schatzkammer ertappt und ihn als vermeintlichen Dieb mit Schimpf und Schande entlassen. Jetzt ritt er mit stolzgeschwellter Brust auf einem Falben mit brokatverziertem Zaumzeug einher, ganz in rosa leuchtendes Tuch gewandet und das blanke Schwert in großspurigem Gehabe quer vor die Brust geschnallt.

Die Unterhändler wurden in die Burg gelassen und zum Papst geführt, wo sie wohl eine Stunde blieben. Dann traten die Hauptleute ins Freie zu ihren Pferden und schienen auf jemanden zu warten. Zwei von ihnen fehlten: die Spanier Abbas de Naggera und Rufino Ossori. Als auch sie endlich auf den Hof traten, waren ihre Gesichter verschlossen. Offenbar war ihre Unterredung mit Papst Clemens nicht zu ihrer Zufriedenheit ausgegangen. Nachdem sie ein paar Worte mit den wartenden Hauptleuten gewechselt hatten, saßen sie alle auf und ritten über die Engelsbrücke zum anderen Tiberufer hinüber. Das Funkeln in Cellinis Augen verriet, dass er nur zu gern ein paar Geschosse mitten in den Trupp gesandt hätte.

Während die Reiter sich jenseits der Brücke aufteilten und in verschiedene Richtungen zerstreuten, erhielten wir auf der Engelsbastion hohen Besuch. Clemens selbst erschien, an seiner Seite Herkules Göldli und Fabien Maurois, der vom Stallknecht zum engsten Berater des Papstes aufgestiegen war. Die Kardinäle waren ob unserer aussichtslosen Lage derart zerstritten, untereinander und mit dem Heiligen Vater, dass Maurois’ Rat ihm mehr galt als alles, was seine Purpurträger vorzubringen hatten.

Clemens sah verzweifelt aus, niedergeschlagen und zornig zugleich. Der hoch gewachsene Mann ging gebeugt und erschien dadurch viel kleiner. Seine Wangen waren von einem Bart bedeckt, den er nicht mehr scheren ließ, seit Rom den Kaiserlichen in die Hände gefallen war.

«Ist der Verräter noch zu sehen?», rief er mit vor Erregung bebender Stimme.

«Von wem sprecht Ihr, Heiliger Vater?», fragten Cellini und ich wie aus einem Mund.

«Von diesem hinterhältigen Spanier, Rufino Ossori! Er war kein Dieb, wie wir dachten, jedenfalls nicht im üblichen Sinn. Er war nicht auf Gold und Silber aus, sondern auf das Geheimnis …»

Der Papst schwieg plötzlich, als habe er in seiner Erregung zu viel gesagt.

Ich hatte die Stirn mit der flachen Hand beschattet und Ausschau nach Ossori gehalten. Tatsächlich entdeckte ich ihn im Schatten der großen Handelsniederlassungen, wo er sich von seinen Begleitern getrennt hatte. Er hatte den Falben angehalten und redete unter großtuerischem Gestikulieren auf eine Gruppe Soldaten ein. In seiner rosafarbenen Geckentracht war er gut zu erkennen.

Als ich Seine Heiligkeit auf ihn aufmerksam gemacht hatte, wandte der Heilige Vater sich an den Goldschmied: «Könnt Ihr ihn treffen, Meister Cellini?»

«Ihr meint, mit meinen Geschützen?»

«Womit sonst!», schnaubte der Papst.

Cellini beschattete ebenfalls seine Augen und starrte über den Tiber. «Es ist weit, aber es müsste möglich sein, vorausgesetzt, die Menge Pulver, die Schwere des Geschosses und die Ausrichtung des Geschützes stimmen.»

«Dann sorgt dafür, dass alles stimmt!», befahl der Papst.

«Fünfundzwanzig Scudi für Euch, wenn Ihr den Verräter trefft!»

Seine Augen glühten. In diesem Augenblick wirkte er nicht wie unser Heiliger Vater, sondern war ganz und gar ein zu allem entschlossener Feldherr des Hauses Medici. Einer, der gegen einen einzelnen Mann zu Felde zog.

Die in Aussicht gestellte Belohnung war fürstlich zu nennen.

Für die Summe hatte ein einfacher Dienstbote zwei Jahre zu arbeiten. So ging Cellini denn auch mit wahrem Feuereifer an seine Aufgabe und wählte unter seinen fünf Hauptstücken des geeignete Geschütz aus. Er erteilte den Männern an den Geschützen Befehle, als habe er sein Lebtag nichts anderes getan.

Genau bemaß er die Pulvermenge, die mit der Ladeschaufel ins Rohr befördert wurde, und wählte eigenhändig unter den Eisenkugeln die richtige aus. Dann gab er Anweisungen, das Rohr durch das Eintreiben von Keilen zu richten, und erklärte dem Papst: «Wegen der weiten Entfernung muss ich im hohen Bogen schießen, was ein schwieriges Unterfangen ist.»

«Aber Ihr werdet doch treffen?», erkundigte Clemens sich besorgt.

«Ja, so Gott mit mir ist.»

«Das ist er, mein Sohn. Dieser Mann dort drüben hat die heilige Kirche und damit unseren Gott im Himmel verraten.»

«Na, dann will ich’s ihm geben!», knurrte der Goldschmied und legte die Zündrute mit der glimmenden Lunte an die Zündpfanne.

Mein Blick flog zwischen Cellini und Ossori hin und her, und eine eigenartige Spannung ergriff mich. Jeden Augenblick konnte der Spanier sich bewegen, mochte der Falbe durch ein Tänzeln seine Stellung verändern, und sämtliche Mühe wäre vergebens gewesen. Obgleich ich nicht wusste, welchen Verrat Ossori begangen hatte, schickte ich ein Stoßgebet gen Himmel, die Kugel möge ihr Ziel treffen.

Und dann krachte der Schuss. Eine Rauchwolke hüllte uns ein und nahm uns die Sicht. Wir wedelten mit den Händen, um den Rauch zu vertreiben, und starrten mit großen Augen zum anderen Ufer hinüber. Was wir sahen, war so unglaublich, dass es nur auf eine Weise zu erklären war: Gott musste tatsächlich mit uns sein!

Der Falbe stieg aufgeschreckt mit den Vorderbeinen in die Luft und niemand hielt den Zügel. Nur der Unterleib mit den Beinen saß noch im Sattel, der übrige Teil des Spaniers fehlte.

Als der Eisenkugel keine weiteren Geschosse folgten, kamen die kaiserlichen Soldaten langsam aus der Deckung und scharten sich aufgeregt um eine Stelle am Boden.

Der Papst starrte mit zusammengekniffenen Augen auf den Ort des Tumults und stellte mit befriedigtem Aufseufzen fest:

«Gelobt sei der Herr, dort liegt der Rest des Verräters!»

Erstaunt wandte ich mich an Cellini: «Wie ist das nur möglich?»

Der Goldschmied selbst schien nicht minder überrascht. «Ich weiß nicht recht. Vielleicht war es das Schwert. Er hat es mit blanker Klinge getragen; mag sein, dass es, von der Kugel getroffen, den Mann durchgeschnitten hat.»

Im Lager der Spanier herrschte kein geringerer Aufruhr als bei uns. Es entsetzte sie, dass wir auf so große Entfernung einen ihrer Hauptleute in zwei Teile zerlegt hatten. In der Engelsburg hingegen, wo die Nachricht rasend schnell die Runde machte, brach lauter Jubel aus, als hätte Cellini mit seinem Schuss sämtliche Feinde erlegt.

Der Papst sah den Bombardier hochzufrieden an. «Kommt mit mir, Meister Cellini. Wir haben etwas zu besprechen.»

Als der Goldschmied an mir vorüberging, zwinkerte er mir mit einem Auge zu und flüsterte: «Fünfundzwanzig Scudi!»

Nach einer halben Stunde kehrte er auf die Engelsbastion zurück und wirkte gar nicht mehr so frohgemut.

«Was ist mit Euch?», fragte ich. «Hat Seine Heiligkeit Euch den versprochenen Lohn vorenthalten?»

«Nein, ich habe mehr bekommen, als der Papst mir versprochen hat.»

«Dann solltet Ihr Euch freuen.»

«Was ich zusätzlich erhielt, ist kein Silber, sondern ein Auftrag.»

«Was für ein Auftrag?»

Cellinis besorgte Züge hellten sich auf und er bedachte mich mit einem vieldeutigen Grinsen. «Geht und fragt den Papst. Er selbst will es Euch sagen.»

«Der Papst? Was will er von mir?»

«Wenn Ihr so neugierig seid, Schweizer, dann nehmt die Beine in die Hand!»

Ich befolgte den Rat und traf Clemens in seinem Speisesaal, wohin Fabien Maurois mich führte. Der Franzose ließ uns allein, und der Papst unterbrach meine Ehrbezeugungen mit einer Handbewegung.

«Lass das, mein Sohn, wir sind unter uns. Setz dich und iss mit mir. Du musst dich stärken für das, was vor dir liegt.»

Der Tisch war in Anbetracht der Tatsache, dass es sich um die Tafel Seiner Heiligkeit handelte, einfach gedeckt: gebratenes Huhn, Brot, Bohnen, geschmorte Zwiebeln und Birnen in süßem Saft, dazu Wein und Wasser. Auch der Papst litt unter den Beschränkungen des Belagerungszustands. Da wir alle in den vergangenen Tagen spärlich gelebt hatten, hätte ich die Einladung wohl durch herzhaftes Zugreifen ausnutzen sollen.

Jedoch verspürte ich keinen rechten Appetit, was an der ungewohnten Tischgesellschaft liegen mochte, vor allem aber an der Ahnung, dass der Heilige Vater eine nicht unbedingt angenehme Mitteilung für mich hatte.

Während er Huhn und Zwiebeln aß, zeigte er wie beiläufig auf eine abgeschabte, eisenbeschlagene Holzschatulle und sagte kauend: «Hier drin ruht das größte Geheimnis der Christenheit, die Macht, die über unser aller Seelenheil entscheidet.»

Ich betrachtete den unscheinbaren Kasten, der nicht größer war als eine Hand. Ihn anzufassen wagte ich nicht. Zudem war er durch drei Schlösser gesichert, sodass ich den Inhalt nicht hätte erspähen können.

«Frag nicht, was es ist», kam Clemens mir zuvor. «Deine Aufgabe ist nur, diese Schatulle zu beschützen und heil wieder zurückzubringen. Zusammen mit Meister Cellini.»

«Zurück? Aber …»

«Heute Nacht werdet ihr beide die Engelsburg verlassen», fuhr mein Gastgeber unbeirrt fort. «Es ist eine gefährliche Mission, von der nicht nur unser aller Wohl und Wehe hier in der Burg abhängt, sondern auch der Fortbestand der Christenheit. Als du mir beim Rückzug in die Burg beigestanden hast, habe ich deinen Mut und deine Verlässlichkeit erkannt. Außerdem war ich es nicht allein, der dich für diese Aufgabe ausgewählt hat.»

«Wer denn noch?», wagte ich zu fragen.

«Meister Cellini schlug dich vor. Er scheint ebenso angetan von dir wie ich.»

Cellini! In diesem Augenblick begriff ich den Grund seines unverschämten Grinsens und ich hätte ihn erwürgen mögen.

Vielleicht hätte ich Cellini tatsächlich erwürgt, wären nicht Fabien Maurois, Herkules Göldli und Hans Gutenberg bei uns gewesen. Zudem hatte ich Mühe mit dem schweren Leder der seltsamen Kleider, in die ich unbeholfen geschlüpft war. Jede Regung, gleich ob mit Arm oder Bein, geriet ungelenk. Ich konnte mich kaum bücken, um die Stiefel auszuziehen, deren Sohlen zu allem Überfluss auch noch mit Blei ausgegossen waren. Es gelang nur, weil Gutenberg mir Hilfe leistete. Sein bärtiges Gesicht wirkte, durch die beiden Sehgläser vor meinen Augen betrachtet, trübe.

Selbst das Atmen fiel mir schwer. Schweiß bedeckte meine Stirn und mein Gesicht ob der ledernen Kappe, die mein Haupt umschloss. Schon zog Gutenberg mir die eigenartigen Handschuhe über, deren Finger durch dünne Lederhäute verbunden waren; meine Hände glichen den Füßen einer Ente.

«Was für ein Unsinn», brummte ich, und meine Stimme klang dumpf unter der Lederhaube. «Wie soll unsere Flucht aus der Engelsburg gelingen, wenn wir uns kaum rühren können?»

Cellini, der die lederne Hose angezogen hatte, aber noch nicht das Wams mit der Haube, lächelte mir zu. «An Land mag diese Tracht hinderlich sein, aber unter Wasser wird sie unser Fortkommen beschleunigen, ja überhaupt erst ermöglichen.»

«Habt Ihr’s ausprobiert?», fragte ich.

«Bislang hat noch niemand die Anzüge erprobt», antwortete Maurois. «Wir haben sie für einen Fall wie diesen aufbewahrt.»

«Woher wollt Ihr dann wissen, dass wir nicht elendig ertrinken?», schnaubte ich.

«Meister Leonardo hat versichert, dass auf seine Entwürfe Verlass ist.»

«Meint Ihr diesen Leonardo aus Vinci, der lange Jahre in Mailand bei Ludovico il Moro und dann bis zu seinem Tod beim König von Frankreich in Diensten stand?»

«Den meine ich. Er war auch in Rom und hat damals dem Heiligen Vater diese beiden Anzüge als Dankesgeschenk überlassen.»

«Ein seltsames Dankesgeschenk! Wofür hat der Heilige Vater es erhalten?»

«Meister Leonardo durfte zu Studienzwecken Einblick in die Geheimsammlung des Vatikans nehmen.»

Meine Neugier in dieser Sache war weitaus größer als mein Verlangen, die lederne Unterwasserkleidung einer Tauglichkeits-prüfung zu unterziehen. Doch war jetzt auch Cellini in Wams und Haube gefahren und hatte die Schwimmhandschuhe übergestreift, sodass unserem Aufbruch nichts mehr im Wege stand. An den breiten Gürteln, die Wams und Hose verbanden, hingen große Dolche in ledernen Scheiden und mehrere Ausrüstungsgegen-stände sowie bei dem Goldschmied zusätzlich ein lederner Beutel mit der geheimnisvollen Schatulle. Ich warf einen letzten Blick in die Runde. Das nackte, kalte Kellergewölbe erschien mir geradezu heimelig, dachte ich an das bevorstehende Abenteuer, das, so meinte ich, nur damit enden konnte, dass wir beide ertranken.

Cellini winkte uns zu, nahm von Göldli die Lanze mit der gebogenen Spitze entgegen und stieg als Erster in den Schacht, durch den bei Überschwemmungen das Wasser abfließen konnte. Ich wollte hinter dem Goldschmied nicht zurückstehen, griff nach meiner Lanze und schob mich ebenfalls in die düstere Öffnung. Schon jetzt fiel mir das Atmen durch den Lederschlauch an meiner Kopfhaube schwer, wie sollte das erst unter Wasser werden!

Eiserne Sprossen, die in regelmäßigen Abständen in die gerundete Mauer geschlagen waren, erleichterten uns den Abstieg. Üblicherweise wurden sie von den Knechten benutzt, die den Schacht bei Verstopfung zu reinigen hatten. Erst kurz über dem Wasser hörten die Eisensprossen auf. Cellini tauchte vor mir unter, und misstrauisch beäugte ich, ob noch Leben in ihm war. In gebückter Haltung kroch er durch den Schacht. Ich tat es ihm nach und wäre am liebsten sofort umgekehrt, als das Ende meines Atemschlauchs unter Wasser geriet und sich dank Meister Leonardos ausgeklügelter Konstruktion verschloss.

Solange wir uns in dem Abflussschacht befanden, mussten wir mit der wenigen Luft in unseren Hauben und Schläuchen auskommen.

Es war nun vollkommen dunkel, aber wir konnten uns nicht verlaufen. So schnell wie möglich krochen wir voran, und irgendwann war es mir gleichgültig, ob der Schacht jemals ein Ende nehmen würde. Meine Lungen, in die kaum noch frische Luft gelangte, brannten, und heftiger Schwindel überfiel mich wie ein Rausch. In diesem Rausch, der dem nach einem Übermaß an Wein ähnelte, wollte ich sterben.

Etwas packte mich und zog mich mit sich. Undeutlich nahm ich wahr, dass es aufwärts ging, dass ich mich nicht länger bücken musste wie der Höfling eines osmanischen Herrschers.

Und endlich drang wieder Luft in meine Lungen, sodass ich gar nicht mehr aufhören wollte, schnell und heftig Atem zu schöpfen. Durch die nassen Sehgläser erblickte ich Cellini, und obwohl sein Gesicht durch die Lederhaube verhüllt war, hätte ich schwören können, dass er grinste. Was mich weniger ärgerte als der Umstand, dass ich ausgerechnet ihm mein Leben verdankte. Hätte er mich nicht nach oben gezogen, wäre ich in dem gottverdammten Abflussrohr erstickt.

Eine Welle hob mich an, und mein Kopf wurde über die Wasseroberfläche getragen. Ich sah den Lederschlauch mit der handtellergroßen Korkscheibe, die das obere Schlauchende über Wasser hielt. Und ich sah die düsteren Mauern der Engelsburg, die weiter hinten mit dem Nachtdunkel verschmolzen.

Vereinzelte Feuer hinter den Wällen sandten einen unwirklichen Lichtschein aus.

Meine behandschuhte Rechte griff nach einem steinernen Brückenpfeiler, die Strömung sollte mich nicht fortschwemmen.

Der Pfeiler gehörte zu der Arkade, die der Burg am nächsten liegt. Zum anderen Ufer, wo das Licht zahlreicher Feuer von den Belagerern kündete, war es noch weit. Neben mir zeigte Cellini zum linken Ufer. Ich nickte zum Zeichen, dass ich bereit war, und wir begannen unseren ungewöhnlichen Marsch.

Unsere bleigefüllten Schuhe hielten uns am Grund des Flusses.

Mal waren wir bis zum Kopf von Wasser eingeschlossen, dann wieder, wo der Tiber weniger tief war, lugten unsere Häupter hervor. Wir hielten uns im Schatten der Engelsbrücke, die uns auch unter Wasser Orientierung bot. Meine Bewunderung für den verstorbenen Meister Leonardo war grenzenlos. Schon dass Cellini und ich unter Wasser atmen konnten, war ein Wunder.

Aber mehr noch, die schwere Lederkluft war im Wasser tatsächlich kaum hinderlich. Zwar konnten wir nicht so schnell laufen wie ein Mann an Land, doch kamen wir zügig voran. In einer Hand hielt ich die Lanzenstange, mit der ich den Boden vor mir nach abgründigen Tiefen untersuchte, mit der anderen fuhr ich, die Finger gespreizt, durchs Wasser, und die feinen Lederhäute, die sich zwischen den Fingern spannten, beschleunigten mein Vorankommen.

Nachdem wir die letzte Arkade erreicht hatten, bewegten wir uns von der Brücke fort. Am Brückenkopf hatten die Kaiserlichen eine starke Wache aufgestellt, was es selbst im Schutz der Nacht höchst unklug erscheinen ließ, ausgerechnet hier den Fluss zu verlassen. Für dieses Unterfangen wählten wir eine abgeschiedene Einbuchtung aus, deren dichter Bewuchs uns vor den Blicken der Landsknechte und Söldner schützte.

Das Ufer war hier sehr steil und in den schweren Lederanzügen kaum zu erklimmen. Nun kamen uns die mitgeführten Lanzen zupass. Die gekrümmten Eisenspitzen fanden am Ufer Halt, sodass wir uns an den Schäften aus dem Wasser ziehen konnten.

Gerade wollte ich Gott dem Herrn für seine Gnade danken, da lösten sich vier Gestalten aus dem Schatten einiger Silberweiden. Drei Landsknechte schleppten eine junge, sich heftig sträubende Frau zum Ufer, entweder um ihr Gewalt anzutun oder um sie zu ersäufen. Als sie uns erblickten, blieben die Soldaten stehen, Augen und Münder weit aufgerissen. Wir mussten ihnen wie Fabelwesen erscheinen.

«Die Dämonen der Nacht entsteigen dem Fluss!», stieß einer der Männer mit schwerer Zunge hervor und zog seinen Katzbalger. «Zeigen wir ihnen, wie wir Landsknechte kämpfen!»

Offenbar hatten die berauschenden Getränke ihren Mut geschürt oder, was oft dasselbe ist, ihren Verstand benebelt.

Während ein Mann die Frau festhielt, hob auch der dritte seine Waffe, einen Streithammer.

Ich trat, so schnell es mir in dem Lederanzug möglich war, nach vorn und holte mit der Hakenlanze aus. Der Haken verfing sich im Bein des Mannes mit dem Streithammer. Er fiel hin und rollte auf dem abschüssigen Boden direkt vor meine Füße. Ein zweiter Hieb, und der Haken fuhr in den Hals des Feindes, wo er eine tiefe Wunde hinterließ. Ich griff nach dem großen Dolch an meinem Gürtel, beugte mich über den heftig Blutenden und vollendete mein Werk, indem ich ihm die Kehle vollends durchschnitt.

Cellini war ebenfalls erfolgreich. Der Wein mochte die Angriffslust der Landsknechte beflügeln, aber er machte ihre Bewegungen auch langsam und fahrig. Cellini war dem wütenden Ansturm des Feindes ausgewichen, und jener fiel stolpernd in den Tiber. Jetzt stand der Goldschmied am Ufer und schlug wieder und wieder mit seiner Lanze auf ihn ein, bis der Landsknecht jämmerlich ersoffen war.

Der dritte Soldat ließ die Frau los und wollte davonlaufen.

Falls es ihm gelang, Hilfe zu holen, waren wir in ernster Gefahr.

Mit den schweren Stiefeln konnte ich ihn niemals einholen, also schleuderte ich meine Lanze zwischen seine Beine und brachte ihn dadurch zu Fall.

Mein Versuch, in der Unterwasserkleidung auch an Land schnell voranzukommen, endete höchst unglücklich: Ich kam ins Stolpern und fiel auf den Landsknecht, der sich eben hochstemmen wollte. Wir rangen miteinander, und als ich es immerhin geschafft hatte, mich auf die Knie zu erheben, sah ich, wie Cellini sich mit gezücktem Dolch auf den Kaiserlichen stürzte und ihm den Garaus machte.

Während der Soldat in seinem Blut verendete, zog ich die Handschuhe aus, löste den Gürtel und schälte mich aus Meister Leonardos ebenso nützlicher wie einengender Erfindung. Die Kleider, die ich darunter trug, waren nicht allein vom Schweiß durchnässt; gänzlich wasserdicht war der Anzug eben doch nicht. Auch Cellini legte das Lederzeug ab.

Die Frau betrachtete uns mit einer Mischung aus Neugier und Furcht. Hatten wir sie auch vor den Kaiserlichen gerettet, flößten wir ihr doch offensichtlich Angst ein. Dass ihr Gemüt so leicht zu erschüttern war, wunderte mich nicht. Ihr einstmals prachtvolles, jetzt verschmutztes und zerrissenes Kleid und die blutigen Schrammen in ihrem schönen Gesicht und auf ihren nackten Armen zeugten davon, dass sie einiges durchgemacht hatte.

Ihre Furcht war größer als ihr Vertrauen. Überraschend flink sprang sie auf und wollte die Uferböschung hinauflaufen. Cellini bekam gerade noch einen Fetzen ihres reich bestickten Samtkleides zu fassen, riss sie zu Boden, warf sich auf sie und hob den Dolch, an dessen breiter Klinge noch das Blut des Landsknechts klebte. Ich sprang hinzu und hielt den Waffenarm des Goldschmieds fest.

«Seid Ihr des Teufels?», fuhr ich ihn im Flüsterton an. «Was hat das Kind Euch getan?»

«Das Kind ist eine Soldatenhure», erwiderte Cellini finster.

«Und wenn sie ihren Buhlen von uns erzählt, ist es im Handumdrehen aus mit uns.»

«Ihr habt Recht, ich bin für Geld zu kaufen», sagte die dunkel-haarige Schöne mit bebender Stimme. «Aber ich gebe mich nicht dem Landsknechtspack hin. Diese drei sind mit Gewalt über mich hergefallen. Ich glaube, sie wollten mich ertränken.»