Vierundzwanzig

Am nächsten Morgen stand Allie in aller Herrgottsfrühe im Garten und rammte ihre Schaufel in den matschigen Boden. Der Regen tropfte ihr in die Augen, während sie versuchte, die Furche vor ihr tiefer und gerader zu machen.

Eine Reihe weiter stand Carter und tat dasselbe, nur schneller und besser.

Es regnete nun schon seit einer halben Stunde. Eisig und unbarmherzig tröpfelte es vor sich hin – es war ein Elend: so nasskalt, dass es einem durch alle Kleiderschichten bis auf die Knochen ging.

Was für eine sinnlose Zeitverschwendung. Wir reißen hier draußen unseren Arrest runter, wo wir doch drinnen so schön weiter nach dem Spion suchen könnten. Ohne uns den Arsch abzufrieren.

Allie zog sich die Wollmütze über die Ohren und hätte sie sich am liebsten übers ganze Gesicht gestülpt.

Sie hielt einen Moment inne und sah Carter bei der Arbeit zu. Da er hier aufgewachsen war – er war mehr oder weniger von Mr Ellison großgezogen worden –, hatte er viel mehr Übung als sie, und doch war er nie viel weiter als sie. Allie hatte das Gefühl, dass er sich bremste, um in ihrer Nähe zu bleiben. Trotzdem hatte er den ganzen Morgen über noch kein einziges Wort mit ihr gewechselt.

Das macht mich wahnsinnig.

Der Abend mit Sylvain hatte sie noch einmal alles überdenken lassen. Mit Sylvain war es anders, als es je mit Carter gewesen war. Sylvain glaubte unerschütterlich daran, dass sie, Allie, ihre Sache schon gut machen würde. In seiner Gegenwart hatte sie Selbstvertrauen.

Seine Aufmerksamkeit war wie ein heller Lichtstrahl, der auf sie schien – und sie wärmte. Und in dem sie wachsen und gedeihen konnte.

Nachdem die Wachen verschwunden waren, hatten sie sich eilig in ihren jeweiligen Schlaftrakt zurückgeschlichen. Zum Reden blieb keine Zeit. Doch wenn sie an den Moment im Flur dachte, als sich ihre Hände berührt hatten … dann machte ihr Herz einen Sprung. Wie konnte so etwas Einfaches wie eine Berührung eine solche Wirkung auf sie haben? Aber so war das eben bei Sylvain. In der Zeit vor Jos Tod hatte er sie manchmal nur anschauen müssen, und schon war es um sie geschehen.

Romantische Liebe.

Carters Spaten schnitt mit einem satten Geräusch in den Schlamm und erinnerte sie daran, warum sie eigentlich hier war.

Seufzend nahm sie die Schaufel in die Hand und stocherte in der Erde herum. Regentropfen hefteten sich an ihre Wimpern, sodass sie Carter wie durch ein Prisma sah. Seine Wangen waren rot vor Kälte, und er war klitschnass. In der ganzen Zeit sah er nicht ein Mal zu ihr auf.

Sie stieß den Spaten in die Erde. Heftiger diesmal.

Warum musste mit Carter immer alles so furchtbar kompliziert sein? Seine Gefühle waren ein einziges Labyrinth aus Vertrauen und Misstrauen, Glaube und Zweifel.

Zum Beispiel heute. Da waren sie nun schon allein im Garten und hätten eine Menge zu bereden gehabt. Bestimmt hatte Sylvain ihm gestern Abend noch von dem Schlüssel erzählt. Sie hatten vereinbart, dass er Carter informieren würde und Allie die Mädchen.

Und doch hatte Carter die Sache heute Morgen mit keinem Wort erwähnt. Um genau zu sein, hatte er noch gar kein Wort über irgendwas verloren.

So konnte es nicht weitergehen. Es musste etwas geschehen.

»Willst du mich jetzt den ganzen Tag ignorieren?«, fragte sie schließlich. »Oder nur hier, bei diesem Scheißwetter, wo wir allein sind und den verkackten Schlamm schippen?«

Carter sah nicht von seiner Arbeit auf. »So was sagt man nicht.«

»Kann schon sein«, erwiderte sie und stieß wütend den Spaten in den Boden. »Hauptsache, man sagt überhaupt was!«

»Na schön«, seufzte Carter. Er richtete sich auf, stützte sich auf seinen Spaten und sah sie reserviert an. »Hi, Allie. Wie geht’s dir denn so heute Morgen?«

»Ausgezeichnet, Carter. Könnte nicht besser sein.«

Der Regen rann ihr übers Gesicht und sickerte unter ihrem Schal bis zu den Schultern durch. Es war zu viel.

»Ich mach jetzt Pause, sonst hol ich mir noch ’ne Lungenentzündung«, sagte sie und schaute ihn an. Als er keine Antwort gab, versuchte sie es noch einmal: »Willst du mitkommen? Ich geh nur kurz da rein.« Sie deutete mit ihrer Schaufel auf einen kleinen Schuppen an der Gartenmauer.

Carter sah zunächst nicht auf, sodass sie schon dachte, er werde sie abblitzen lassen. Doch dann streckte er sich und schulterte seinen Spaten. »’ne Lungenentzündung wäre jetzt echt das Letzte, was ich gebrauchen kann.«

Der Schuppen war zwar unbeheizt, besaß aber wenigstens Türen, die den Regen draußen hielten, und eine Bank in der Ecke, sodass sie nicht auf dem kalten Boden sitzen mussten. Allie hängte ihre tropfnasse Mütze und den feuchten Schal an einen rostigen Nagel, der neben der Tür aus der Wand ragte. Dann schüttelte sie ihre Haare. Lauter feine, kalte Wassertröpfchen bestäubten die Luft. Ihre Haare waren in letzter Zeit gewachsen; die langen, dunklen Strähnen gingen ihr nun bis über die Schultern.

»Die roten Haare fehlen mir irgendwie«, ertönte es von hinter ihr.

Sie wirbelte herum. Carter hatte sie die ganze Zeit von der Bank aus beobachtet.

»Echt jetzt?«, erwiderte sie zweifelnd. Sie nahm eine Strähne zwischen die Finger und betrachtete sie leidenschaftslos. »Ich komme mir immer ein bisschen komisch vor, wenn ich sie jetzt färbe. So, als wäre das gar nicht ich, die ich da sehe, wenn ich in den Spiegel schaue.« Mit einem Seufzer ließ sie sich auf die andere Seite der Bank fallen. »Allerdings – vielleicht ist das ja gar nicht so schlecht.«

»Wieso?«, fragte Carter. »Magst du dich selbst nicht?«

»Manchmal«, meinte sie achselzuckend. »Im Moment gerade nicht so.«

»Und wieso nicht?«

Der Blick, den sie ihm zuwarf, besagte: Ach komm, die Antwort kennst du doch selber.

»Ach so«, sagte er und senkte den Blick. »Das.«

»Ja. Das«, erwiderte sie und verschränkte die Arme fest vor dem Oberkörper. »Können wir mal über das reden?«

Carter machte eine unverbindliche Geste.

»Weißt du …« Allie suchte nach den richtigen Worten. »Irgendwie fühlt sich das alles so komisch an. Und seit es passiert ist, gehen wir uns nur noch aus dem Weg und tun immer so kühl, wenn wir uns sehen. Dabei hatten wir’s fast schon geschafft, Freunde zu sein. Und jetzt dieser totale Rückschritt. Das finde ich …«, sie seufzte und ließ die Schultern hängen, »… einfach blöd.«

Carter verlagerte sein Gewicht, und die klapprige Bank wackelte gefährlich.

»Ich weiß«, sagte er. »Aber irgendwie … Ich weiß einfach nicht, wie ich damit umgehen soll.« Er betrachtete eingehend seine Finger. »Du bringst mich immer so durcheinander. Ich denk immer, ich weiß, was ich will – und dann kommst du, und alles ist wieder so ein Kuddelmuddel.«

Dieses Gefühl kannte Allie nur zu gut. »Aber das machst du mit mir genauso.«

Carter rieb sich die Augen. »Es ist nur so … Jules und ich – wir sind seit dem Tag, als sie nach Cimmeria kam, befreundet. Hab ich dir das eigentlich je erzählt?« Allie schüttelte den Kopf. »Wir waren noch halbe Kinder. Ich war ein zorniges, total verkorkstes Waisenkind. Und sie kam da an mit ihren teuren Koffern und dem Kindermädchen, hat mich einmal angeguckt und gesagt: ›Hallo, ich bin Jules. Ich bin deine neue beste Freundin.‹« Die Erinnerung löste bei Carter ein warmherziges Lachen aus. »Und genau so kam’s. Von dem Moment an waren wir die besten Freunde. Sie war so selbstsicher und resolut. Wir haben zusammen gelernt, sind zusammen aufgewachsen, zusammen in die Night School gekommen … Wahrscheinlich war es völlig unvermeidlich, dass wir irgendwann einmal ein Paar werden. Aber als es dann passiert ist, auf dem Winterball, war es eher so ein Unfall. Wir hatten beide zu viel getrunken, und dann – ist es einfach passiert. Am nächsten Tag dachte ich, es war ein Fehler. Aber mit der Zeit dachte ich dann …« Er zögerte. »Vielleicht ist das doch nicht so verkehrt. Sie kennt mich so gut und … wir kommen prima miteinander aus. Mit ihr ist es irgendwie anders.«

Allie wusste, dass er es nicht so gemeint hatte, doch seine Worte schnitten ihr wie eine Rasierklinge ins Herz. Denn miteinander auskommen, das war genau die eine Sache, die Carter und sie als Paar nie hinbekommen hatten. Die Vorstellung, dass Jules und er nie Streit hatten – und sich einfach blind verstanden –, kam ihr wie ein weiterer Beleg für ihr eigenes Versagen als Carters Freundin vor.

Es war irgendwie komisch – er hatte alles gesagt, was sie hören wollte. Und trotzdem tat es weh.

»Neulich, als wir zusammen durch den Wald gelaufen sind«, fuhr Carter fort, »da war es irgendwie so wie früher. Und ich hab dich einfach nur angesehen und mich daran erinnert, wie es mit uns war. Also, an die guten Sachen. Und dann ist irgendwie der Gaul mit mir durchgegangen, und ich hab’s verbockt. Tut mir leid, Allie, aber Jules bedeutet mir sehr viel. Ich kann sie nicht einfach …« Carter verstummte. Auf seinen Wangen hatten sich rote Flecken gebildet. »Wenn sie je davon erfährt, was passiert ist …«

Auf dieses Stichwort hatte Allie nur gewartet.

»Das wird sie nicht«, versicherte sie ihm inbrünstig. »Jedenfalls nicht von mir. Und du darfst ihr’s nie erzählen! Ich hatte auch nicht vor, dich zu küssen. Es war ein Versehen. So was wie ein Autounfall oder so. Wir waren alleine da draußen, es war dunkel, und wir waren es einfach gewohnt, uns zu küssen. Aber jetzt müssen wir eben so tun, als wär’s nie passiert – und lernen, Freunde zu werden. Richtig gute Freunde«, sagte sie voller Leidenschaft. »Carter, ich möcht so gerne, dass wir wieder Freunde sind. Ich möcht dich nicht schon wieder verlieren. Lass uns bitte einfach … Freunde sein!«

Carter war sichtlich überrascht davon, wie nahe ihr das Ganze ging. »Aber du hast mich doch nie verloren, Allie«, sagte er und sah sie an. »Also, nicht wirklich.«

Sie wusste, dass das nicht stimmte.

»Wir haben einander verloren. Und wenn wir je wieder zusammenkommen, wird das, glaube ich, wieder passieren«, erwiderte sie resolut. »Lass uns einfach für immer Freunde bleiben, Carter.«

Er schaute ihr tief in die Augen. »Ich werde immer dein Freund sein, Allie. Für immer und ewig. Ich schwör’s.«

Als der Nachmittagsunterricht endlich um war, rannte Allie nach unten, wo sie mit den anderen verabredet war. Bei jedem Schritt rumpelte die schwere Büchertasche rhythmisch gegen ihre Hüfte. Sie hatte das Ende der großen Treppe beinahe erreicht, da hörte sie, wie jemand ihren Namen rief.

Als sie sich umdrehte, sah sie Katie auf sich zukommen. Sie trug das Haar offen, und ihre langen, kupferfarbenen Locken loderten im Nachmittagslicht.

»Ich such schon die ganze Zeit nach deiner … ja, wie soll ich sagen? Bande.« Katie betonte das Wort mit offenkundigem Abscheu. »Ich muss mit dir sprechen.«

Allie rollte nur mit den Augen. »Bande, Freunde, egal. Was ist denn?«

»Meine Eltern haben sich bei mir gemeldet.«

Allie runzelte die Stirn. »Wie – gemeldet?«, fragte sie und dachte: Versteh ich nicht. Das muss doch über Isabelle laufen – und die ist gar nicht da.

Katie warf ihr einen gelangweilten Blick zu. »Kriegst du eigentlich gar nix mit, Allie? Die können machen, was sie wollen. Wenn sie mit mir reden wollen, dann reden sie mit mir. Es würde echt helfen, wenn du wenigstens ein Mal nicht mit mir streiten würdest.«

Allie hob beschwichtigend die Hände. »Ist ja gut. Du hast also mit deinen Eltern geredet. Und, ist alles … okay?«

»Gar nichts ist okay«, blaffte Katie. »Sonst würde ich ja wohl kaum hier stehen und mit dir reden, oder?« Sie wechselte den Tonfall und sagte mit Bettelstimme: »Ach, hi, Allie, ich muss dir unbedingt was erzählen: Es ist wirklich gar nix Interessantes passiert!«

Allie konnte sich nur mühsam beherrschen. »Meine Güte, Katie. Jetzt komm mal runter. Erzähl mir einfach, was los ist. Wenn’s geht, heut noch.«

»Dass ihr auch die Einzigen sein müsst, die mir helfen können. Ich pack’s nicht«, murmelte Katie angewidert. Sie ließ den Blick schweifen, um sicherzugehen, dass niemand sie belauschte, dann senkte sie die Stimme. »Sie haben gesagt, dass sie vielleicht noch diese Woche für einige Zeit wegfahren. Und dass ich doch mitkommen soll. Ich soll doch schon mal für alle Fälle Koffer packen.«

»Wieso sollst …?«, setzte Allie an. Doch kaum hatten die Worte ihren Mund verlassen, begriff sie, was Katie meinte.

»Oh.«

»Genau: Oh

Allie sah Katie bestürzt an. »Diese Woche?«

Das war eine Katastrophe. Dabei waren sie so nahe dran, den wirklichen Spion zu entlarven. Sie hatten den Schlüssel gefunden, jetzt mussten sie noch die Ausbilder zur Rede stellen, einen Plan aushecken, Zelazny enttarnen und ihn sich irgendwie gegen Nathaniel zunutze machen. Doch von den Ausbildern fehlte noch immer jede Spur. Die Schüler waren ohne Schutz. Die Sache war erst zur Hälfte erledigt.

»Scheiße, Scheiße, Scheiße. Katie, wir sind noch nicht so weit!« Allies Stimme überschlug sich fast, so verzweifelt war sie. »Das ist zu früh.«

»Na, dann seht zu, dass ihr so weit seid«, erwiderte Katie wenig mitfühlend. »Wir brauchen einen Plan. Und zwar sofort. Ich hab keine Lust, mich von einem dieser Ganoven-Gorillas hier rauszerren zu lassen wie unser Carolinchen, die arme Nuss.«

»Wir denken uns heute noch was aus«, versprach Allie ihr. »Falls sie auftauchen, versteck dich. Nutz die Zeit, um dir ein paar Verstecke auszugucken: das Dach, der Speicher, der alte Keller, die Studierzellen in der Bibliothek – oder das Priesterloch in der Kapelle. Ich kann dir zeigen, wo das ist.«

Während sie sämtliche Orte aufzählte, an denen sie sich im letzten Trimester vor den Lehrern versteckt hatte, verdüsterte sich Katies Miene zusehends. Offenkundig war das nicht der große Fluchtplan, mit dem sie gerechnet hatte.

»Mann, ist das ein Albtraum«, sagte sie.

Angesichts ihrer Reaktion wollte Allie etwas Tröstliches sagen.

»Keine Angst«, erwiderte sie etwas steif. »Wir arbeiten an einem Plan. Wir treffen uns jetzt gleich, um das Ganze zu besprechen.«

Katie biss sich auf die Unterlippe. »Dann lasst euch bloß was einfallen! Das ist nämlich echt übel.«

Ihr arrogantes Gehabe hatte sich in Luft aufgelöst. Sie sah nun aus wie ein verschrecktes Kind, dessen Welt gerade völlig aus den Fugen geriet.

So hatte Allie sie noch nie erlebt. Die Sache überforderte sie etwas. Sie konnte sie ja schlecht trösten.

Außerdem warteten die anderen auf sie.

»Also, ich muss dann mal …«

Doch als sie einen Schritt von Katie weg machte, folgte die ihr.

»Hey, äh … warte mal.« Allie drehte sich um. »Wenn ihr wollt, kann ich auch mal mit zu einem eurer Treffen kommen. Und euch, na ja … helfen.«

Allie war so verblüfft, dass sie ganz vergaß, eine neutrale Miene aufzusetzen. Ihre rothaarige Erzfeindin sah richtig verängstigt aus, fast … einsam. Als würde man sie als Einzige außen vor lassen.

Letzten Winter hatte Allie sie gefragt, wieso sie nicht in die Night School ging, wo sie doch alles haben konnte – und hatte sich eine schnippische Antwort eingehandelt. Doch es musste einen tieferen Grund geben, wieso Katie diese mächtige Gruppe, die Cimmeria im Innersten zusammenhielt, derart bewusst mied.

Aber jetzt war nicht der Moment, das zu hinterfragen. Daher nickte Allie nur knapp und geschäftsmäßig und sagte: »Ich red mit ihnen.«

»Sie hat gesagt, es geht los? Jetzt schon?«, fragte Nicole. Ihre ausdrucksvollen Augen verdunkelten sich.

»Wann genau, wusste sie nicht«, sagte Allie. »Aber vielleicht noch diese Woche.«

Carters Kiefer spannte sich an. »Wenn das stimmt, sind wir am Arsch. Wir sind einfach noch nicht so weit.«

Sie hatten sich im hintersten Winkel des Rittersaals versammelt. Eine blasse Nachmittagssonne schien durch die gewaltigen Fenster hinter ihnen. Der riesige Ballsaal mit seinem gebohnerten Eichenparkett und dem massigen Kamin wirkte leer noch größer. Nur ein paar Tische und aufeinandergestapelte Stühle standen dort und warteten auf den nächsten festlichen Anlass.

Obwohl sie allein waren, unterhielten sie sich leise. Jedes laute Wort hätte in dem leeren Saal ein gewaltiges Echo erzeugt.

»Ich hab meinem Vater ausrichten lassen, dass ich ihn unbedingt heute Abend sprechen muss«, sagte Rachel. »Er kann uns bestimmt helfen, wenn wir ihn lassen.«

»Sollen wir ihm wirklich jetzt schon sagen, was wir wissen?«, fragte Sylvain und warf einen Blick in die Runde.

Als niemand antwortete, bekam Rachel einen roten Kopf.

»Also wirklich. Meinem Vater können wir vertrauen.« Man hörte ihr die Frustration an. »Wie oft muss ich das noch sagen? Er ist auf unserer Seite.«

»Ich seh’s auch wie Rachel«, sagte Nicole. »Ich halte Raj für loyal.«

»An seiner Loyalität zweifle ich auch gar nicht«, sagte Sylvain gleichmütig. »Ich glaube nur, dass alles, was wir ihm erzählen, bei Isabelle landen wird. Wegen genau dieser Loyalität.«

»Wo er recht hat, hat er recht«, sagte Carter. »Wollen wir Isabelle wirklich jetzt schon auf die Nase binden, was wir die ganze Zeit gemacht haben?«

»Wir müssen ja nicht alles erzählen«, schaltete sich Zoe ein. »Ich meine, dass wir heimlich bei Eloise waren oder in ihr Büro eingebrochen sind, muss Isabelle ja nicht unbedingt wissen. Da wär sie bestimmt nicht besonders begeistert. Von wegen ›Hey super, was meine Lieblingsschüler wieder angestellt haben‹.«

»Dann lassen wir diesen Teil eben weg, wenn wir mit Raj reden. Einverstanden?« Sylvain warf einen Blick in die Runde. Alle nickten – bis auf Rachel. Sylvain sah sie intensiv an. »Rachel?«

Schließlich nickte sie widerstrebend.

»Dass wir bei Zelazny eingebrochen sind, müssen wir aber schon zugeben«, sagte Allie. »Sonst können wir nicht erklären, wo wir den Schlüssel herhaben.«

»Und was wir von Nathaniel wissen«, sagte Nicole. »Aber ohne Katie zu erwähnen.«

»In Ordnung«, sagte Carter. Er wandte sich an Allie. »Hat Katie sonst noch was gesagt?«

»Eigentlich nicht«, erwiderte sie zögernd. »Außer, dass sie … also, irgendwie … bei uns … mitmachen möchte.«

»Was?«, erscholl es wie aus einem Mund. Das Wort hallte im leeren Ballsaal wider wie ein Querschläger: Was? Was?? WAS??

Allie fand sich in der sonderbaren Rolle wieder, Partei für Katie ergreifen zu müssen.

»Sie meint, dass sie uns vielleicht helfen kann. Die hat voll Schiss. Trotz aller Bedenken glaube ich …« Sie seufzte und musste sich zwingen, den Satz zu Ende zu bringen. »Also, ich glaube schon, dass sie uns ganz nützlich sein könnte. Auch wenn sie eine fiese Kuh ist. Braucht man ja nicht dazusagen.«

»Oh Gott – Katie Gilmore!« Rachel klang entsetzt. »Muss das sein?«

»Ihre Eltern sind ein fester Teil dieser Schule, und sie hat Beziehungen zum Aufsichtsrat und zu den Schülern, deren Eltern auf Nathaniels Seite sind«, sagte Sylvain nachdenklich. »Die denken ja bestimmt, sie wäre auf ihrer Seite, also werden sie ihr auch das eine oder andere erzählen. Allie hat schon recht: Sie könnte uns ziemlich nützlich sein.«

Allie warf ihm einen dankbaren Blick zu, den er erwiderte. Seine Augen leuchteten so kobaltblau, dass sie kaum den Blick abwenden konnte.

Unterdessen zogen die anderen weiter über Katie her.

»Ich kann die nicht ausstehen«, sagte Nicole und verzog angewidert die Nase.

»Die beleidigt immer alle«, sagte Rachel.

»Die spinnt total«, brummte Zoe.

»Trotzdem finde ich, wir sollten sie bei uns mitmachen lassen«, sagte Carter und warf einen Blick in die Runde. »Oder?«

Einer nach dem anderen nickte, wenn auch mit erkennbarem Widerwillen. Es führte einfach kein Weg daran vorbei.

»Super«, sagte Allie, obwohl sie es gar nicht so super fand. »Ich richt’s ihr aus.«

»Ich finde nicht, dass sie bei allen unseren Treffen dabei sein muss«, sagte Sylvain. »Vermutlich können wir ihr vertrauen, aber sicher ist das nicht. Zu dem Gespräch mit Isabelle kann sie jedenfalls nicht mitkommen, und …«, sein Blick streifte Allie, »… bei so Sachen wie gestern sollte sie auch nicht dabei sein.«

»Da hast du recht«, sagte Carter. »Katie hat gute Verbindungen, aber sie gehört nicht zur Night School, und sie ist nicht Rachel, also holen wir sie nur gelegentlich mit dazu.«

»Gott steh uns bei«, sagte Rachel.

Nach dem Abendessen versammelten sie sich in einer Ecke des proppenvollen Aufenthaltsraums und taten so, als würden sie lernen und sich unterhalten – dabei warteten sie auf Raj Patel.

Rachel war felsenfest davon überzeugt, dass er bald auftauchen würde, doch je mehr Zeit verstrich, desto unruhiger wurde sie. Jedes Mal, wenn jemand zur Tür hereinkam, sah sie von ihren Chemiehausaufgaben auf.

Als es um zehn Uhr immer noch kein Lebenszeichen von ihm gab, sagte sie: »Der Super-GAU wäre natürlich, wenn er einfach bei mir im Zimmer aufkreuzt und ich ihm alles allein erzählen muss.«

»In dem Fall klopfst du einfach an die Wand«, schlug Allie vor. »Dann komm ich rüber und steh dir bei. Damit du nicht alles ausplauderst.«

»Bestimmt kommt er gleich«, meinte Rachel und sah sich hoffnungsvoll um. Doch in dem geräumigen Saal mit seinen Ledersofas und Schachtischen und Regalen voller Brettspiele und Bücher hielten sich nur plappernde Schüler auf. Irgendjemand spielte »Au clair de la lune« auf dem Klavier in der Ecke, während ein paar umstehende Schüler ihn drängten, doch etwas Fetzigeres zu spielen.

Allie blätterte eine Seite in ihrem Geschichtsbuch um, ohne den Inhalt aufzunehmen. Angesichts der Musik und des ganzen Treibens drum herum fiel es ihr schwer, bei der Sache zu bleiben. Mit ihrem Arbeitspensum war sie mittlerweile völlig ins Hintertreffen geraten. Bei all dem, was ständig los war, schaffte sie es einfach nicht, sich darauf zu konzentrieren. Der Unterricht war nur eine lästige Unterbrechung ihres ansonsten spannenden Tagesablaufs. Doch sie hatte Lucinda gute Noten versprochen.

Unter ihren gesenkten Lidern hindurch lugte sie nach Sylvain, der, das Kinn in die Hand gestützt, ihr gegenüber in einem tiefen Ledersessel saß und gedankenverloren vor sich hin starrte.

Unweit davon hockte Carter und arbeitete an seinem Geografieaufsatz. Mit seiner ordentlichen Handschrift schrieb er bedächtig Seite um Seite voll. Seit ihrer Aussprache im Garten verhielt er sich ihr gegenüber ganz normal, bezog sie ins Gespräch ein und lächelte sie sogar manchmal an. Sein Verhalten war immer noch ein bisschen förmlich, aber wenigstens behandelte er sie nicht mehr wie Luft.

Da fiel ihr wieder ein, was Katie noch gesagt hatte. Sie richtete sich auf und warf ein strahlendes Lächeln in die Runde. »Vielleicht sollten wir uns einen Namen ausdenken.«

Kaum hatte sie den Satz ausgesprochen, da bereute sie es auch schon.

Die anderen sahen sie verständnislos an.

»Wie bitte?«, fragte Rachel. Von Nicole kam ein glockenhelles Kichern.

»Na ja, für unsere Gruppe.« Allie wand sich unter den ungläubigen Blicken der anderen. »Na, weil … Katie hat uns eine Bande genannt.«

»Ich glaube nicht, dass wir einen Namen brauchen.« Carter hatte Mühe, nicht zu lachen. »Die richtig guten Namen sind eh schon alle vergeben.«

Allgemeines Gekicher. Allie spürte, wie ihr die Hitze den Hals hinaufstieg. Am liebsten wäre sie im Boden versunken.

»Außerdem wollen wir ja geheim bleiben«, erläuterte Zoe. »Night School ist ja kein richtiger Name – mehr so ’ne Art Beschreibung. Es ist ’ne Schule, wo man nachts hingeht.«

»Ist ja gut. Vergesst es einfach. Okay?« Allie vermied es tunlichst, irgendwen anzusehen. »Ich hab gar nichts gesagt.«

»Gut«, ließ sich Rachel vernehmen, um die Aufmerksamkeit von Allie abzulenken, damit die sich wieder erholen konnte. »Wir sollten lieber weiter die Augen offen halten. Mein Vater hat so eine Art, sich anzuschleichen, dass man es gar nicht mitkriegt.«

»Das stimmt! Echt der Hammer!«, pflichtete Nicole ihr mit aufrichtig klingender Bewunderung bei. »Ich weiß nicht, wie er das macht. Du denkst an nichts Böses – und plötzlich«, sie machte eine anmutige Handbewegung, »ist er da. Total elegant. Das hat er voll drauf.«

»Ja«, sagte Rachel mit einem überraschten Seitenblick zu Nicole, deren Begeisterung für ihren Vater sie etwas verlegen machte. »Wir müssen jedenfalls aufpassen, worüber wir uns unterhalten. Wir wollen ja nicht, dass er alles mithört.«

»Genau! Stell dir vor, er taucht auf, wenn wir gerade über Schwänze reden. Wie peinlich wär das denn!«, sagte Zoe fröhlich.

»Zoe!«, riefen Allie und Nicole wie aus einem Mund.

Das Nesthäkchen blinzelte sie an. »Ist doch so, oder?«

»Allerdings«, sagte Allie etwas prüde. »Und du bist entschieden zu jung, um über so was zu reden.

»Wieso?«, fragte Zoe verdutzt. »Wie alt muss man denn sein, um über Schwänze zu reden?«

»Sechzehn«, sagte Allie. »Vierzehn«, rief Nicole im gleichen Moment, und Rachel: »Fünfzehn!«

Die drei tauschten Blicke und brachen in schallendes Gelächter aus.

»Jedenfalls älter, als du jetzt bist«, prustete Allie beinahe hysterisch.

Zoe starrte sie zornig an. »Ich kann über Schwänze reden, wann ich will.«

»Keiner kann dich davon abhalten«, sagte Rachel. »Aber ich stell’s mir einfach komisch vor, wenn du im Französisch-Unterricht sitzt und plötzlich damit anfängst.«

Und schon ging es wieder los. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie sich wieder beruhigt hatten.

»Jetzt kriegt euch mal wieder ein«, sagte Sylvain, der endlich auch von der allgemeinen Heiterkeit Notiz genommen hatte und nun verwirrt von einer zur anderen blickte.

»’tschuldigung«, sagte Nicole und wischte sich die Augen. »Das ist der Schlafentzug.«

»Und die ständige Todesangst«, fügte Rachel hinzu.

»So was geht einfach nicht spurlos an einem vorüber«, sagte Allie und versuchte, sich wieder zu beruhigen. »Immerhin achten wir darauf, worüber wir reden, damit dein Vater nichts mitbekommt.«

»Wieso?« Rajs Stimme schien aus dem Nichts zu kommen. Sie fuhren herum. Er stand direkt hinter Rachel. »Was soll ich nicht mitbekommen?«