
Zehn
Allie stockte der Atem. Ihre Brust schien plötzlich zu eng für ihre Lunge zu sein.
Mit einer achtlosen Armbewegung schob sie die Sachen zur Seite und kletterte auf die Tischplatte, um bessere Sicht zu haben. Doch der Mann war verschwunden.
Einen Augenblick hockte sie wie erstarrt da und klammerte sich am Fensterrahmen fest. Dann stürzte sie zur Tür und hinaus in den Flur. Ihre Müdigkeit war verflogen. Mit Riesenschritten rannte sie die zwei Stockwerke nach unten und durch die große, leere Halle zur Eingangstür, wo sie mit vor Aufregung tauben Fingern an der alten Schließanlage rüttelte, bis diese endlich mit lautem Scheppern nachgab.
Ohne die Tür zu schließen, sprang sie die Eingangsstufen hinunter und rannte über den Rasen Richtung Waldrand, den Schmerz in ihrem Knie ignorierend.
Sie hatte keine Angst. Sie würde diesen Mann schnappen. Und er würde bekommen, was er verdiente.
Der Mond leuchtete das Gelände wie eine Bühne aus, tauchte das Gras in silbernes Licht und strahlte die Bäume an. Allie gab sich keine Mühe, im Verborgenen zu bleiben oder besonders leise zu sein. Hier kam es auf Geschwindigkeit an, nicht auf die Tarnung.
Als sie den Rasen überquert und die Stelle am Waldrand erreicht hatte, wo sie den Mann zuletzt gesehen hatte, gaben plötzlich ihre Muskeln nach, die noch vom Training erschöpft waren. Wie eine Betrunkene torkelte sie in den Wald.
Dort war es dunkler, weil das Mondlicht nicht durch den Baldachin aus Kiefernästen drang. Sie verlangsamte ihr Tempo und merkte plötzlich, dass sie keine Ahnung hatte, wohin sie sich wenden sollte – sie wusste nicht, welche Richtung der Mann eingeschlagen hatte, nachdem er in den Wald eingetaucht war.
Instinktiv nahm sie den Pfad zur Kapelle. Sie legte einen Zahn zu und spähte immer wieder ins Halbdunkel. Irgendwann blieb sie stehen und lauschte auf Schritte oder knackende Zweige. Doch außer ihrem eigenen rauen Atem und ihrem klopfenden Herzen war nichts zu hören.
Ich hab ihn aus den Augen verloren.
Verzweifelt beugte sie sich vor, stützte die Hände auf die Knie und atmete flach. Als sie wieder aufsah, bemerkte sie vor sich eine flüchtige Bewegung – wie von einem vorbeihuschenden Schatten. Aber irgendetwas stimmte damit nicht.
»Halt!«, schrie sie, so laut sie konnte, und stürzte los. Da bewegte sich der Schatten plötzlich und drehte sich zu ihr um, und als sie näher kam, wurde der Schatten zu einem Mann in Schwarz.
Erst da wurde Allie bewusst, dass sie keine Waffe hatte. Verzweifelt sah sie sich nach einem langen Stock, einem großen Stein oder sonst einem brauchbaren Gegenstand um. Sie hob einen Zweig auf, doch er war zu klein und zerbrechlich, um ihr viel zu nützen – und nun kam der Mann auch noch rasch auf sie zu.
»Halt, hab ich gesagt!«, brüllte sie. Doch dann blieben ihr die Worte im Hals stecken.
Das Gesicht des Mannes kam ihr irgendwie bekannt vor.
»Allie?!«, sagte er. Dann trat er ins Mondlicht, das an dieser Stelle durchs Geäst fiel. Es war einer von Rajs Wachleuten – er hatte mit im Geländewagen gesessen, auf der Fahrt von der Polizeiwache zurück nach Cimmeria. »Was machst du denn hier draußen?«
»Waren Sie das eben auf dem Rasen?« Allie atmete heftig. Das Seitenstechen kam so plötzlich, als hätte man ihr ein Messer in den Leib gerammt, und sie ließ den Zweig fallen, um die Hand auf ihre Rippen zu pressen.
»Ja, wir gehen Patrouille«, sagte er und wirkte erstaunt. Behutsam kam er auf sie zu, als könnte sie ausbüxen oder ihn beißen wollen. Er sprach mit demonstrativ ruhiger Stimme und streckte ihr die Hände entgegen. »Erkennst du mich nicht? Ich bin Peter, und das ist Karen.«
Eine Wachfrau kam zwischen den Bäumen hervor und stellte sich neben den Mann. Ihre langen, blonden Haare waren zu einem schimmernden Zopf geflochten, der ihr auf den Rücken fiel. Auch sie hatte Allie schon mal gesehen, beim Training mit den Night-Schoolern.
»Was ist passiert?«, fragte Peter. »Was hast du hier draußen verloren?«
»Ich hab gedacht, ich hätte Gabe gesehen …«, sagte Allie atemlos.
Karen hob die Brauen. »Und da hast du gedacht, ich renn mal schnell hin und schnapp ihn mir? Ganz allein?«
»Na ja«, erwiderte Allie und fühlte sich mit einem Mal unendlich müde und dumm. »Einer musste es ja tun.«
Die beiden Wachleute nahmen sie mit in ein unscheinbares Büro neben Übungsraum Eins, zu Mr Zelazny. Dieser war wenig erfreut über ihren – wie er sich ausdrückte – »Versuch der Selbstjustiz«.
»Es hätte Ihnen was passieren können, Sheridan«, sagte er, offensichtlich verärgert. »Oder jemand anderem. Manchmal denke ich, bei Ihnen hilft das beste Training nichts, Sheridan. Egal, was man Ihnen beibringt – wenn es Ihnen in den Kram passt, tun Sie genau das Gegenteil. Das hier ist nicht Ihr Wohnzimmer«, sagte er und machte eine ausladende Handbewegung durch das leere Büro, wo die Wachleute in einem Halbkreis um sie herumstanden. »Wir sind nicht Ihre Diener.«
Allies Wangen wurden heiß. »Es tut mir echt leid«, murmelte sie und senkte den Blick. »Ich hab nicht drüber nachgedacht.«
»Ganz genau, das haben Sie nicht.« Er beugte sich vor, bis sie ihm in die Augen sah. »Es hat schon seinen Grund, dass wir Ihnen das alles beibringen, Sheridan: Wir machen das hier nicht zum Spaß. Sie müssen sich konzentrieren, oder Sie stehen das nicht durch.« Er wedelte mit einem Stift, zum Zeichen, dass sie gehen konnte. »Morgen nach dem Unterricht melden Sie sich bei Isabelle wegen Ihrer Bestrafung. Und nun ab ins Bett, Herrgott noch mal!«
Am nächsten Tag saß Allie ihren Unterricht ab in dem Wissen, dass sie sich am Nachmittag gegenüber Isabelle für ihr Handeln würde verantworten müssen. Die Rektorin würde bestimmt nicht erfreut sein. Allie hatte gegen die Internatsordnung verstoßen – hatte sie damit auch die Abmachung mit Lucinda gebrochen?
Hab ich jetzt alles versaut?
Als die letzte Stunde endlich vorbei war, ging sie mit schweren Beinen und gesenkten Blickes die Treppe hinunter. Da trat ihr Katie Gilmore so unvermittelt in den Weg, dass sie fast in sie hineingerannt wäre.
»Mensch, Katie …« Allie musste sich an dem gewaltigen Eichengeländer festhalten. »Bist du bescheuert?«
Im Licht des Kristalllüsters wirkte Katies helle Haut makellos; ihre hellgrünen Augen sprühten vor Bosheit. »Ach, Gottchen. Auf jeden Fall nicht halb so bescheuert wie diese durchgeknallte Lügnerin, die zusammen mit dem versifften Aso-Proll die Dorfkirche ausgeraubt hat. Kennst du zufällig wen, auf den die Beschreibung passt?«
Heiße Wut stieg in Allie auf, doch sie schluckte sie herunter. Sie hatte schon genug Ärger.
»Ach, mach doch, was du willst, Katie.«
Sie wollte an Katie vorbeigehen, doch die stellte sich ihr erneut in den Weg. Ihr blauer Faltenrock wippte.
»Ich weiß nicht, warum die dich zurückgebracht haben. War doch die perfekte Gelegenheit, dich loszuwerden. Und das Niveau hier ein bisschen zu heben.«
»Echt, Katie. Erzähl’s deinem Therapeuten.« Allie versuchte, so ungerührt und abschätzig wie möglich zu klingen, doch sie konnte selbst das leichte Zittern in ihrer Stimme hören. Die letzten Tage waren lang gewesen, und Allie war sich nicht sicher, ob sie das jetzt auch noch packen würde.
»Allie hat doch super Noten.« Allie und Katie wandten sich überrascht um, als sie die Piepsstimme von Zoe hörten, die plötzlich über ihnen auf der Treppe stand. »Und ob sie hier ist oder nicht, das ändert nichts am Niveau.«
Katie beäugte sie mit boshafter Geringschätzung. »Ach nee. Miss Emotionslos. Solltest du nicht eigentlich gerade irgendwas auswendig lernen? Oder pubertieren?« Sie wandte sich wieder an Allie. »Passt wie die Faust aufs Auge, dass die kleine Knalltüte auf dich steht.«
Empört öffnete Allie den Mund, um Zoe in Schutz zu nehmen, doch die kam ihr zuvor. Sie trat näher an Katie heran, blieb aber zwei Stufen über ihr stehen, sodass Katie zu ihr aufsehen musste.
»Ich bin bereits in der Pubertät«, sagte sie mit der ihr eigenen Pedanterie. »Genau wie du. Das fängt mit elf an und hört mit siebzehn auf. Im Durchschnitt.«
Katie trat auf sie zu. »Das ist mir so was von egal, du gruseliger Winz-Android.«
Allie schob sich dazwischen. »Lass sie in Ruhe, Katie.«
Eine kleine Zuschauerschar bildete sich, die der Auseinandersetzung höchst neugierig beiwohnte. Die Sache drohte zu eskalieren.
Allie senkte die Stimme und versuchte, auf die gleiche leise und zugleich bedrohliche Art zu sprechen wie Raj Patel, wenn er jemanden einschüchtern wollte.
»Ich weiß nicht, was für ein Problem du mit mir hast, und es ist mir auch echt egal. Du weißt, wer ich bin, wer meine Großmutter ist. Lass mich und meine Freunde in Ruhe, oder ich mach dich fertig. Ich werde es zu meiner persönlichen Mission machen, dein Leben zu ruinieren.«
Katie kam näher, bis ihre Gesichter nur Zentimeter voneinander entfernt waren.
»Ich hab keine Angst vor dir, Allie«, zischte sie. »Und vor Lucinda Meldrum auch nicht. Hat nämlich keiner. Erzähl ihr doch mal …«
Aber die Erwähnung des Namens ihrer Großmutter war zu viel – Allie packte Zoe am Arm und zog sie mit sich.
»Komm, Zoe«, sagte sie und schleuderte Katie einen eisigen Blick zu, »wir sind hier fertig.«
Als sie im Erdgeschoss angelangt waren, sah Zoe sie an. »Die Pubertät ist bekanntermaßen eine schwierige und emotionale Zeit. Ich hab mich damit beschäftigt, ich bin also gewappnet.«
»Das ist super, Zoe«, erwiderte Allie abwesend. Sie war noch bei dem, was Katie gesagt hatte. Was hatte sie damit gemeint, keiner hätte Angst vor Lucinda? Sollte das eine Botschaft sein?
Katies Eltern waren mächtige Mitglieder im Aufsichtsrat. Mehr wusste Allie nicht über sie.
Zoe hatte die Sache mit der Pubertät abgehakt und war bereit, mit ihrem Tagesprogramm fortzufahren. »Egal. Ich muss jetzt weiterlernen.«
Sie wirkte völlig unbekümmert, und der Streit auf der Treppe schien ihr kein bisschen Kopfzerbrechen zu bereiten.
»Hey«, sagte Allie zögernd. »Danke, dass du für mich Partei ergriffen hast.«
Zoe warf sich die Tasche über die Schulter. »Hat voll Spaß gemacht. Katie Gilmore ist echt ’ne blöde Schlampe.«
Als sie fort war, steuerte Allie auf Isabelles Büro zu. Nach kurzem Zögern klopfte sie fest an. Als niemand antwortete, rüttelte sie am Türknauf – die Tür war abgeschlossen.
»Isabelle?«, fragte sie aufs Geratewohl. »Bist du da drin?«
Stille.
»Mist«, brummte sie.
Sie wartete eine Weile vor dem Büro und strich zum Zeitvertreib immer wieder mit dem großen Zeh ihres schwarzen Halbschuhs über das gebohnerte Parkett. Doch Isabelle ließ auf sich warten.
Allie wusste nicht recht, was sie tun sollte. Zelazny hatte ziemlich bestimmt darauf hingewiesen, dass Isabelle sie hier erwarten würde. Und das Letzte, was sie gebrauchen konnte, war noch mehr Ärger.
Sie biss sich auf die Lippe und sah sich nach einem Ort um, wo sie warten konnte. Auf der anderen Seite des Flurs befand sich ein schwerer Ziertisch, auf dem eine Vase mit blassrosa Rosen stand. Wenn sie sich daneben auf den Boden setzte, wäre sie aus dem Weg und könnte trotzdem die Tür zum Büro der Rektorin im Auge behalten.
Nachdem sie es sich auf dem Boden gemütlich gemacht hatte, nahm sie ihr Geschichtsbuch aus der Büchertasche und machte sich an ihre Hausaufgaben. Schüler und Personal kamen und gingen, doch von Isabelle keine Spur.
Eine halbe Stunde war vergangen, als sie plötzlich ein leises Knarzen hörte. Als sie aufschaute, sah sie eine Frau vor Isabelles Tür stehen, mit dem Rücken zu ihr. Offenbar hatte die Rektorin Schwierigkeiten mit dem Schlüssel.
Endlich.
»Isabelle!« Allie ließ ihre Bücher liegen und lief auf die Frau zu. Doch als diese sich umdrehte, war es gar nicht Isabelle. Sondern Eloise. Und in ihrer Hand hielt sie einen kleinen, silbernen Schlüssel.
Eloise machte große Augen, als Allie eine Vollbremsung hinlegte, und im ersten Moment waren die beiden so überrascht, dass sie einander einfach nur anstarrten.
Was hat Eloise in Isabelles Büro zu suchen? War sie da am Ende schon öfter drin? Hat sie mich einfach bloß ignoriert, als ich geklopft habe? Und wieso hantiert sie da jetzt an der Tür rum?
Allie wusste, dass sie etwas sagen musste, doch ihr Hirn verweigerte ihr den Dienst.
»Ich …, äh …«, stotterte sie. »Eigentlich … Ich wollte gerade … zu Isabelle.«
Die Augen der Bibliothekarin suchten blitzschnell den Flur ab, als befürchtete sie, dass sie noch jemand gesehen haben könnte.
Erst jetzt bemerkte Allie, dass Eloises Wangen gerötet waren und sie ganz außer Atem war. Ihre dunklen Haare hatten sich zum Teil aus den Spangen gelöst, als hätte sie trainiert oder gejoggt. Zu Allies Verwirrung gesellte sich allmählich Misstrauen. Ihr Magen verkrampfte sich, und sie schlang die Arme um den Oberkörper.
Eloise fasste sich schnell wieder. »Sie ist nicht da«, sagte sie und reckte gebieterisch das Kinn, wie um Isabelles angeborenen Stolz zu imitieren. »Kann ich dir vielleicht weiterhelfen?«
Ja, dachte Allie finster, du könntest mir zum Beispiel verraten, was zum Teufel du in Isabelles Büro zu suchen hast, wenn sie nicht da ist.
Doch das sagte sie nicht.
»Nein … nein. Ich muss was mit ihr bereden«, sagte sie stattdessen so beiläufig wie möglich. »Weißt du … also … wann sie wieder zurückkommt?«
»Sie ist nach dem Unterricht zu einer Sitzung nach London gefahren. Sie kommt erst spät am Abend zurück.« Eloise warf einen Blick auf ihre Uhr und sah Allie prüfend an. »Bist du sicher, dass ich dir nicht helfen kann?«
»Ja, danke.« Hastig trat Allie einen Schritt zurück und stieß sich an der Unterkante des Treppenaufgangs. »Aua.« Sie rieb sich den Kopf, ohne Eloise aus den Augen zu lassen. »Ich … äh … glaub, ich komm später noch mal her. Morgen oder so.« Betont langsam durchquerte sie den Flur und sammelte ihre Bücher ein, als ob nichts wäre. Und die ganze Zeit war sie sich bewusst, dass Eloise jede ihrer Bewegungen genau beobachtete.