
Einundzwanzig
Die Kälte traf sie wie ein Keulenhieb. Dazu kam der Wind, der irgendwie zugenommen haben musste, seit sie losgelaufen war, auch wenn sie es nicht mitbekommen hatte. Nun tobte er richtig und ließ die Äste über ihrem Kopf gegeneinanderkrachen, bis es toste wie bei schwerer See und die schiere Wucht des Sturms sie beinahe von den Füßen geholt hätte.
Langsam ging sie im Kreis, in dem Versuch, sich zurechtzufinden. Wo bin ich hier bloß? Sie war schon so lange gelaufen, dass sie völlig die Orientierung verloren hatte, wohin sie eigentlich wollte. Nach wem sie Ausschau hielt.
»Allie.« Die Stimme gehörte Sylvain, sein französischer Akzent ließ ihren Namen wie einen Seufzer klingen, wie eine Liebkosung.
Doch sie konnte niemanden sehen, es war zu dunkel. Ohne Mondlicht waren die Bäume nur Schatten neben anderen Schatten. Dunkel und unheilvoll dräute die Nacht – ihr Gewicht schien sie förmlich niederzudrücken, das Atmen fiel ihr schwer.
»Sylvain? Wo bist du?« Sie reckte den Hals, konnte aber außer Bäumen nichts erkennen.
»Wieso hast du das getan?«
Sie schluchzte auf und schlug sich die Hand vor den Mund – er klang so traurig. Ob er wusste, dass sie Carter geküsst hatte? Aber woher? Sie hatten es doch keinem erzählt. Wem hätten sie es erzählen sollen?
»Was getan? Ich hab doch nichts getan«, beharrte sie, aber selbst in ihren Ohren klang es wie eine Lüge – bestimmt hörte er das auch.
»Wieso hast du nicht besser auf Jo aufgepasst?«, klagte Sylvains Stimme sie an. »Sie hat dir vertraut. Ich hab dir vertraut.«
Tränen strömten ihr übers Gesicht. Sie musste ihn unbedingt sehen. Wenn sie nur sein Gesicht sehen konnte, würde sie ihn überzeugen können, dass nichts passiert war. Wirklich gar nichts.
»Du kannst mir vertrauen«, rief sie beschwörend. »Und Jo auch – ich werd sie nicht im Stich lassen!«
»Aber Jo ist doch schon längst tot«, antwortete er kalt.
Allie erwachte von ihrem eigenen Schrei aus dem Traum.
Sie musste im Schlaf geweint haben; ihr Kissen war ganz nass. Und als die Erinnerung an letzte Nacht zurückkehrte, schluchzte sie erneut auf.
Wieso hab ich Carter geküsst? Wieso hab ich das getan? Ich hab alles kaputt gemacht. Wieso bin ich nur so doof?
Erst hatte sie Jo im Stich gelassen und dann auch noch ihre Freundschaft mit Carter ruiniert. Sie konnte sich nicht erinnern, sich selbst je so gehasst zu haben. Sie zitterte regelrecht.
Ohne jede Vorwarnung flog die Tür auf, und Rachel stand vor ihr, die Haare vom Schlaf zerzaust, das Gesicht bleich. Doch der Ausdruck von Angst wich bald dem von Besorgnis.
»Allie! Was ist denn passiert? Ich hab dich schreien hören.« Als sie Allies verheultes Gesicht sah, rannte sie auf ihre Freundin zu, kniete neben ihrem Bett nieder und umarmte sie heftig. »Alles okay? Hattest du wieder einen von deinen Albträumen?«
Allie nickte und ließ sich gegen Rachels Schulter fallen. »Ich bin so traurig, Rachel«, schluchzte sie. »So was von traurig. Ich hab alles falsch gemacht, aber ich kann es nicht mehr rückgängig machen. Wenn man es erst mal gemacht hat, geht es nicht mehr weg, und das ist so ätzend.«
»Ach, Süße«, sagte Rachel besänftigend. »Du hast gar nichts falsch gemacht. Wirklich, ich versprech’s dir. Und es gibt auch nichts, was du rückgängig machen müsstest.«
Aber das stimmt doch gar nicht.
»Ich hab Jo nicht gerettet«, flüsterte Allie. »Und jetzt hab ich auch noch Carter geküsst.«
Rachels Hand, die besänftigend ihren Rücken gestreichelt hatte, hielt kurz inne. Dann machte sie weiter.
»Also, erstens hast du getan, was du konntest, um Jo zu retten. Niemand hätte sie retten können – wenn nicht mal Gott sie hat retten können. Für das, was ihr zugestoßen ist, kannst du nichts.«
Allie glaubte ihr kein Wort, dabei wollte sie ihr so gern glauben.
»So«, sagte Rachel, griff nach dem Taschentuchspender im Regal und reichte Allie ein paar Tücher. »Jetzt hol ich dir was zu trinken, und dann erzählst du mir, wieso du mit Carter rumgeknutscht hast.«
Nachdem sie Allie ein Glas Wasser gebracht hatte, setzten sie sich beide aufs Bett. Allie hielt die feuchten Taschentücher in der einen und das Wasserglas in der anderen Hand. Sie hatte einen Schluckauf, doch ihr Tränenfluss war abgeebbt, bis er schließlich ganz versiegte. Geknickt erzählte sie ihrer Freundin, was in der Nacht im Wald passiert war.
»Und wie hat er reagiert?«, fragte Rachel und zog sich die Decke übers Knie.
»Als ob er einen Fehler gemacht hätte«, erwiderte Allie. Sie hob die Hand mit den Taschentüchern, als wollte sie sagen: Wie hätte er auch sonst reagieren sollen?
»Und was denkst du? War es ein Fehler? Ich meine, stehst du immer noch auf ihn?«
»Nein. Das heißt, ich weiß nicht.« Allie seufzte. »Ich bin einfach nur verwirrt. Ich meine, wenn man mit jemandem zusammen war und gedacht hat, dass man ihn … na ja: liebt … wie kann man da auf einmal sagen: ›Ach, ich lieb dich gar nicht mehr‹, einfach so auf Knopfdruck? Ich vermiss es einfach, mit ihm zusammen zu sein, ihn als Freund zu haben – und mich nervt, dass uns ständig dieses Wir-war’n-mal-zusammen-Ding dazwischenpfuscht. Aber das geht nicht einfach so weg. Und wenn ich mit ihm allein bin, gibt es jedes Mal ein großes Kuddelmuddel.«
»Mit anderen Worten: Du hättest ihn gern wieder als Freund zurück.«
Allie schwieg und dachte darüber nach. »Ja … wahrscheinlich schon.«
»Ich hab da nämlich so ’ne Theorie. Möchtest du sie hören?«, fragte Rachel – und es war, als würde der Raum durch ihr Lächeln wärmer.
Allie nickte und kuschelte sich an Rachel. Allmählich glaubte sie wirklich, dass Rachel die Sache besser machen konnte.
»Ich glaube, wenn man mit einem Mädchen befreundet ist, das man wirklich liebt – also so, wie wir zwei uns lieben –, dann ist die Sache supereinfach. Wir beide mögen einander wirklich gern und sind keine Lesben, also – zack, schon sind wir die besten Freundinnen!«
Allie nickte zaghaft, und Rachel fuhr fort: »Aber stell dir vor, ich wär ’n Kerl und du wärst eine gute Freundin von mir – dann könnte es leicht das totale Durcheinander geben. Und wenn dann auch noch sonst alles drunter und drüber geht und du ständig in Gefahr bist, kann es schnell passieren, dass du deine Freundschaft zu mir als romantische Liebe missverstehst und auf einmal meine richtige Freundin sein willst. Und schon gibt es das reinste Gefühlswirrwarr.«
Sie lehnte sich zurück, um Allies Gesicht besser sehen zu können. »Also, was ich damit sagen will: Ich glaub, dass man Freundesliebe und romantische Liebe leicht verwechseln kann, wenn der Freund, um den es geht, ein Kerl ist. Und deswegen bist du so verwirrt.«
Allie zerriss langsam ein Taschentuch in kleine Fetzen und dachte über Rachels Worte nach.
Wenn das stimmt, erklärt das vielleicht, wieso ich mich immer so zwischen Carter und Sylvain hin- und hergerissen gefühlt habe. Vielleicht empfinde ich ja Freundesliebe für Carter und romantische Liebe für Sylvain. Aber woran erkenne ich das?
»Du glaubst also, ich empfinde nur Freundschaft für Carter?«, fragte sie und sah ihre Freundin hoffnungsvoll an.
Rachel zögerte. »Ich weiß nicht«, sagte sie dann. »Das kann ich ja nicht wissen. Das kannst nur du wissen. Aber es ist gut möglich, dass du Carter liebst, ohne in ihn verliebt zu sein. Darüber solltest du vielleicht mal nachdenken – vor allem, solange er noch mit Jules zusammen ist.«
Bei der Erwähnung von Jules’ Namen zuckte Allie zusammen. Sie mochte die Vertrauensschülerin nicht besonders, aber ihr den Freund auszuspannen, wäre ihr nie in den Sinn gekommen.
»Und was soll ich jetzt tun?«, fragte sie matt. »Ich möchte das irgendwie in Ordnung bringen. Ich bin nicht so eine, die sich in andere Beziehungen einmischt. Und ich will Carter nicht schon wieder verlieren. Auf gar keinen Fall.«
»Na ja«, sagte Rachel und warf gähnend einen Blick auf Allies Wecker. Es ging auf fünf Uhr morgens zu. »Ich glaube, du musst mit ihm reden und die Sache aus dem Weg räumen. Und sag’s ihm so. Sag ihm, dass du nur mit ihm befreundet sein willst – jedenfalls solange er eine Freundin hat. Das lässt dir Zeit, herauszufinden, was du wirklich für ihn empfindest.«
»Aber woran soll ich das erkennen?«, fragte Allie fast schon flehentlich. »Woher weiß man, welche Art von Liebe es ist?«
»Tja. Das ist das Kniffelige dabei«, sagte Rachel grinsend, legte sich neben sie ins Bett und zog die Decke über beide.
Der Unterricht am nächsten Tag war eine Qual. Die Stunden schienen sich endlos hinzuziehen. Nach dem Albtraum hatte Allie nicht mehr richtig schlafen können, obwohl Rachel bei ihr geblieben war, und konnte nun kaum die Augen offen halten. Das monotone Geleiere der Vertretungslehrer tat ein Übriges.
In Englisch und Geschichte, den beiden Fächern, die sie gemeinsam hatten, verhielt sich Carter distanziert und sah sie nicht ein einziges Mal an.
Einmal begegnete sie Jules im Flur und bekam ein derart schlechtes Gewissen, dass sie in einem Anfall von Panik ins nächste Klassenzimmer stürzte, wo sie so heftig mit einem Lehrer zusammenstieß, dass dessen Unterlagen in hohem Bogen durch die Luft flogen.
Zum Mittagessen traf sich die Gruppe, um das weitere Vorgehen durchzusprechen. Obwohl Allie zwischen Rachel und Zoe saß, bewirkte allein die Tatsache, dass Carter und Sylvain mit am selben Tisch saßen, dass sie nichts essen konnte. Stattdessen sezierte sie ihr Sandwich nach allen Regeln der Kunst.
An einem der angrenzenden Tische saß Jules mit Lucas und ein paar Freunden. Allie versuchte, nicht zu ihr hinzusehen, doch die Schuldgefühle sorgten dafür, dass ihre Augen immer wieder wie von selbst in Jules’ Richtung wanderten und heimlich verfolgten, wie die blonde Vertrauensschülerin sich unterhielt und aß.
Carter saß Allie gegenüber und unterhielt sich gerade angeregt mit Rachel und Nicole. Nur die Ringe unter seinen Augen verrieten, dass auch er letzte Nacht nicht sonderlich gut geschlafen haben konnte.
Zwei Plätze weiter saß Sylvain und hörte konzentriert zu. Mit seinen langen Fingern ließ er selbstvergessen sein Messer um die eigene Achse wirbeln. Allie fiel es schwer, den Blick von diesen sanften und geschickten Händen abzuwenden. Das Silber glitzerte im Licht der Nachmittagssonne.
Plötzlich hielt das Messer in der Bewegung inne. Als sie aufschaute, merkte sie, dass er sie beobachtete: seine Miene undurchdringlich und rätselhaft, die Augen kühl und blau wie unbewegtes Wasser.
Allies Herzschlag setzte kurz aus, und sie zwang sich, wegzuschauen. Erst da bemerkte sie, dass die anderen sie erwartungsvoll anblickten.
»Was ist denn?«, fragte sie. So abweisend hatte es gar nicht klingen sollen. »Hat irgendwer … was gesagt?«
Rachel sah sie scheel an. »Ich hab gesagt: ›Und was meinst du dazu?‹«
»Wozu?«
»Na, zu unserem Plan.« Nicoles Blick wanderte von Allie zu Sylvain und wieder zurück, als hätte sie den Verdacht, zwischen den beiden spiele sich etwas ab. »Findest du die Idee gut?«
»Sorry«, sagte Allie und wurde rot. »Ich hab letzte Nacht schlecht geschlafen. Ich bin nicht ganz da. Bitte erzählt’s mir noch mal. Diesmal konzentrier ich mich auch – versprochen!«
Carter stöhnte genervt auf. »Okay, also noch mal für Allie zum Mitschreiben«, sagte er und sah ihr zum ersten Mal seit beinahe zwölf Stunden direkt ins Gesicht. Doch seine Augen waren ohne jede Wärme. »Der Plan sieht so aus: Heute Abend teilen wir uns auf. Nicole und ich durchsuchen Eloises Zimmer, Zoe und Rachel sehen sich in Zelaznys Kursraum um. Und du …«, mit einem Stirnrunzeln ließ er den Blick zwischen Sylvain und ihr hin- und herwandern, »… filzt mit Sylvain Zelaznys Zimmer – Sylvain weiß, wo das ist.«
Allie hatte einen Kloß im Hals. Sie zwang sich, ruhig zu nicken, doch ihr Herz schlug wie verrückt.
Ein paar von den Lehrern lebten in kleinen Häuschen auf dem Schulgelände, doch die meisten von ihnen wohnten in einem für das Lehrpersonal reservierten Seitenflügel des Hauptgebäudes, den Allie noch nie betreten hatte.
Den Lehrertrakt zu betreten war nämlich strengstens verboten – nur die Vertrauensschüler hatten dort Zutritt, und selbst die brauchten einen sehr triftigen Grund.
Die anderen schauten sie erwartungsvoll an. Sie wollten hören, was sie von ihrem Plan hielt, mit dessen Umsetzung sie auch die letzten Regeln der Internatsordnung brechen würden, die zu brechen sie letzte Nacht vergessen hatten.
Allie straffte die Schultern. »Klingt gut. Ich bin dabei.«