
Achtzehn
Am nächsten Morgen um sechs Uhr stand Allie wieder im eiskalten Nutzgarten. Es war der erste Tag, an dem sie so tat, als wäre alles normal, obwohl nichts normal war. Anspannung und Nervosität schlugen ihr auf den Magen – heute würden sie ihren Plan in die Tat umsetzen.
Über all der Aufregung hätte sie den Arrest fast vergessen, doch abends, als sie sich getrennt hatten, um auf ihre Zimmer zu gehen, hatte Carter ihr noch hinterhergerufen: »Wir sehen uns dann in alter Frische im Garten …«
Allie war stehen geblieben und hatte ihn ungläubig angestarrt.
»Ist das dein Ernst? Meinst du wirklich, Isabelle erwartet von uns, dass wir uns an unseren Arrest halten, wo all das …«, sie machte eine ausladende Armbewegung, »… um uns rum passiert?«
»Äh … Ja, was denn sonst?« So, wie er guckte, dachte er wohl, dass sie sich absichtlich doof anstellte. »Dein Arrest gilt bis auf Weiteres. Bis auf Weiteres. Isabelle wäre nicht sehr erfreut, wenn wir aus eigenem Entschluss nicht hingehen würden – wegen eines Weltuntergangs, von dem wir eigentlich gar nichts wissen dürften.«
»Na schön.« Allie stapfte hinter den anderen Mädchen die Treppe zu ihrem Trakt hinauf. »Ich hab ja auch nichts Besseres zu tun.«
»Ich hab auch viel um die Ohren, weißt du?«, hatte Carter ihr hinterhergerufen, doch sie hatte sich nicht mehr umgedreht.
Nun packte sie ihre Taschenlampe und ging durchs offene Gartentor. Es war wärmer geworden, der Boden taute. Den Kopf voller Gedanken an Nathaniel und Spione, watete sie durch den Matsch und suchte nach Mr Ellison.
Sie fand ihn am Rand des Obstgartens, wo er die Vorbereitungen traf und dabei eine schiefe Melodie vor sich hin pfiff.
»Die frühen Mitarbeiter sind mir die liebsten«, sagte er fröhlich. »Wie geht es dir heute?«
»Gut.« Sie stand aufrecht da und versuchte, gut auszusehen.
»Prima«, sagte Mr Ellison und holte diverse Gerätschaften aus einem Schuppen. »Eine Verbesserung. Fühle dich gut, und die Menschen um dich herum schließen sich dir aus Solidarität an.«
Dass sie offenbar ungläubig die Stirn runzelte, wurde Allie erst bewusst, als Mr Ellison mit dem Finger fuchtelte. »Das stimmt. Versuch’s selbst, wenn du mir nicht glaubst. Du wirst schon sehen.«
»Okay …«, erwiderte sie skeptisch.
»Du arbeitest heute in den Beeren.« Er reichte ihr Harke und Gartenschere. »Die Sträucher müssen frühlingsfertig gemacht werden. Komm mit, ich zeig dir, wie’s geht.«
Allie folgte ihm durch den dunklen Garten.
»Wo ist eigentlich Carter?«, fragte sie, während sie über eine matschige Kuppe sprang.
Mr Ellisons Blick verdüsterte sich. »Zu spät, wie üblich.«
»Oh.«
Der Gärtner zeigte ihr gerade, wie man die noch kahlen Heidelbeersträucher von den Brombeerzweigen unterscheiden konnte, als sie plötzlich schwere Schritte hörten, die rasch näher kamen. Sie fuhren herum.
Ehe Allie sichs versah, hatte Mr Ellison sich schützend vor sie gestellt; die schwere, eiserne Hacke hielt er so mühelos in der rechten Hand, wie sie vielleicht einen Bleistift geschwungen hätte.
Der Gärtner war ein großer Mann, über eins neunzig, und hatte auf sie immer ein wenig schwerfällig gewirkt, doch nun sah er plötzlich aus, als wäre er zu großer Schnelligkeit und Anmut fähig, und Allie, der das mit einem Mal bewusst wurde, empfand unwillkürlich Respekt – und zugleich Verzweiflung: War denn keiner in Cimmeria das, was er zu sein schien?
Im nächsten Augenblick war die Anspannung wieder gewichen, und sie hörte den Gärtner leise murmeln: »Was ist nur mit dir los, Junge?«
Allie stellte sich auf die Zehenspitzen und entdeckte Carter, der durch den Matsch angerannt kam, wobei der schwache Strahl seiner Taschenlampe hin und her wanderte.
»Tut mir leid«, sagte er, als er schließlich zu ihnen stieß. »Ich hab verschlafen.«
»Verschlafen.« Mr Ellison spuckte das Wort förmlich aus. Als hätte er »Verräter« gesagt.
Zu Allies Überraschung ließ Carter den Kopf hängen. »Tut mir leid, Bob«, sagte er. »Ich kann die Zeit nachholen.«
»Das klären wir später«, erwiderte der Gärtner.
Carters Reue schien ihn zu erweichen, und bald ließ er sie allein, damit sie die Sträucher beschnitten.
Nach Carters Stimmungsschwankungen gestern zeigte Allie wenig Neigung, sich mit ihm zu befassen, und wahrte lieber Distanz. Sie hatte nicht verstanden, was in seinem Kopf vor sich gegangen war – doch davon mal abgesehen, konnte er auch nicht einfach so ankommen und ihre Nähe suchen und sie dann wieder fallen lassen, wie es ihm passte, als wäre sie ein Spielzeug. Entweder waren sie Freunde, oder sie waren es nicht.
Das Beschneiden der Sträucher erwies sich als gar nicht so einfach. Die Brombeerdornen waren wie heimtückische, kleine Dolche, die sich durch Handschuhe und Ärmel bohrten.
»Aua, du blöde, doofe, gemeine … Pflanze!« Allie zerrte an ihrem Handschuh und besah sich den Blutfleck auf ihrer Fingerspitze. »Immerhin habe ich jetzt endlich das wahre Wesen von Brombeeren erkannt. Kleine, bösartige Biester sind das!«
»Alles in Ordnung?« Carter, der die abgeschnittenen Zweige zu einem Haufen zusammenraffte, damit sie verbrannt werden konnten, sah mit einer Mischung aus Sorge und Belustigung zu ihr herüber.
Allie schaute überrascht auf: Es war das erste Mal an diesem Morgen, dass er sie direkt ansprach. Doch rasch hatte sie sich gefasst und bedachte ihn mit einem nonchalanten Achselzucken. »Ich werd’s überleben. Hab noch nie von einem gehört, der zu Tode gedornt worden wäre.«
»Zumindest, soweit wir wissen …«, erwiderte er.
»Vielleicht hat die Beerenindustrie ja dafür gesorgt, dass die Sache vertuscht wurde.«
Während sie den Handschuh wieder überstreifte, musste sie daran denken, wie Mr Ellison kurz zuvor verteidigend vor sie gesprungen war. »Gehört Mr Ellison eigentlich auch zur Night School?«
Carters Miene verdüsterte sich. »Ja und nein.« Er schaute um sich, um sicherzugehen, dass der Gärtner nicht in der Nähe war. »Früher mal. Er ist hier zur Schule gegangen. Hat dann in Oxford Philosophie studiert und in der City bei einer der großen Banken gearbeitet. Dann ist was schiefgelaufen, ziemlich schlimm.«
Allie versuchte, sich Mr Ellison vorzustellen, jung und elegant, im Anzug. Undenkbar. Sie kannte ihn nur im dunkelgrünen Overall. Und nie ohne schmutzige Hände.
Sie sah Carter an. Darüber wollte sie unbedingt mehr erfahren. »Weißt du, was passiert ist?«
»Er hat immer nur gesagt, dass er einen Fehler gemacht und dadurch vielen Leuten geschadet hat. Was immer es war, es muss so schlimm gewesen sein, dass er den Job aufgab und nie mehr zurückkehrte.«
Er warf einen langen Ast auf den Komposthaufen. »Er wird sich das nie verzeihen.«
Die Geschichte war ernüchternd. Die Vorstellung, dass man einen, nur einen einzigen Fehler machen kann, und das ganze Leben ist ruiniert, jagte Allie Furcht ein, und sie musste daran denken, was sich gerade in Cimmeria abspielte. Sie fragte sich, ob hier und jetzt ebenfalls Fehler von solcher Tragweite gemacht wurden. Wenn sie es recht bedachte, war sie ziemlich sicher, dass es so war.
»Ich frage mich …«, hob sie an. »Ich glaube …«, begann Carter gleichzeitig.
Sie hielten inne und kicherten verlegen.
»’tschuldigung«, sagte Carter und winkte ihr mit einem Zweig. »Du zuerst.«
»Ach, nichts Wichtiges«, sagte Allie. »Ich frag mich nur, wie es Eloise so ganz allein in dem Haus ergehen mag. Ich frag mich, ob sie Angst hat.«
»Erstens ist sie da doch gar nicht allein«, antwortete Carter. »Die würden sie nie allein lassen. Vermutlich wär sie sogar lieber allein da. Und zweitens …« Er sah sie prüfend an, als überlegte er, wie viel er ihr zumuten konnte. »Versteif dich nicht zu sehr darauf, dass Eloise unschuldig ist, nur weil Nicole das meint.«
Allie sah ihn erschrocken an. Ein Gefühl der Panik schnürte ihre Kehle ein. »Moment mal. Jetzt sag bloß, du glaubst doch, dass sie die Spionin ist!«
»Ich weiß nicht, ob sie’s ist oder nicht. Ich glaub nur nicht, dass Nicoles Theorie wasserdicht beweist, dass Eloise unschuldig ist. Ich würde halt nicht einfach davon ausgehen, dass sie’s nicht ist.«
»Aber wieso nicht?« Allies Stimme klang jetzt nicht mehr so überzeugt. »Das mit der Kapelle kann sie nicht gewesen sein, oder? Nicht selbst, meine ich.«
Bis eben, bis Carter ihr diese Sicherheit geraubt hatte, war Allie nicht bewusst gewesen, welch große Bedeutung die Überzeugung, dass Eloise unschuldig war, für sie hatte. Sie wollte diese Überzeugung zurückhaben.
Doch Carters Blick war bitter wie dunkle Schokolade. »Weil keiner hier ohne Schuld ist, Allie. Das müsstest du inzwischen eigentlich wissen, oder?«
»Das hätte ich mir ja denken können, dass ihr quatscht, anstatt zu arbeiten!«
Mr Ellisons Stimme hielt Allie von einer Antwort ab. Sie schaute auf und sah den Gärtner in seinem schon etwas schmutzigen Overall auf sie zustapfen. Jetzt, wo sie das über ihn wusste, war er ihr irgendwie noch sympathischer. Zu wissen, dass jemand litt, hatte etwas Unwiderstehliches, Verbindendes.
Ich werd später mit Carter weiterreden, dachte sie. Ich werd ihm beweisen, dass er sich irrt. Eloise ist es nicht. Sie kann es einfach nicht sein.
Den Unterricht ertrug Allie mit kaum beherrschter Ungeduld. Keiner der Night-School-Ausbilder ließ sich blicken. Sie wurden von verschiedenen Lehrern aus anderen Klassen vertreten, und die Stunden waren schludrig vorbereitet und nervend.
Es ging das Gerücht, dass das Night-School-Training eine Zeit lang ausgesetzt war – ohne dass es dazu eine Erklärung gegeben hätte.
Nachmittags standen Allie und Rachel auf dem Absatz der Haupttreppe und taten so, als wären sie ins Gespräch vertieft. Plötzlich richtete Rachel sich auf. »Ziel gesichtet. Auf sechs Uhr. Alle Mann auf Gefechtsstation.«
»Aye, aye, Käpt’n«, erwiderte Allie, die ihrem Blick gefolgt war. Das lebhafte Rot ihrer üppigen Mähne machte Katie unverkennbar, während sie inmitten ihrer genetisch perfekten Freundinnenschar die Treppe heraufstolziert kam.
»Was hast du gehört?«, fragte Allie unnötig laut.
Rachel wartete mit der Antwort, bis Katie fast bei ihnen war. »Die Hälfte der Schüler muss gehen. Aber keiner weiß, wer. Wie bei Caroline, nur mal hundert.«
»Das ist ja schrecklich«, gab sich Allie schockiert. »Was können wir dagegen tun?«
Katie war so abrupt stehen geblieben, dass ihre Begleiterinnen einen Schritt zurückgehen mussten, um sich wieder mit ihr zu vereinigen, doch Katie verscheuchte sie nur mit einer irritierten Geste.
»Geht schon mal vor. Ich komm dann nach.«
Nach kurzem Zögern gingen sie weiter. Als sie außer Hörweite waren, wandte Katie sich an Rachel. »Was hast du da gerade gesagt, Streberin?«
Rachel wurde ernst und berichtete ihr, was sie in Erfahrung gebracht hatten. Während sie zuhörte, lehnte Katie sich gegen die Wand und ließ den Kopf an die Eichentäfelung zurückfallen. Es tat einen dumpfen Schlag.
»Das haben die also vor.« Sie war blass geworden. »Hätte ich mir schon denken können, als Caroline den Abgang gemacht hat. Wie konnte ich nur so blöd sein?«
Allie runzelte die Stirn. »Wer die?«
»Meine Eltern. Natürlich haben die einen Plan. Und natürlich beinhaltet der, mich von der Schule zu nehmen und mein Leben zu ruinieren.« Sie wandte sich an Allie. »Ich hab versucht, dich zu warnen, dass sich da was zusammenbraut. Dass Lucinda die Kontrolle verliert. Aber du wolltest das nicht hören.«
»Moment«, erwiderte Allie. »Deine Eltern sind auf Nathaniels Seite?«
Katie bedachte sie mit einem verärgerten Blick. »Natürlich. Mach dich nicht lächerlich. Schnallst du denn gar nichts?«
»Und was ist mit dir?«, fragte Allie.
Ihre Direktheit schien Katie auf dem falschen Fuß zu erwischen; sie schüttelte so fest den Kopf, dass ihr rotes Haar hin und her flog. »Nein. Niemals.«
»Und was wirst du tun, wenn sie jemanden schicken, um dich abzuholen?«, fragte Rachel.
Katie zögerte mit der Antwort. Schließlich sagte sie gequält: »Ich weiß es nicht. Aber die müssen mich schon umbringen, wenn die mich hier wegkriegen wollen. Ich werde nicht so einfach mitgehen wie Caroline.«
»Würdest du dich wirklich dem Willen deiner Eltern widersetzen?«, fragte Allie überrascht.
Katies Augen glitzerten wie Eiskristalle in der Wintersonne. »Ich verachte meine Eltern, Allie. Mit denen geh ich nirgendwohin. Und dieser schleimige Widerling Nathaniel kann mich mal an meinem perfekten Arsch lecken.«
Ihr kristallklarer Akzent ließ noch die größten Obszönitäten elegant und lustig klingen. Das erinnerte Allie schmerzlich an Jo, und wieder stieg in ihr das Gefühl des Verlusts auf, das sie in den seltsamsten Momenten überfiel, als würde sie in ein unsichtbares Loch fallen.
Sie legte den Kopf schief und musterte Katie anerkennend. Vielleicht hatte sie sie falsch eingeschätzt. Als könnte sie Allies Gedanken lesen, richtete Katie ihren arroganten Blick wieder auf Rachel.
»Und wie kann ich euch behilflich sein, Streberin? Spuck’s aus.«