und das Schwert steht für Kraft und Macht. Die
Schriftrolle in der anderen Hand der Herrsch-
süchtigen, steht für deren Pläne, in die nur sie
hineinblicken darf.
Die armen Menschengestalten, die von den
Schlangen angeschleppt wurden, um dann elen-
diglich zerhackt zu werden, bezeichnen, dass die
Tyrannin sie mit vielfacher Schlauheit gefangen
nahm. Die Geknebelten entsprechen weiterhin
dem Sklavenstand derer, die unter dem Schwert
dieser Tyrannin stehen.
Nun hätten wir auch das, mit der Sprache des
Geistes entziffert.“
„Sicherlich, aber hältst du diese Symbolik nicht
für zu stark aufgetragen?“
„Im Gegenteil! Und überhaupt, Symbolik ist ein
zu schwaches Wort. Es ist nicht nur ein Zeichen,
das sich mit einer Bedeutung verknüpft, sondern
das, was wir sahen, bezeichnet einen wahren Zu-
307
stand in einer Bildersprache, die absolut ist. Es
gibt höllisch-satanische Politiker, denen du unter
einem solchen Bild nur oberflächlich gerecht
werden würdest.
Das, was du gesehen hast, war Herrschsucht im
weltlichen Sinne. Diese Frau hatte mit Sicherheit
irgendein hohes Amt zu Lebzeiten in unserer
Welt inne, das sie Zeit ihres Lebens missbrauch-
te, bis sie aus ihrem Leben abberufen wurde.
Nun wird ihre Seele in ihrem von ihr selbst kul-
tivierten Zustand belassen, zu ihrer Läuterung.
Über lange Zeiträume wird sie zu sich finden
müssen, erst zu ihrer Bewusstheit, dann wird sie
beginnen über Ehrlichkeit, Rücksicht und Verge-
bung zu reflektieren. Sie wird in sich gehen und
sich zum Licht empor kämpfen. Dabei wird ihre
Gestalt genau wie ihre äußere Umgebung Ver-
änderung erfahren.
Wir aber gehen jetzt weiter. In was für eine
Sphäre sind wir da nur geraten? Wir schaffen
uns von hier fort. Dort auf dieser Anhöhe haben
wir einen allgemeinen Überblick über die Ge-
gend.“
308
12
Ihre Entdeckungsreise führte sie immer weiter
hinauf auf einen Gebirgszug. Es war klar, dass
die Lichtverhältnisse keiner Einteilung von Tag
und Nacht folgten, somit kamen herkömmliche
physikalische und astronomische Gesetze nicht
in Betracht. Sie befanden sich nicht auf einem ro-
tierenden Erdkörper, schloss Tamara. Man sah
auch keine Sonne, obwohl es permanent mehr
oder weniger hell war. Manchmal mussten sie
rasten, da der Aufstieg sich als anstrengend er-
wies.
Oben angekommen präsentierte sich ihnen ein
angenehmeres Bild, als die Sphäre durch die sie
gegangen waren. Der Glanz und die Wunderfül-
le, die Tamara gewahrte, blendeten sie. Wonne-
erfüllt betrachtete sie die lichtgrünen Buckel hin-
ter dem Gebirgszug, an deren Flanken zierliche
Wohnhäuser errichtet waren, vor denen man die
dort lebenden Menschen sah bei den ver-
schiedensten Arbeiten.
309
Rechts erstreckte sich ein Felsengebirge, in das
anmutige Gebäude gebaut waren. Von den Ber-
gen aus ergossen sich zahlreiche Wasserfälle ins
Tal und mündeten in lilienbewachsenen Teichen.
Über die Teiche glitten Schwäne stolz dahin und
der Gesang seltener Vögel lag in der Luft, der
sich mit dem Plätschern der Rinnsale vermählte.
In geordneten Terrassen stiegen am Fuß der Ber-
ge kleine Wäldchen und Weinlauben hügelan.
Als sie von dem Berg herunter waren, zogen sie
durch eine saftig-grüne Ebene. Sanfte gerundete
Gebirgszüge folgten ihnen, die mit hübschen Ze-
dern und anderen herrlichen Bäumen geziert
waren. Die Scheitel der Berge waren mit anmuti-
gen, goldenen Pyramiden geschmückt, über de-
nen am Firmament ein Stern, heller als die Ve-
nus, leuchtete. Tamara gewahrte verträumt-
romantische Wohnhäuser im ländlichen Stil ab-
seits der Straße. Menschen im und ums Haus
waren emsig mit allerlei Arbeiten beschäftigt,
auch bemerkte sie ein Feld, dass von ihnen wie
in früheren Zeiten nach altmodischer Art bestellt
wurde.
310
Als sie sich erneut umwandte, bemerkte sie,
dass der Bergzug zu ihrer Linken schon derart
weit hinter ihnen lag, dass man kein Ende erbli-
cken konnte. Zugleich schien er sich endlos vo-
raus zu erstrecken.
„Die Menschen, die ihr dort seht, wandelten
einst wie wir auf Erden, doch nun sind sie Geis-
ter“, kommentierte Viktor. „Ich bin der Meinung,
wir sollten den Nächsten von ihnen nach dem
Weg fragen.“
„Den Weg wohin?“, fragte Tamara.
Viktor zuckte mit den Schultern. „Das weiß ich
auch nicht. Wir werden sehen.“
Sie schritten an einem herrlichen azurblauen See
vorbei. Das Wasser war wunderbar klar. Spontan
knieten sie sich hin und tranken davon. Auf dem
See lagen kleine Inseln verstreut, auf denen nied-
liche Holzhäuser gebaut waren. Auf dem Wasser
fuhren gemächlich ein paar Segelboote mit strah-
lend weißen Segeln, die sich von der Prise hin-
und hertreiben ließen.
„Am besten fragen wir hier nach dem Weg. Dies
scheint mir eine Sphäre mit höher stehenden
311
Geistern zu sein“, bekräftigte Viktor seine Ein-
schätzung.
Sie folgten dem Weg zu einem auffälligen Haus
aus grauem Stein mit kleinen Türmchen und Er-
kern. Die Vegetation darin war von einem Jäger-
zaun umfasst und der Rasen glich mehr einem
üppigen, grünen Teppich, in dem Beifuss mit
Lorbeersträuchern und weißem Dill um die Vor-
herrschaft kämpften, dass es einem Urwald
gleichkam. Ein schmaler Schotterweg führte zum
Hauseingang, über dem sich ein mit Rosenbü-
schen drapierter, schattiger Laubengang wölbte.
Vor dem Eingang war eine Veranda auf einer er-
höhten Plattform, wo jemand stand.
Als sie näher kamen, sah Tamara, dass es sich
um eine Frau handelte, die eine zu Fleisch und
Blut gewordene männliche Fantasie darstellte.
Ihr mahagonibraunes Haar hing ihr bis auf die
Schultern, und ihr Körper schien das zu sein,
wonach Hugh Hefner sein Leben lang gesucht
hatte. Sie war barfuss und trug ein weißes Hän-
gekleid. Tatsächlich besaß ihre Schönheit etwas
schulmädchenhaftes, als sei sie sich dessen gar
nicht bewusst, und war somit alles in allem eine
312
ungewöhnliche Kombination. Tamara warf einen
Blick zu Lukas, der die Frau auch schon regis-
triert hatte, wie sie an seinem Gesichtsausdruck
erkannte, was sie ihm aber nicht Übel nehmen
konnte.
„Was seid ihr denn für welche?“, rief sie den
Wanderern gut gelaunt entgegen. „Solche wie
euch habe ich noch nie hier gesehen.“
Viktor fand als erster die Sprache wieder. „Ei-
gentlich wollten wir nur nach dem Weg fragen.“
„Oje, ihr seid Weltenwanderer. Na, dann kommt
mal rein. Vielleicht kann ich euch weiter helfen.“
Viktor wechselte mit Lukas einen Blick, der ihm
unverbindlich zunickte. Die Frau drehte sich um
und ging auf den Eingang zu, als seien sie schon
tausendmal bei ihr zu Besuch gewesen. Sie stie-
gen die Treppe hoch und folgten der Frau ins
Haus, woraufhin sie sich in einer urgemütlichen
Schankstube wiederfanden im rustikalen Land-
hausstil. Draußen war ein Frühlingstag von be-
schwingter Klarheit, jedoch als sie in das kühle
Innere des Gasthauses traten, herrschte ange-
nehmes Dämmerlicht. Über einen weichen, rot-
gemusterten Teppich gelangten sie in den
313
Schankraum, dessen düstere Holzvertäfelung
und stämmige Balkendecke auf eine raue Art
einladend wirkten. Am Ende des Raumes befand
sich eine große Kaminecke. Natürlich brannte
kein Feuer, aber auf dem Rost daneben lag ein
Berg mit Holzscheiten. Die Theke bestand aus
glänzend poliertem Eichenholz, dahinter zeigten
sich eine Reihe Zapfhähne aus Messing.
Erst dachte Tamara, es handele sich um ein aus-
gestopftes Exemplar, doch als sie genauer hin-
sah, bemerkte sie einen Raben mit glänzend
schwarzem Gefieder, der auf dem Fensterbrett
innen saß und sie abschätzig beäugte. Sie musste
an das Gedicht Der Rabe von Edgar Allan Poe
denken.
Sprach der Rabe nimmermehr.
„Ein Gasthaus im Geisterland mutet euch selt-
sam an, nicht wahr. Aber es verirren sich viele
Seelen Verstorbener hier her. Von mir erhalten
sie Rat und Hilfe. Womöglich kann ich euch auch
helfen. Doch zuerst essen wir eine Kleinigkeit.“
Sie nahmen Platz. Essen wurde in großzügigen
Mengen aufgetragen. Es gab mehrere Sorten Kä-
se mit Schwarzbrot, dazu dunkles Bier in Stein-
314
krügen, das süß und nussig schmeckte und den
Geruch von Gewürznelken besaß.
Gegen Ende des Mahls, fragte ihre Gastgeberin.
„Was ist das Ziel eurer Reise.“
„Um ehrlich zu sein, wissen wir das selbst nicht
so recht“, entgegnete Viktor zaghaft.
„Wir sind eigentlich mehr unfreiwillig hier“,
sagte Lukas und wies dabei auf Tamara und die
Kleine.
„Eure Welt zerfällt. Ist es nicht so?“, sagte die
schöne Frau. „Ach ja, hatte ich fast vergessen.
Mein Name ist Wilhelmina. Eure Namen weiß
ich schon. Du bist Lukas und siehst die Toten
und du bist Tamara, seine Frau, stimmt’s? Und
du bist Isabelle, ja, und du heißt Viktor.“
„Du siehst Tote?“, platzte Viktor heraus.
„Ja, manchmal“, gab Lukas zurück und biss ein
Stück Käse ab.
„Na, wenn das nicht Mal ein Ding ist“, entgeg-
nete Viktor. „Da musst du mir nachher noch da-
von erzählen.“ Er wandte sich an Wilhelmina.
„Wir glauben, das heißt, ich glaube, dass die Ur-
sache für den Niedergang unserer Welt in einem
Ungleichgewicht zum Jenseits begründet liegt.“
315
Sie machte einen hinreißenden Schmollmund
und schaute zu Lukas. „So könnte man es aus-
drücken, aber du hast es doch auch schon be-
merkt, du bist doch ein Geisterseher.“
„Natürlich habe ich bemerkt, dass etwas nicht
stimmt“, sagte Lukas. „Ich ging jedoch nicht
gleich so weit, daraus Schlüsse wie Viktor zu
ziehen.“
„Ihr Menschen seid selbst Schuld an eurem
Elend“, sagte Wilhelmina. „Ihr gleicht einer
schwankenden Schar, die sich rastlos im Kreise
dreht und lebt nur für eure kleingeistigen Ver-
gnügungen, die euer Herz ausfüllen sollen. Das
Schicksal eurer Mitmenschen ist euch meist
fremd.“
Sie hob ihre intensiven Augen und betrachtete
alle Vier der Reihe nach. Sie besaß etwas ebenso
Bezauberndes wie Beunruhigendes.
„Aber haben die Menschen sich im Laufe der
Jahrtausende nicht ein wenig gebessert. Haben
nicht zum Beispiel Demokratie und Menschen-
rechte unsere Welt wenigstens ein wenig nach
vorne gebracht“, warf Tamara ein.
316
Wilhelmina streckte die Hand aus und der Rabe
sprang vom Fensterbrett auf ihren Unterarm,
von wo er auf ihre Schulter kletterte. Sie lächelte
gequält. „Über euch allen thront eine gewaltige,
alles bevormundende Macht, die ihr Staat nennt.
Sie sorgt dafür, dass eure Genüsse befriedigt
werden und euer Schicksal vorgezeichnet ist.
Doch es ist keine väterliche Gewalt, die euch
heranreifen lässt. Sie will euch unwiderruflich im
Zustand der Kindheit festhalten. So verliert der
freie Wille immer mehr an Bedeutung unter euch
Erdenbürgern, da jeder Wille nur auf einen klei-
nen Raum beschränkt ist. Man hat euch zurecht
geknetet mit vielen Gesetzen und kleinen, verwi-
ckelten Vorschriften, die euren Willen zwar nicht
brachen, aber euch durchweichten und beugten.
Man zwang euch auf Erden nicht dieses oder je-
nes zu tun, aber man wirkte auf euch ein, dass
ihr es tatet. Man zerstörte nicht immer gleich,
aber man hinderte die Sachen, die am entstehen
waren. Man tyrannisierte nicht, aber man hemm-
te, drückte nieder und stumpfte ab. Man verbot
dir nicht das Wort, aber von diesem Tag an warst
du von der Masse geächtet und ein Außenseiter.
317
Du behältst deine Bürgerrechte, aber was nutzt
es dir. Du bleibst unter uns, aber du büßt alles
ein, wir lassen dir dein Leben, das schlimmer ist
als der Tod.
Hinter eurer so scheinbar idealen Verfassung,
lauert der Despotismus, der die alten Despoten
in vielem übertraf. Auch wenn die westlichen
Demokratien nicht mit unverhüllter Gewalt
herrschten, tat man doch euren Seelen Gewalt an.
Man übergeht den Körper und zielt gleich auf
die Seele.
Es musste zwangsläufig zu einer notwendigen
Fortdauer ewiger Sorgen kommen, die mit der
Zeit immer bedrohlichere Ausmaße annahm. Ei-
ne Regierungsform oder Staatsidee, wo alles da-
rin besteht, dass jede Partei mit der anderen um
die Mehrheit im Volke wetteifert, muss früher
oder später scheitern, da dies in einem Dauerzu-
stand im Kampf um die Macht endet und somit
der Erlangung der Staatskasse. Es ist scheußlich
zu sehen, wie diese Staatsform die Rivalität der
Parteien und Interessengruppen anheizt, wo ei-
ner den anderen verleumdet, betrügt und Böses
nachsagt, ohne Scham und Gewissen. Der per-
318
fekte Nährboden für Elend und Würdelosigkeit.
Der Ekel steigert sich noch, wenn die Volksver-
treter mit phrasenhaften Reden betonen, wie
fortschrittlich das Gesellschaftssystem ist. Und je
mehr dieses Staatssystem wächst und wuchert,
wo gewitzte Demagogen mit Ellbogen und sal-
bungsvollen Worten sich an die Spitze der Milli-
onenmassen gesetzt haben, desto schlimmer
wird es.“
Viktor gönnte sich ein paar große Schlucke Bier
aus dem Steinkrug, bevor er sagte: „Nach dem
was du schilderst, musst du auf der Erde einmal
gelebt haben.“
Wilhelmina griff sich an die Stirn, als habe sie
Kopfschmerzen. „Ja, auch ich war mal im
Fleisch. Auf Erden dürfte noch nicht allzu viel
Zeit vergangen sein, seit ich meine sterbliche
Hülle verlassen habe. Vielleicht ein paar Jahre,
doch in dieser Sphäre bin ich nun schon seit ein
paar Tausend Jahren nach euren Zeitbegriffen.
Kurz nach meinem Tod bin ich oft noch in Erd-
nähe hinabgestiegen, doch der Wirkungskreis
der Erde wurde mir immer mehr zuwider. Ist
man einmal reiner Geist, empfindet man den Le-
319
bensdunstkreis der im Fleisch Wandelnden als
widerlich. Als ich hier ankam, merkte ich schnell,
dass ich bloß meinen Willen zu erregen brauchte
und imstande war zu erschaffen. Durch Wil-
lensimpulse, Kraftbewusstsein und die felsenfes-
te Überzeugung zu erschaffen, gestaltete ich
nach und nach diese Sphäre, bis sich weitere
Geister hierher verliefen. Und ihr Vier seid nun
unversehens in meine Sphäre gestolpert.“ Sie lä-
chelte die vor ihr Sitzenden verstohlen an.
„Was meinst du genau mit deiner Sphäre, von
wo bis wohin reicht sie?“, fragte Viktor mit Inte-
resse.
Wilhelmina machte eine weit umschweifende
Geste. „In sich ist sie nahezu unendlich, aber
auch ihr sind Grenzen gesetzt, wenngleich für
euer Vorstellungsvermögen unendlich, doch für
euch begann sie mit dem Gebirgszug, den ihr er-
blicktet, als ihr aus der Ebene kamt, und endet
wenn ihr den Hauptweg immer weiter geht bei
einem großen Waldgebiet. Das Mittelreich durch
das ihr hier geht, befindet sich räumlich betrach-
tet in Erdnähe, ist jedoch reingeistig und nach
euren Begriffen ohne Ende. Doch die geistige
320
Welt erstreckt sich durch den gesamten Kosmos.
Den freien Geistwesen ist es möglich Milliarden
von Galaxien in nur einem Moment zu durch-
wandern.
Wenn ihr eines Tages den Leib ablegt, werdet
ihr sehen, dass in solchen Weltsphären wie der
meinen, die Gedanken Form und Bestand haben.
Hier findet der gereifte Mensch zur Schöpfer-
kraft und ist Gestalter dieser reingeistigen Wel-
ten, welche im Grunde eine innerseelische Welt
ist, die sich nach Außen kehrt.“
„Dann sind wir vorhin buchstäblich durch deine
Seele gegangen“, sagte Tamara.
„Es ist etwas unglücklich ausgedrückt, aber ja,
so ist es, deshalb wusste ich, dass ihr kommt,
noch ehe ihr es wusstet.“ Ein verhaltenes Lächeln
umspielte die Lippen ihres wunderbar geformten
Mundes. „Je nach Entwicklungsstufe sind einer
Sphäre Grenzen gesetzt. Manche Sphären sind
die reinsten Gefängnisse für die Geister, wo sie
erst zu sich finden müssen. Ihr habt es selbst ge-
sehen.“
„Oft haben wir lange Wege in kurzer Zeit zu-
rückgelegt, ohne uns zu beeilen“, warf Lukas ein.
321
„Solch eine Art zu reisen, deutet das Eingehen in
eine neue Sphäre an. Ich brauche im Grunde gar
nicht zu reisen, ich muss nur Wollen, wenn ich
irgendwohin will. In der Geisterwelt hängt alles
vom Willen und Wollen ab.“
„Aber zwischen den Sphären gibt es natürlich
auch geistige Zusammenhänge mit den sichtba-
ren Welten des Universums, also auch unserer
Erde“, sagte Viktor.
„Oh ja, die gibt es, und damit sind wir wieder
bei Ausgangsthema. Ihr habt mit eurer Welt
Schindluder getrieben, sodass alles aus den Fu-
gen gerät und die geistige Welt die materielle
aufsaugt. Da eure Erde und ihre Einwohner aus
Materie sind, steht ihr geistig tiefer und somit ist
die Nähe zu geistig niederen Sphären gegeben.
Aus diesen Sphären dringen dunkle Kräfte in eu-
re Welt, da die Breschen sich allmählich öffnen.
Wir aus den höher stehenden Sphären können
und wollen euch nicht helfen. Dies verbietet das
Gesetz des freien Willens.“
„Aber kannst du uns nicht wenigstens sagen,
wohin wir gehen sollen?“, fragte Viktor.
322
„Und wie wir in unsere Welt zurück gelangen“,
warf Lukas beinahe flehend ein.
„Wie ich schon sagte, in der Geisterwelt hängt
alles vom Willen und Wollen ab, wenn ihr ir-
gendwo hinkommen wollt, dann ist das eine Art
mentaler Magnetismus, der euch dorthin führen
wird. Du Viktor wirst an den Ort des Unheils ge-
langen und du Lukas musst nur Ausschau halten
nach Orten des Übergangs. Schamanen aller
Zeitalter haben auf ihren Reisen in die Anders-
welt die Ausgänge markiert. Da ihr Europäer
und damit keltisch oder germanisch geprägt
seid, gehe ich davon aus, da diese Begriffe in
euch bestehen, sodass ihr auch durch ähnliche
Sphären gehen werdet und nicht durch eine von
Eskimos, Bantus oder Aborigines.“
Sie stand auf und ging zu einer Tür am anderen
Ende des Raumes. Obwohl alle hinter der Tür ei-
nen anderen Raum vermuteten, öffnete sich der
Eingang zu einer neuen Welt. „Am besten, ihr
nehmt diesen Weg. Folgt einfach immer dem
Fluss“, sagte Wilhelmina.
323
Sie standen starr vor Staunen auf, verabschiede-
ten sich von ihrer mysteriösen Gastgeberin und
verließen das Haus.
Sie folgten dem Fluss als einzige Richtungs-
schnur, der von einem Wald umschlossen war, in
dem sich eine Vielfalt an Baumbestand zeigte.
Silberne Birken kreuzten ihre Äste mit Weiden
und Holunder, zwischen denen dichter Farn
stand. Ständig mussten sie sich durch Schwarz-
dorn- und Stechpalmendickicht kämpfen. Ver-
einzelt erhoben sich riesenhafte Buchen und Ei-
chen mit kolossalen Kuppeln und hüllten ihren
Weg ins Halbdunkel. Flechten und Moos wuch-
sen überall, als hätte jemand die Stämme und Äs-
te mit graugrünem Gips bestrichen. Dieser Wald
wirkte uralt. Die Stämme beugten sich unter der
Zahl ungezählter Jahre und der Boden war weich
und gedämpft von über Äonen angesammeltem
Laub. Ab und zu lichtete sich der Wald und
mündete in Lichtungen, wo sie über Grasflächen
gingen, die borstig waren wie ungekämmte Haa-
re. Den Fluss verloren sie nie aus den Augen. Er
war breit und tief und floss träge durch sein Bett.
324
Bei manchen Bäumen waren die Äste so lang,
dass sie von einem Ufer zum anderen ragten.
Tamara fühlte sich erdrückt durch die überdi-
mensionalen Proportionen. Je weiter sie in den
Forst vordrangen, desto nichtiger und verwund-
barer kam sie sich vor. Im Schatten dieser Bäume
fühlte sie sich wie eine Waldameise, im Grunde
bedeutungslos. Sie vermutete, dass Lukas ähn-
lich empfand. So niederschmetternd es war auf
ein Insekt reduziert zu werden, noch beunruhi-
gender war die vorweltliche Stille. Ihr war, als sie
den Wald betraten, dass alle Geräusche abebb-
ten. Kein Wind zog durch die Baumkronen, kein
Vogelruf war zu vernehmen. Selbst ihre Schritte
erzeugten nur minimale Geräusche und der
Fluss zog stumm durch sein schlammiges Bett.
Tamara räusperte sich. Einen Moment hatte sie
gedacht, man hätte ihr das Gehör geraubt. Dann
brachte sie die tiefe, absorbierende Stille des
Waldes zum verstummen. Sie meinte, der Wald
dringe in ihr Herz ein, um Angst und Zweifel an
die Oberfläche zu ziehen.
Ich will hier weg.
325
Ihr kam der Gedanke, dass sie beobachtet wur-
den. Was wäre, wenn ihnen irgendwer oder ir-
gendwas auflauerte. Kurz drängte sich ihr die
abstruse Vorstellung in den Sinn, dass in dem
Flechtwerk der Äste über ihnen irgendwelche
Wesen sie mit kalten Augen beäugten – eine
Heerschar geflügelter, menschengroßer Repti-
lien. Sie stellte sich vor, wie sie sich mit der Laut-
losigkeit von Schlangen von Ast zu Ast beweg-
ten. Daraufhin maßregelte sich Tamara und
dachte, dass ihre Empfindungen nur von ihren
Emotionen geprägt waren, Projektionen ihres
verwirrten Gemütes. Neben der Stille war auch
eine dämmrige Düsternis vorherrschend.
Es war ein erbärmlicher Marsch, Schritt für
Schritt kämpften sie sich durch die dunkle Wirr-
nis. Die schon erlebte Lethargie ergriff von ihr
vollends besitzt und saugte ihren Lebensmut aus
wie ein Blutegel.
Sie gingen lange, doch irgendwann mussten sie
ausruhen. Viktor machte ein Feuer, dem der
Wald alle Kraft zu nehmen schien. Lukas und I-
sabelle lehnten wenige Meter entfernt mit dem
326
Rücken an einem Baumstamm und unterhielten
sich.
Tamara setzte sich zu Viktor. „Wenn wir einen
Ort des Übergangs finden, kannst du uns helfen
wieder in unsere Welt zurückzufinden?“
„Ja“, sagte er gleichmütig und legte etwas Holz
nach.
„Und wie?“
„Mit einem Ritual – wenn der Nexus nicht schon
offen ist – das auf einer höheren Ebene Prozesse
in Gang setzt.“
„Und du bist sicher, dass es funktioniert?“
„Ich hoffe doch.“
Tamara kratzte sich am Kopf. „Du hoffst?“
„Na ja, also ehrlich gesagt, bin ich mir ziemlich
sicher, dass es den umgekehrten Weg funktio-
niert.“
„Und wie funktioniert es?“, bohrte Tamara wei-
ter.
Er griff in die Innentasche seiner Jacke und zog
ein schwarzes in Leder gebundenes Notizbuch
heraus und reichte es Tamara, während er in die
Glut des Feuers blies, das nicht so recht brennen
sollte. „Steht alles hier drin. Das was du suchst,
327
steht auf Seite 33.“ Er kam hoch und kroch neben
Tamara. „Sieh mal, es heißt Das Ritual der Schwel-
le. Damit kannst du den Schleier, der die eine
Welt von der anderen trennt, lüften. Ist gar nicht
so schwer. Du musst nur einen Kraftort finden,
wo der Schleier bereits dünn ist.“
„Und woran sehe ich das?“
„Nun, ich denke, dass die Orte in irgendeiner
Form von Weltenwanderern, die vor uns hier
waren, markiert wurden, genau wie Wilhelmina
gesagt hat. Vielleicht eine Steinsäule, ein Hügel-
grab oder ein heiliger Hain. Dort führst du das
Ritual durch, wenn die Schwelle nicht schon of-
fen ist. Ansonsten gehst du einfach durch.“
„Wir kamen in einem Cairn hier an. Dann dür-
fen wir dich nicht verlieren. Damit du die
Schwelle für uns öffnen kannst.“ Sie wollte ihm
das Buch zurückgeben.
„Behalte es nur“, wehrte er ab. „Vielleicht wer-
den wir getrennt, und ihr kommt auf diese Art
auch ohne mich zurück. Du kannst es mir ja wie-
dergeben, wenn alles vorbei ist.“
„Du bist sehr optimistisch, was deine Mission
angeht.“
328
„Ja, es wird schon werden.“
Tamara blätterte ein wenig in dem Buch in das
Viktor mit einer gestochen schönen Schrift Dinge
geschrieben hatte, die sie auf Anhieb nicht ver-
stand. Darunter erkannte sie astrologische Sym-
bole, seitenweise Listen von Engeln und Dämo-
nen, Auszüge aus Prophezeiungstexten von ver-
schiedenen Quellen, Anleitungen zur Herstel-
lung von Talismanen und Kräutertränken für
magische Zwecke. Es glich einem Grimoire, ei-
nem Zauberbuch. Sie schüttelte vor Verwunde-
rung der Kopf und steckte es ein.
Sie rasteten noch eine Weile, legten sich auf den
Waldboden und versuchten auszuruhen, doch
irgendwann kamen sie überein, dass es das Beste
sei weiterzugehen. Tatsächlich waren sie nicht
allzu weit gegangen, als sie aus dem grünschat-
tigen Inneren des Waldes traten. Bereits kurz da-
hinter änderte die Landschaft ihre Beschaffen-
heit. Es war eine schauderhafte Gegend. Wo das
Auge hinblickte, entdeckte es nichts als schwar-
zen Sand und Steingeröll, als wäre alles ver-
brannt. Etwas war hier gegenwärtig, was jede
Vegetation an ihrem Entstehen hinderte.
329
Sie ließen den Wald hinter sich und betraten die
kahle Ebene. Der Flusslauf rechterhand wurde
von hohen Klippen umgrenzt. Als sie einen sanft
gerundeten Hügel überquert hatten, fanden sie
zu ihrem Erstaunen wenige hundert Schritte vor
sich etwas, das aussah wie eine antike Stadt, die
in eine große Mulde nahe dem Flussufer einge-
graben war.
„Wo sind wir denn nun gelandet?“, rief Lukas
aus.
Viktor zuckte nur mit den Schultern und hüllte
sich in grimmiges Schweigen.
„Ist das der Ort an dem das Ungleichgewicht
hervorgerufen wird?", hakte Tamara nach.
„Ich weiß es nicht“, sagte Viktor. „Doch um das
herauszufinden, müssen wir uns ein wenig um-
sehen.“
330
13
Beim Näherkommen erwies die Stadt sich als ein
einziges weit verzweigtes Gebäude von gerade-
zu kolossalen Ausmaßen. Es wirkte wie ein Pa-
last mit Aberhunderten von Hallen, Mauern,
Fenstern und Säulen. Alles war aus riesigen,
grauen Steinblöcken gemauert, die überall in der
Gegend herumlagen. Alles in Allem wirkte die
Anlage wie ein wild wucherndes Ungetüm, das
sich ohne erkennbares System und entgegen den
Gesetzen der Symmetrie in alle Richtungen fort-
pflanzte.
Viktor blinzelte ungläubig, zum einen, weil die
Sonne in Form eines kränklichen Balles herein-
brach, zum anderen, weil das Bauwerk mehr ei-
nem Trugbild glich, das sich jeden Moment zu
Staub lösen konnte.
Scheu wie ein Rudel Rehe bewegten sie sich den
Hang hinab und strebten langsam auf den Ge-
bäudekomplex zu, ständig Ausschau haltend
nach irgendeinem Lebenszeichen. Die Steine
331
konnten nicht viel kleiner sein, als die der Pyra-
miden auf der Hochebene von Gizeh. Viktor
schwindelte bei dem Gedanken, wie es für Men-
schen möglich gewesen sein sollte, die behaue-
nen Kolosse von den Fundamenten bis hinauf zu
den zahllosen Spitztürmen und hochgiebeligen
Dächern gehievt zu haben. Da fiel ihm ein, dass
sie im Reich der Geister waren und hier die Din-
ge auf andere Art Gestalt annahmen.
Einige Dächer waren schon eingestürzt. Die of-
fenen Fenster starrten finster mit lidlosen Augen
auf sie herab. Die Unzahl an Giebeln ruhte auf
Reihen sich nach oben verjüngender, ionischer
Säulen, von denen etliche schon zerbrochen wa-
ren. Im Großem und Ganzen jedoch war der Pa-
last intakt. In unregelmäßigen Abständen war
die Mauer von Bogengängen durchbrochen, hin-
ter denen sich breite Treppenfluchten bis gera-
dewegs hinunter in das schwarze Wasser des
Flusslaufs führten.
Ein Umstand der Viktor gleich auffiel, war, dass
alle Mauern schief verliefen, nie lotrecht, nie ge-
rade, nie rechtwinklig. Das Gebäude wirkte ir-
gendwie unproportional und trotzdem fügte sich
332
alles fließend ineinander, was seltsam beunruhi-
gend auf Viktor wirkte, als würde das Gebäude
leben, als wäre es ein Organismus, ein konkretes
Wesen. Und doch war alles um sie herum still
und leblos, jedoch irgendein Einfluss herrschte
hier vor. Viktor wusste nur nicht was.
Kein Teil des Gebäudes war von irgendeiner Art
Vegetation befallen, nirgendwo rankte sich Efeu
empor, kein Gras wuchs in den Fugen, kein
Moos hatte sich am Fels festgebissen, nirgendwo
suchten sich Wurzel oder Ast ihren Platz.
„Dieser Ort ist böse“, sagte Isabelle plötzlich in
die Stille hinein. Es war unheimlich, wie ihre zar-
te Stimme von der Unzahl der verwinkelten
Wände zurückgeworfen wurde.
„Ich denke, es ist besser, wir verschwinden von
hier. An diesem Ort ist nichts.“ Auch Lukas'
Stimme hallte wie ein Peitschenhieb durch das
Gewölbe, obwohl er flüsterte.
„Das Wissen wir erst, wenn wir den Ort unter-
sucht haben“, entgegnete Viktor. „Immerhin hat
uns unser Weg direkt hierher geführt.“
„Hört ihr das?“, sagte Isabelle und legte ihren
Zeigefinger auf die Lippen.
333
Alle schwiegen einen Moment und lauschten.
Nichts.
„Was hörst du, mein Schatz?“, fragte Tamara.
„Da weint ein Kind“, sagte Isabelle.
Erneut lauschten sie in die Stille hinein. Diesmal
vernahmen sie es. Es klang unendlich weit weg,
wie das Jammern eines Kleinkindes, das man in
einem dunklen Wald ausgesetzt hatte, flehend
und voll Angst.
„Ja, da weint tatsächlich ein Kind, eher ein Baby
würde ich sagen“, meinte Viktor, der seine Hand
hinter die rechte Ohrmuschel wie einen Trichter
geklemmt hatte.
„Oh, Mann, das ist ja so unheimlich wie in dem
Horror-Film The Blair Witch Project, wo diese drei
Filmstudenten in einem tiefen Wald eine Doku-
mentation über eine Hexe drehen wollen und
sich dort hoffnungslos verirren. Dort hören sie
nachts in ihren Zelten ein weinendes Baby im
Wald“, warf Tamara ein.
„Danke für deinen Beitrag, Schatz“, quittierte
Lukas die Bemerkung. „Aber wenn du mich
fragst, ist das hier noch eine Spur unheimlicher.“
334
„Was ihr euch für Filme anschaut“ sagte Viktor
und schüttelte den Kopf. „Ich will gar nicht wis-
sen, wie er endet. Aber ich frage mich eher, was
ein Kleinkind oder ein Säugling im Geisterreich
in solch einer Sphäre macht.“ Viktor rieb sich ei-
nen Moment das Kinn. „Es scheint von da vorne
zu kommen. Es wäre wichtig der Sache nachzu-
gehen. Ich schaue es mir mal an. Wer kommt
mit?“ Er sah Lukas und Tamara abwechselnd an
und bemerkte ihr Widerstreben. „Gut, dann
werde ich der Sache allein nachgehen. Am besten
ihr wartet hier. Ich bin gleich wieder zurück.“
„Aber sei bloß vorsichtig“, mahnte Lukas, „mir
gefällt das hier alles nicht.“
„Was meinst du?“, fragte Viktor.
Lukas zauderte. „Na, das alles passt irgendwie
nicht zusammen. Ich fühle, dass hier etwas nicht
stimmt.“
„Lukas fühlt die Dinge manchmal intensiver“,
sagte Tamara.
„Bitte sei vorsichtig, Viktor“, flehte Isabelle.
Viktor nickte.
Er war noch nicht weit gegangen, als sich zu
seiner Rechten ein Durchgang wie ein Schlund
335
auftat, hinter dem eine Treppe hinab in die Tiefe
führte. Da er das Weinen nun deutlicher hörte,
wusste er, dass dies der richtige Weg war. Er
kramte in seinem Rucksack eine Taschenlampe
hervor und knipste sie an. Verzweifelt versuchte
der Lichtkegel etwas gegen die vollkommene
Finsternis auszurichten.
Im Gang war es kälter als draußen und Viktors
feuchter Atem wölbte sich vor dem Lichtstrahl in
kleinen Wolken. Das Wimmern hatte einen Mo-
ment aufgehört, sodass drückende Stille ihn um-
fing.
Langsam stieg er die Stufen hinab, die sich vor
ihm in der Dunkelheit verloren. Jeder seiner
Schritte hallte überlaut in dem Gewölbe wieder.
Die Wände und die gekachelten Stufen waren
mit irgendeinem Film überzogen, feucht und
glitschig. Nirgendwo gab es Mobiliar oder sons-
tige bewegliche Gegenstände. Doch halt! Mit ei-
nem Ruck blieb Viktor stehen. Beinahe wäre er
achtlos daran vorüber gelaufen, aber im letzten
Augenblick sah er die reliefartige Felszeichnung,
die jemand zuerst in die Wand gemeißelt und
336
anschließend mit roter und weißer Farbe ausge-
malt hatte.
Es handelte sich um die stilisierte Darstellung
eines Lindwurms oder einer Schlange mit
Schuppenpanzer und stachelbewehrtem Kamm.
Sie erinnerte Viktor sogleich an die Midgard-
schlange der germanischen Mythologie, auch
Jormungand genannt, eine Seeschlange, die ge-
nau wie Hel oder der Fenriswolf von dem zwie-
lichtigen Gott Loki erschaffen worden war. Der
Gedanke war kaum ausgedacht, als er unter dem
Bildnis in blutroten geschwungenen Lettern las:
Miðgarðsormr
Viktor musste zweimal lesen und murmelte
schließlich: „Das ist altnordisch und bedeutet ...
Weltenschlange. Interessant.“
Sollte dies eine Sphäre sein, wo man einst dieses
mythologische Wesen verehrt hatte und führte
dieser Gang gar in eine Art Heiligtum oder
Tempel?
Da war wieder das schreiende Kind! Viktor
drehte sich erneut herum und ging behutsam die
Steintreppe noch ein Stück hinunter. Er re-
gistrierte plötzlich einen süßlich-faulen Geruch,
337
der alles übertünchte. Unwillkürlich ging sein
Atem mit einem Mal stoßweise und kalter
Schweiß bildete sich auf der Stirn. Gleichzeitig
brach betäubende Furcht wie eine Welle über ihn
herein.
Ich muss von hier verschwinden, maßregelte ihn
eine leise aber beharrliche Stimme. Im selben
Moment, als er sich umdrehen und zurück gehen
wollte, ertönte wieder das herzzerreißende Wei-
nen des Kindes, dünn und spitz, diesmal jedoch
näher.
Er bemerkte, dass er fast schon am Ende der
Treppe angelangt war. So nahm er die letzten
beiden Stufen und leuchtete mit seiner Lampe in
das alles einhüllende Dunkel. Da es keine starke
Lampe war und der Strahl nach wenigen Metern
von der Finsternis verschluckt wurde, hatte er
das Gefühl am Anfang einer weiten Halle zu ste-
hen. Er leuchtete hin und her und bemerkte we-
nige Schritte neben dem Treppenaufgang einen
unförmigen Gegenstand liegen. Als die Lampe
den besagten Gegenstand fand, krampfte sich
sein Magen zusammen. Die Wucht der Erkennt-
nis ließ ihn nach Luft ringen. Vor seinen Füßen
338
lag der Kopf eines Menschen, die Haut verwest
und die Züge grässlich entstellt. Sollte es sich
womöglich um einen Weltenwanderer handeln,
der hier sein frühes Ende gefunden hatte?
Einmal mehr ertönte das nervenzerstörende
Kindsjammern, noch näher als beim letzten Mal,
aber immer noch aus den tiefen des Gewölbes
kommend. Viktor wollte in diesem Moment nur
noch fortrennen, und er gab dem Drang mit In-
brunst nach. Geradewegs stürmte er die Treppe
wieder hinauf, fiel unterwegs hin und schlug
sich das Schienbein auf. Unter dem Stoff seiner
Hose spürte er, wie ihm eine Linie Blut das
Schienbein hinab rann.
Schnell raffte er sich auf und vernahm bereits im
nächsten Moment in seinem Rücken Gepolter
und Rumore, dazu schmatzende Geräusche und
einen Schrei von unmenschlichem Klang.
Er beschleunigte seinen Schritt. Irgendetwas war
dort unten, und er hatte es geweckt, was genau,
das interessierte ihn nicht mehr. Es wäre in je-
dem Fall gesünder schnellstmöglich zu ver-
schwinden. Als er das Ende der Treppe erreichte
und somit das Tageslicht, wollte sich dennoch
339
kein echtes Gefühl von Sicherheit einstellen. Von
dort stürmte er in die Halle und rief den anderen
zu: „Los! Wir müssen sofort von hier abhauen!
Schnell!“
Lukas und Tamara schauten sich den Bruchteil
einer Sekunde an, zögerten aber nicht lange,
sondern folgten Viktor, der bereits in Richtung
des großen Portals rannte.
Als sie durch das große Portal ins Freie gelang-
ten, war Viktor als habe der Himmel draußen an
Licht und Farbe eingebüßt. Er verlangsamte sei-
nen Schritt, damit die Anderen aufschließen
konnten und überlegte, wo sie sich als nächstes
hinwenden sollten. Links von ihnen lag der
Fluss, vor ihnen der Wald und rechts von ihnen
eine felsige Hügelkette mit düsteren Felsstürzen.
„Wir rennen zurück in den Wald, da haben wir
Deckung und versuchen von dort auf die Hügel
zu gelangen“, keuchte Viktor außer Atem.
„Wieso, was ist denn, was hast du gesehen?“,
überschüttete Lukas ihn mit Fragen.
„Frag nicht! Lauf einfach!“, rief Viktor, der sich
bereits in Bewegung gesetzt hatte.
340
Sie verließen das Palastgebäude und erklommen
die sanft aufsteigende Böschung. Als sie die Naht
des Waldes erreichten, warf Viktor einen kurzen
Blick zurück und sah, dass sie etwas verfolgte. Es
war jedoch nicht mehr als ein Schemen gewesen,
den er den Bruchteil eines Augenblicks gewahrt
hatte, bis der Schemen in der Senke unter ihnen
verschwunden war und somit aus dem Blickfeld.
Jedoch schien festzustehen, dass er sich nun
ebenfalls die Böschung hinauf bewegte.
„Großer Gott! Was war das?“ Lukas hatte es
auch gesehen.
Doch ihnen blieb keine Zeit weiter darüber spe-
kulieren. Sie kehrten dem ominösen Bauwerk
den Rücken und drangen ins Unterholz vor, in
den zweifelhaften Schutz des Waldes. Sie hielten
sich rechts und beschrieben mit ihrem Weg einen
weiten Bogen, der sie zu der Hügelkette führen
sollte. Eine Weile kämpften sie sich durch brust-
hohen Farn, bis sie eine moosüberwucherte
Felswand erreichten, die vom Waldboden aus
recht steil anstieg.
„Wir müssen da irgendwie hinauf“, stellte Vik-
tor fest.
341
Lukas, der zwar konditionell von ihnen allen in
der besten Verfassung war, aber mit Isabelle
auch die größte Last zu tragen hatte, sagte nach
Atem ringend: „Da hinten sieht es ganz gut aus.“
Sie gingen in der besagten Richtung die Fels-
wand noch ein Stück ab und fanden schließlich
einen gangbaren Weg, der zwischen den Fels-
platten eingeschnitten war.
Der Weg auf die Spitze des Hügels erwies sich
als nicht allzu weit und mündete weiter oben auf
ein kleines Plateau, das mit Gesteinsbrocken
übersät war, zwischen die sich an manchen Stel-
len ein paar kümmerliche Bäume drängten. Die
erhöhte Perspektive eröffnete ihnen eine erneute
Aussicht auf den ominösen Palast und ließ ihn
noch kolossaler wirken.
Viktor trat an den Rand des Hügels, der nahezu
senkrecht hinab fiel. Lukas trat neben ihn, wäh-
rend Isabelle und Tamara ein paar Schritte zu-
rück blieben, kniff die Augen zu Schlitzen zu-
sammen und suchte die Gegend unter ihnen ab.
„Viktor, sag mir, was du dort unten Schreckli-
ches gesehen hast.“
342
„Ich bin mir nicht sicher, aber ich vermute ...“ Er
brach mitten im Satz ab, starrte einen Moment
wie paralysiert und deutete mit der Hand auf
das Ding, welches sich mit beachtlicher Ge-
schwindigkeit dem Fuß des Hügels näherte. Je
näher es kam, desto schärfer zeichneten sich die
Umrisse des monströsen Leibes einer gewaltigen
Schlange vom Untergrund ab.
Der riesige Leib glänzte im ungewissen Tages-
licht, der dreieckige Kopf war auf seinem Kamm
mit spitzen Stacheln bewehrt, der gewaltige
Körper besaß einen Durchmesser von über einem
Meter und mündete in einem dicken, gespalte-
nen Schwanz. Das riesige Maul öffnete sich und
ein gewaltiger roter Abgrund aus unzähligen,
spitzen und gelben Zähnen zeigte sich in einer
Doppelreihe. Die blaugraue Zunge wälzte und
krümmte sich lüstern im Rachen, als habe sie ein
Eigenleben.
Man konnte die nasse Kriechspur sehen, welche
die Kreatur von dem Palast bis zu dem steinigen
Abhang hinterlassen hatte. Es war klar, dass es
sie gesehen hatte und sich zielstrebig auf sie zu
bewegte. Das Grauen kroch in Viktor hoch, und
343
er hörte wie Isabelle hinter ihm laut zu weinen
begann.
„Verflucht, was ist das?“, rief Lukas.
„Das ist eine Midgardschlange“, gab Viktor zu-
rück.
Der Kopf des Untiers schwang unstet hin und
her, während die grauen Augen böse schimmer-
ten. Zu aller Entsetzen begann die Kreatur den
Hügel hoch zu gleiten. An den Seiten ihres Lei-
bes waren mehrere rudimentäre Krallenfüße zu
erkennen, mit denen es sich effizient die Stei-
gung hinauf kämpfte. Jede Flucht wäre vergeb-
lich, früher oder später würde das Untier sie in
diesem unwegsamen Gelände einholen.
Lukas war der Erste, der die Sprache wieder-
fand. „Komm, Viktor, wir müssen kämpfen!“
Er bückte sich und packte den kopfgroßen Fel-
sen vor seinen Füßen und warf den Brocken dem
Monster unter ihnen entgegen. Das Geschoß traf
die Schlange unterhalb des Auges. Sie zuckte zu-
rück und stieß ein abartiges Gekreisch aus, das
nichts mehr mit dem Kindsjammern von vorhin
gemein hatte.
„Siehst du, es empfindet Schmerz!“, rief Lukas.
344
Der Treffer schien es nur noch mehr verärgert
zu haben. Das Ungeheuer plusterte sich auf und
stieß ein drohendes Zischen aus. Das grässliche
Maul öffnete sich, dass der Geifer hinaus troff.
Lukas bückte sich erneut und warf ein zweites
Geschoss, das sein Ziel verfehlte und bückte sich
bereits im nächsten Moment, um ein noch größe-
res aufzuheben. Er stieß den Gesteinsbrocken
beidarmig von sich und hatte mit diesem Wurf
mehr Glück und erwischte die Schlange an einer
ungeschützten Stelle zwischen den Augen, so-
dass sie ein Stück den Hang hinunter rutschte.
Das Untier schüttelte den Kopf und begann wie-
der bergan zu klettern. Auch Viktor hatte inzwi-
schen begonnen, es mit Steinen zu bombardie-
ren. Doch die Schlange wich den meisten Steinen
mit einer Schnelligkeit aus, die man nicht für
möglich gehalten hätte, und die Treffer zeitigten
nicht die gewünschte Wirkung.
„Das nützt nichts“, rief Lukas mit verzweifelter
Stimme und drehte sich ein paar Mal unschlüssig
um seine eigene Achse, lief ein Stück vom Ab-
grund weg und kam mit einem langen, kräftigen
Ast wieder in Viktors Blickfeld, rammte ihn so-
345
gleich unter den Ansatz eines größeren Felsbro-
ckens und klemmte von der anderen Seite einen
kleineren Stein dagegen. Viktor glaubte zu ver-
stehen, dass Lukas das Holz als Hebel benutzen
wollte, um den großen Stein den Abhang hinab
zu bugsieren. Die Midgardschlange war bereits
auf halber Höhe. Viktor empfand Todesangst
und sah im Augenwinkel Tamara und Isabelle
stehen, die sich aneinander klammerten wie Er-
trinkende und vermutlich genauso viel Angst
hatten wie er.
Viktor war sich nicht sicher, ob Lukas’ Kon-
struktion auch den gewünschten Effekt hervor-
rufen würde, sprich den Stein bewegen, den Vik-
tor auf zwei bis drei Zentner schätzte. Der Ast
hatte zwar die richtige Dicke und Länge, wirkte
aber, wenngleich nicht morsch, so jedoch kno-
chentrocken. Der Stein lag recht dicht am Ab-
hang, und Viktor ging Lukas zur Hand, indem er
der Stein packte und nach vorne drückte, wäh-
rend Lukas wie wild an dem Hebel riss.
Tatsächlich bewegte sich der Stein ein paar Zen-
timeter. Viktor stemmte sich dagegen. Er wusste
ohne Hinzusehen, dass die Schlange nicht mehr
346
weit entfernt war. Der große Felsbrocken beweg-
te sich und bekam schließlich Übergewicht, fiel
den Abgrund hinab und traf den dämonischen
Kriecher mit mehr Glück als Können über dem
rechten Auge. Blut spritzte in Kaskaden auf die
grauen Felsen, und die Hornkämme des Unwe-
sens plusterten sich auf.
Der Schrei der Schlange war markerschütternd.
Sie rutschte ein Stück den Hang runter und ver-
harrte dort eine Weile. Dann begann sie sich un-
ter abartigem Gekreisch, das nackten Zorn ver-
riet, wieder den Hang hinauf zu mühen. Viktors
Mut sank.
„Gib mir dein Messer!“, schrie Lukas zu Viktor.
Viktor kam der Aufforderung umgehend nach.
Er griff in seine Manteltasche, klappte das Mes-
ser auf und reichte es ihm. Dieser begann umge-
hend mit schnellen und geschickten Schnitten
den Ast, den er zuvor noch als Hebel benutzt
hatte, notdürftig anzuspitzen.
Kurz darauf ließ er das Messer fallen und stellte
sich mit dem Pfahl dicht vor den Abgrund, die
Spitze nach unten gesenkt. Viktor beobachtete
ihn starr vor Schrecken ohne zu wissen, was er
347
selbst tun sollte. Lukas ließ die Schlange heran-
kommen. Als sie nur noch wenige Meter von ih-
rem Ziel entfernt war, trieb Lukas das angespitz-
te Ende mit vor Angst und Anstrengung verzerr-
tem Gesicht einen halben Meter in den blasphe-
mischen Leib der Kreatur. Dicht hinter der Schä-
delbasis rammte er die Spitze in das weiße
Fleisch. Die Schlange verlor jeden Halt und
rutschte den Hang hinab, indem sie sich mehr-
mals überschlug. Am Fuß des Hügels begann sie
wild sich hin und her zu werfen. Mit tödlichen
Schlägen peitschte der gespaltene Schwanz den
Erdboden, dass es jedes Mal knallte und Steine
und Erdboden umher flogen.
Aschfahl und mit verlorenem Gesichtsausdruck
beobachteten die beiden Männer das abartige
Gebaren. Dann begann das Wesen sich umzu-
drehen. Wollte es sie wieder angreifen? Es war
ein Moment nicht endenden Schreckens, als Vik-
tor dieser Gedanke durchzuckte. Wie durch ein
Wunder begann es sich umzudrehen und zur Er-
leichterung aller mit stockenden Gleitbewegun-
gen in Richtung seiner Behausung zu ver-
schwinden.
348
Ein Gefühl des Triumphes wollte sich jedoch bei
keinem einstellen. Viktor bemerkte im Augen-
winkel wie Lukas auf die Knie sank, woraufhin
er zu ihm trat, ihm aufhalf und ihn in einer brü-
derlichen Geste an sich drückte. Er wusste, dass
durch Lukas umsichtiges Handeln ihr Leben ge-
rettet worden war, im Gegensatz zu ihm, dem
Chef-Theoretiker, der sie blindlings in den Palast
geführt und dieser Gefahr ausgesetzt hatte. Die-
ser Gedanke bereitete Viktor Gewissensbisse. Er
empfand für diesen Mann plötzlich noch größere
Sympathie als ohnehin, da dieser offensichtlich
für seine Familie durch die Hölle gehen würde,
wenn dies erforderlich sei.
Mit Schweiß überströmtem Gesicht löste er sich
aus Viktors Umarmung, ging zurück zu seiner
Frau und seinem Kind, tröstete sie und redete
beruhigend auf sie ein. An Viktor gewandt, sagte
er: „Es ist wohl das Beste, wenn wir aus dieser
Sphäre schleunigst verschwinden.“
„Ja, auf jeden Fall“, sagte Viktor.
Sie entfernten sich in entgegen gesetzter Rich-
tung vom Palast. Eine Weile sagte niemand et-
was. Alles was sie wollten, war nur eine räumli-
349
che Distanz zwischen sich und dem Bauwerk
schaffen.
Nach einer Weile, als die Ebene mit dem Palast
hinter ihnen plötzlich verschwunden war, brach
Tamara das Schweigen: „Was war das für ein
Wesen?“
„So etwas wie eine Midgardschlange – zumin-
dest hätten es die alten Germanen so genannt“,
antwortete Viktor.
Tamara schüttelte den Kopf. „Aber das ist doch
nur ein mythologisches Wesen, eine Metapher,
ein Bild für Was-auch-immer.“
„Ich kenne die Geschichte von der Welten-
schlange aus der nordischen Mythologie, die der
Gott Thor – so steht es in der Edda geschrieben –
aus dem Wasser zieht, um sie anschließend mit
einem Hammer zu erschlagen“, warf Lukas ein.
„Ab heute nenne ich dich nur noch Thor, Thor
der Donnergott“, versuchte Viktor zu scherzen
und fügte hinzu: „Aber vergesst nicht, wir sind
hier im Mittelreich. Dort nehmen Mythen objek-
tive Gestalt an. Wer weiß, vielleicht sind die Sa-
gen um die Midgardschlange nur ein Überbleib-
350
sel echter Erfahrungen der germanischen Seher,
die hier in der Anderswelt verkehrten.“
„Es gibt ja auch noch Wyrm, aus der englischen
Folklore. Ein ganz ähnliches Geschöpf“, warf
Tamara ein.
„Du liest zu viele Horror-Romane!“, sagte Lukas
und küsste sie im Gehen auf den Scheitel.
„Namen und wieder Namen“, sinnierte Viktor.
Das Gelände jenseits des dunklen Waldes und
der Ebene mit dem Palast schwang sich zu Hü-
geln mit spärlich bewachsenen Torfmooren em-
por, weiträumig und leer.
„Dies war wohl nicht der Ort oder die Sphäre,
die du gesucht hast, Viktor“, sagte Lukas nach
einer Weile.
„Das Geistwesen Wilhelmina hat gesagt, in der
Geisterwelt hänge alles vom Wollen ab. Wie ein
paranormaler Magnetismus. Das waren ihre
Worte. Vielleicht waren wir zu zerstreut, nicht
auf unser Ziel fixiert“, sagte Viktor.
„Auf dein Ziel“, korrigierte Lukas. „Uns würde
es reichen, wenn wir einen Ort des Übergangs
finden würden, der uns zurück in unsere Welt
bringt.“
351
Viktor schnalzte missbilligend mit der Zunge.
„Lukas, wenn die Ursache, welche diesen Pro-
zess in der materiellen Welt ausgelöst hat, nicht
gestoppt wird, dann werden die Verwerfungen
voranschreiten und irgendwann wird es keine
manifeste Welt mehr geben. Was glaubst du, was
passiert, wenn Sphären wie die der Midgard-
schlange durchbrechen. Es wird nur noch Chaos
herrschen. Dann wird Ragnarök hereinbrechen,
wo wir gerade eben bei der germanischen My-
thologie waren – die Endzeit. Der Fenriswolf
wird freikommen – deshalb nennt man sie auch
die Zeit des Wolfes – der mit einem Faden ge-
bunden ist, und die Asen aus Asgard werden in-
folgedessen in unsere Welt strömen, um das ur-
sprüngliche Chaos wieder herzustellen. Ich spre-
che mal mythologisch.
Aber ganz wie ihr wollt. Dennoch würde ich sa-
gen, wir bleiben vorerst zusammen und suchen
nach dem Ort oder den Orten des Übels. Ihr seht
ja wie gefährlich es hier sein kann. Ich schlage
vor: So wir ihn gefunden haben, helfe ich euch
wieder zurückzukommen. Und im Zweifelsfall
hat Tamara immer noch mein Notizbuch. Ich
352
denke, wenn wir jetzt unsere Willen Splitten und
nicht in eine Richtung lenken, dann kommen wir
wieder sonst wo heraus. Wir müssen unsere Wil-
len auf das gleiche Ziel fixieren oder uns trennen.
Aber denkt doch einen Augenblick nach, wenn
ihr das Mittelreich verlasst, dann werden auf der
Erde die andersweltlichen Kräfte durchbrechen
und alles wird vernichtet, selbst wenn ihr jetzt
wieder unbeschadet nachhause kommt.“
Lukas und Tamara sahen sich eine Weile an,
und ihre Blicke verrieten, dass sie seine Einschät-
zung teilten.
„In Ordnung“, sagte Lukas. „Wir bleiben vorerst
zusammen und sehen wie die Dinge sich entwi-
ckeln, aber dieses Mal, Viktor, lassen wir mehr
Vorsicht wallten.“
„In Ordnung, retten wir die Welt“, sagte Tama-
ra. „Warum auch nicht?“
353
14
Die Landschaft änderte ihr Angesicht fortwäh-
rend. Bald wandelten sich die Grundtöne von
Grau zu Grün und Braun, bis auf die weißge-
bleichten Felsstürze in der Ferne. Es war eine
trostlose Leere durch die sie gingen, nichts als
Heide und spärliche Torfmoore, an Eintönigkeit
nicht zu überbieten. Die Kuppen kahler Hügel
zogen sich in alle Richtungen bis zum Horizont
in die Ferne.
Zu allem Überdruss setzte noch ein klammer
Nieselregen ein. Viktor half Lukas und Tamara
dabei das Kind zu tragen, da die Kleine mittler-
weile an die Grenze ihrer körperlichen Belast-
barkeit gestoßen war. Er bewunderte Isabelle da-
für, wie sie mit den ganzen Gräuel umging, doch
bemerkte immer öfter, wie die kleinen Augen
mit einem Ausdruck von echter Sorge gezeichnet
waren, durch Dinge für die solch junge Augen
nicht gemacht waren. Die Erkenntnis erfüllte
Viktor mit aufrichtigem Mitleid, aber er wusste,
354
dass sie großartige Eltern hatte, die ihr helfen
würden alles zu verarbeiten.
Im blaugrauen Licht der Regenwolken wirkte
die Gegend noch trauriger als ohnehin. Unmerk-
lich stieg das Gelände an. Manchmal legten sie
Rast ein, um wieder zu Kräften zu kommen, da
der Marsch sich als sehr kraftraubend erwies,
weil die Hügel immer höher wurden, die Täler
tiefer und die Abstiege schwieriger und das Hü-
gelland sich immer mehr zu Bergen empor
schwang.
Nach wie vor legten sie große Distanzen zurück,
ohne es recht zu merken und wanderten von
Sphäre zu Sphäre. Nur die schneebedeckten Gip-
fel in der Ferne blieben wo sie waren, bis sich
Wolken und Nebel davor schoben und die Sicht
schlechter wurde.
Meist ging Viktor vorne weg, doch er folgte kei-
ner Linie, sondern ging ganz nach Belieben mal
in diese mal in jene Richtung, ohne dabei einer
Systematik zu folgen. Irgendwann wichen die
Hügel einer schier endlosen Wüste aus scharf-
kantigen Felsen, in der nur ein paar karge Gins-
terbüsche herumstanden, denen die Kraft der
355
Sonne fehlte. Doch sie gingen unbeirrt weiter.
Nach Viktors Zeitempfinden mag der Marsch
mehrere Stunden gedauert haben, bis sie an das
Gebirge aus wolkenverhangenen Bergen stießen,
die mit einem Mal immer näher rückten und sich
kahl und feindselig vor ihnen auftürmten.
An einem hohen Bergkamm überquerten sie die
erste Schwelle des Gebirges. Der Aufstieg erwies
sich als sehr anstrengend. Zwischen den kahlen
Felsen heroben, winselte der Wind. Sie gingen
einen tückischen Weg an einem Felsgrat entlang,
der kaum breiter war als ein Meter. In diesem
Moment überkam Viktor ein Gefühl, das er nicht
einzuordnen vermochte, es war so stark, dass es
nicht nur von seinen Emotionen geprägt sein
konnte, sondern von Außen kommen musste.
Ein böser, wachsamer Wille schien in diesen
Gipfeln die Vorherrschaft gewonnen zu haben,
eine dunkle Präsenz, die ihr Eindringen als Sakri-
leg auffasste und entsprechend reagieren würde.
„Ich habe das Gefühl, wir sind unserem Ziel
sehr nahe“, sagte Viktor.
„Spürst du auch die Kälte?“, fragte Lukas.
„Ja, aber eine Art innere Kälte.“
356
Sie gingen noch ein Stück weiter zwischen einer
Flanke hindurch und konnten dahinter von hoch
oben in ein Tal blicken. Man konnte kaum etwas
erkennen, da Rauch und Staub sich in wallenden
Dunstschwaden wölbten. Man erkannte nur wei-
ter oben eine Straße oder einen Weg als schmalen
Streifen, der sich an den Berghängen entlang
schlängelte.
Viktors Körper spannte sich. Das Gefühl wurde
immer intensiver. Da niemand etwas sagte,
machten sie sich an den Abstieg. Es war ein be-
schwerlicher und geröllhaltiger Weg auf dem sie
abwechselnd ausrutschten und hinfielen. Ziel-
strebig bewegten sie sich auf die Rauchwolke zu.
Je weiter sie vordrangen, desto stärker drängte
sich ihnen der scharfe Geruch des Rauches auf.
Viktor spürte Lukas’ und Tamaras Beunruhi-
gung. Mit aller Vorsicht bewegten sie sich darauf
zu, um immer wieder zu lauschen.
Von Felsen zu Felsen huschten sie und irgend-
wann bildete die Rauchwolke eine dichte und
dunkle Decke über ihnen, sodass die Sicht auf
das Tal sich allmählich klärte.
357
Viktor glaubte seinen Augen nicht zu trauen.
Das gesamte Tal war zu einem Becken ausgeho-
ben worden und zeigte sich als eine einzige riesi-
ge Grube: Zermaltes Gestein war zu roten Hau-
fen aufgetürmt, die Gräber und Löcher wirkten
wie blutige Fleischwunden und der übelriechen-
de Rauch hatte mittlerweile ein erträgliches Maß
überschritten. Tausende menschenähnliche Ge-
stalten – Männer und Frauen – schwärmten über
die Halden und Gräben. Das Ganze hatte mehr
mit einem Ameisenhaufen gemeinsam, wo Ar-
beitsdrohnen mit mechanischer Behäbigkeit ihre
sinnentleerte Arbeit verrichteten.
Die kümmerlichen Gestalten waren nur mit
Lumpen bekleidet und beugten sich unter der
Last, die sie trugen. Stumpfsinnig und mit stoi-
scher Beharrlichkeit gaben sie sich mit abgenutz-
ten Werkzeugen, baufälligen Leitern und abge-
wetzten Seilen ihrer Arbeit hin. Das ganze Tal
war ein wogendes Gebrodel.
Alles was Viktor empfand, war Abscheu, denn
er spürte den Geist einer sorgfältigen und me-
thodischen Berechnung, die mit rationalem Kal-
kül dieses Werk steuerte.
358
An strategischen Stellen standen Männer in pa-
ramilitärischen Kampfanzügen mit Schlagstö-
cken, Elektroschockern und MPs bewaffnet – die
Aufseher. Alles an ihrem Aussehen ließ darauf
schließen, dass sie aus der manifesten Welt
stammten und keine Bewohner des Mittelreichs
waren.
Ein schmaler Fluss glitt durch die Ebene, in den
man anscheinend von irgendwoher Abwasser
leitete. Das Wasser war schwarz und auf der
Oberfläche hatte sich dicker, klebriger Schaum
gebildet. Etwas abseits des Zentrums stieß ein
großer Schornstein im regelmäßigen Takt rostro-
te Rauchschwaden aus, der den Baldachin aus
Schmutz, der über dem versehrten Tal lag, nähr-
te.
„Offensichtlich eine Schürfmine“, sagte Tamara.
„Eine primitive Schürfmine“, ergänzte Lukas.
„Mit billigen Arbeitskräften.“
„Nach was graben sie?“, fragte Isabelle.
„Das weiß ich nicht“, sagte Lukas und schüttelte
mit einer Mischung aus Entsetzen und Verwun-
derung den Kopf.
359
Langsam setzten sie ihren Erkundungsgang fort
und gelangten an eine Straße, die um den Tal-
kessel herum führte. Wachsam ging Viktor vo-
ran, und als er keine Gefahr erkennen konnte,
trat er auf die Straße und bedeutete den anderen
mit einem Wink ihm zu folgen.
„Hier sind Reifenspuren“, stellte Lukas fest und
deutete auf den Weg. „Womöglich von einem
Geländewagen.“
„Jedenfalls sind wir dort, wo wir hin wollten“,
sagte Viktor und schlug sich mit der Faust in die
hohle Hand.
„Da kommt jemand! Schnell verstecken!“, zisch-
te Tamara plötzlich.
„Schnell hier rüber!“, rief Lukas.
Sie rannten ein Stück abseits der Straße hinter
eine Gruppe Felsen, wo sie im nächsten Moment
das dumpfe Rauschen eines Motors vernahmen,
der schnell näher kam. Sie pressten ihre Gesich-
ter auf den Boden und verhielten sich still. Ganz
dicht neben ihnen hörten sie das Aufheulen des
Motors, als der Fahrer einen Gang runter schalte-
te. Das Fahrzeug wirbelte eine Fontäne Schlamm
360
auf und rollte an ihrem Versteck vorbei und ver-
schwand hinter einer Biegung.
„Nun dürften alle Zweifel beseitigt sein, dass
dies aus der manifesten Welt herrührt. Das ist
nicht ihr Platz in der Schöpfung“, bekräftigte
Viktor seinen Verdacht. Trotz der Erkenntnis
verstörte ihn das Auftauchen eines menschen-
gemachten Fahrzeugs mehr als er sich eingeste-
hen wollte. Die Erkenntnis hatte etwas schreck-
lich Unzweifelhaftes.
Kurz darauf bewegten sie sich am Rand des Tal-
kessels entlang, sorgsam darauf bedacht nicht
gesehen zu werden. Plötzlich kamen ihnen zwei
der Minenarbeiter entgegen. Es war wie ein Spuk
am helllichten Tag. Mit einem Mal standen sie
vor ihnen, sodass zum Weglaufen keine Zeit
mehr war. Doch der Schreck verflog recht
schnell, da die Wesen von ihrer Anwesenheit nur
höchst flüchtig Notiz nahmen. Zwar streiften ih-
re stumpfen Blicke sie, aber derart beiläufig, dass
Viktor sich fragte, ob die beiden sie überhaupt
gesehen hatten. Kein Aufschrei wegen ihres Ein-
dringens, keine Gefühlsregung. Einer der Aufse-
her war auch nicht in der Nähe. Die beiden gin-
361
gen gleichmütig ein Stück talabwärts und be-
gannen mit ihren Hacken den Erdboden zu be-
arbeiten.
Weiter oben gab es einen Gehweg, dort kamen
sie an noch mehr Sklaven vorbei, die an den
Hängen schufteten. Auch hier stieß ihre Gegen-
wart auf kein Interesse. Die Arbeiter schienen
vollkommen in ihre Arbeit vertieft, der sie sich
vollkommen hingaben. Von dort oben konnte
man auch erkennen, dass der lange Schornstein
nur der Teil eines weit größeren und unüber-
sichtlichen Gebäudekomplexes war. Man ver-
nahm auch das dumpfe Rumpeln von Maschinen
im Berg, und ein ununterbrochener Zu- und
Abstrom von Minenarbeitern trug seine Lasten
in Körben hinein, um später wieder heraus zu
kommen.
„Also gut. Irgendetwas stimmt hier ganz und
gar nicht. Das wissen wir nun. Und was wollen
wir jetzt tun, um die Welt zu retten?“, fragte
Tamara leichthin mit einer Spur Zynismus in der
Stimme.
Viktor sah sie arglos an. „Ich weiß es nicht –
noch nicht. Aber seht doch mal! Hier wird Raub-
362
bau an der Anderswelt betrieben. Ich wette, dass
hier irgendein Rohstoff abgebaut wir, der in un-
serer Welt knapp geworden ist. Da will jemand
einen Reibach machen und diese Kreaturen, die
ihr hier seht – offenkundig die bemitleidenswer-
ten Bewohner dieser Sphäre – müssen ihnen da-
bei helfen. Jedenfalls entsteht hier das Ungleich-
gewicht. Das scheint sicher zu sein. Ihre Gier
bringt sie dazu Kräfte zu manipulieren, die sie
nicht verstehen. Wenn diese Machenschaften
weitergehen, wird die ganze Welt vernichtet,
buchstäblich aufgelöst. Aber ich möchte noch
keine voreiligen Schlüsse ziehen.“ Er drehte sich
um und ging auf einen der Sklaven zu und sagte:
„Guten Tag!“
Als Reaktion auf seine Begrüßung erntete er le-
diglich ein paar abschätzige Blicke. Jedoch eine
der Gestalten betrachtete ihn etwas länger. Der
Blick der Kreatur war stumpf, und die aus-
druckslosen Augen wirkten mehr tierisch als
menschlich. Schiefbeinig stand er vor Viktor mit
hängenden Schultern und Geschwüren an den
offenen Beinen, armselig wie ein belebtes Skelett.
„Hallo!“, sagte Viktor mit gut gelaunter Miene.
363
„Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist“, hörte
er Lukas in seinem Rücken.
„Komm, Viktor“, sagte nun auch Tamara.
„Nicht dass wir unnötig Aufmerksamkeit erre-
gen.“
„Lasst mich mal“, wehrte Viktor ab und wandte
sich erneut dem jämmerlichen Männlein zu:
„Wer tut euch das an? Wer sind die Männer, die
euch versklavt haben? Wir sind gekommen, um
euch zu helfen.“ Es vergingen einige Sekunden,
ohne dass eine Reaktion folgte.
„Das kannst du vergessen, der wird uns nicht
antworten“, sagte Lukas. „Womöglich kann er
gar nicht reden. Ich verstehe sowieso den
stumpfsinnigen Eifer dieser Leute nicht.“
„Es ist ihnen gelungen auf künstlichem Weg ei-
nen Durchgang in diese Welt zu öffnen“, sagte
der Sklave plötzlich. Seine Stimme war kraftlos
und klang wie nasser Kies, der unter den Füßen
knirscht. „Sie fanden eine Möglichkeit neben
Menschen auch größere Gerätschaften in unsere
Welt zu schaffen. Und nun suchen sie hier nach
Bodenschätzen – Gold und andere Dinge, die es
hier in den Bergen gibt. Sie zwingen uns zu die-
364
ser Arbeit, sie schlagen uns oder geben uns
Elektroschocks, wenn wir nicht wollen. Als sie
hier ankamen, trieb man uns alle in die Höhlen
unter den Bergen zur Umerziehung zusammen.
Sie haben unseren Willen gebrochen. Das ist
eben unser Schicksal, unser Schicksal.“
„Warum wehrt ihr euch nicht? Erkennen ist der
erste Schritt zur Umkehr“, sagte Viktor.
Er schien ihn gar nicht gehört zu haben und ent-
gegnete stattdessen mit der Monotonie eines
Verurteilten, der den Richterspruch wiederholt:
„Ich war doch immer ein vernunftgeleiteter
Mensch, als ich noch im Erdenleben war, ich ge-
nügte mir selbst und handelte immer rechtschaf-
fen. Und dann muss es mich nach dem Tod in
eine solche Sphäre verschlagen. Oje ... Ich muss
hier schon Jahrzehnte, ach was, Jahrhunderte
sein. Ich wollte schon oft gehen, aber ich komme
einfach nicht weg aus der Sphäre, soviel ich auch
gehe... soviel ich auch gehe. Welches Jahr haben
wir eigentlich auf der Erde.“
„2018“, sagte Viktor.
„Immer noch? Schon seit Jahrhunderten... Zu-
mindest lebte ich in Frieden, bis die da kamen.“
365
Er wies mit seinem verknöcherten Finger auf den
Schornstein. „Nie habe ich jemanden mit mei-
nem Handlungsprinzip beeinträchtigt auf Erden.
Immer leitete mich die Vernunft, die über alle
weltlichen Nichtigkeiten erhaben ist. Nie blieb
ich jemandem etwas schuldig. Was mein Magen
verzehrte, gab ich der Erde zurück ... So es denn
einen Gott gibt, verstehe ich nicht, wieso er mir
mein mattes Leben auf Erden nahm, nur um mir
ein neues mattes hier zu geben ...“
„Warum lehnt ihr euch nicht gegen diese Leute
auf?“, fragte Viktor erneut.
Der Sklave redete weiter ohne darauf einzuge-
hen. „Nie bin ich jemandem zur Last gefallen
und war stets Herr meiner Leidenschaften ...“
Es hatte keinen Zweck. Viktor gab ihnen mit ei-
ner Geste zu verstehen sich ein Stück zu entfer-
nen.
Als sie ein paar Schritte gegangen waren, sagte
Tamara: „Fällt diesen armen Wesen ihr klägli-
cher Zustand nicht einmal auf?“
„Er sagte uns doch, dass er auf Erden immer
rechtschaffen handelte“, sagte Viktor, „aber er tat
es nicht aus Liebe zu seinen Mitmenschen, son-
366
dern weil er darin den Sieg der Vernunft sah.
Vielleicht ist das die wahre Armut im Geiste:
Egal wie gut und rechtschaffen du bist, wenn du
keine Liebe und Leidenschaft in dir verspürst,
dann ist alles Streben nichts.“
„Und jetzt?“, fragte Lukas.
„Jetzt muss ich erstmal“, sagte Viktor. „Das Al-
les ist mir auf die Blase geschlagen. Dann überle-
gen wir weiter.“
Er ließ sie stehen und ging ein Stück vom Weg
ab hinter einen Felsen. Gerade als er den Ruck-
sack ausgezogen und den obersten Knopf seiner
Hose geöffnet hatte, hörte er die Schüsse.
367
15
Der erste Schuss kam ohne Vorwarnung. Lukas
hörte das Pfeifen der Kugel und den trockenen
Aufschlag etwa einen Schritt neben ihnen. Ins-
tinktiv hob er die Hände über den Kopf. „Bleibt
einfach ruhig stehen“, sagte er zu Tamara und
Isabelle, die sich an seinen Oberschenkel krampf-
te.
Nach wenigen Augenblicken sahen sie die bei-
den Männer mit Kampfanzügen und Schnellfeu-
ergewehren auf sie zukommen. Einer von ihnen
rief: „Bleiben sie, wo sie sind und keine falsche
Bewegung!“
Mit angelegten Pistolen kamen sie auf sie zu.
„Was tun sie hier?“
„Das könnten wir sie auch fragen“, entgegnete
Lukas leichthin.
„Verschränken sie ihre Hände im Nacken“, be-
fahl der Größere von beiden.
368
Sie tauschten daraufhin einen undeutbaren
Blick, woraufhin der Kleinere nickte und grim-
mig sagte: „Und nun vorwärts!“
„Wohin bringen sie uns?“, fragte Lukas.
„Tun sie einfach, was wir sagen“, sagte der Grö-
ßere in einem Tonfall der kein Wohlwollen ver-
riet.
„Ich protestiere nachdrücklich gegen diese Be-
handlung. Ich werde nirgendwo hingehen“, er-
klärte Tamara entschieden.
„Komm, tun wir, was er sagt“, flüsterte Lukas.
„Na los, hören sie auf den Mann!“, drängte der
Sicherheitsmann und deutete mit der Pistolen-
mündung in die Richtung in die sie gehen soll-
ten. Sie setzten sich in Bewegung und schlurften
vor ihnen her. In diesem Moment fiel Lukas auf,
dass Viktor nicht mehr bei ihnen war. Natürlich,
er war hinter die Felsen gegangen, um sich zu er-
leichtern. Aber wo steckte er jetzt? Die Wach-
männer führten sie auf engen und steinigen We-
gen die Hänge hinab in ein Barackendorf mit sil-
bernen Containern, denen eine dicke, schmierige
Staubschicht ihren einstigen Glanz nahm. Die
Container schienen den Menschen aus der mani-
369
festen Welt als Unterkünfte zu dienen, genauso
als Lagerräume für Technik, Gerätschaften und
Vorräte, vermutete Lukas. Zwischen den Bara-
cken zeigten sich auch vereinzelt Baumaschinen,
Bagger und Lastwägen, dazwischen schlängelte
sich ein Schienensystem, das irgendwo unter den
Berg mündete. Weiter hinten fand das Auge Ber-
ge von Schutt und Gestein.
Der kleinere der Wachleute öffnete die Tür zu
einem der Container und gab ihnen mit einer
unwirschen Geste zu verstehen, einzutreten,
während die Mündung seiner Waffe in Lukas‘
Kreuz drückte. Lukas wusste nicht wieso, aber er
hatte eine Art Gefängnis erwartet, fand sich je-
doch in einer Teeküche wieder mit einem langen
Tisch, Chromstühlen und dazugehöriger Eck-
bank. Obwohl das Mobiliar von kalter Pragmatik
war, konnte man die Einrichtung jedoch nicht als
hoffnungslos ungemütlich bezeichnen.
„Hinsetzen!“, sagte einer der Wachmänner.
„Was haben sie mit uns vor?“, tastete Lukas sich
vor.
„Seien sie still. Sprechen sie nur, wenn sie ge-
fragt werden“, bekam er als Antwort.
370
„Sie haben kein Recht mit uns so umzusprin-
gen!“, rief Tamara und funkelte die beiden Män-
ner an.
Daraufhin fing sie sich einen Blick des Wach-
manns ein, der Bände sprach und dem sie nicht
standzuhalten vermochte. Er mochte in etwa be-
deuten, dass wenn sie Probleme machte, sie ihr
einfach eine Kugel verpassen würden, nicht weil
sie sie nicht leiden konnte, sondern weil sie den
Befehl dazu hatte. Befehl ist Befehl – genau wie
damals in Hiroshima.
Sie ließen sich auf den Stühlen nieder. Isabelle
kroch auf Lukas’ Schoß, in den sie sich kauerte.
Daraufhin verließ einer der Wachmänner den
Raum, der andere blieb zurück und postierte sich
in wohl bemessenem Abstand von ihnen vor
dem Eingang, währenddessen richtete er seine
Waffe unentwegt auf sie und verharrte reglos, als
sei er aus Wachs gegossen. Bei geringstem An-
zeichen von Fluchtversuch würde er feuern. So-
viel stand fest.
Es vergingen keine fünf Minuten, als die Tür
sich erneut öffnete. Ein Herr mittleren Alters trat
ein, er trug einen pelzgefütterten Parka, darunter
371
eine langärmelige Strickjacke und an seiner Seite
hing ein Funkgerät. In seinem ganzen Auftreten
lag eine natürliche Autorität, er schien gewohnt
Befehle zu erteilen. Er musterte Lukas und seine
Familie wie der Hirnchirurg einen Tumor.
„Ich muss gestehen, dass ich überrascht bin“,
sagte er mehr zu sich selbst.
Der Mann bediente sich der deutschen Sprache,
aber Lukas glaubte die Schweizer Mundart her-
ausgehört zu haben. Er beschloss gleich mit der
Tür ins Haus zu fallen. „Warum werden wir hier
festgehalten?“
Der Mann antwortete nicht sofort, sondern ging
zuerst zweimal den Raum auf und ab. Schließ-
lich antwortete er: „Weil sie zur falschen Zeit am
falschen Ort sind.“
„Was geschieht mit uns?“, fragte Tamara.
Sein Blick blieb ein paar Sekunden auf Isabelle
hängen. „Hören sie, ich bin es, der hier die Fra-
gen stellt. Wie sind sie hier her gekommen?“
Lukas wusste, dass es keinen Sinn haben würde
mit den Fakten Versteck zu spielen. „Durch eine
Art Portal in einem Kloster in Südwest-
Deutschland – unabsichtlich“, sagte Lukas.
372
Der Mann schien seltsam irritiert. „Portal, Klos-
ter, Deutschland? Was reden sie da, Mann. Er-
klären sie sich genauer.“
Lukas sah Tamara ratlos an.
„Hören sie mal!“, sagte der Mann mit geballter
Autorität. „Sie stecken in großen Schwierigkei-
ten. Ich würde ihnen empfehlen mir nun die vol-
le Wahrheit zu sagen, was sich in jedem Fall zu
ihrem Vorteil auswirken wird, ansonsten könnte
es sein, dass wir uns ihrer schneller entledigen,
als sie ahnen. Verzeihen sie meine Offenheit.“
Lukas schluckte und erläuterte nochmals etwas
ausführlicher ihre Geschichte, unter Auslassung
verschiedener Aspekte, insbesondere Viktor und
ihre ausgedehnte Reise durch das Mittelreich. Er
stellte sie als kenntnislose Weltenwanderer dar,
die völlig unverschuldet in diese Welt geplumpst
seien – was in letzter Konsequenz ja nicht unbe-
dingt gelogen war.
„So eine Scheiße“, fluchte der Mann. „Wissen
sie, dass ich ihnen glaube? Ihre Story ist so mies
und unglaubwürdig, dass sie nicht gelogen sein
kann! Und dennoch verstehe ich nicht, wie es
drei Gestalten wie ihnen gelingen konnte, was
373
einem Technologiekonzern mit Milliarden-
Budget nun endlich gelungen ist.“
„Warum können sie uns nicht einfach laufen las-
sen?“, fragte Lukas. „Wir werden ihnen keine
Probleme machen.“
Der Mann lächelte gehässig. „Nein. Schon mal
was von Wirtschaftsspionage gehört? Es geht
hier um eine Menge Geld – und noch mehr!“
„Etwas das mehr wert ist als das Leben von drei
Menschen?“, giftete Tamara.
„Ja, natürlich, warum nicht“, gab der Mann kurz
angebunden zurück. „Wenn man dadurch ande-
re Leben oder das der menschlichen Zivilisation
rettet. Ist das nicht legitim?“
„Wie das?“, fragte Lukas.
Der Mann lächelte, aber das Lächeln erreichte
seine Augen nicht. „Wir leben in einer begrenz-
ten Welt, meine Damen und Herren, mit be-
grenzten Ressourcen. Unsere gesamte Wirtschaft,
die nun seit kurzem nahezu vollends zusammen
gebrochen ist, ist auf Wachstum und Produktivi-
tätssteigerung ausgerichtet. Doch wir haben
schon etwas länger die Grenzen des Wachstums
erreicht, das System ist nun gekippt. Zur Zeit er-
374
leben wir einen Rückgang der Weltbevölkerung,
Massensterben und ein Rückgang an Rohstoffen.
Es gibt Rohstoffe, müssen sie wissen, die kann
man nicht ersetzen, die aber für industrielle Pro-
zesse elementar sind, aber unwiederbringlich
verbraucht werden.“
„Und sie glauben, wenn sie den Rohstoffmangel
beseitigen und diese Welt hier ausbeuten, wer-
den sie die Probleme in unserer Welt lösen“, sag-
te Lukas.
„Ja, Molybdän, Palladium, Germanicum, ja, sie
finden sogar Gold, alles ist hier in diesen Bergen.
Glauben sie mir, nach dem Zusammenbruch des
Papiergeldsystems werden alle Staaten irgend-
wann nach einem neuen, weltweiten Goldstan-
dard schreien, wie damals vor Bretton-Woods,
wo die Geldmenge an das vorhandene Gold ge-
koppelt war ...“
„Und wer das Gold in ausreichenden Mengen
hat, wird sagen, wo es lang geht. Wer Gold hat,
oder den Zugriff darauf, hat Macht. Sie wollen
gar nicht die Welt retten, sie wollen sie beherr-
schen. Warum töten sie uns nicht gleich?“, knurr-
te Lukas.
375
Der Mann biss die Zähne zusammen. „Wissen
sie, dass dies im Moment absolut im Bereich des
Möglichen ist? Das würde uns allen eine Menge
Arbeit ersparen. Ich würde an ihrer Stelle mein
loses Mundwerk halten!“, fuhr er ihn an. Er hielt
kurz inne und starrte eine Weile ins Leere. „Ich
denke, es wird das Beste sein, wenn ich meine
Vorgesetzten kontaktiere. Ich bin hier nur der
Projektleiter.“
„Sie wissen gar nicht, was sie hier anrichten. Ist
es nicht so?“, sagte Lukas.
Der Mann sah ihn seltsam irritiert an. „Wir wa-
ren die ersten in dieser Dimension oder in dieser
Realität. Wir haben den Markt erschlossen. Wer
zuerst kommt, mahlt zuerst. Wir nehmen nie-
mandem etwas weg. Es ist nicht mal geklärt, ob
dieser Planet in dem gleichen Universum liegt
wie der unsere. Zu viele Anomalien trifft man
hier an, die den Naturgesetzen in unserem Uni-
versum zuwider laufen, aber das muss sie nicht
interessieren.“
Lukas schüttelte den Kopf und murmelte: „Mein
Gott …“
376
„Mein Gott, sagen sie? Es gibt nur Chaos und
Zufall und die Gesetze der Natur. In dieser und
in jener Welt gibt es nur das Überleben des Stär-
keren. Ich bin ein Überlebender – bei ihnen bin
ich mir da nicht so sicher.“
Diese Volltrottel wissen nicht mal, dass sie im
erdnahen Geisterreich gelandet sind, der Vorstu-
fe zum Jenseits, dachte Lukas. Er wollte ansetzen
etwas zu erwidern, aber er erinnerte sich an seine
Rolle des unbedarften Weltenwanderers. Ver-
mutlich hatte er schon zu viel gesagt.
Im nächsten Moment ertönte von draußen ein
lang anhaltender Knall, der alle Anwesenden im
Raum zusammen zucken ließ. Ihm fiel auf, dass
die Gegend draußen in Halbdunkel gehüllt da-
lag. Es folgte ein Gepolter und Rumore, als sei
plötzlich ein Gewitter aufgezogen, gepaart mit
abgehakten Rufen.
Der Projektleiter löste das Walkie-Talkie an sei-
nen Gürtel. „Bachmann! Müller! Was ist da
draußen los?“
Es folgte eine Weile statisches Rauschen, als eine
Stimme antwortete, die jedoch durch Störungen
377
überlagert wurde und so unmoduliert war, dass
man sie nicht verstand.
„Habe ihren letzten Funkspruch nicht verstan-
den. Bitte wiederholen!“, sagte der Projektleiter
ungehalten.
Wieder kam ein unverständlicher Funkruf zu-
rück.
„Bachmann! Müller! Lohfink! Wenn sie mich
verstehen, kommen sie sofort zu Container 8,
Container 8, over!“
Der Mann steckte sein Funkgerät weg, sein Blick
ging zum Fenster. Lukas blickte ebenfalls hinaus
und es schien, als würde die Welt untergehen.
378
16
Viktor hatte aus seinem Versteck beobachtet wie
sie seine Freunde abführten – seine Freunde!
Auch wenn er sie nur kurz kannte, fühlte er sich
ihnen freundschaftlich verbunden. Deshalb fol-
terte und quälte ihn sein Gewissen umso mehr in
Anbetracht der Tatsache, dass er sie hierher ge-
führt hatte. Nicht auszudenken, was diese skru-
pellosen Leute mit ihnen anstellen würden – wer
auch immer dahinter steckte. Viktor vermutete
so etwas wie einen Technologiekonzern, denen
es absichtlich oder unabsichtlich gelungen war,
eine Bresche ins Mittelreich zu öffnen.
Er brauchte einen Plan. Verdammt! Aber was
sollte er bloß tun? Ratlosigkeit ergriff ihn mit kal-
ter Klaue. Bedacht darauf, nicht gesehen zu wer-
den, umrundete er den riesigen Krater. Er hielt
sich auf den oberen Hängen, um nicht ebenfalls
in die Fänge der Aufseher zu gelangen. Es war
ein Marsch von mehreren Kilometern, ohne je-
mandem zu begegnen.
379
An den oberen Hängen traf er ein ums andere
Mal auf primitiv gebaute Steinhütten, die in die
bemoosten Felsvorsprünge gebaut waren und
zwischen denen distelartiges Unkraut wuchs. Es
musste sich um die Wohnungen der Bewohner
dieser Sphäre handeln, jene armen Kreaturen,
welche versklavt worden waren und die Viktor
in Gedanken die Stoiker nannte.
Langsam stieg er die terassenartigen Abstufun-
gen hinauf und gelangte oben ins Ebene und
konnte von dort nahezu das gesamte Tal überbli-
cken. Viktor war, als wühle jemand in seinen
Gedärmen, als er die Menschenansammlung et-
was entfernt erblickte. Es handelte sich jedoch
nicht um Leute von der Bergbaugesellschaft.
Vorsichtig ging er darauf zu. Sie mussten ihn
ohnehin schon erblickt haben. In dem Men-
schenpulk standen dunkelhäutige Männer mit
breiten Nasen und wulstigen Lippen, dazu krau-
se drahtige Haare. Bei anderen handelte es sich
offenkundig um Aborigines, die sich Symbole
und Muster ins Gesicht gemalt hatten, was ihnen
einen verschlagenen Ausdruck verlieh. Auch In-
dianer verschiedener Stämme sah man mit
380
Kriegsbemalung – Irokesen, Cheyenne,
Cherokee. Weiter hinten standen Personen in
weißen Gewändern, die an keltische Druiden er-
innerten, aber auch welche, die in Federkleider
gehüllt waren oder Felle und Hirschgeweihe tru-
gen, ganz nach Art der germanischen oder sibiri-
schen Schamanen. Es war alles in Allem eine bi-
zarre Ansammlung von Gestalten, die in die selt-
samsten Gewänder gehüllt waren – Ponchos,
Umhänge, Lederschurze und bunte Decken. Vik-
tors Augen fanden asiatische Gesichter genauso
wie schwarze oder südamerikanische, dazwi-
schen hellhäutige Nordmänner – wie beim Fa-
schingsumzug.
Viktor glaubte zu verstehen. Es waren Zauberer,
Magier, Schamanen, Weltenwanderer aus allen
Kulturen der Erde, die mit der Geisterwelt Kon-
takt hielten. Doch das Bild hatte auch etwas
Furcht einflößendes. Der Anblick der bunten Ge-
stalten ließ Viktor ahnen, dass etwas Großes, ja,
etwas Furchtbares passieren würde. Je länger er
sie ansah, desto eher wurde seine Ahnung zur
Gewissheit. Es mussten etwa hundert von ihnen
sein. Um sie herum brannten an strategischen
381
Stellen kleine Holzfeuer, dazwischen glomm ir-
gendein Räucherwerk in kleinen offenen Metall-
schalen vor sich hin.
Jeder vollführte eine kleine Zeremonie, manche
trommelten, andere rasselten mit Rasseln und
stießen dabei unverständliche Laute aus, die
nichts mit einer der europäischen Sprachen ge-
meinsam hatte. Andere vollführten mit langen
Holzstäben, auf denen seltsame Runen einge-
schnitzt waren, undeutbare Bewegungen. Jedoch
in allen Gesichtern schimmerte ein ekstatischer
Glanz.
Auch wenn Viktor die Worte nicht verstand,
wusste er, dass sie etwas zu bewirken hatten. Es
lag eine Kraft in ihnen, die über bloße Laute hin-
aus ging. Es war spürbar, dass es eine Macht gab,
die diese Männer miteinander verband. Wie ge-
bannt bewegte sich Viktor auf sie zu. Neben der
Hauptansammlung stand eine kleinere Gruppe
von Männern etwas abseits, die an dem Ritual
anscheinend nicht teilnahmen, sondern die ande-
ren lediglich bei ihren Handlungen beobachte-
ten. Ein Mann aus der kleineren Gruppe löste
sich und kam Viktor entgegen.
382
„Nicht weiter!“, sagte der Indianer.
„Was tun sie da?“, fragte Viktor.
„Es sind heilige Männer aus der ganzen Welt“,
sagte der Indianer mit unverhohlenem Stolz. „Sie
retten die Erde. Du darfst sie nicht dabei stören.“
Er hatte Viktor bereits am Arm gepackt und hielt
ihn mit erstaunlicher Kraft fest. „Komm stelle
dich zu uns. Du kommst ohnehin zu spät. Lasse
sie ihr Werk verrichten. Hier in der Anderswelt
sind ihre Kräfte noch größer als auf Erden. Wie
heißt du, mein Freund?“
„Viktor.“
„Ich bin Edward Elkshoulder, vom Stamme der
Tsis Tsis‘Tas.“
„Aber meine Freunde sind da unten in dem
Tal“, sagte Viktor schwach, aber keiner schenkte
ihm Gehör, zu sehr gebannt waren sie von dem
was bald geschehen würde – er hätte es ohnehin
nicht verhindern können, da sie es nicht zugelas-
sen hätten.
Ein blendender Blitz zerriss den Himmel. Viktor
entfuhr ein Schrei, dass er die Hände vor das Ge-
sicht riss. Ein Donner erschallte, der die Trom-
melfelle zersetzte, und wurde zigmal zwischen
383
den Bergen hin- und hergeworfen. An verschie-
denen Stellen lösten sich an den Berghängen
kleine Gerölllawinen. Es dauerte nicht mehr lan-
ge und größere Massen von Fels lösten sich und
stürzten ins Tal. Der Himmel gebar wie aus dem
Nichts schwarzgraue Wolkengebilde und ein
nicht enden wollender Donner verschluckte jedes
Geräusch. Blitz auf Blitz zuckte und Regen setzte
ein.
Eine eiskalte Wasserwand ging hernieder, so-
dass Viktor binnen Sekunden bis auf die Haut
durchnässt war. Es war ein Gefühl, als würden
einem die Regentropfen bis auf die Knochen
schlagen. Nach ein paar Minuten stand Viktor
bereits knöcheltief im Wasser, doch in dem Tal
unter ihnen tobte das Unwetter ungleich stärker.
Überall an den Hängen bildeten sich kleine Bä-
che, die schnell zu Wildwassern mutierten, doch
die Wolken und der alles einhüllende Nebel
machten es zusehends schwerer etwas zu erken-
nen.
Im nächsten Moment begann der Boden zu zit-
tern. Mit ungläubigem Staunen spürte Viktor wie
mehrere Druckwellen durch den Boden gingen.
384
Mit einem peitschenden Knall schlug ein greller
Blitz in den hohen Schornstein, der in der Mitte
abknickte wie ein Strohhalm und anschließend
wie bei einer kontrollierten Sprengung in sich
zusammen fiel.
Das Unwetter nahm noch an Gewalt zu. Die
Donnerschläge vermählten sich mit einem per-
manenten Grollen. Die Sicht war mittlerweile so
schlecht, dass die ständigen Blitze nur noch Wet-
terleuchten glichen. Das Fabrikgebäude brannte,
wie Viktor es in dem gelbzuckenden Inferno
durch den Nebel erkannte. Ähnlich musste die
Sintflut gewesen sein. Mit einer Mischung aus
Faszination und entsetzen, starrte Viktor in das
vollendete Chaos. Es war das Armageddon.
Die geistigen Wächter der manifesten Welt ver-
harrten, während des Schauspiels regungslos
und hielten von ihren zeremoniellen Bewegun-
gen inne. Kein Lidzucken, keine Atembewegung.
Während unten die Hölle tobte, war es heroben,
abgesehen von starkem Regen nahezu windstill,
als wäre eine unsichtbare Wand vor ihnen. Vik-
tor wusste nicht, wo er seine Blicke hinwenden
385
sollte, auf die Lichter am Himmel, das Gebrodel
unter ihnen oder auf die Zauberer.
Dann stürzte das Tal in sich zusammen.
386
17
Als der Wachmann seinen Blick zu lange von
ihnen abwandte, erkannte Lukas seine Chance
und griff an. Was auch immer draußen vor sich
ging, es schien den Projektleiter und den Wach-
mann aufs Schwerste zu beunruhigen. Lukas
kalkulierte den Angriff mit einem Gleichmut,
dass er sich über sich selbst wunderte. Jedoch
war klar, wenn der Wachmann dazu kommen
sollte, seine Waffe gegen ihn einzusetzen, dann
würde er es tun – vermutlich direkt zwischen die
Augen.
Mit zwei Schritten war er bei dem Bewaffneten
und schlug ihm mit brutaler Genauigkeit die
Faust mitten ins Gesicht. Mit einem erstickten
Schrei ging der Mann ohnmächtig zu Boden. Be-
reits im nächsten Augenblick begann die linke
Gesichtshälfte anzuschwellen. Der Projektleiter
erkannte sein Dilemma, wich ein paar Schritte
zurück und begann mit hektischen Handbewe-
gungen etwas im Futter seiner Jacke zu suchen.
387
Vermutlich eine Pistole oder Ähnliches, ging Lu-
kas durch den Kopf. Begleitet von einem Schrei
ging er auf den Mann los und rammte ihm die
Schulter in den Rumpf. Mit lautem Getöse stürz-
ten die beiden in ein paar Chromstühle hinein,
welche um den Tisch gruppiert waren. Praktisch
im gleichen Moment kamen sie auf die Beine,
doch Tamara hatte bereits einen der Stühle er-
griffen und zerschlug ihm auf dem Kopf des Pro-
jektleiters, der auf der Stelle umkippte und lie-
gen blieb.
„Selbst schuld, Arschloch!“, schrie sie hysterisch
und konnte das Zittern ihrer Hände nicht ver-
bergen.
Es blieb Lukas keine Zeit sich zu bedanken. Er
lief zur Tür und spähte vorsichtig hinaus. „Oh,
Gott, die Welt geht unter.“ Er überlegte nicht
lange. „Schnell, Isabelle, komm auf meinen Arm!
Tamara nimm meine Hand! Wir müssen hier
weg!“
Sie rannten aus dem Container und Lukas ver-
suchte sich zu orientieren. „Wir müssen den
Hang hinauf!“, schrie er zu Tamara, aber er war
388
sich nicht sicher, ob sie ihn in dem Getöse gehört
hatte.
Es war ein einziges Durcheinander. Alles lief
wild umher. Einer der Sklaven lief in sie hinein,
dass Lukas fast das Gleichgewicht verlor. Mit I-
sabelle an seiner Brust und Tamara am Handge-
lenk taumelten sie den felsigen Hang hinauf.
Wasser und Schlamm kam ihnen in rauschenden
Güssen entgegen, was ein Vorankommen unge-
mein erschwerte. Lukas hörte wie Isabelle, die
ihren Kopf gegen seine Schulter presste und mit
dem Mund dicht neben seinem Ohr war, zu be-
ten begann. Es zerriss ihm fast das Herz, als er
hörte wie sie mit ihrer zarten Stimme den Schöp-
fer anrief, er solle sie wieder sicher nachhause
geleiten. Lukas war zum Weinen zumute, doch
er tat, was er immer tat – sich zusammen reißen.
Zwei der Sicherheitsleute rannten an ihnen vo-
rüber mit rudernden Armen und angstverzerrten
Grimassen. Ihre Münder formten Angstrufe, die
man in dem Tumult jedoch nicht verstand. Lukas
versuchte einen kühlen Kopf zu bewahren und
sich zu orientieren. Sie befanden sich jetzt etwa
auf dem halben Weg zwischen der Container-
389
siedlung und dem Pfad den sie gekommen wa-
ren, als sie das erste Mal das Tal betraten. Mehr
wusste er allerdings nicht, außer dass sie von
hier weg mussten. Entweder würden sie gegrillt,
ersäuft oder erschlagen werden, falls die Ar-
beitsdrohnen, die sich ebenfalls den Hang hoch
kämpften, sie nicht vorher tot trampelten. Die
Erde bebte und ein machtvolles Zittern war all-
gegenwärtig. Lukas spürte, dass etwas unglaub-
lich Mächtiges geschah.
Allmählich glaubte er, die Schemen der Berg-
spitzen durch die Wassermassen die vom Him-
mel fielen zu erkennen. Der Muskeln des Armes,
der Isabelle hielt, glühte vor Anstrengung, aber
er würde sie nicht loslassen, niemals.
Wie Blinde stolperten sie weiter in das dunkle
Terrain. Immer wieder begegneten sie irgend-
welchen Schemen, die ebenfalls dem Toben der
Naturgewalten ausgeliefert waren. Manche lagen
reglos auf dem Boden, andere stürzten den Hang
hinab oder wurden von etwas mitgerissen und
wieder andere kämpften sich quälend langsam
bergan. Etwas in Lukas wusste, dass dieser
Amoklauf der Naturgewalten nicht auf Zufall
390
beruhte – er war sich nur über die Ursache nicht
im Klaren. Etwas Fremdes griff in diese Welt –
oder Sphäre, wie Viktor es genannt hatte – ein.
Allmählich gelangte er an die Grenze seiner Be-
lastbarkeit. Sein Atem glühte in den Lungen. Sie
mussten den Berg hinauf, bevor alles einstürzte!
Im selben Moment raste ein kopfgroßer Fels nur
Zentimeter an seinem Gesicht vorbei. Um ein
Haar hätte er ihm das Gesicht zerschlagen. Was
waren sie doch einer schmerzlichen Willkür aus-
geliefert! Er hatte einfach nur Glück gehabt.
Es war wie in einem Verfolgungstraum, aus
dem man nachts schweißgebadet erwacht, wo
man rannte und rannte und doch nicht in Sicher-
heit kam. Immer weiter kämpften sie sich durch
die bizarren Gewalten. Mittlerweile war es
Tamara, die Lukas hinter sich herzog und nicht
umgekehrt.
Etwas Hartes traf ihn an der Stirn, dass er in die
Knie ging. Ein jämmerliches Stöhnen entrang
sich ihm. Im nächsten Moment fühlte er, wie Blut
ihm über Augenbrauen, Augen und Wangen lief.
Er durfte jetzt nicht sitzen bleiben. Tamara zerrte
an seinem Arm. Daraufhin aktivierte er seine
391
letzten Kraftreserven, raffte sich auf und lief wei-
ter voran.
Bereits nach wenigen Schritten erkannte er, was
die Wunde verursacht hatte. Der Regen hatte
sich in Hagel verwandelt. Geschosse von der
Größe von Tischtennisbällen mischten sich unter
den Regen. Er hörte Tamaras Entsetzensschreie,
die wie aus der Ferne an sein Ohr drangen.
Die Steilwand vor ihnen erschien wie aus dem
Nichts, sodass sie dagegen rannten, was ihnen
jedoch letztlich das Leben rettete. Da die Wand
überhing, bot sie ihnen einen gewissen Schutz
vor den tödlichen Eisgeschossen. Sie alle bluteten
aus mehreren Wunden. Lukas hatte es am
schlimmsten erwischt. Er rang nach Atem und
begann nun den Schmerz zu spüren, den die Ha-
gelgeschosse verursacht hatten. Vor Erschöpfung
ließen sie sich mit dem Rücken an die Wand ge-
presst in den Morast sinken.
„Papa, ich will hier weg!“, rief Isabelle.
Lukas fühlte sich der Ohnmacht nah und nicht
imstande zu antworten, deshalb antwortete
Tamara: „Wir müssen hier sitzen bleiben, bis es
392
aufgehört hat! Wir können jetzt nicht gehen, es
ist zu gefährlich!“
„Aber wir können auch nicht hier bleiben!“,
brachte Lukas hervor. Er stand auf und kam
schwankend auf die Beine. „Kommt hier ent-
lang!“
Sie klemmten ihre Köpfe zwischen die Schultern
und gingen dicht die Steilwand entlang. Dann
sah Lukas etwas Schwarzes vor sich. Es sah aus
wie eine Grotte oder ein Tunnel, der in den Berg
eingelassen war. Schnell schlüpften sie in das In-
nere.
„Hier sind wie einigermaßen geschützt“, sagte
Lukas keuchend.
Es handelte sich um eine natürliche Höhle, die
ein paar Meter in den Berg hineinführte. Auch
hier stand das Wasser bis weit über die Knöchel.
Sie spähten aus der Öffnung und sahen wie die
Sklaven aber auch ein paar der Männer aus der
manifesten Welt von den Hagelkörnern nieder-
gemäht wurden. Überall lagen sie in ihrem Blut
und wenn sie nicht tot waren, dann besorgten
das diejenigen, die über sie trampelten, bevor die
Hagelkörner ihnen den Rest gaben. Lukas
393
schluckte ein paar Mal um den Brechreiz zu un-
terdrücken.
Dann rutschten die Hänge zu allen Seiten fast
synchron ab. Eine riesige Erdlawine, die alles mit
sich in die Tiefe riss. Es war ein schreckliches Ge-
töse und sie mussten fürchten nicht in der Höhle
verschüttet zu werden. Vor Angst wie gelähmt
folgten sie dem absurden Schauspiel, als plötz-
lich der Hagel nachließ. Allmählich beruhigten
sich die Gewalten, der Donner hallte nur noch ab
und zu und von irgendwoher drang Tageslicht
in das finstere Tal.
Sie ließen noch eine Weile verstreichen und tra-
ten langsam an den Eingang, der zum Glück nur
teilweise zugeschüttet war. Sie stiegen über ei-
nen Wall aus Schlamm und Gestein und sahen,
dass das Tal vor ihnen vollkommen zugeschüttet
war und einen See aus Geröll und Schlamm bil-
dete. Von den Arbeiten, die dort unten vor sich
gegangen waren, war nun keine Spur mehr. Nur
noch ein paar Tote, welche die Berghänge zier-
ten, erinnerten daran.
Sie drehten sich um und verließen das Tal ohne
zurückzublicken.
394
18
Erst als sie den Berggrat überschritten hatten,
begannen sie wieder zu reden.
„Wir leben noch“, stellte Lukas fest.
„Jetzt gehen wir endlich nachhause!“ sagte Isa-
belle.
„Ja, auf jeden Fall, nur noch nachhause“, sagte
Lukas und lächelte gequält. „Aber wo ist Viktor?
Wie sollen wir ohne seine Kenntnisse einen Weg
zurück finden?“
„Wenn er noch lebt, wird er schon klar kommen.
Aber vergiss nicht“, sagte Tamara. „Er gab mir
sein Grimoire, sein Zauberbuch. Sie zog das klei-
ne, schwarze Büchlein mit dem Gummiband aus
der Innentasche ihrer Jacke. „Schau mal. Seite 33:
Das Ritual der Schwelle.“
„Denkst du, es wird funktionieren?“, fragte Lu-
kas.
„Es muss einfach. Denk daran, Wilhelmina hat
gesagt, dass in der Geisterwelt alles vom Willen
und Wollen abhängt“, gab Tamara zurück.
395
„Gut, dann richten wir also unser Wollen darauf
aus, einen Ort des Übergangs zu finden“, sagte
Lukas.
Lukas sah zu Isabelle hinunter. „Also ich will
jetzt unbedingt so einen Ort finden, Nexus oder
Plexus, wie Viktor ihn nannte. Du doch bestimmt
auch?“
„Unbedingt, Papa!“
„Also gut“, sagte Tamara und hob den Zeigefin-
ger. „Ich nämlich auch. Aus vollem Herzen und
ganzem Gemüt.“
Sie verließen das Gebirge und gingen durch eine
steinige Landschaft. Es wurde dunkel, doch sie
gingen trotzdem weiter, auch wenn ihre Kräfte
es nicht zuließen. Nach angemessener Zeit wur-
de es wieder hell, und sie gelangten nach einem
mehrstündigen Marsch in eine grasbewachsene
Ebene. Hier war es wie an einem atemberauben-
den Sommertag, als stünde alles nach einem nas-
sen Frühling in grüner Pracht und leuchtenden
Farben. Das Sonnenlicht war eine Wohltat. Der
Wind strich über die Haut, dass man vor Wonne
fast erschauerte. Die Luft war so klar, dass man
396
meinte unendlich weit zu sehen. Bereits von wei-
tem sahen sie den aufrecht stehenden Menhir.
„Das ist es!“, rief Lukas und beschleunigte sei-
nen Schritt.
Sie eilten durch das hohe Gras und sahen, dass
es sich um einen mächtigen, grauen Stein ähnlich
denen der Megalithfelder in der Bretagne han-
delte, nur dass dieser makelloser bearbeitet war.
Auf der Oberfläche des Steins waren feine Linien
eingemeißelt, jene keltischen Labyrinthe, die sich
winden und verknoten und doch immer wieder
zu ihrem Ausgangspunkt zurückkehren.
„Und was ist, wenn wir irgendwo in Sibirien
rauskommen oder doch in der Krypta und den
Höllenhunden in die Arme rennen“, gab Tamara
zu bedenken.
„Aber hier bleiben, können wir auch nicht“, war
alles was Lukas entgegnete. „Wenn wir merken,
dass Gefahr droht, dann drehen wir eben wieder
um.“
Tamara nickte. „Wenn wir dann noch zurück
können.“
„Dann zeig mal, was Viktor so alles geschrieben
hat.“ Sie hielt ihm das aufgeschlagene Buch hin.
397
„Also: Man bewege sich im Lauf der Sonne – de-
osil hätte der Kelte gesagt – um das Zentrum des
Kraftortes herum. Auf diese Art schafft man ei-
nen heiligen Raum. Dabei spreche man die Wor-
te der Macht: anail nutrock utwas betuth dochiel
dienwe.“
Sie schwiegen einen Moment, bis Lukas sagte:
„Mehr nicht?“
Tamara blies die Backen auf. „Was hast du er-
wartet?“
„Na ja, irgendwie, dachte ich, es sei nicht ganz
so simpel.“
„Sei froh, dass wir nicht noch irgendwelche
Kräuter oder sonstigen obskuren Utensilien
brauchen, die wir hier so ohne weiteres nicht be-
schaffen können“, gab sie streng zurück.
„Ja, da hast du recht. Also gut. Hier ist sowieso
alles vom Willen und Wollen abhängig, wie ge-
sagt.“
„Langsam kapierst du es, Papa“, sagte Isabelle.
„Danke, Schatz.“
„Dann komm, Isabelle“, sagte Tamara. „Nimm
mal meine Hand und du Lukas, hake dich bei
mir ein ... ruhig etwas fester ... Ja, so. Wir wissen
398
nämlich nicht was passiert. Nachher landet einer
von uns in den Anden und die beiden anderen
am Hindukusch. Und Lukas, halte das Buch so,
dass wir daraus ablesen können. Also dann.“
In wohlbemessenen, feierlichen Schritten be-
gannen sie den Stein zu umrunden und rezitier-
ten so synchron wie möglich die Worte der
Macht, welche Viktor mit gestochen schöner
Schrift, die fast weibliche Charakteristika besaß,
in das Buch geschrieben hatte.
All ihr Wollen legten sie in das kleine Ritual mit
dem sie transzendente Prozesse in Gang setzen
wollten und das auf einen Außenstehenden
vermutlich lächerlich gewirkt hätte. Lukas be-
fürchtete bereits, ihre Bemühungen würden kei-
ne Früchte tragen, doch nach der dritten Um-
rundung sah es so aus, als würde die Luft um
den Stein herum vibrieren. Er sah auch nicht
mehr so aus, als habe er Substanz, sondern wirk-
te wie eine Luftspiegelung. Sie hielten inne und
gingen in stummem und gegenseitigem Einver-
ständnis auf den Stein zu.
Der Himmel über ihnen schien sich im selbem
Moment zu verdunkeln, bis sie merkten, dass sie
399
in einem langen Tunnel waren und unter ihnen
wieder der leuchtende Steg. Lukas drehte sich
noch einmal flüchtig um und sah die Gegend
hinter sich vollends verzerrt und verfremdet wie
in einem Spiegelkabinett. Entschlossen gingen sie
voran und fanden sich schließlich in dem Raum
wieder, den Lukas als die Krypta, wo sie hin-
übergegangen waren, erkannte.
Der dämonische Hund, der sie bis zu dem Portal
verfolgt hatte, lag tot auf dem kalten Boden der
Krypta. Das Blut, das aus den Schusswunden
ausgetreten war, hatte sich über seinen Leib er-
gossen und war geronnen.
„Er ist tot“, keuchte Lukas.
„Alles kehrt sich wieder um, jetzt wo das Un-
gleichgewicht beseitigt ist. Ist es so?“, fragte
Tamara.
„Wer weiß?“
Sie gingen die Treppe hinauf. Oben lag der Abt
fürchterlich entstellt vor dem Altar. Die Hunde
hatten ihm einen Arm und ein Bein buchstäblich
aus dem Gelenk gerissen. Die restlichen drei
Hunde lagen genauso tot um ihn herum. Die
Kugeln von denen sie getroffen worden waren,
400
hatten ihnen letztlich doch den Rest gegeben.
Während sie die Kirche durchschritten, hielt Lu-
kas die ganze Zeit Isabelles Gesicht an seine
Brust gedrückt, damit sie dies nicht sehen sollte.
Obgleich sie schon soviel hatte sehen müssen,
wollte er ihr wenigstens das ersparen. Er fürchte-
te, sie würde alles ein Leben lang mit sich herum
tragen und fühlte sich als schlechter Vater, weil
er nicht imstande gewesen war, sie davor zu be-
wahren.
Sie eilten durch den düsteren Klosterhof, der in
vorweltlicher Stille dalag. Hinter dem Haupttor
stand immer noch ihr alter Wagen, daneben der
arme Orwell mit durchgebissener Kehle, zer-
schunden und von einer handbreiten Schnee-
schicht bedeckt. Lukas brachte es nicht fertig ihn
dort liegen zu lassen. Sein Körper war am Boden
festgefroren und gab ein Geräusch wie Klebe-
band von sich, als er ihn abzog. Er öffnete den
Kofferraum und hob seinen Freund hinein. Dabei
netzten Tränen stiller Trauer seine Wangen. Erst
jetzt war er imstande zu weinen, und es tat gut.
Auch Tamara und Isabelle weinten still. Sie wür-
den ihn im Garten beerdigen.
401
Der Schlüssel steckte noch im Zündschloss. Lu-
kas drehte ihn und der Wagen sprang an. Wäh-
rend der ganzen Fahrt bis zum Haus wurde kein
Wort geredet und jeder hing seinen eigenen Ge-
danken nach. Sie waren alle emotional und kör-
perlich vollkommen ausgelaugt. Doch als ihr al-
tes, baufälliges Haus in Sicht kam, wusste Lukas,
dass sie es geschafft hatten.
Die Tage flossen dahin und nur allmählich stell-
te sich wieder so etwas wie Normalität ein.
Rückblickend stellten sie fest, dass sie zeitlich be-
trachtet nur für Minuten, höchstens wenige
Stunden, im Mittelreich gewesen waren. Sie hat-
ten viel aufzuarbeiten und mussten wieder Ord-
nung in das pulsierende Chaos ihrer Gedanken
bringen, zu gewaltig und revolutionär war das
Erlebte gewesen. Viele Menschen glauben, dass
neben der materiellen Welt noch eine – oder
mehrere – geistige Welten leben und weben,
doch nur wenige erfahren sie tatsächlich. So ge-
sehen war alles ein unausdenkbares Wunder, vor
dem der Verstand kapitulierte.
402
Das Jahresrad drehte dich dennoch weiter und
hob sie aus den kalten Tiefen des Winters heraus,
und mit dem Frühling kehrte auch wieder die
Zuversicht in ihre Herzen.
Der Schnee schmolz, und die wilden Blumen im
Sumpf und auf den Wiesen begannen zu blühen
und die Luft mit ihrem Duft zu erfüllen, die
Zugvögel kehrten heim und alles Stand in Pracht
und Blüte, während die Waldvögel sangen. Ab
da blickten sie nicht mehr so oft zurück.
Die Welt hatte sich verändert, das sah man nun
immer deutlicher, egal ob in den Nachrichten im
Fernsehen, in Zeitungen oder wenn man durch
das Dorf ging – aber nur allmählich, beinahe
unmerklich, wie Hefe die aufgeht. Das Wetter
verhielt sich nicht mehr so chaotisch und die
Weltwirtschaft beruhigte sich, Kriege ebbten ab
und niemand wusste so recht warum.
Der Sommer war warm und gastlich. Als an ei-
nem dieser nicht enden wollenden Sommer-
abende der Sirius am südöstlichen Himmel er-
strahlte, saß Lukas im Vorgarten auf einer Bank,
genoss ein Bier und die sanfte Abendprise, die
seine Wangen liebkoste und sann vor sich hin.
403
Plötzlich stand eine Gestalt am Jägerzaun neben
der Einfahrt.
„Guten Abend!“, rief die Gestalt.
Lukas schreckte aus seinen Gedanken hoch, da
sie schon seit Monaten hier oben niemanden
mehr gesehen hatten, und wusste die Stimme
zuerst nicht einzuordnen, doch der Bariton ge-
paart mit dem markanten, österreichischen Ak-
zent weckten in ihm einen leisen Verdacht. „Vik-
tor?“, rief er ungläubig.
Die Gestalt kam näher. „Genau der!“, kam es
zurück.
Sie gingen aufeinander zu und es wurde ein
herzliches Treffen.
„Viktor, wir dachten du seiest tot. Wir waren
nicht sicher, ob du durchgekommen bist.“
Er wischte die Bemerkung beiseite. „Das Gleiche
hatte ich von euch auch gedacht. Ich suchte noch
eine Weile nach euch, musste aber am Ende doch
wieder auf die andere Seite. Deshalb musste ich
hierher kommen, um mich selbst davon zu über-
zeugen. Es ließ mir keine Ruhe.“
„Da hast du dir aber ganz schön Zeit gelassen.
Ich habe die Internetseite deines Antiquariats ge-
404
funden und versucht über die dortige E-Mail-
Adresse mit dir in Kontakt zu treten. Da keine
Antwort kam, fürchteten wir bereits das
Schlimmste.“
Viktor grinste verlegen. „Ach, weißt du, ich bin
von Indianern mit rüber geholt worden und in
den USA mitten in den Bighorn Mountains ge-
landet, dort habe ich eine Weile mit ihnen auf ei-
ner Ranch gelebt und dort gearbeitet, um mir
den Rückflug zu finanzieren und Wanderungen
durch die Bighorns gemacht. War wirklich eine
tolle Zeit. Ich bin erst seit eine paar Wochen wie-
der in Europa.“
„Aber jetzt bist du hier, komm wir gehen rein
und essen zusammen. Wenn du willst, kannst du
eine Weile bei uns bleiben.“
„Ich hoffte, dass du das sagen würdest.“
Sie gingen ins Haus, wo Tamara in der Küche
herum hantierte. Als sie Viktor sah, machte sie
anfangs ein Gesicht, als stünde sie einem Geist
gegenüber, doch ihre Verblüffung wandelte sich
schnell in echte Freude. Nach einem ausgedehn-
ten Essen saßen sie anschließend noch beisam-
men und redeten über Gott und die Welt, nach-
405
dem sie einander von den Erlebnissen nach ihrer
Trennung berichtet hatten. Das Fenster in der
Küche stand offen und angenehm kühle Luft
wehte durch es herein.
„Wo ist eigentlich Isabelle?“, fragte Viktor.
„Sie ist oben und schläft bereits“, sagte Tamara.
„Wie hat sie eigentlich das Gesehene und Erleb-
te verkraftet?“
Tamara überlegte kurz. „Eigentlich ganz gut.
Vielleicht unterschätzen wir die Leidensfähigkeit
von Kindern. Ich glaube, sie akzeptieren eher als
Erwachsene das Unfassbare und auch das
Schreckliche und Schöne einfach als Teil des Le-
bens. Nachdem die Angst fort war, musste ich
auch erst einmal mit diesen kolossalen Aussich-
ten klar kommen, die sich mir eröffnet hatten. Ich
lernte, dass all unsere Vernunft und unsere An-
sichten von der Welt auf Treibsand gebaut sind.
Dieser Halt war trügerisch. Das Eis des gesicher-
ten Wissens ist dünn und brüchig.
„Ja, diese Erfahrung wird uns auf ewig verän-
dern“, sagte Viktor. „ Hoffentlich zum Guten.
Wir durften den Blick auf ein ungeheures Pano-
rama an Seltsamkeiten werfen. Die Wirklichkeit
406
ist vollkommen anders als sich die seriöse Wis-
senschaft auszumalen vermag, alle Lehrmeinun-
gen haben mit der Wirklichkeit hinter der Wirk-
lichkeit soviel gemein wie eine Landkarte mit ei-
nem Land. Die Realität platzt vor dieser Er-
kenntnis wie eine Seifenblase, wenn man sie an-
sticht.“
„Doch letztendlich stellt sich die Frage, jetzt wo
die Welt noch einmal gerettet wurde, wie die
unmittelbare Zukunft sein wird. Kann der Homo
Sapiens sich an den Haaren aus dem selbst ge-
schaffenen Sumpf ziehen. Immerhin leben wir
auch auf diesem Planeten“, entgegnete Tamara.
Viktor legte versonnen den Kopf schief. „Wo-
möglich sind auch Vergangenheit, Gegenwart
und Zukunft nichts als schöne Illusionen. Sie be-
stehen nur in unseren Köpfen, damit wir der
Welt einen Ablauf geben und uns orientieren
können.“
„Sehr philosophisch“, warf Lukas ein. „Doch es
gibt eine Zukunft, sei sie gut oder schlecht. Der
Mensch ist ein fehlerhaftes Geschöpf und han-
delt entsprechend. Unsere Welt ist und war
schon immer ein Tollhaus. Wir Menschen haben
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die Fähigkeit zu denken, zu analysieren, zu ext-
rapolieren, zu forschen – unser Verstand
schwingt das Zepter. Und was hat der Höhen-
flug des menschlichen Gehirns nach sich gezo-
gen, außer den Stolz auf unsere Monsterstädte,
Wasserstoffbomben, Ozonlöcher und die Ver-
nichtung von Fauna und Flora und all die ande-
ren Peinlichkeiten?“
„Aber die Frage bleibt: Wird die Menschheit ir-
gendwann lernen?“, sagte Tamara.
Lukas wiegte den Kopf hin und her. „Ich weiß
es wirklich nicht, aber man soll die Hoffnung be-
kanntlich nie aufgeben. Die Welt ist eintönig, die
Menschheit hat noch nie dazu gelernt, sie verfällt
immer wieder in die Selben unseligen Muster
und begeht die gleichen Untaten. Das Geschehe-
ne wiederholt sich zwar nicht, ähnelt aber stark
einander.“
„Aber was erwartet uns, sagen wir, die nächsten
hundert Jahre. Wie ist eure Prognose“, sagte
Tamara und schaute abwechselnd zwischen den
beiden hin und her.
Viktor schwieg und zuckte nur mit den Schul-
tern. Jedoch Lukas überlegte angestrengt, er
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wusste, dass seine Worte nur Schall und Rauch
waren, doch er hatte den Drang seiner Frau et-
was zu entgegnen, das Gewicht und Gehalt hat-
te, etwas Tragendes. Doch letztlich sagte er nur:
„Ich vermute mal, hundert Jahre lang der selbe,
alte Scheißdreck.“
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