Prise, die einem in die Knochen drang, während

dicke Schneeflocken nachdenklich durch die Luft

wirbelten. Ein einsamer Rabe beobachtete mit

104

zur Seite geneigtem Kopf aus dem kahlen Geäst

eines nahestehenden Baumes die Ansammlung

von Leuten, deren Kleider so schwarz waren wie

sein Gefieder.

Fernes Glockengeläut und die letzten Worte von

Pfarrer Sendig begleiteten Hans’ Seele auf seine

letzte Reise, alles geschah ohne viel Brimborium.

Dass Hans persönlich auf seiner Beerdigung zu-

gegen war, nahm außer Lukas niemand wahr.

Lukas beobachtete ihn, wie er sich einigermaßen

teilnahmslos durch die Menge der Trauernden

bewegte und schließlich bei seiner Frau stehen

blieb. Dies war auch der Moment, in dem Lene

von einem Weinkrampf geschüttelt wurde.

Tamara und Frau Backes, die in unmittelbarer

Nachbarschaft wohnte, legten der alten Frau die

Arme um die Schultern, hakten sich ein und bau-

ten sich um sie herum auf wie zwei Schutzengel.

Schließlich verschwand Hans und löste sich zu

Staub, im selben Augenblick hörte auch das

Weinen seiner Frau auf. Lene stand am Grab mit

gesenktem Kopf und hochgezogenen Schultern.

Lukas spürte, dass ihre Trauer nicht übermächtig

105

war. Sie weinte, aber ihr Weinen blieb diesmal

stumm.

Lukas und ein paar andere Männer ließen zu-

sammen den Sarg an Stricken in das feuchte

Loch hinab. Dabei fiel Lenes Kinn noch tiefer auf

die Brust hinab. Pfarrer Sendig, ein großer kor-

pulenter Mann, schaute mitfühlend über sein

Gebetbuch hinweg, um welches seine Hände

krampften, zu der Witwe hinüber.

Im Sommer würde sich Geißblatt an der Stelle,

wo Hans begraben lag, der Sonne entgegen stre-

cken. Die Beisetzung war schnell vorüber und

noch gebeugter als zuvor gingen alle zurück. Lu-

kas, seine Familie, Pfarrer Sendig und noch eini-

ge andere, wozu auch Andreas und Elena gehör-

ten, begleiteten Lene noch bis nach Hause, ab da

wünschte die alte Frau allein gelassen zu wer-

den. Vor dem Haus wurden noch einige Worte

gewechselt, an denen Lukas jedoch keinen Anteil

nahm, da er einen Grauen drei Häuser weiter die

Toreinfahrt hinein gehen sah.

Auf Lukas Zunge lag plötzlich der Geschmack

saurer Milch. Langsam entfernte er sich von der

Gruppe und ging auf das Haus zu. Es handelte

106

sich um das von Karl Montag, der vor dem

Crash die Tankstelle mit dem Gebrauchtwagen-

handel betrieben hatte. Lukas ging im Geiste die

Bilder der Personen durch, die an der Beerdi-

gung teilgenommen hatten. An Karl oder seine

Frau Caroline konnte er sich nicht erinnern, ob-

wohl sie zur unmittelbaren Nachbarschaft gehör-

ten.

Das Gebäude war ein einfaches, zweigeschossi-

ges Haus aus rotem Ziegelstein. Der Vorgarten

stieg von der Straße aus leicht an und wäre im

Sommer dicht mit Rosenbüschen bewachsen ge-

wesen. Lukas öffnete das Tor neben der Einfahrt

mit leisem Quietschen und ging die drei Stufen

zur Eingangstür hinauf, die halb offen stand. Et-

was stimmte hier nicht. Im Flur türmte sich be-

reits eine Schneewehe. Von dem Grauen keine

Spur. Lukas schwante Unheil. Schauer jagten

ihm über den Rücken, als er plötzlich eine Stim-

me in seinem Rücken hörte. „Papi, was ist denn

da?“ Es war Isabelle, die am Treppenaufgang

stand.

107

Lukas fuhr herum. „Ach, nichts. Äh … geh zu-

rück zu Mama. Ich muss hier noch etwas nach-

schauen.“

„Lass mich mitgehen, ich will auch schauen.“

„Nein, das kann nur ich machen. Lauf zurück zu

Mama.“

„Ach, ich will bei dir bleiben.“

„Nein, ich komme ja gleich wieder. Geh jetzt zu-

rück“, sagte Lukas energischer.

„Bitte, Papa, bitte!“ Sie zog eine Schnute.

„Nein, Isabelle, du läufst jetzt sofort zurück!“

„Bitte, bitte!“

Lukas‘ Kehle entrang sich ein tiefes Seufzen.

Von wem hatte sie nur diese Beharrlichkeit?

„Nein! Komm, Schatz, das hier ist nichts für

dich.“ Er hob sie auf den Arm. „Dann werde ich

dich eben zu Mama bringen.“

„Du bist gemein“, entgegnete sie und legte die

Stirn graus, während sie die Arme verschränkte

und die Unterlippe nach vorne schob.

„Ja, ich weiß.“

Im selben Moment kamen Tamara und Andreas

mit seiner Frau Elena sowie Pfarrer Sendig im

Schlepptau die Straße hinunter. Tamara sah Lu-

108

kas an, dass etwas nicht in Ordnung war. „Was

ist?“, fragte sie.

Lukas machte eine vage Bewegung mit dem

Kopf in Richtung Haustür. „Da stimmt etwas

nicht.“ Und fügte hinzu. „Die Tür ist offen.“

Tamaras Blick verdüsterte sich. Lukas hatte ihr

von seinen Erlebnissen in Ban Saint Jean und den

Grauen erzählt. Tamaras Schimpftirade hatte

sich in Grenzen gehalten. Sie nahm Isabelle von

ihm wortlos entgegen.

„Ich gehe mir das mal anschauen. Sieh zu, dass

die Kleine mir nicht nachkommt.“

„Was ist los, Lukas?“, fragte Andreas.

„Im Flur ist eine Schneewehe.“ Er zeigte auf das

Haus. „Die Haustür muss schon eine ganze Wei-

le offen stehen.“

„Hier wohnt Karl Montag mit seiner Familie.

Rufen oder klingeln sie doch mal“, warf Pfarrer

Sendig ein.

Lukas wusste, dass das nicht nötig war. Etwas

Schreckliches war passiert, was die Anwesenheit

des Grauen erklärte. Lukas ging zurück zum

Hauseingang, die anderen blieben zurück. Er

steckte den Kopf in den Flur, der im Dämmer-

109

licht dalag. Der Geruch nach verbranntem Essen

drängte sich auf, da war aber noch etwas, das auf

seine Art durchdringender und eindeutiger roch:

der Geruch von Blut.

Lukas trat wieder ins Freie und atmete einmal

tief durch, um seinen Pulsschlag zu beruhigen.

„Andreas, Pfarrer Sendig, kommen sie her, da

drin ist etwas passiert! Ganz gewiss! Tamara,

bleib du mit Isabelle zurück!“

Andreas trat als erster durch das Tor des Vor-

gartens, und der Geistliche folgte ihm mit dem

Messbuch unter dem Arm. Lukas voran traten

die drei Männer in den Flur und gelangten von

dort aus nach einem letzten Zögern ins Wohn-

zimmer, wo umgestürzte Möbel und Einrich-

tungsgegenstände Spuren von Verwüstung zeig-

ten. Besonders auffällig war die geborstene

Scheibe der Terassentür, die in Kaskaden auf

dem Boden lag.

An das Wohnzimmer schloss sich das Esszim-

mer an. Hinter der Tür aus Mattglasscheibe, die

halb offen stand, sah man ein nacktes Bein auf

dem Boden liegen, daneben einen abgetragenen

Pantoffel. Schauer peitschten über Lukas’ Rücken

110

wie Hagelgeschosse, die gegen die Fensterschei-

be prasseln. Er stieß die Tür auf, sodass sie das

ganze Zimmer überblicken konnten, und er

meinte, es bohre sich ihm ein Korkenzieher in

den Rücken. Schwankend wichen die drei Män-

ner vor der fürchterlichen Wirklichkeit zurück.

Dort stand ein massiver Eichentisch mit sechs

Stühlen, von denen zwei umgestürzt waren. Tel-

ler, Besteck und Gläser lagen zerborsten im

Raum zerstreut, Kartoffeln lagen zertreten auf

dem Boden und waren mit dunkelbraunem Blut

verspritzt. Ein Sideboard mit Spirituosen war

umgekippt und die dunkelbraunen Vorhänge

aus der Schiene gerissen.

Die Frau lag mit dem Gesicht nach unten auf

dem Linoleumbelag. Ihr Unterschenkel stand in

einem völlig unnatürlichen Winkel vom Rest des

Beines ab und war blutig und entstellt, Hautfet-

zen hingen von ihm hinab, genau wie vom Rest

des Körpers. Sie schien aus einer Unmenge an

Wunden geblutet zu haben. Um sie herum hatte

sich eine weite Lache gebildet, wo sich Blutsprit-

zer und -flecke wie bei einem Heiligenschein an-

ordneten. Man konnte noch erkennen, dass sie

111

einen langen, blauen Wollrock und eine weiße

Bluse getragen hatte, auch wenn nicht mehr viel

davon übrig war. Der Graue kniete in der Blutla-

che und leckte mit seiner Zunge über den Boden.

Es waren noch zwei weitere im Raum. Der Eine

drängte sich dicht zwischen die drei Männer und

der andere saß im Schneidersitz auf dem Tisch.

Andreas fand als erster die Stimme, die leblos

wie kalte Asche klang. „Was zum Teufel ist hier

passiert?“

Der Geistliche stieß einen Ton des Entsetzens

aus, bevor er ausrief: „Mein Gott! Wir müssen

die Polizei rufen!“

„Welche Polizei? Die sind in den Städten damit

beschäftigt Aufstände niederzuschlagen“, ent-

gegnete Andreas.

Obwohl es empfindlich kühl in dem Zimmer

war, bemerkte Lukas, dass er schwitzte. Er nahm

seine Wollmütze ab und verstaute sie in seiner

Manteltasche. „Kommt, wir drehen sie herum.“

Lukas konnte sich über den Grund, die Leiche

umdrehen zu wollen keine Rechenschaft able-

gen. Womöglich veranlasste ihn dazu die obsku-

re Annahme, dass die Frau womöglich noch am

112

Leben war. Vielleicht war es aber auch nur der

schlichte Drang etwas tun zu müssen, anstatt un-

tätig dazustehen. Seine Begleiter kamen der Auf-

forderung stumm nach.

Umständlich hievten sie mit sechs Händen den

Leichnam auf den Rücken. Es war ein grausames

Geschäft und obwohl Andrea Montag eine eher

zierliche Frau gewesen war, schien ihr Körper

wie aus Blei gegossen. Lukas hatte sie nicht be-

sonders gut gekannt, erinnerte sich aber an eine

Frau Mitte Dreißig, auch dass sie recht hübsch

gewesen war mit ihren langen, schwarzen Haa-

ren. Nun blickten ihre einstmals klaren, blauen

Augen starr und fern an die Zimmerdecke. Unter

ihrer zerrissenen Bluse kam eine ihrer Brüste

zum Vorschein, die gewaltsam abgetrennt oder

abgerissen worden war und nur noch von ein

paar Gewebesträngen am Brustkorb gehalten

wurde.

„Habt ihr so etwas schon einmal gesehen?“,

keuchte Andreas.

„Wer tut so etwas?“, sagte Pfarrer Sendig vor

Unverständnis und versuchte nicht die Hysterie

in seiner Stimme zu verbergen.

113

„Fußspuren“, sagte Lukas. „Da auf dem Boden.

Von einem Tier.“ Er wies auf den Boden.

„Es hätte mich auch gewundert, wenn ein

Mensch einer solchen Tat fähig wäre“, sagte der

Geistliche beinahe erleichtert und faltete die

Hände vor seinem Bierbauch, als wolle er beten.

„Sie glauben nicht, wozu Menschen alles fähig

sind“, entgegnete Andreas kühl.

„Die Frage ist: Wo ist Karl?“, warf Lukas ein.

Sie verließen den Raum und betraten die an-

grenzende Küche. Karl lag vor dem offenen

Fenster auf dem Boden, grausam entstellt, nicht

mehr als menschlich zu erkennen.

Lukas ging vor dem Leichnam in die Hocke,

kämpfte seinen Brechreiz nieder und ließ seinen

Blick durch den Raum schweifen. Wut und Ver-

zweiflung kämpften in ihm um die Vorherr-

schaft. Er zeigte auf das Fenster. „Karl wollte aus

dem Fenster fliehen. Seht die blutigen Handab-

drücke auf dem Fensterbrett. Vermutlich wollte

er sich mit den Händen abstützen, da hat es ...

ihn vom Fenster weggezerrt.“

Blutflecke liefen schräg den Fensterrahmen hin-

auf fast bis zur Decke.

114

„Was für ein Gemetzel“, keuchte Andreas.

Sie untersuchten den Rest des Hauses. Alles

deutete auf einen kurzen und schnellen Kampf

hin. Überall wo Verwüstung war, waren die

Grauen. Lukas zählte sie nicht, aber es mussten

fast ein Dutzend gewesen sein und wohin sie

sich bewegten, folgte ein Teil der Wesen ihnen,

als würden sie von ihrer Angst und dem Entset-

zen zehren.

Zurück auf der Straße setzten sie noch die bei-

den Frauen ins Bild, die sich entsetzt die Hand

vor den Mund hielten.

„Und was sollen wir jetzt tun?“, fragte Andreas,

der eine seiner selbstgedrehten, nageldünnen Zi-

garetten aus der Manteltasche fischte. Ganze

Dreimal brach sein Streichholz ab, bevor es Feuer

fing. Er inhalierte anschließend den Rauch so

tief, dass Lukas glaubte, er würde ihn nie wieder

ausatmen.

„Am besten wir rufen den Bürgermeister hier

her, damit der sich das anschaut“, sagte Pfarrer

Sendig. „Dann benachrichtigen wir die Polizei,

ob es zu Ermittlungen kommt oder nicht. An-

115

schließend müssen diese Leute ein würdiges Be-

gräbnis bekommen.“

„Was ist, wenn diese Tiere, wie ihr glaubt, im-

mer noch in der Nähe sind?“, warf Tamara ein.

Ihre Stimme begann in normaler Tonlage,

schraubte sich dann aber eine ganze Oktave hö-

her.

Die Frage hing in der Luft und niemand wollte

darauf antworten.

Sie beschlossen ein paar Leute vom Gemeinde-

rat und den Bürgermeister zu verständigen und

gingen geschlossen zu deren Häusern und Woh-

nungen. Nachdem die Herren zu ihrem Entset-

zen den Ort begutachtet hatten, beschloss man

für morgen eine außerordentliche Gemeinderats-

sitzung im Rathaus einzuberufen, um zu ent-

scheiden, wie weiter zu verfahren sei. Obwohl

mit einer adäquaten Ermittlungstätigkeit von

Seiten der Polizei nicht zu rechnen sei, erklärte

Bürgermeister Franke, würde er umgehend das

Landeskriminalamt in Kenntnis setzen, da der

Vorfall gemeldet werden müsse und man nicht

mit letzter Sicherheit ausschließen könne, ob

nicht doch ein Mensch oder mehrere an dem

116

Vorfall beteiligt gewesen seien. Wie mit den To-

ten zu verfahren sei, wolle man in der morgigen

Sitzung besprechen, jedoch sei es ratsam, den

Tatort in dem Zustand zu belassen, wie er jetzt

sei.

Weiterhin verständigte man sich darauf, alle

Bewohner des Ortes darüber zu unterrichten. Je-

der Bürger solle seinem Nachbarn Bescheid sa-

gen. Fenster und Türen sollten geschlossen blei-

ben, bis die Situation wieder unter Kontrolle sei.

Daneben sprach man sich für eine nächtliche

Ausgangssperre aus. Auch sei es wichtig, die

Bewohner zur Umsicht aufzurufen, damit sich

nicht aus dem Vorfall eine Hexenjagd ergebe.

So wurde verfahren. All dies wurde auf der

Straße vor dem Haus geregelt und obwohl Lukas

im Freien stand, hatte er den Eindruck, dass der

Gestank noch stundenlang an Haar und Klei-

dung zu haften schien. Obwohl er noch nicht zu

Mittag gegessen hatte, wollte sich auch Stunden

später kein Appetit einstellen.

Schließlich wurde es Zeit nach Hause aufzubre-

chen. Ihr Weg führte durch den Wald. Damit

verband sich der Gedanke, dass das, was Karl

117

Montag und seine Frau umgebracht hatte, auch

ihnen auflauern könnte. Der Gedanke war kaum

ausgedacht, als Andreas neben ihn trat.

„Ihr müsst zurück auf den Hügel“, stellte An-

dreas fest.

„Ja.“

„Durch den Wald.“

„Ja, sieht so aus.“

„Dann kommst du vorher noch mit zu mir. Ich

werde dir etwas geben. Etwas zu eurer Verteidi-

gung. Halt mich nicht für hysterisch, aber ich

denke, solange wir nicht wissen, was da los ist,

ist Vorsicht angebracht. Wenn es ein Wolfsrudel

ist oder streunende Hunde, wie der Bürgermeis-

ter spekuliert hat, dann ist es besser, wenn du

dich wehren kannst.“

Lukas nickte. “Ich nehme dein Angebot an. Was

willst du mir denn geben?“

„Na, kommt einfach mal mit.“

Sie gingen stumm zu dem Haus von Andreas

und Elena, nur ein paar Häuserecken weiter.

„Ich denke, ihr wollt nicht noch auf einen Tee

mit reinkommen“, sagte Elena.

118

Tamara sah Lukas beklommen an. „Danke, Ele-

na, aber ich denke, wir sehen zu, dass wir heim-

kommen.“

Andreas verschwand einen kurzen Moment in

der Garage und kam mit einem länglichen Ge-

genstand zurück, der in Plastikplane gehüllt war.

„Das ist eine Schrotflinte“, verkündete er und

begann die Umhüllung aufzureißen. „Ich habe

sie erst vor ein paar Tagen gereinigt. Zweiläufig.

Zum Abfeuern aus naher Distanz geeignet.“ Er

zog die alte Flinte aus seiner Ummantelung und

öffnete sie. „Sie macht zwar von außen nicht viel

her, Lukas, aber sie funktioniert. Ein Erbstück

von meinem Opa. Du schiebst die Patronen hier

rein und spannst den Hahn. So. Anlegen und

Abdrücken. Im Zweifelsfall immer auf die Beine

schießen – Nasenbein, Jochbein. Hast du jemals

ein Gewehr abgefeuert?“

„Ein Luftgewehr auf dem Oktoberfest“, entgeg-

nete Lukas.

„Na ja, dann pass bei dem hier auf den Rück-

schlag auf“, sagte Andreas.

Lukas nahm die Waffe mit gemischten Gefühlen

entgegen.

119

„Hier ist noch Munition.“ Andreas drückte Lu-

kas noch eine Handvoll Patronen in die Hand.

Lukas schob zwei Patronen in den Lauf und leg-

te die Waffe einmal kurz an, ohne den Hahn zu

spannen und kam sich reichlich unbeholfen da-

bei vor. „Dann sage ich mal danke, Andreas. Ich

gebe sie dir so schnell wie möglich zurück.“

Andreas winkte ab. „Behalt das Teil. Ich habe

oben im Schlafzimmer noch eine Winchester. Die

reicht für uns.“

Sie machten sich auf den Heimweg. Der schnei-

dendkalte Wind von heute Mittag hatte sich ge-

legt, sodass sich fast kein Lüftchen regte, was ei-

ne erdrückende Stille erzeugte. Die Wolken hin-

gen grau und tief wie eine schwere Schieferplatte

über dem Land und Schnee lag in der Luft. Isa-

belle ging vergnügt drei Schritte voraus und

wirbelte mit den Füßen Schnee auf, während Lu-

kas mit einer Hand die von Tamara hielt und mit

der anderen um die Flinte krampfte. Manchmal

knackte es verdächtig im Unterholz, sodass Lu-

kas’ Blick ständig unruhig umherschweifte.

„Glaubst du wirklich, dass es ein Rudel Wölfe

sein könnte, dass hungrig war. Ich dachte, es gä-

120

be in Deutschland keine Wolfsrudel“, sagte

Tamara im Flüsterton.

„Ich bin mir nicht sicher“, antwortete Lukas.

„Aber so weit ich weiß, gibt es kleine Wolfspo-

pulationen in Südeuropa, in der Slowakei und

vor ein paar Jahren wurden auch Gebiete in

Frankreich und der Schweiz neu besiedelt. Es

könnten aber auch streunende Hunde sein. In

den Städten herrscht immer noch Nahrungsmit-

telknappheit. Was tust du, wenn du Hunger

hast? Du stößt dein Haustier ab, wenn du es

nicht essen kannst. Ganze Heerscharen von

streunenden Hunden laufen durch das Land, die

obendrein noch hungrig sind.“

„Aber warum gingen sie so brutal zu Werke. Ich

verstehe das nicht.“

„Ich auch nicht“, beteuerte Lukas.

„Sind diese Leute tot?“, sagte Isabelle plötzlich.

Es wäre falsch gewesen, nicht offen zu ihr zu

sein oder gar zu lügen, dafür hatte sie schon zu

viel durch die Unterhaltungen der Erwachsenen

mitbekommen. „Ich fürchte ja, mein Schatz“,

sagte Lukas.

„Hast du sie tot gesehen?“, fragte Isabelle.

121

„Ja.“

„Wie sahen sie aus.“

„Sie sahen aus, als ob sie geschlafen hätten“,

sagte Tamara. In ihrer Stimme lag eine falsche

Unbeschwertheit.

„Genau wie Hans?“

„Genau wie Hans“, sagte Tamara.

„Du warst doch gar nicht hin schauen, Mami.

Wie kannst du es wissen?“

„Ich weiß es trotzdem“, entgegnete Tamara ent-

schieden.

„Wie sucht Gott das aus, wenn jemand sterben

muss?“, fragte Isabelle.

Lukas und Isabelle wussten einen Moment

nicht, was sie antworten sollten, schließlich sagte

Lukas: „Das weiß niemand außer Gott.“

Isabelle schien einen Moment darüber zu brü-

ten. „Wenn er doch Gott ist, dann könnte er doch

machen, dass niemand stirbt.“

„Es muss einen Grund geben, warum es so ist,

womöglich werden wir es irgendwann erfah-

ren“, sagte Lukas.

„Wenn man stirbt, was passiert dann?“, fragte

Isabelle.

122

„Ich denke, dass weiß niemand so genau“, ant-

wortete Lukas. „Viele Menschen glauben, dass

das Leben danach weiter geht.“

„Kinder sterben doch nicht, oder doch?“

„Doch manche schon, deshalb müssen wir für

jeden Tag dankbar sein. Verstehst du? Wir müs-

sen einander lieb haben und für einander sorgen,

so lange wir leben“, sagte Tamara.

„Also könnt ihr auch sterben?“

„Im Grunde schon, obwohl ich glaube, dass dies

nicht so schnell geschehen wird“, entgegnete Lu-

kas.

„Du hast doch auch keine Mama und keinen

Papa mehr“, sagte Isabelle.

„Ja, sie starben bei einem Autounfall, als ich

noch ganz klein war. Ich kann mich fast über-

haupt nicht an sie erinnern“, sagte Lukas.

„Fühlst du dich alleine ohne deine Mama und

deinen Papa?“, fragte Isabelle.

„Früher habe ich mich oft allein gefühlt – sehr

allein sogar. Aber jetzt habe ich ja dich und Ma-

ma.“

Sie gelangten an ihr Haus ohne Zwischenfälle.

Orwell, der nicht auf die Beerdigung mitgedurft

123

hatte, schien froh zu sein, dass seine Herren zu-

rück kamen. Buchstäblich im selben Moment, als

sie zuhause ankamen, wurde das Wetter schlech-

ter. Binnen Minuten hatte es sich zu einem Sturm

mit Schneeregen ausgewachsen. Ein eisiger

Windhauch knallte und fauchte in Böen über den

Hügel und erzeugte heulende Töne im inneren

des Gebäudes. Peitschenartig prasselte ein Ge-

misch aus Schnee und Hagel nieder, worunter

sich ab und zu Donnerschläge und Blitze misch-

ten.

Mit der Decke bis zum Hals war Lukas einge-

schlafen, um gegen drei Uhr wieder aufzuwa-

chen. Noch eine Weile wälzte er sich von einer

Seite auf die andere, vermochte jedoch nicht in

den Schlaf zu finden. Der Sturm strebte mittler-

weile seinem Höhepunkt entgegen und rüttelte

an dem alten Gemäuer, als wolle er es aus den

Grundmauern heben. Eine penetrante Unruhe

hatte sich in Lukas eingenistet, die nahezu uner-

träglich wurde.

Er stand auf, warf sich den Bademantel über,

huschte über den kalten Linoleumbelag im Flur

und stieg die alte, knarrende Holztreppe hinun-

124

ter ins Erdgeschoss. Im Herd in der Küche wür-

de vermutlich noch das Feuer vom Abendessen

unter der Asche glimmen. Er würde es hoch-

schüren und sich einen schönen, starken, selbst-

gemahlenen Kaffee kochen, die Zeiten von Sen-

seo und Cafe-au-Lait waren Relikte einer ande-

ren Epoche. Er betätigte den Lichtschalter in der

Küche. Stromausfall. Entweder lag es an dem

Sturm oder der Energielieferant hatte Probleme

oder beides zusammen.

Lukas nahm Streichhölzer aus der Besteckschub-

lade und zündete die petroleumbetriebene Pet-

romax Starklichtlampe an, die eine gute Licht-

quelle abgab und zugleich als kleines, tragbares

Heizgerät diente.

Er schüttete den Kaffee auf, goss ihn nach an-

gemessener Zeit wieder ab und tat noch drei Löf-

fel Zucker hinzu. Mit der Lampe und dem ge-

ballten Koffein-Glukose-Hammer wollte er es

sich im Wohnzimmer bequem machen. Vielleicht

sollte er mal wieder ein Buch lesen. Er war die

letzte Zeit nicht viel zum Lesen gekommen, es

gab einfach zu viel zu tun. Vielleicht sollte er mal

wieder einen der alten Science-Fiction-Romane

125

lesen, die er als Student so gemocht hatte, wo-

möglich etwas von George Orwell, der Schrift-

steller nach dem er seinen Hund benannt hatte,

oder Aldous Huxley oder John Christopher oder

Philip K. Dick ... Einen Moment versuchte er sich

an diese Dystopien zu erinnern, die er mit gro-

ßem Genuss gelesen hatte, wenn das subtile

Grauen dieser Geschichten ihn befiel, und dach-

te, dass diese Männer mit ihren dunklen Zu-

kunftsentwürfen große Optimisten gewesen wa-

ren, wenn man die Welt heute betrachtete. Nicht

nur, dass das Weltwirtschaftssystem im Schock-

zustand war, schon vorher war durch die Daten-

sammelwut des Staates oder das Internet ein Zu-

stand erreicht worden, der George Orwells Alp-

traum in 1984 noch übertraf. Aber es hatte nie-

manden interessiert. Es war nicht nur die staatli-

che Überwachungskultur gewesen, die Men-

schen hatten geradezu danach geschrien, über-

wacht zu werden. Sie überwachten sich sozusa-

gen selbst, man brauchte nicht Orwells „Großen

Bruder“ oder die „Gedankenpolizei“. Jede Ver-

bindung, jede E-Mail, jeder Tastenschlag im In-

ternet wurde gespeichert und jeder hatte ein

126

Mobilfunktelefon, den idealen Peilsender, frei-

willig mit sich herum getragen.

Lukas begab sich ins Wohnzimmer und legte

Holzscheite in den Kamin, blies in die glimmen-

de Glut und sofort begannen die Flammen an

dem trockenen Holz zu lecken. Als er sich um-

drehte, sah er den Hund Orwell mit den Vorder-

pfoten auf dem Fensterbrett stehen, während er

gebannt hinaus in die Nacht starrte. Es stürmte

so stark, dass die Gardinen sich bewegten, ob-

gleich die Fenster verriegelt waren. Überall

krachte es im Haus und manchmal hatte es den

Anschein, als stände jemand seufzend im Flur.

Auf Lukas Armen stellten sich die feinen Här-

chen auf, als er den Hund dort stehen sah. „He!

Was ist los, Orwell?“

Der Hund warf Lukas einen flüchtigen Blick zu

und fuhr fort aus dem Fenster zu starren. Alle

Fenster im Haus besaßen Klappläden, außer das

zum Hof, vor dem Orwell jetzt stand, als wolle er

es bewachen. Vor etwas mehr als einem Jahr hat-

te sich die Verankerung, die im Mauerwerk fest

betoniert war, gelöst und Lukas hatte es noch

127

nicht für nötig empfunden, den Laden zu repa-

rieren.

Alle Läden waren zugezogen und die Türen

verriegelt und so gesehen, war dieses Fenster die

einzige ungesicherte Stelle im Haus. Lukas fühlte

sich betroffen, als er den tapferen Hund dort ste-

hen sah.

Lukas stellte die Lampe auf den Tisch und trat

zwei Schritte heran. „Ist etwas da draußen? Du

tust bestimmt nicht die hinreißende Landschaft

bewundern. Hab ich recht?“

Lukas trat neben den Hund und lugte hinaus,

dabei erschrak er einen Moment vor seinem ei-

genen, übernächtigten Gesicht, das sich in der

Fensterscheibe spiegelte. Er legte die Hand auf

das pelzige Rückgrat. „Was ist, Orwell? Hm?“

Orwell wimmerte unruhig, beinahe genervt.

Lukas ging mit dem Gesicht näher an die Fens-

terscheibe und ließ den Blick über den Hof

schweifen. Da rabenschwarze Nacht war, konnte

man kaum etwas erkennen. Er erahnte den

schneebedeckten Komposthaufen, am Giebel die

Regenfässer und weiter hinten den Gartenzaun.

Über allem tobte eine wilde Flockenschlacht. An-

128

sonsten war nur Dunkelheit in allen Abstufun-

gen und Schneeflocken, die der Wind beinahe

senkrecht über den Boden jagte.

„Da ist nichts, Kumpel. Komm schlafen. Kein

Wetter um sich draußen aufzuhalten, wenn es

sich nicht unbedingt vermeiden lässt“, sagte Lu-

kas zu seiner eigenen Beruhigung, obwohl er es

mit mehr Überzeugung sagte, als tatsächlich

vorhanden.

Orwell warf ihm erneut einen flüchtigen, nichts-

sagenden Blick zu, stellte die Ohren auf und fuhr

mit seiner langatmigen Tätigkeit fort. Langsam

keimte ein unheimliches Gefühl in Lukas auf, das

ihn frösteln ließ. „Du machst mir Angst.“

Orwell wuffte einmal leise.

Es knisterte irgendwo im Gebälk des alten Hau-

ses, sodass Lukas zusammenzuckte. Er maßre-

gelte sich für seine schwachen Nerven und be-

gann mit den Fingern seine Schläfen zu massie-

ren. „Komm jetzt weg vom Fenster, Hund“, sagte

er matt.

Orwell kam der Aufforderung natürlich nicht

nach und ein Teil von Lukas wollte das auch

nicht. Lukas setzte sich auf das Ende des Sofas

129

nahe dem Fenster und begann seinen Kaffee zu

schlürfen, der schon einigermaßen abgekühlt

war. Trotz Kaffee nickte Lukas im Sitzen ein, als

er den Kopf nach einiger Zeit wieder hob und

blinzelte, fand er den Hund immer noch in der

gleichen Haltung vor. Er schlief daraufhin erneut

ein.

Als der Morgen graute und die Sonne allmäh-

lich die Nacht beiseite stieß, löste sich Orwell aus

seiner Starre. Der nächtliche Sturm mit dem

Schneeregen hatte sich verzogen und einem

schneidenden Wind die Vorherrschaft überlas-

sen, der um das Gebäude pfiff und über das freie

Feld fegte. Lukas bekam dies nur am Rande sei-

nes Bewusstseins mit, da er eingeklemmt war in

dem unbestimmten Nebelreich zwischen Schlaf

und Wachen. Schließlich tauchte er doch erneut

in einen unruhigen Schlaf ab, einen von jener

Sorte, der wenig erfrischt und stärkt.

Nicht einmal eine Stunde verbrachte er so, halb

liegend, halb sitzend, als lautes Gepolter ihn aus

dem Schlummer hochfahren ließ.

130

6

Lukas war mit einem Mal hellwach. Jemand

hämmerte an die Haustür. Er glaubte auch Rufe

zwischen den Schlägen zu hören. Er rannte in

den Flur und sah die Haustür an. Jemand schlug

von Außen dagegen. Orwell baute sich davor auf

und bellte.

„Ruhig, Orwell!“, zischte Lukas.

„Hilfe! Bitte öffnen sie!“, kam es gedämpft hin-

ter der Tür hervor.

Für den Bruchteil einer Sekunde stand Lukas

unschlüssig im Hausflur, als Tamara verschlafen

die Treppe hinunter gehetzt kam. „Verdammt!

Was ist hier los?“, sprach sie schrill.

„Da klopft jemand.“

Die Schläge gegen das Türblatt wurden energi-

scher. „Bitte öffnen!“, tönte es erneut.

Lukas fand seine Beherztheit wieder und trat

auf die Tür zu.

„Pass bloß auf!“, sagte Tamara.

„Wer ist da?“, rief Lukas.

131

„Hauptfeldwebel Warstein! Bitte öffnen sie die

Tür!“

Lukas drückte die Klinke herunter und öffnete

die Tür einen Spalt. Davor stand ein Soldat in

Tarnuniform schrecklich zugerichtet, im Gesicht

mit Blut verschmiert und einer Haut so bleich

wie Schnee. In der Hand hielt er eine vollauto-

matische Handfeuerwaffe, wie eine UZI aus ei-

nem Agentenfilm. Der Mann schwankte auf den

Beinen und war arg gezeichnet. Lukas öffnete die

Tür vollständig und setzte an etwas zu sagen:

„Was ...“

„Bitte lassen sie mich herein“, keuchte der Sol-

dat und trat ins Haus ohne die Aufforderung

zum Einlass abzuwarten. Kaum hatte er die

Schwelle überschritten, knickten seine Beine

weg. Lukas bekam ihn erst zu greifen, als er

schon fast auf dem Boden lag. Mit einer kraftlo-

sen Bewegung schob der Soldat Lukas von sich.

„Machen sie zuerst die Tür zu! Verriegeln! Los!“

Lukas versetzte dem Türblatt einen Tritt, sodass

es mit einem Rums ins Schloss fiel. Tamara häng-

te zusätzlich das Kettenschloss ein.

132

„Mein Gott, sie bluten ja überall!“, rief Tamara

entsetzt.

Der Soldat nickte schwach, verdrehte die Augen

und wurde ohnmächtig. Orwell begann wieder

zu bellen.

„Still!“, fuhr Lukas den Hund energisch an. Lu-

kas überlegte einen Moment. „Komm Schatz,

sperr Orwell in die Küche und dann hilf mir den

Mann ins Wohnzimmer zu schaffen.“

Tamara packte Orwell am Halsband, zog ihn un-

ter Widerstand in die Küche und verschloss die

Tür. „Hier bleibst du! Schön brav!“

Die Kleidung des Mannes hing in Fetzen von

ihm und wies an verschiedenen Stellen Blutfle-

cke auf, die sich mit der Tarnfarbe zu einem ab-

stoßenden Farbton mischten. Man konnte nur

schwer sagen, wo die Wunden genau waren. Aus

diesem Grund wusste Lukas nicht recht, wo er

ihn anpacken sollte. Er hatte eine Menge Blut

verloren, das großzügig über den ganzen Körper

verteilt war, vorwiegend an Hals und Händen.

Mit zu Grimassen verzogenen Gesichtern und

abwechselnd Flüche ausstoßend, zogen sie den

Mann ins Wohnzimmer. Dort beugte sich Lukas

133

über ihn und versetzte ihm leichte Ohrfeigen auf

die Wangen, woraufhin der Soldat zu sich kam.

„He, Junge!“, sagte Lukas. „Sie müssen wach

bleiben. Können sie mir sagen, wie schwer sie

verletzt sind?“

Lukas dachte, er würde wieder ohnmächtig

werden, doch dann sagte der Soldat. „Einiger-

maßen schwer, aber ich glaube, es ist nicht ganz

so schlimm.“

„Können sie in etwa sagen wo?“

Er schien zu überlegen. „Oberschenkel, linkes

Bein. Schulter, links. Halsansatz.“

Lukas wandte sich an seine Frau. „Geh in die

Küche, hol den Verbandskasten und saubere

Handtücher und vor allem die große Schere.“

Tamara war schon weg, noch ehe Lukas zu Ende

gesprochen hatte.

„Ruhig. Wir kriegen das schon hin“, redete Lu-

kas auf ihn ein.

Schmerzen zeigten sich in den Augen des Man-

nes, als er sagte: „Ist die Tür verschlossen?“

Lukas schwante Unheil. „Ja, ist sie. Wieso, was

ist da draußen, was hat sie so zugerichtet? Be-

steht Gefahr?“

134

„Ja“, brachte der Soldat hervor. Er antwortete

nicht weiter, da Tamara zurück kam.

„So hier ist alles.“

Lukas packte als erstes die Schere und sagte:

„Ich schneide jetzt die schmutzige Kleidung auf.

Ich werde vorsichtig zu Werke gehen. In Ord-

nung?“ Der Soldat entgegnete nichts und atmete

nur japsend, sodass Lukas sich nicht einmal si-

cher war, ob er ihn gehört hatte. Der Mann stand

wiederum kurz davor ohnmächtig zu werden.

Vorsichtig trennte Lukas das Hosenbein auf. Das

Bein war von der Hüfte abwärts mit geronnenem

Blut überzogen. Ein Stück Fleisch war buchstäb-

lich aus dem Oberschenkel gerissen worden und

baumelte an ein paar Fäden hinab. Ein ähnliches

Bild zeigte sich an der Schulter. Mit einem ge-

wissen Widerwillen und mit wenig geübter

Hand desinfizierte Lukas die Wunden und legte

Druckverbände an, die den Blutfluss stoppen

sollten. Anschließend warf er eine Decke über

den Soldaten und schob ein Kissen vom Sofa un-

ter seinen Hinterkopf.

„Was hat sie angegriffen?“, fragte Lukas und

fürchtete die Antwort.

135

„Hören sie, wir müssen hier weg.“

„Nun ruhen sie sich erstmal aus.“

„Unser Leben ist in Gefahr!“, rief der Soldat. Der

Gefühlsausbruch hatte einen heftigen Hustenan-

fall zur Folge.

Lukas und Tamara tauschten einen bangen

Blick. „Hier, trinken sie das.“ Lukas hielt ihm ein

Glas Wasser hin, in dem Tamara zuvor drei Tab-

letten Paracetamol aufgelöst hatte. „Es wird die

Schmerzen lindern. Und dann sagen sie mir, was

unser Leben bedroht. Wie heißen Sie über-

haupt?“

Der Soldat hielt inne und trank ein paar Schlu-

cke. Schmerz zeigte sich in seinen Augen als er

fortfuhr. „Hauptfeldwebel Warstein ist mein

Name. Ich war den ganzen Tag und die ganze

Nacht bei diesem Sturm da draußen. Wir haben

sie durch das Gelände gejagt.“

„Wer hat was gejagt?“, fragte Lukas.

„Leutnant Schmitt, ich, vier deutsche und drei

französische Kameraden. Leutnant Schmitt und

Feldwebel Michels sind tot. Das weiß ich ganz

bestimmt. Was mit den anderen ist, keine Ah-

nung.“

136

„Was hat sie getötet?“ Lukas hielt ihm das Was-

serglas hin, woraufhin der Soldat trank, während

Tamara ihn am Hinterkopf stützte. Ein Teil der

Flüssigkeit lief an den Seiten die Mundwinkel

hinunter.

„Die Hunde!“, rief der Soldat. Die Aussage

wurde zu einem qualvollen Schrei, als er den

Gedanken daran durchlebte. „Wir dachten im

Ernst, wir könnten sie so mir-nichts-dir-nichts

einfangen.“ Er versuchte sich aufzurichten, aber

die Bewegung hatte einen schmerzhaften Hus-

tenanfall zur Folge.

„Was sind das für Hunde?“, fragte Tamara mit

bebender Stimme.

„Sie sind extrem groß, großes Maul, große Zäh-

ne, schnell wie der Wind, absolut geschärftes

Wahrnehmungsvermögen und hoch intelligent.

Sie hassen uns mit einer Leidenschaft, die nie-

mand versteht.“ Hauptfeldwebel Warstein hielt

inne und schaute sich mit gehetztem Blick um.

„Sie sind ganz in der Nähe.“

„Sie kommen aus Ban Saint Jean, richtig? Mit

was beschäftigt man sich dort?“, fragte Lukas.

137

Bevor er weiter sprach, bat Warstein noch um

das mit Schmerzmittel versetzte Wasser. Als er

wieder das Wort ergriff, klang seine Stimme

deutlicher als zuvor, aber immer noch ange-

spannt. „Mit Gentechnologie beschäftigt man

sich dort. Es ging darum Bakterien und Viren

herzustellen, um Mais und Bananen im Gebirge

wachsen zu lassen, wegen der allgemeinen Nah-

rungsmittelknappheit. Es war aber auch eine

Einrichtung für chemisch-bakteriologische

Kriegsführung. Aber es gibt auch ein Nebenpro-

jekt, wo es nicht nur um Dinge unter dem Mikro-

skop geht.“

„Was ist das für ein Nebenprojekt?“, fragte Lu-

kas.

„Ach, verdammt, ich dürfte ihnen das gar nicht

sagen. Wir alle mussten einen Geheimhaltungs-

eid unterzeichnen. Wenn ich den verletzte, gehe

ich in den Knast.“

„Hören sie mir mal zu, Soldat! Da draußen sind

Hunde oder etwas in der Art, die Menschen tö-

ten, nicht nur ihre Kameraden, auch Leute aus

dem Dorf hat es schon erwischt. Auf ihre natio-

nale Sicherheit, Geheimhaltung, Diensteide und

138

Was-weiß-ich-sonst-noch ist geschissen, wenn

wir hier umgebracht werden. Sie sagen mir jetzt,

was uns da draußen erwartet, oder ich werfe sie

im Namen des Vaterlandes vor die Tür!“

„Lukas, nicht!“, versuchte Tamara zu be-

schwichtigen.

„Nein!“, sagte Lukas kategorisch. „Oben schläft

meine fünfjährige Tochter und das da ist meine

Frau. Sie sind alles, was ich besitze, und ich habe

kein Interesse, dass sie oder ich zu Hackfleisch

verarbeitet werden. Deshalb sagen sie mir sofort,

was sie wissen und dann werden wir alle ge-

meinsam zusehen, wie wir aus dem Schlamassel

hier rauskommen.“

Warstein hob die Hand ein Stück vom Boden,

um sie gleich darauf wieder fallen zu lassen. „Ist

ja schon gut ... Beruhigen sie sich. Ich werde alles

sagen. Ist ja ohnehin egal. Könnte ich noch etwas

von dem Zeug bekommen.“ Lukas hielt ihm das

Glas an die Lippen. Er schloss die Augen und

atmete schnell und rasselnd, als müsse er sich

sammeln. „Wie gesagt, wir wurden eidesstattlich

zur Geheimhaltung verpflichtet. Es ist ein Ver-

teidigungsprojekt, das außer Kontrolle geraten

139

ist. Die Sicherheitsbedingungen waren unzu-

reichend. Jetzt sind sie in Freiheit. Das Projekt

leitet, oder besser gesagt leitete, ein gewisser Dr.

Roth.“

„Leitete?“, fragte Lukas.

„Ja, auch er ist tot, zusammen mit den ganzen

anderen Weißkitteln. Er hat sich an die Gene von

Hunden rangemacht, er arbeitete daran, mit Hil-

fe von Gentechnologie Tieren eine höhere Intelli-

genz zu verschaffen, damit sie lernen zu verste-

hen, Wissen anwenden oder Probleme lösen

können – beinahe wie menschliches Denken. Das

Team um Dr. Roth arbeitete seit drei Jahren an

verschiedenen Experimenten, auch mit Samen

und Eizellen. Hündinnen bekamen in vitro wel-

che eingepflanzt und trugen die Welpen aus. Es

waren deutsche Doggen. Anfangs sah es gut aus,

abgesehen von ein paar Fehlschlägen mit grotes-

ken Mutationen, Todgeburten – recht schreckli-

che Resultate, die rasch beseitigt werden muss-

ten. Letztlich klappte es mit vier Welpen. Als sie

noch klein waren, sah es aus, als ständen gesun-

de und intelligente Tiere für weitergehende Ver-

suche zur Verfügung. Keine Abnormitäten, keine

140

Mutationen oder ungewollte Nebeneffekte bei

der Manipulation des Erbgutes der Tiere. So hat-

te es zumindest den Anschein.

Als sie heranwuchsen, zeigte sich, dass sie nicht

nur klüger als andere Hunde werden sollten,

sondern auch ihr physisches Erscheinungsbild

änderte sich. Sie wurden 15-20% größer als diese

Rasse gewöhnlich wird, ihr Kopf auch, da sie

mehr Gehirn hatten, weil sie ja intelligenter wa-

ren, was das erklärte Ziel war. Verflucht! Sie

denken fast wie Menschen!“

Warstein schien die Worte aus tiefster Seele em-

por zu quälen. Es hörte sich an, als halle seine

Stimme tief aus einem Brunnen herauf. Er huste-

te erneut und bat um Wasser, danach sahen Lu-

kas und Tamara hilflos zu, wie ein krampfartiger

Schmerz seinen Körper schüttelte. Als er sich

wieder gefangen hatte, sagte er: „Die Götter in

Weiß hat es zuerst erwischt.“ Der Soldat verzog

den Mund zu einem freudlosen, geisterhaften

Lachen.

Lukas starrte einen Moment ins Leere und wun-

derte sich über den empörenden Schöpfungsakt.

„Siehst du, Tamara, ich wusste, dass sich dort

141

etwas zusammen braut.“ Er wandte sich an den

Soldaten. „Warum machen Forscher so etwas?“

„Spionagemöglichkeiten. Der Staat ist so gut wie

zahlungsunfähig. Alles was ihn zusammenhält

ist noch der Glaube an das alte System. Man

muss jedoch weiter denken. Welche Dinge haben

in Zukunft Sinn? Man braucht sich nur die Welt

anzusehen, um zu wissen, dass es in Zukunft

verstärkt um innere und äußere Sicherheit gehen

wird. Jede Krise hat einmal ein Ende, auch diese.

Doch diese wird die Welt vollkommen verän-

dern. Die Staaten werden sich wieder auf sich

selbst konzentrieren. Globalisierung adé. Man

wird wieder Grenzen errichten, die man vor Jah-

ren erst niedergerungen hat. Die Tendenz geht

zum eigenen Land, zum Stamm, zur Sippe, zur

Familie. Wenn Güterknappheit herrscht, sind

Kriege wahrscheinlicher, doch für teure Waffen-

systeme ist kein Geld da, also züchtet man diese

Hunde, die ins Feindgebiet eindringen können,

um Gegebenheiten auszukundschaften. Danach

kehren sie zurück und berichten, durch eine

komplizierte Zeichensprache, eine Art Frage-

Antwort-Kommunikation. Dr. Roth hatte sogar

142

als Fernziel, Hunde mit Sprechapparat zu züch-

ten, Lippen, eine entsprechende Zunge dazu und

so weiter. Ganz schön unheimlich, nicht? Sie soll-

ten willige Werkzeuge sein wie Polizeihunde o-

der Delphine, die man in Kriegszeiten darauf ab-

richtet Sprengladungen an gegnerische Schiffe

und U-Boote anzubringen. Jedoch im Gegensatz

zu Delphinen besitzen diese Kreaturen eine an-

geborene Boshaftigkeit und Feindseligkeit. Sie

sind klug, widerstandsfähig, gefährlich und wie

sich herausstellte unbeherrschbar.“ Schweißper-

len hatten sich auf seiner Stirn gebildet, die

Tamara mit einem Tuch abtupfte. Durch das an-

gestrengte Erzählen war sein Atem noch flacher

geworden. „Dann vor zwei Tagen entkamen sie.“

„Wie konnte das passieren?“, fragte Lukas.

„Es sind nicht die Zeiten für akzeptable Sicher-

heitsvorkehrungen und Krisenteams, die alles

wieder ins Lot bringen, wenn mal was falsch

läuft. Fragen sie mich nicht wie, aber es muss

durch eine ganze Reihe unglaublich geschickter

Handlungen erfolgt sein. Die Laboratorien be-

finden sich im unterirdischen Komplex unseres

143

Militärlagers. Sie tricksten das mangelhafte, aber

dennoch vorhandene Sicherheitssystem aus.“

„Warum töten sie, vor Hunger?“, fragte Tamara.

„Nein, ich denke nicht, oder zumindest nicht

nur.“ Er packte Lukas, der neben ihm kniete der-

art heftig an der Schulter, dass dieser sich wun-

derte, dass der Mann noch imstande war soviel

Kraft aufzubringen. „Sie empfinden Hass gegen-

über dem Menschengeschlecht! Es wurde erst die

letzten Wochen offenbar, aber das Herummurk-

sen an multiplen Genen, um komplexe Verhal-

tensmuster über höhere Hirnrindenfunktionen

zu kontrollieren, machte sie letztlich geistes-

krank, voll Hass – jeden der Hunde auf die ein

und selbe Weise. Affektiv hoch motiviert.“

Lukas verharrte eine Weile unschlüssig. Sein

Blick wanderte von Tamara und dem Soldaten

hin und her, der übel zugerichtet aussah und

bleich war wie Schnee. „Vor die Tür gehen wir

vorerst besser nicht. Ich könnte per Funk Hilfe

aus dem Dorf anfordern. Die Telefonnetze funk-

tionieren schon seit Monaten nicht mehr. Ich ha-

be eine kleine CB-Mobilfunkstation. Die Funker-

kollegen aus dem Dorf haben versprochen, wenn

144

Strom das ist – was im Moment hoffentlich wie-

der der Fall zu sein scheint –, immer auf Standby

zu sein.“

Da niemand Widerspruch einlegte, ging Lukas

in die Ecke zu dem kleinen Sekretär auf dem das

Gerät stand. Er schaltete es an und drehte an der

Feineinstellung. „Strom scheint schon mal da zu

sein.“ Er drückte den Sendeknopf. „Hallo! Hier

spricht Lukas Falkenstein, mein QTH ist der Ein-

ödhof, Donnersbergstraße 1, ist jemand auf Emp-

fang? Wir haben einen Notfall, einen Verletzten.

Erbitte um Antwort.“

Er wartete eine Weile und als niemand antwor-

tete, versuchte er es erneut. Doch alles was er

hörte, war statisches Rauschen.

„Vielleicht schlafen die alle noch“, sagte Lukas

und warf einen Blick aus dem Fenster, wo er sei-

nerzeit die Funkantenne in Brusthöhe an der

Hauswand angebracht hatte. Obwohl er damit

ein gewisses Maß an Sendeleistung einbüßte,

hatte er es damals tunlichst vermieden, die An-

tenne auf dem alten baufälligen Dach zu instal-

lieren. Das Kabel, das von der Station durch die

Hauswand gelegt war und den dünnen Mast

145

hochkletterte, war abgerissen, genauso die An-

tenne, welche sich aus der Halterung gelöst hatte

und auf dem Boden lag.

„Oh, verdammt. Das Ding kann gar nicht funk-

tionieren. Das Antennenkabel ist ab und die An-

tenne auch. War vermutlich der Sturm heute

Nacht.“

„Oder die Hunde haben den Zweck der Anten-

ne erkannt und sie bewusst zerstört“, sagte War-

stein gequält. „Die Viecher sind mit Sicherheit

ganz in der Nähe.“

Angst kroch in Lukas hoch, als er die Worte des

Soldaten vernahm.

„Wir müssen zusehen, dass wir hier wegkom-

men“, sagte Warstein mit Nachdruck.

„Was ist, wenn wir uns verbarrikadieren und es

aussitzen. Irgendwann ziehen sie doch bestimmt

weiter“, schlug Tamara vor. „Wir verrammeln

die Eingänge und Fenster, Vorräte haben für

Wochen im Haus. Wir sitzen die Sache einfach

aus.“

„Das überlebe ich nicht“, sagte der Soldat. „Ich

brauche dringend medizinische Hilfeleistung.“

146

„Er hat recht, sein Zustand ist kritisch“, sagte

Lukas an Tamara gewandt.

„Was schlägst du vor?“, fragte Tamara.

„Wir nehmen den Wagen“, entgegnete Lukas.

Sie bedachte ihn mit einem ungläubigen Blick.

„Diese alte Blechdose hat doch schon damals

nicht richtig funktioniert. Wie kommst du da-

rauf, dass sie es jetzt tut?“

Lukas zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es

nicht. Zumindest war die Schleuder am Schluss

noch fahrtüchtig und Benzin muss auch noch

drin sein. Das letzte Mal benutzte ich den Wa-

gen, als die Benzinversorgung zusammenbrach.“

Er zählte an den Fingern. „Das ist jetzt über ein

halbes Jahr her.“

„Wenn die Batterie die Kälte überstanden hat,

stehen die Chancen gut“, sagte Warstein kraftlos.

„In Ordnung. Für Reparaturen ist ohnehin keine

Zeit. Tamara, bist du damit einverstanden, dass

wir es versuchen?“ Sie nickte. „Dann ziehen wir

uns jetzt an und wecken die Kleine. Pack ein

paar Sachen in eine Tasche, wir schnappen uns

Orwell und verduften von hier.“ Er wandte sich

147

an Warstein. „Und sie versuchen um jeden Preis

wach zu bleiben. Verstanden?“

Der Versehrte nickte unverbindlich und sein

Brustkorb hob und senkte sich unter den kurzen

Atemstößen. Lukas und Tamara gingen ins

Obergeschoss, um sich im Schlafzimmer anzu-

ziehen. Lukas zog zwei dicke Wollpullis unter

seinen Mantel. Tamara zog sich ebenfalls an,

band ihre blonden Haare mit einem Gummi zu-

rück und begann verschiedene Utensilien in eine

Sporttasche zu packen. Lukas überprüfte in der

Zwischenzeit, ob Andreas Schrotflinte geladen

war und stopfte sich die Seitentaschen seines

Mantels mit Munition voll. Anschließend ging er

in Isabelles Zimmer, um sie zu wecken und an-

zuziehen. Als er die graue Gestalt vor dem Bett

seiner Tochter entdeckte, war ihm, als rühre je-

mand mit einem Stock in seinem Magen.

Der Graue hatte sich über das Kind gebeugt und

betrachtete es in ekstatischer Verzückung. Seine

ätherischen, feinstofflichen Hände schwebten

dicht über Isabelle, als wollte das Wesen seine

Konturen in der Luft nachziehen. Lukas kämpfte

den Brechreiz nieder, als er sah, wie die Nüstern

148

des Besuchers aus der Hölle sich ständig weite-

ten und wieder kleiner wurden, als inhaliere er

die ätherisch-geistigen Ausdünstungen, die Le-

bensenergie, des Mädchens. Dabei leckte er sich

mit der Zunge über die blutleeren Lippen.

Im Moment darauf hielt er von seiner Verrich-

tung inne und warf sich mit einer blitzartigen

Bewegung auf das Bett, wo er sich mit reptilien-

hafter Geschmeidigkeit am Körper des Kindes

rieb. Lukas unterdrückte einen Aufschrei, löste

sich aus seiner Erstarrung und stürmte zum Bett.

Obwohl er wusste, dass von dem Grauen keine

unmittelbare Gefahr ausging, erkannte er den-

noch, dass etwas Schlimmes geschehen würde, in

das auch Isabelle verwickelt wäre. Für Lukas war

die Anwesenheit des Grauen das unumstößliche

Zeichen dafür, dass Gefahr unmittelbar drohte.

Wo Leid und Pein sich anbahnten, zog es sie hin,

um sich an den niederen Emotionen zu nähren.

Etwas unsanft rüttelte Lukas seine Tochter aus

dem Schlaf, dabei merkte er, dass seine Hände

zitterten. Isabelle blinzelte verstört. „Was ist

denn, Papa?“

„Komm, mein Schatz, du musst aufstehen.“

149

Sie kroch auf seinen Arm, und er drückte sie an

sich. „Ich hatte einen bösen Traum“, piepste sie.

„Ja, tatsächlich. Was hast du denn so schlimmes

geträumt?“

Sie überlegte kurz. „Ich weiß nicht.“

Lukas setzte sie auf seinem Schoß zurecht und

sah ihr in die Augen, dabei fuhr er ihr über den

Kopf und strich eine widerspenstige Haarsträhne

hinter ihr entzückendes Ohr. „Hör mal, mein

Schatz. Wir haben da ein kleines Problem, und

das ist auch der Grund, warum ich dich so früh

aufwecke. Unten bei uns im Wohnzimmer liegt

ein kranker Mann, der vorhin bei uns an die Tür

geklopft und uns um Hilfe gebeten hat.“

„Was hat er denn?“, fragte Isabelle, die nun mit

einem Mal hellwach war.

„Ach, weißt du, er hat sich irgendwo ziemlich

weh getan, deshalb müssen wir ihn zu einem

Arzt bringen, damit der ihm eine Spritze gibt.“

Sie verzog das Gesicht. „Eine Spritze! Ich will

keine Spritze bekommen.“

„Aber er braucht dringend eine Spritze. Du na-

türlich nicht.“

„Dann ist ja gut.“

150

Lukas überlegte einen Moment, ob er ihr die Sa-

che mit den Hunden auch erzählen sollte und

entschied sich schließlich für eine abgeschwächte

Version. Es wäre besser, sie in homöopathischen

Dosen damit zu konfrontieren, dachte er sich,

andererseits sollte es sie aber auch nicht unvor-

bereitet treffen. „Da ist noch eine Sache und zwar

die mit den Hunden, die vielleicht draußen vor

unserem Haus oder im Wald herum streifen.“

„Können die uns beißen?“

„Ja, wenn wir nicht aufpassen.“

„Tut das dann weh?“

„Ja, das tut ziemlich weh. Aber ich habe ja mein

Gewehr, weißt du.“ Er hob das Gewehr kurz

hoch, das er kurz zuvor an den Bettpfosten ge-

lehnt hatte und versuchte ein vergnügliches Ge-

sicht zu machen. „Wenn sie kommen, dann kann

ich damit solch einen Lärm veranstalten, dass sie

fortlaufen.“

Sie sah die Waffe und kaute einen Augenblick

nachdenklich auf der Unterlippe. „Du könntest

sie auch totschießen.“

Lukas schluckte. „Ja, im Notfall mache ich das,

um Mami und dich zu schützen. Du brauchst al-

151

so überhaupt keine Angst zu haben.“ Er legte

mehr Selbstvertrauen in die Stimme als tatsäch-

lich vorhanden war.

„Bekomme ich noch Frühstück?“

„Äh ... Mami packt dir was ein, für unterwegs.

Aber jetzt ziehen wir dich erst einmal an.“

Lukas steckte seine Tochter in zwei Schichten

Kleider, ging mit ihr nach unten, wo sie den Sol-

daten auf dem Boden im Wohnzimmer musterte

wie ein seltenes Insekt. Nachdem Tamara dem

Verletzten noch einmal drei Schmerztabletten

eingeflößt hatte, schickten sie sich an, das Haus

zu verlassen. Als sie die Haustür öffneten, be-

merkte Lukas den Grauen hinter sich, der ihnen

seit Isabelle aufgestanden war auf Schritt und

tritt folgte.

Mit dem Lauf der Flinte voran, trat er vor die

Tür. Es war klirrend kalt, Nebel wälzte sich über

den Hof. Sein Blick suchte das Gelände ab, so-

weit die Sicht es zuließ. Tamara folgte dicht hin-

ter ihm mit Isabelle auf dem Arm und Orwell an

der Leine gepackt, der sich eines tiefen Knurrens

nicht erwehren konnte. Man sah deutlich, dass

ihn etwas nervös machte.

152

„Halts Maul, Orwell!“, zischte Tamara sichtlich

nervös.

„Ich glaube, die Luft ist rein. Also, ihr drei setzt

euch auf den Rücksitz. Ich gehe danach Warstein

holen“, sagte Lukas.

Der Wagen stand nur wenige Schritte neben

dem Haus unter einem primitiven Unterstand,

bestehend aus rohen Holzbalken und Fieber-

glasdach. Nachdem Lukas den Schlüssel im Tür-

schloss gedreht hatte, gab die Zentralverriege-

lung einen widerstrebenden Laut von sich. Die

Tür war ein wenig vereist, deshalb musste Lukas

mehrmals kräftig ziehen, bis sie mit einem

schmatzenden Geräusch sich aus dem Rahmen

löste. Er warf die Tasche mit dem Notgepäck auf

die Ablage hinter dem Rücksitz des altersschwa-

chen Autos. Tamara, Isabelle und der Hund

schlüpften nacheinander hinein.

Als Lukas zurück ins Wohnzimmer kam, war

Warstein bereits auf den Füßen, doch er

schwankte und seine Hand schwebte unschlüs-

sig und nach Halt suchend in der Luft, während

seine andere die Handfeuerwaffe umklammerte.

Lukas packte ihn wortlos am Oberarm und gelei-

153

tete ihn zur Haustür, dabei knickten dem Soldat

mehr als einmal die Beine weg und Lukas muss-

te seine ganze Kraft aufbieten, damit er nicht hin-

fiel. Warstein mobilisierte offensichtlich seine

letzten Kraftreserven, es wäre nur noch eine Fra-

ge der Zeit, bis er sein Bewusstsein verlieren

würde. Die wenigen Schritte waren für ihn of-

fensichtlich eine einzige Tortur, die er aber tapfer

ertrug.

Sie traten ins Freie. Auf halbem Weg zwischen

Haustür und dem Wagen flog plötzlich ein lang-

gestreckter, formloser Schatten auf sie zu. Der

Anblick war entsetzlich und unwirklich zugleich,

wodurch er jedoch nichts von seinem Schrecken

einbüßte. Am liebsten hätte Lukas geschrien,

doch kein Laut entrang sich seiner Kehle. Er ließ

Warstein los und legte das Gewehr an. Alles ging

mit rasender Geschwindigkeit. Lukas hörte das

Schnappen der unvorstellbar starken Kiefer und

musste mit ansehen, wie der riesige Hund sich in

den linken Unterarm des Soldaten verbiss. War-

stein, der nicht die Kraft hatte entsprechend zu

reagieren, wurde zu Boden geworfen und verlor

seine Waffe, die im Schnee versank.

154

Der Soldat schrie wie am Spieß, unter das Ge-

schrei mischte sich ein abartiges Reißen und Bre-

chen von Knochen, Sehnen und Muskeln. An der

Stelle, wo vorher die Hand gewesen war, pulste

nun Blut in Stößen aus einem Armstumpf und

besprühte die nähere Umgebung. Die herrenlose

Hand versank abgebissen im Schnee. Mit gequäl-

tem Gesichtsausdruck zielte Lukas und drückte

ab. Die Geschosse der Schrotflinte streiften den

Hund im Nacken, wo sie das Fell wegfetzten und

eine blutige Spur hinterließen, was aber ausreich-

te, den Hund ein paar Schritte zurückweichen zu

lassen.

Warstein, der sich wie wahnsinnig gewehrt hat-

te, schrie mit spitzen Schreien seinen Schmerz

heraus und versuchte verzweifelt den Blutfluss

zu stillen, indem er den Stumpf gegen den Un-

terleib drückte. Mehr aus Zufall fand seine un-

versehrte Hand, die im Schnee versunkene Waf-

fe. Mit dem verletzten Arm stemmte er sich in

die Höhe, zielte mit einer Grimasse des Schre-

ckens auf den Hund, der in unmittelbarer Nähe

stand und drückte ab. Der Schuss verfehlte das

Tier nur knapp und schlug Funken an der

155

Hauswand wie ein Meteor, der in die Erdat-

mosphäre eindringt.

Das Tier schien davon jedoch unbeeindruckt.

Mit einem kraftvollen Satz landete der vierbeini-

ge Killer direkt vor ihnen. Die schnappenden

Kiefer hatten es erneut auf Warstein abgesehen

und steuerten ihr Ziel an. Im selben Moment

drückte Lukas mit einer Geistesgegenwart, die

ihn selbst verblüffte, erneut ab. Die Wucht der

Schrotkugeln traf das Ungetüm mit der Gewalt

eines Faustschlages und fegte einen Teil des

massigen Schädels fort. Hirn- und Gewebemasse

flogen umher und klatschten gegen die Haus-

wand, um daran hängen zu bleiben. Der riesige,

muskulöse Körper kippte um und blieb reglos

auf der Seite liegen.

Es dauerte nur wenige Sekunden, und Lukas

musste mit Bestürzung feststellen, dass sich im-

mer noch die Hinterläufe des Tieres bewegten.

Dabei handelte es sich vermutlich um die letzten

Todeszuckungen, die letzten neuronalen Aktivi-

täten, wo das Gehirn noch ein paar Botenstoffe

ausschüttet und der Organismus zum Erliegen

156

kommt, was sich in ein paar unkoordinierten

Bewegungen äußert.

Als der geschundene Körper jedoch versuchte

aufzustehen, ging dies über alles Verstehen, und

Lukas packte das vollkommene Entsetzen. Lukas

riss sich von dem Anblick los und lud nach.

Nachdem er zwei neue Patronen aus der Mantel-

tasche gezittert hatte, legte er an und schoss dem

Tier in den Rumpf. Der Körper wurde wieder

zurück geworfen, und der Leib platzte auf, wo-

bei sich Ströme frischen Blutes daraus ergossen,

die sich mit dem Schnee zu einem abstoßenden

Farbton mischten.

Mit keuchendem Atem betrachtete Lukas den

Leichnam, der sich plötzlich in einer unendlich

mühsam erscheinenden Bewegung herum drehte

und mit den Hinterläufen durch den Schnee mit

unaufhaltsamer, nervenzerstörender Langsam-

keit in ihre Richtung kroch. Roter Schaum tropfte

von den Lefzen, und der Brust entrang sich ein

tiefes, drohendes Geräusch, kein Knurren, son-

dern etwas das viel bedrohlicher klang. Im da-

rauffolgenden Moment knallten zwei Schüsse

durch die Morgenluft wie Peitschenschläge.

157

Warstein jagte dem Tier zwei Kugeln in den

Kopf, sodass es endgültig liegen blieb.

Lukas ersparte es sich noch einmal hinzuschau-

en und wuchtete Warstein unter kläglichen

Schmerzensschreien hoch. Sie machten einen

weiten Bogen um den Kadaver. Am Auto riss

Lukas die Tür auf und wuchtete den Verwunde-

ten auf den Beifahrersitz. Isabelle hatte ihr Ge-

sicht in ihrer Mutter Schoß vergraben und wein-

te, Tamara schaute Lukas mit Angst geweiteten

Augen an und Orwell bellte ohne Unterlass. Be-

hände lief Lukas um den Wagen herum, öffnete

die Fahrertür und warf sich hinter das Steuer.

Während er die Schlüssel aus der Tasche zitterte,

sagte er: „Tamara, gib ihm ein Handtuch oder

etwas in der Art.“

Tamara kam der Aufforderung nach, riss die Ta-

sche von der Ablage und förderte ein blütenwei-

ßes Handtuch zutage. Lukas riss es ihr aus den

Händen und legte es behelfsmäßig um den Arm-

stumpf. „Sie müssen draufdrücken, um den Blut-

fluss zu stillen.“

Warstein nickte kaum merklich, kam jedoch mit

zusammengebissenen Zähnen und schweißglän-

158

zender Stirn der Aufforderung nach. „Hören

sie!“

„Was ist?“, fragte Lukas.

Warstein deutete auf die Maschinenpistole auf

seinem Schoß. „Ich glaube, ich werde bald ohn-

mächtig. Das da nennt man eine vollautomati-

sche Handfeuerwaffe. Schätze, es sind noch etwa

dreißig Schuss im Magazin. Nehmen sie sie.

Wenn sie feuern müssen, dann möglichst beid-

händig. Verstanden?“

Lukas nickte. Mit fliegenden Fingern rammte er

den Schlüssel ins Zündschloss, dabei sandte er

Stoßgebete zum Himmel, dass die Karre an-

springen würde, weniger aus Frömmigkeit, son-

dern aus purer Verzweiflung. Der Motor stotter-

te, sprang aber nicht an. Lukas versuchte die an-

brandende Panik nicht aufkeimen zu lassen, trat

mehrmals die Kupplung und das Gaspedal und

versuchte es erneut. Der Motor stotterte protes-

tierend.

„Funktioniert es nicht?“, fragte Tamara.

Lukas gab keine Antwort und drehte der

Schlüssel herum. Jeden Moment rechnete er da-

159

mit, dass die anderen drei Hunde einträfen und

sie angreifen würden.

Das Wunder geschah. Nach kurzem Stottern

heulte der Motor auf und blieb an. Lukas ramm-

te den Gang hinein und löste die Handbremse.

Sie würden sich nun schleunigst vom Acker ma-

chen.

Hoch konzentriert steuerte er das Gefährt mit

der völlig unangemessenen Bereifung über die

Schneedecke durch den Hof und die Auffahrt

hinunter, wo er rechts Richtung Wald abbog, um

ins Dorf zu gelangen. Der Wind hatte wieder be-

gonnen unheilvoll zu blasen und trieb dicke

Schneeflocken gegen die Heckscheibe, als wollte

er ihnen die Nutzlosigkeit ihres Unterfangens

vor Augen führen. Lukas schaltete die Schei-

benwischer an. Der harte Schnee gab unter den

Reifen laut knirschende Geräusche von sich. Als

sie auf dem breiten Fahrweg in den Wald einfuh-

ren, war es dort noch verhältnismäßig dunkel,

sodass Lukas die Scheinwerfer einschaltete. Ne-

bel umstrich die Bäume wie Zuckerwatte und

Lukas glaubte sich ständig aus dem Gebüsch

heraus beobachtet.

160

Plötzlich soff der Motor ab.

„Was ist passiert?“, fragte Tamara.

„Ich glaube, er ist abgesoffen.“

Lukas brachte den Wagen auf dem glatten Un-

tergrund sachte zum Stehen und hielt in ge-

spannter Erwartung den Atem an, als er die

Zündung erneut betätigte. Glücklicherweise

sprang er an und Lukas ließ den Motor ein paar

Mal aufheulen, indem er mit dem Gaspedal

spielte. Als er den Blick wieder hob, sah er zehn

Meter vor sich, mitten auf dem Weg, einen der

Hunde sitzen, der hoch aufgerichtet und dro-

hend sich vor ihnen aufbaute, als gäbe es auf der

ganzen Welt nichts, was eine Gefahr für ihn dar-

stellte.

„Oh, Scheiße!“, keuchte Lukas und registrierte,

dass Warstein richtig prophezeit hatte, ohnmäch-

tig zu werden. Das Blut, das fortwährend aus

dem Armstumpf pulste hatte mittlerweile das

Handtuch komplett durchweicht.

„Kannst du ihn nicht einfach überfahren“, tönte

Tamara vom Rücksitz aus im Flüsterton.

Im selben Moment ging Lukas auf, dass das Ein-

zige was sie von dieser Mordmaschine trennte

161

eine dünne Glasscheibe war. „Nein, so dumm ist

er nicht.“ Für einen Moment erwog Lukas, ob

Hupen vielleicht etwas nützen könnte, kam sich

aber bereits kurz darauf töricht vor. „Ich werde

versuchen die Böschung dort runter zu fahren.

Da stehen nicht viele Bäume, da kommen wir

durch. Haltet euch fest!“

Da niemand widersprach, ließ er den Wagen

zwei bis drei Meter Rollen und trat dann das

Gaspedal durch. Die Böschung hinunter schlin-

gerte der Wagen und versuchte nach allen Seiten

auszubrechen. Wie ein Irrsinniger kurbelte Lukas

am Lenkrad und steuerte so gut es ging dagegen,

doch ihr Gefährt reagierte nur mit noch wilderen

Stößen. Zwischendurch brachte er den Mut auf,

einen Blick in den Rückspiegel zu werfen, doch

der Hund stand immer noch an derselben Stelle,

mit geradezu stoischer Gelassenheit, welche die

Flüchtenden zu verspotten schien. Nachdem sie

den Hang hinunter gelangt waren, kamen sie

wieder auf den Hauptweg. Von dieser Stelle aus

war es noch einen guten Kilometer ins Dorf.

Wenig später gelangten sie an eine Weggabe-

lung. Als Lukas die riesige Fichte gewahrte, die

162

der Sturm von heute Nacht niedergestreckt hatte,

die quer über dem Weg lag und ein Weiterfahren

verhinderte, entrang sich ihm ein Ton der Resig-

nation. Zugleich genügte ein Blick in den Rück-

spiegel, um zu sehen, dass der Verfolger nicht

abgeschüttelt war. Zu dem einen Hund hatte sich

noch ein anderer gesellt.

„Sie sind hinter uns. Verdammt!“ Er schlug mit

der flachen Hand auf das Lenkrad.

„Dann nimm den anderen Weg!“, sagte Tamara.

Da ihm nichts Besseres einfiel, trat er das Gas-

pedal durch und nahm den anderen Weg, der je-

doch tiefer in den Wald führte anstatt heraus.

„Ich habe Angst, Papa!“, meldete sich Isabelle.

„Kein Problem, Schatz. Alles wird gut. Vertrau

mir“, entgegnete Lukas und versuchte seine

Worte belanglos klingen zu lassen.

Der Untergrund und der fast gerade Weg er-

laubten ihm schneller zu fahren, was Lukas auch

tat. Bald waren die Hunde aus dem Rückspiegel

verschwunden.

„Wohin führt dieser Weg?“, fragte Tamara.

„Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, da

muss irgendwo ein Kloster in der Nähe sein. Im

163

Sommer bin ich mit Orwell mal dort vorbei spa-

ziert.“

„Wusste gar nicht, dass wir hier ein Kloster ha-

ben“, sagte sie.

„Es liegt einigermaßen abgelegen im Wald, aber

vielleicht kann man uns dort helfen. Benediktiner

sind es, glaube ich – Schwarzkutten.“

„Tatsächlich“, sagte Tamara, strich Isabelle über

den Kopf und warf unbehagliche Blicke nach

beiden Seiten.

Bald schon glaubte Lukas die schwarze Silhouet-

te eines hoch aufragenden Gebäudes zu erken-

nen. Mit neu erwachter Hoffnung beschleunigte

er nochmals den Wagen. Der Weg zu dem Ge-

bäudekomplex verlief leicht abschüssig, bis zu

einer Biegung und stieg dahinter ebenso sanft

wieder an. Das Klostergebäude lag an einem

schmalen Fluss, dessen Oberfläche zugefroren

und unter Neuschnee beerdigt war. So dicht wie

möglich fuhr Lukas vor das Tor, welches aus ho-

hen Gitterstäben bestand und zu beiden Seiten in

eine ebenso hohe Mauer überging. Er bremste

behutsam. Tor und Mauern waren zusätzlich

noch mit Stacheldraht gesäumt – man schien hier

164

nicht nur auf Gottes Schutz zu vertrauen. Bevor

er ausstieg, ergriff er die Handfeuerwaffe von

Warstein und sagte zu Tamara: „Wartet hier.“

Er verließ den Wagen und schritt auf das Tor zu,

wandte den Kopf beim Gehen um und sah den

Weg zurück, wie sie ihn durch den jungfräuli-

chen Schnee gekommen waren. Der Winterwald

wirkte verträumt und romantisch wie auf einer

Postkarte. Da jedoch Angst Lukas‘ ständiger Be-

gleiter war, besaß der Anblick jedoch nicht jene

verklärt-romantische Faszination, die den Be-

trachter in Verzücken versetzt.

Er rüttelte an den rostigen Stäben des schmiede-

eisernen Tores, welches ihnen den Weg versperr-

te. Es war natürlich abgeschlossen. Ebenso schie-

nen die massive Umfassungsmauer und der Sta-

cheldraht an keiner Stelle unterbrochen zu sein.

Die Anlage wirkte mehr wie eine mittelalterliche

Trutzburg als ein Kloster, in dem alles der

gleichmäßigen Gelassenheit von Gebet und Ar-

beit unterlag. Wütend riss Lukas an den Gitter-

stäben, die wie zu erwarten nicht einmal einen

Millimeter nachgaben. Ein Fluch entfuhr seinen

Lippen, jedoch kurz darauf entdeckte er im un-

165

scheinbaren Grau ein dünnes Kunststoffkabel,

das sich die Steinsäule hoch wand und von ei-

nem dünnen Eispanzer überzogen wurde. Es

mündete in einem ebenso unscheinbaren Klin-

gelknopf aus Messing, der in den Stein eingelas-

sen war und auf dem sich Grünspan gebildet

hatte. Ohne einen weiteren Gedanken zu ver-

schwenden, drückte Lukas gleich mehrmals da-

rauf, wartete ein paar Augenblicke und drückte

erneut.

In seinem angespannten Zustand hatte er jedes

Zeitgefühl verloren, aber es vergingen zwei Mi-

nuten, ohne dass eine Reaktion auf ihr Klingeln

erfolgte. Womöglich besaß die Klingelvorrich-

tung auch nur rein symbolischen Wert.

„Tut sich nichts?“, hörte er Tamara aus dem

Wagen rufen.

„Nein, sieht nicht so aus.“

„Sollen wir nicht besser umkehren?“

„Und wo sollen wir dann hin, etwa nach hau-

se?“

Plötzlich stellten sich Lukas feine Nackenhaare

auf, als wollten ihm seine paranormalen Anten-

nen etwas signalisieren. Er konnte es nicht sehen,

166

aber dort hinten im Gebüsch war etwas, dass ihn

aus dem Unterholz anstarrte. Praktisch im selben

Moment sah er die beiden Grauen, die lässig an

der Umfassungsmauer wenige Meter neben ihm

lehnten, um das sich anbahnende Geschehen zu

beobachten.

Angst würgte Lukas mit kalter Klaue, er legte

seine Finger fester um die Waffe, doch der Kon-

takt mit dem kühlen Metall, das gut ausbalan-

ciert in seiner Hand lag, trug nur wenig zu seiner

Beruhigung bei. Im selben Moment bemerkte er

ein Geräusch in seinem Rücken und sah, nach-

dem er den Blick dorthin gewandt hatte, zwei

der Schwarzkutten die Auffahrt hinunter eilen.

„Bitte beeilen sie sich“, rief Lukas den Mönchen

zu und hielt die Waffe so, damit sie nicht gese-

hen wurde, da sie vermutlich nicht dazu beitra-

gen würde ihnen das Tor zu öffnen. „Wir brau-

chen ihre Hilfe, wir haben einen Verletzten.“

Die beiden Mönche erreichten das Tor und öff-

neten es von innen anstandslos mit einem

Schlüssel. Das Tor quietschte, als sie es aufdrück-

ten. „Kommen sie herein, schnell, sagte einer von

167

ihnen. Lukas gab Tamara mit einem Wink zu

verstehen aus dem Auto zu steigen.

„Nun, kommen sie schon. Beeilung! Wir wissen,

vor was sie auf der Flucht sind“, drängte der

Mönch.

Anfangs sträubte Orwell sich und wollte nicht

das Auto verlassen, doch als Tamara ihn von der

Rückbank stupste, drängte Orwell voran und

zog Tamara und Isabelle an der Leine buchstäb-

lich durch den Spalt, den die Mönche am Tor ge-

öffnet hatten.

Als Letztes mussten sie Warstein holen.

„Helfen sie mir, bitte“, sagte Lukas. „Der Mann

ist schwer verletzt und ist ohnmächtig gewor-

den. Er hat Unmengen an Blut verloren.“

Der Mönch zögerte einen Moment, deutete Lu-

kas aber dann mit einer Geste an, voran zu ge-

hen. Als er die Autotür öffnete, fiel Warsteins

Oberkörper ihm entgegen. Der Mönch ging so-

gleich zur Hand und packte den Versehrten un-

ter den Achseln. Lukas begnügte sich mit einem

Bein, da seine andere Hand die Waffe halten

musste, weil immer noch Gefahr drohte.

168

Als sie das Tor fast erreicht hatten, griffen die

Hunde an. Mit sagenhafter Geschwindigkeit ras-

ten gleich vier Killermaschinen aus dem Unter-

holz auf sie zu. Lukas bemerkte zu seiner Über-

raschung wie einer der Hunde im Lauf von et-

was von den Füßen geholt wurde. Ein kurzer

Blick zum Tor bestätigte ihm, dass der zweite

Mönch hinter den Gitterstäben mit einer Arm-

brust geschossen hatte, die er offensichtlich bei

sich trug. Dem Schuss nach zu urteilen, be-

herrschte er sein Handwerk.

Davon beflügelt gab Lukas eine Feuersalve auf

die restlichen Hunde ab. Der Rückschlag der

Handfeuerwaffe ging durch seinen gesamten

Rumpf. Zwei von ihnen erwischte er mit mehr

Glück als Geschick, jedoch einer kam durch. Mit

einem Satz, der ihn fast zwei Meter vom Boden

hoch katapultierte, landete er plötzlich vor ihnen

und verbiss sich in Warstein Bein, welches Lukas

nicht gepackt hielt. Lukas versuchte erneut ab-

zudrücken, aber in dem Tumult lief er Gefahr

Warsteins Bein gleich mit zu treffen.

Der Soldat war immer noch ohnmächtig. Die

Bewegungen seiner Glieder waren anscheinend

169

nur unbewusste Reflexe auf die Gefahr. Der

Hund zerrte an dem leblosen Bein mit solcher

Kraft, dass Lukas ein dumpfes Krachen ver-

nahm, als würde ein morscher Ast brechen. Der

Unterschenkel stand mittlerweile in einem unna-

türlichen Winkel ab. Das Tier war in absoluter

Raserei, einer Tobsucht für die es keinen anderen

Grund gab, als den absoluten Willen zu töten.

Die Schnauze des Tieres glänzte rot vor Blut,

doch das Rot in seinen Augen war noch hun-

dertmal intensiver. Es glich einem lodernden

Feuer, das Zorn und Entschlossenheit ausdrückte

und diese Gewalt würde sich nun gegen sie alle

richten. Im nächsten Augenblick erkannte Lukas

eine Gelegenheit und drückte ab. Zwei Kugeln

drangen durch den Nacken des Hundes und am

Hals wieder aus. Das Tier ließ ab, torkelte zwei

Schritte zurück, was Lukas und dem Mönch Zeit

verschaffte, Warstein hinter sich her schleifend

durch das Tor zu ziehen.

Im selben Moment rannte der Hund, dem ein

Armbrustbolzen aus der Seite ragte auf sie zu.

Lukas wollte zielen, blieb aber mit der Ferse an

einer Unebenheit im Gelände Hängen und fiel

170

hin. Der Hund war im nächsten Moment über

ihm. Lukas‘ Waffe war zwischen Warsteins Bein

und dem Erdboden eingeklemmt. Wie irrsinnig

zerrte er daran, um es gegen den Hund zu rich-

ten. Er konnte bereits den schlechten Atem des

Tieres riechen, als den Hund etwas von der Seite

rammte. Lukas strampelte sich frei und kam auf

die Füße. Sogleich gewahrte er, dass Orwell sich

losgerissen hatte, um seinem Herrn zur Hilfe zu

eilen. Der tapfere Hund nahm sogleich den

Kampf mit der Mörderbestie auf. Mit für einen

Menschen unbegreiflichen Körperreflexen gin-

gen die Hunde aufeinander los. Der Kampf ging

mit einer solchen Geschwindigkeit von Statten,

für die das menschliche Auge zu träge war. Lu-

kas zielte verzweifelt, doch jeder Schuss den er

abgeben würde, könnte auch genauso gut Orwell

treffen.

Plötzlich war der riesige Hund über Orwell, und

es dauerte ein paar Sekunden, bis Lukas begriff,

dass das Untier Orwell die Kehle durchgebissen

hatte. Das Blut floss in Strömen aus der Wunde,

Orwell kippte zur Seite und blieb tot liegen.

171

Lukas gewahrte dies alles mit seltsam distan-

ziertem Schrecken und merkte plötzlich wie zwei

starke Hände ihn packten und zum Tor zogen.

„Kommen sie! Hier können wir nichts mehr aus-

richten!“ Er ließ es geschehen, konnte seinen

Blick aber nicht von Orwell lösen, der bewe-

gungslos im Schnee lag.

„Rasch!“, rief der Mönch mit der Armbrust und

schlug das Tor heftig zu, als der andere Mönch

Lukas hinein zog, dass die Angeln bebten und

verriegelte es.

Der Hund, der Orwell getötet hatte, stand reglos

da und starrte sie an. Um sein Entsetzen noch zu

steigern, sah Lukas wie der Hund, den er mit

Warsteins Waffe getroffen hatte, sich wieder er-

hob und auf sie zu torkelte. Auch wenn seine

Beine einknickten, hielt er auf das Tor zu. Er war

schwer verletzt, vielleicht sogar tödlich. Doch

Lukas wusste, er würde versuchen weiter zu tö-

ten, solange noch ein Funken Leben in ihm war.

Als er ihn sah, dachte er, dass dies kein Lebewe-

sen war, sondern das Produkt einer gänzlich an-

deren, abartigen Genesis, mehr eine natürliche

Maschine, die, wenn einmal in Bewegung ge-

172

setzt, nicht mehr aufzuhalten war. Auch wenn

man einige Räder oder Schrauben zerstörte, so

brachte das die Gesamtmaschinerie nicht zum

Erliegen.

Lukas richtete mit zitternden Händen seine Waf-

fe auf den Hund, der dicht vor dem Tor stand.

Mittlerweile hatten zwei der vier Bestien sich er-

hoben. Er würde sie durch die Gitterstäbe er-

schießen, auslöschen. Er legte an und zielte auf

den Kopf des Hundes, der ihm am nächsten war.

Im selben Moment, als er den Abzug betätigen

wollte, drehten sich die beiden Hunde um und

flüchteten ins Unterholz, von einem Hinken oder

einer sonstigen Einschränkung durch die schwe-

ren Verletzungen war ihnen nichts anzumerken.

Lukas machte Anstalten hinaus zu Orwell zu

gehen. Tränen füllten seine Augen, und der

nimmersatte Schmerz einen Freund verloren zu

haben, packte sein Herz. Jedoch einer der Mön-

che hatte das Tor mit einem Schlüssel verriegelt.

Mist! Stattdessen sah er den beiden Mönchen

nach, die den Schwerverletzten zum Klosterge-

bäude transportierten. Sein Blick fand Tamara,

die mit Isabelle ein paar Meter abseits stand.

173

Auch sie weinten. Die Runen von Angst und Er-

schöpfung waren in Tamaras Gesicht gemeißelt.

Isabelle hielt ihr Gesicht an Tamaras Schulter ge-

presst. Lukas ging auf sie zu und führte sie ein

Stück vom Tor weg. Sie umarmten einander und

verharrten eine Weile trauernd. Ein Stück abseits

standen die zwei Grauen und beobachteten sie

mit regem Interesse.

174

7

Hinter der Klostermauer war noch eine Mauer

mit der eigentlichen Klosterpforte, wie Lukas am

Rande seines Bewusstseins registrierte. Sie folg-

ten den Mönchen, passierten ein gewaltiges Tor-

gewölbe mit tonnenschweren, ohne sichtbaren

Mörtel aufeinander gesetzten Steinquadern und

gelangten von dort in einen teilweise überdach-

ten Innenhof mit Kreuzgewölben, wo an strategi-

schen Stellen düstere Statuen von Heiligen stan-

den, welche die Neuankömmlinge mit ihren

blinden Augen musterten. Um den Innenhof

gruppierten sich neben dem Konventsgebäude

noch ein paar kleinere Gebäude mit rundbogigen

Eingängen. Überall waren vor den schmalen,

schießschartenartigen Fenstern massive Gitter

angebracht. Weiter hinten schmiegte sich eine

kleine Kirche an die Umfriedung.

Sie folgten den Mönchen zum Hauptgebäude,

bis an ein gewaltiges, altersschwarzes Portal mit

Eisenring und frommen Ornamenten darauf. Als

175

sie die fünf Stufen zum Portal hoch gingen, öff-

nete sich die Tür und ein schlanker, hochge-

wachsener Herr mit exakt gescheiteltem grauem

Haar erschien auf der Schwelle.

„Los, bringt ihn hinein!“, sagte er befehlsge-

wohnt.

Die beiden Mönche schleppten den Halbtoten in

das Gebäude. Die ganze Zeit über zogen sie eine

dünne Blutspur hinter sich her. Auch Lukas be-

merkte, dass Blut an seiner Kleidung haftete, es

war das Blut von Warstein. Der ältere Mönch

winkte auch sie ins Vestibül.

„Warten sie hier!“, sagte er kurz angebunden.

„Wir müssen uns erst um den Verletzten küm-

mern. Warten sie hier so lange, es kommt gleich

jemand.“ Er drehte sich um und lief den Gang

hinunter, der in diffusem Dämmerlicht dalag,

und verschwand in dem gleichen Raum, in den

seine Brüder Warstein verfrachtet hatten. So-

gleich wurde Lukas bewusst, dass es im Gebäu-

de nicht viel wärmer war als im Freien. Ihn frös-

telte.

176

„Hier, nimm sie mir mal ab. Sie will nicht auf

den Boden“, sagte Tamara und reichte ihm Isabe-

lle.

Lukas nahm sie und gab im Gegenzug Tamara

die Waffe, welche sie mit sichtbarer Abneigung

ergriff. „Vorsichtig damit. Komm bloß nicht an

den Abzug. Ich weiß nicht, wie man das Ding si-

chert.“

„Ja, trotzdem besten Dank“, entgegnete sie.

Eine Weile hingen sie ihren Gedanken nach.

Tamara lehnte sich mit der Stirn an Lukas‘ Schul-

ter. Lastende Stille lag auf dem altehrwürdigen

Gebäude.

Gleich darauf öffnete sich eine Tür am anderen

Ende des Ganges. Einer der jüngeren Mönche,

derjenige der Lukas geholfen hatte Warstein aus

dem Auto zu heben, kam auf sie zu und begrüß-

te sie mit Handschlag. „Guten Tag, ich bin Bru-

der Matthias. Das vorhin war ja noch mal ganz

schön knapp. Es tut mir wirklich leid um ihren

Hund.“

„Ja, uns auch“, sagte Lukas.

Der Mönch schüttelte den Kopf. „Es wäre aber

nicht klug, hinauszugehen und ihn zu holen.

177

Diese Hunde sind noch da draußen. Warten sie,

bis die Lage sich beruhigt, dann werden wir uns

um ihn kümmern.“

„Ja, vermutlich haben sie recht“, sagte Lukas

und nannte dem Mönch ihre Namen.

Der Anblick des Mönches entbehrte nicht einer

gewissen Komik. Über der schwarzen Kutte, de-

ren einziger Schmuck ein Holzkreuz war, das an

einer Kordel die Hüfte hinab hing, zeigte sich ei-

ne pelzgefütterte, hellbraune Jacke. Statt der zu

erwartenden, asketischen Schnürsandalen, ka-

men dicke Winterstiefel aus wasserabweisendem

Material zum Vorschein.

Der Mönch rieb sich das mit Bartstoppeln über-

säte Kinn. „Der Abt meint, es sei das Beste, wenn

sie vorerst hier bleiben. Später können wir ge-

meinsam überlegen, wie weiter vorzugehen ist.“

„Danke, das ist nett von ihnen“ entgegnete Lu-

kas.

Weiter hinten im Flur wurde erneut die Tür ge-

öffnet. Lukas beobachtete wie in das Zimmer, in

welchem Warstein versorgt wurde, ein Kessel

mit dampfendem Wasser, frische Tücher, Ver-

178

bandszeug und andere Utensilien gebracht wur-

den.

„Und von ihnen ist niemand verletzt?“, fragte

Bruder Matthias.

Lukas und Tamara tauschten einen kurzen Blick.

„Ich denke nicht, bis auf ein paar blaue Flecke“,

sagte Lukas.

„Was fast schon an ein Wunder grenzt“, fügte

Tamara hinzu.

Bruder Matthias wies auf die vor ihnen liegende

Treppe. „Dann folgen sie mir eine Etage höher“,

sagte er und schritt voran. „Ich bringe sie in ei-

nem der Besucherzimmer unter.“

Der Raum in den er sie führte, besaß einen na-

hezu quadratischen Grundriss und Maß von

Wand zu Wand höchstens sechs Schritte. Ein Teil

des Platzes wurde von einem kärglichen Bett

und einem Tischlein mit zwei wenig Vertrauen

erweckenden Stühlen eingenommen. Daneben

stand ein schmuckloser Schrank, und in der Ecke

ein Schwedenofen. Das gesamte Mobiliar war alt

und roch modrig, allerdings waren es auch keine

Antiquitäten, sondern offensichtlich nur altes

179

Gerümpel, das etwa fünf Jahrzehnte auf dem Bu-

ckel hatte.

Das erste was Bruder Matthias machte, war

Streichholz hervorzuholen und den Ofen anzu-

zünden, wofür Lukas ihm dankbar war.

„Wie sind sie eigentlich in diese Situation ge-

kommen“, erkundigte er sich.

Lukas setzte ihn mit knappen Worten ins Bild.

Der Mönch schüttelte nur nachdenklich den

Kopf. Daraufhin entschuldigte er sich kurz und

verließ das Zimmer.

„Fehlt nur noch das Verlies und die Folterkam-

mer im Keller. Willkommen im Zeitalter der In-

quisition“, kommentierte Tamara. Erst jetzt

schien sie zu bemerken, dass sie immer noch die

Pistole in der rechten Faust hielt und legte sie mit

übertriebener Vorsicht auf den Kleiderschrank.

„Was ist eine Folterkammer, Mami?“, fragte Isa-

belle.

„Ach, nichts Besonderes.“

„Müssen wir jetzt für immer hier bleiben?“

„Nein, mein Schatz, wo denkst du hin!“, wehrte

Tamara ab.

180

„Ich will hier nicht bleiben. Hier ist es doof. Und

außerdem ist Orwell da draußen. Ich will zu

ihm! Ist er tot?“, rief Isabelle.

„Beruhige dich“, beschwichtigte Lukas. „Wir

bleiben nicht hier. Wir sind bestimmt bald wie-

der daheim. Und Orwell ist jetzt im Hundehim-

mel. Da geht es ihm gut, da scheint immer die

Sonne.“

„Im Himmel ist es doof“, sagte Isabelle und setz-

te sich trotzig auf das Bett und weinte.

Sie ließen das Mädchen gewähren und redeten

nicht mehr auf sie ein.

„Und wie geht es jetzt weiter?“, fragte Tamara

an Lukas gewandt.

„Ich würde sagen, wir warten erst mal ab und

dann setzen wir den Mönchen die Geschichte

noch mal auseinander.“

Er ließ sich neben seine Tochter auf das Bett sa-

cken, dabei ging ihm auf, dass er für eine Tasse

Kaffee bereit wäre einen Mord zu begehen. Hun-

ger verspürte er keinen. Im nächsten Moment

öffnete sich die Tür und Bruder Matthias er-

schien mit einem Tablett auf dem sich mehrere

Scheiben Vollkornbrot, Käse sowie ein Stück

181

Räucherschinken befanden. Er setzte das Tablett

auf dem Tisch ab, dazu eine Kanne sowie drei

Tassen.

„Ich würde vorschlagen, sie essen zuerst“, sagte

er. „Später wird der Abt noch mit ihnen spre-

chen. Er und die anderen Brüder kümmern sich

noch um ihren Freund.“

„Eigentlich ist er nicht unser Freund. Wir ken-

nen ihn erst seit heute morgen, als er bei uns vor

der Haustür aufkreuzte.“

„Er ist schwer verletzt“ stellte der Mönch fest.

„Er muss Unmengen an Blut verloren haben.“

„Ja, es ist furchtbar“, sagte Tamara.

Der Mönch nickte unverbindlich, machte kehrt

und verließ den Raum erneut.

Die Flüssigkeit in der Kanne erwies sich nicht

als Kaffee, wie Lukas zuerst hoffte, sondern als

Kräutertee. Lukas schmeckte Johanniskraut, Zit-

ronenmelisse und andere Zutaten heraus. Sie

aßen alle Drei ein wenig und tranken von der

dampfenden Flüssigkeit. Isabelle legte sich an-

schließend auf das Bett und rollte sich zu einer

Kugel zusammen. Sie wirkte gefasst, aber auch

verstört und bedrückt. Tamara legte sich zu ihr,

182

während Lukas mit dem Stuhl vorlieb nahm und

seinen Tee versunken schlürfte. Erst jetzt ging

ihm auf, was geschehen war und der Gedanke

bereitete ihm schiere Angst. Rückblickend be-

trachtet, hatten sie Glück im Unglück gehabt,

auch wenn Orwells Verlust mehr als schlimm

war. Nicht auszudenken, was diese Bestien mit

ihnen hätten anstellen können. Er betrachtete

seine Frau und sein Kind auf dem kümmerlichen

Bett und hörte an ihrem regelmäßigen Atem,

dass sie eingeschlafen waren, wofür er sie im

Stillen ein wenig beneidete. Als er sie so unver-

sehrt dort liegen sah, dankte er Gott, dass sie mit

heiler Haut davon gekommen waren – irgendwie

schien ihm in diesem Gebäude dieser Gedanke

angemessen.

Es verging einige Zeit, in der Lukas seinen düs-

teren Gedanken nachhing. Ein dezentes Klopfen

an der Tür riss ihn aus seinen Betrachtungen. Die

Gestalt des älteren Mönchs von vorhin erschien

im Türrahmen. Er setzte an, etwas zu sagen, aber

als er Tamara und die Kleine auf dem Bett liegen

sah, legte er seinen Finger auf die Lippen und

forderte Lukas mit einem Wink auf, ihm in den

183

Flur zu folgen. Lukas kam der Aufforderung

nach.

Auf dem Flur sagte er: „Lassen sie die beiden

sich ausruhen. Kommen sie mit in mein Büro,

dort können wir uns unterhalten. Übrigens, ich

bin Bruder Anselm, der Abt dieses Klosters.“

Lukas ergriff die ihm dargebotene Hand. „Mein

Name ist Lukas Falkenstein.“

Der Abt führte ihn in sein Büro, wo ein Maha-

gonischreibtisch stand auf den die Bezeichnung

Flugzeugträger eher zugetroffen hätte. Zwei Sei-

ten des Raumes waren flankiert mit Bücherrega-

len, die fast bis unter die Decke reichten, worauf

sich wunderliche, alte Bücher mit zum Teil herr-

lich gestalteten Buchrücken aneinander reihten.

Eine messingfarbene Schreibtischlampe mit grü-

nem Glasschirm versuchte vergeblich für Licht in

dem Zimmer zu sorgen. Die Temperatur im

Raum war angenehm, da im Kamin ein munteres

Feuer brannte. Als der Abt sich auf dem hoch-

lehnigen Stuhl hinter dem Schreibtisch nieder-

ließ, knackte ein Holzscheit im Kamin und stieß

einen Funkenschauer aus. Mit einer Handbewe-

184

gung bot der Abt Lukas den Stuhl vor dem

Schreibtisch an.

Lukas betrachtete sich den Herrn genauer. Er

besaß die Züge eines Mannes der Askese über

Lebensfreude stellte, die jedoch zugleich feierli-

che Würde ausstrahlten. Umso überraschter war

Lukas, als der Abt ihn fragte: „Wollen sie auch

eine Zigarette?“

Lukas überlegte kurz und entschied sich in An-

betracht der Gesamtsituation dafür. Der Abt zog

eine Packung Lucky Strike aus der Kutte, finger-

te eine Zigarette heraus und reichte sie Lukas.

Anschließend gab er ihm Feuer, bevor er sich

selbst eine ansteckte. Lukas inhalierte den blauen

Dunst, woraufhin ihm leicht schwindlig wurde –

ein angenehmer Nebeneffekt, den nur Gelegen-

heitsraucher haben –, dabei blickte er kurz durch

die Buntglasfenster nach draußen, die ein mattes,

kränkliches Licht ins Zimmer ließen. Die Wolken

hingen wie aus Blei gegossen am Firmament und

es schneite fortwährend.

„Wie geht es, Warstein?“, fragte Lukas.

Bruder Anselm sah ihn ein paar Herzschläge

lang stumm an. „Warstein heißt er also, wie die

185

Biersorte ... Ich bin mir nicht sicher, ob er die

Nacht überlebt.“

„Können wir nicht Hilfe holen?“

„Wen denn? Und diese Hunde sind immer noch

da draußen, regelrechte Kreaturen der Hölle.“

Lukas kratzte sich am Kopf. „Wir dachten, wir

hätten einige von ihnen erledigt, aber sie sind

verdammt zäh.“ Daran anknüpfend berichtete er

dem Abt, wie Warstein heute Morgen an seine

Tür geklopft hatte, über das Schwarze Lager, die

Gen-Experimente, die dort durchgeführt worden

waren und die Hunde als fragwürdiges Resultat

hervorgebracht hatten sowie über ihre Flucht

hier her. Der Abt hörte sich alles stumm und be-

dächtig an, ohne Lukas in seinem Redefluss zu

unterbrechen.

Als Lukas mit seinem Bericht geendet hatte, sag-

te Bruder Anselm: „Als wir vorhin den jungen

Soldaten versorgten, kam er kurz zu Bewusst-

sein. Er erzählte etwas von vier Hunden – nicht

mehr.“

Lukas blinzelte verwirrt. Er erinnerte sich jetzt

auch wieder, dass Warstein auch ihm gegenüber

so etwas erwähnt hatte. „Ja, und?“

186

„Bruder Paulus hat gestern vom Kirchturm aus

vier von ihnen beobachtet. Ebenso wurden sie

vor dem Haupttor von genau vier Hunden ange-

griffen. Sie treiben sich immer noch in der Nähe

herum.“

Die Worte hingen ein paar Augenblicke schwer

im Raum. „Ich dachte, wir hätten mindestens

zwei erledigt“, sagte Lukas.

„Der oder die Leichname vor dem Haupttor

sind auch verschwunden – außer ihr Hund na-

türlich. Bruder Paulus hat vorhin noch einen

Hund mit seiner Armbrust aus geringer Distanz

unterhalb der Wehrmauer angeschossen. Als er

wenig später nachschaute, war auch dieser Hund

verschwunden.“

Lukas fasste sich an die Stirn. „Ja, aber dann

müssen es mehr als vier gewesen sein, womög-

lich ein ganzes Rudel. Das erklärt aber immer

noch nicht, wer die toten Tiere fortgetragen hat.

Oder besorgen ihre Artgenossen das etwa

selbst?“

Einen Moment herrschte Stille, bis der Abt in

das Zimmer hinein sprach: „Ich wartete des Gu-

187

ten, doch es kommt das Böse; ich hoffte aufs

Licht, und es kommt Finsternis.“

„Das sind Worte aus der Bibel, aus dem Buch

Hiob, dem größten Pechvogel der Literaturge-

schichte“, sagte Lukas.

Der Abt schmunzelte. „So ist es. Auch dem bra-

ven Hiob widerfuhr so manch Böses. Es ist das

menschliche Drama – das Drama unserer gesam-

ten Existenz. Viel Böses ist in der Welt und des-

halb auch viel Zweifel. Serienkiller, Rauschmör-

der, Vergewaltiger – meist sind diese Menschen

Opfer der Gesellschaft, ihrer physiologischen

Veranlagung oder ihres Schicksals. Es ist ein un-

vermeidliches Produkt unserer Welt. Doch das

alles ist nicht zu verwechseln mit dem wahren

Bösen.“

„Dem wahren Bösen?“

„Ja. Nehmen sie einmal diese Hunde. Egal wie

viel sie von ihnen töten, es bleiben immer genau

Vier an der Zahl. Und so ist es mit dem wahren

Bösen. Gut und Böse sind in dem Fall keine abs-

trakten Konzepte, sondern reale Kräfte. Weder

Gut noch Böse können zerstört werden, und bei-

de werden immer hier auf dieser Erde sein, bis

188

zum Ende aller Tage. So ist es vorherbestimmt,

der Herr hat alle Dinge gemäß seiner Ordnung

erschaffen und lässt in diesem Leben und auf

dieser Erde beide Prinzipien sich gemäß dem

freien Willen ausleben. Die Aufgabe des Men-

schen ist es seit Urzeiten dafür zu Sorgen, dass

das Gleichgewicht zwischen Gut und Böse ge-

wahrt bleibt. Diese Hunde – und, bei Gott, noch

viele andere Dinge – deuten an, dass das Gleich-

gewicht gestört ist. Überall auf der Welt beo-

bachtet man seltsame ... ich sage einfach mal pa-

ranormale Aktivitäten, darüber kann auch das

Chaotische unserer Tage nicht hinweg täuschen.“

„Ich kann ihre Ansicht bestätigen, auch ich be-

merke seltsame Dinge.“

Der Abt zog die Augenbrauen hoch. „Ach, tat-

sächlich?“

„Ja“, sagte Lukas, ging aber nicht weiter darauf

ein. „Ihre Überzeugung von Gut und Böse erin-

nert mich frappierend an den Dualismus, eine

Vorstellung, welche die Sekte der Katharer im

Mittelalter hatte, also eine Mischung aus christli-

chen und manichäischen Ideen. Nicht unbedingt

die eines Kirchenmannes.“

189

Bruder Anselm kaute auf der Unterlippe und

zog ein letztes Mal an seiner Zigarette, bevor er

sie in seinem Aschenbecher ausdrückte, nur um

sich gleich darauf wieder eine neue anzuzünden.

„Nun ja, der Dualismus sagt uns, dass es einen

guten Gott gibt, dessen Buch die geistige Wirk-

lichkeit ist, sowie einen bösen Gott, der für die

Materie zuständig ist. Jede Seele hat dabei ihren

Ursprung im Reich des Lichts, in das die Seelen

durch Überwindung des Bösen in dieser materi-

ellen Welt wieder eingehen. Aber wir beobachten

in unserer Zeit, wie das Böse stets mehr Über-

hand gewinnt. Wir leben in der Endzeit oder

zumindest einer Wendezeit.“

Lukas nickte. „Man gewinnt tatsächlich diesen

Eindruck, wenn man bedenkt, wie die Welt aus

den Fugen geraten ist und dass die Menschheit

in ein entscheidendes Stadium getreten ist.

Manchmal mutet es schon an wie eine eschatolo-

gische Schlacht zwischen Gut und Böse, nur dass

man nicht weiß, wer die Guten und wer die Bö-

sen sind. Doch haben nicht alle Menschen der

letzten 2.000 Jahre ihre Zeit als die Endzeit in

Anspruch genommen. Ich meine, schon zu allen

190

Zeiten bemühte man die Offenbarung des Jo-

hannes, Markus 13 und Hesekiel. Wie oft müssen

sie sich noch irren.“

„Das mag stimmen. Dennoch glaube ich an den

übergreifenden Gedanken der Apokalypse des

Johannes, auch wenn ich weiß, dass ich die Bil-

der dieser Schrift nicht wörtlich nehmen darf“,

entgegnete der Abt.

„Im Grunde hat die Endzeit – ich benutze mal

diesen Begriff – schon vor Jahren begonnen. Die

ganzen Kriege und Verteilungskämpfe, die jetzt

stattfinden, fußen doch in Wirklichkeit in der

Vergangenheit. All das Chaos ist doch nur das

unvermeidliche Ergebnis von Ereignissen, die

bereits vorher passiert sind.“

Der Abt überlegte einen Augenblick, als lege er

sich die Worte sorgsam zurecht. „Es ist nicht so,

und das ist meine persönliche Meinung, dass

Gott sich durch die Bibel umfassend und ab-

schließend geäußert hat. In jeder Epoche erweck-

te er Begnadete, welche die Menschheit warnten

mit ihren prophetischen und seherischen Gaben.

Viele ihrer düsteren Prognosen erfüllten sich.

Denken sie an die Wirtschaftskrise, Bürgerkriege,

191

die extremen Revolten in Frankreich und Italien,

die Angriffskeile der russischen Streitkräfte

durch Europa, die Chinesen, die nach Sibirien

eingefallen sind, der Meteor, der uns letztes Jahr

den Atem stocken ließ, als er an der Erde vorbei

raste und seinen Funkenschauer über die Welt

ergoss. All das wurde von Sehern wie Alois

Irlmaier, Mühlhiasl, Anton Johanson, dem Bauer

aus dem Waldviertel, dem Mystiker Jakob Lor-

ber, Franz Kugelbeer und anderen mehr oder

weniger genau prophezeit.“

„Wenn wirklich diese Menschen fähig waren,

dies vorherzusehen, dann muss es auch möglich

gewesen sein, die Ereignisse noch in eine andere

Richtung zu lenken“, sagte Lukas.

„Ja, aber sie wurden nicht gehört.“

„Letzten Endes sind es die destruktiven und

verdrängten Stellen in den Persönlichkeiten der

Menschen, welche die Misere hervorriefen – mal

abgesehen von dem schlechten Wetter und den

Naturkatastrophen – obwohl ich mir selbst dabei

nicht ganz sicher bin.“

Der Abt deutete zum Fenster hinaus. „Aber wer

konfrontiert sich schon gern mit seiner Schuld

192

und seinen Fehlern. Wie leicht war es noch vor

ein paar Jahren sich hinter der heilen Fassade des

gesellschaftlichen Erfolgs und der äußeren Er-

scheinung zu verbergen, die soviel oberflächliche

Lust und Nervenkitzel verschaffte. Aber wie soll

das jetzt weiter gehen? Wenn es wirklich darauf

ankommt wie das Individuum ausgerichtet ist,

dann muss im kollektiven Fall die ganze Gesell-

schaft, ja, die ganze Menschheit hinsichtlich ihrer

Gesinnung eine Neuausrichtung erfahren. Viel-

leicht bedurfte es all dieser Katastrophen, um in

dem Wirrwarr an Zeitgeistströmungen und

scheinbarem Lustgewinn sich auf das Wesentli-

che zu besinnen. Aber der Wahnsinn trieb immer

neuere Blüten. Es mag sich hart anhören, aber ich

sagte schon immer, dass wir einen Schock brau-

chen und auch einen bekommen werden, um

einzusehen, dass wir verrückt sind.“

„Na ja, die Kirche hat ja schon immer mit dem

Teufel gedroht, um die Leute in die Reihe zu be-

kommen“, sagte Lukas.

Der Kirchenmann wischte die Entgegnung mit

einer Handbewegung beiseite. „Ja, ja, wir sind

die Große Hure ... Ich sprach jedoch nicht vom

193

Teufel, sondern von einem Schock. Das ist ein

Unterschied. All die Unruhen, Kriege, ethnischen

Säuberungen, das verbanden wir doch lieber mit

Ländern der Dritten Welt. In unserer Konsum-

und Spaßgesellschaft war dies alles undenkbar.

Es musste immer mehr bergauf gehen, alles im-

mer besser und schneller werden. Autos mussten

noch leiser und komfortabler sein als ohnehin

schon, die Handys und Computer immer kleiner

und die Waschmittel machten die Wäsche so

weiß, dass es zu Erblindung führte. Dennoch

wurde alles irgendwie schlimmer. Für die Fir-

menbosse gab es Viagra, für das Volk Hartz IV.

Und wo wir eben bei Prophezeiungen waren.

Haben unsere Wirtschaftsweisen überhaupt

einmal etwas richtig prophezeit? Weder den

kleinen Crash von 2008 oder den von 2014 noch

den Komplettzusammenbruch letztes Jahr. Es

waren hoch dotierte Wirtschaftstrottel, keine

Wirtschaftsweisen, ob sie es aus Dummheit, Un-

fähigkeit oder Absicht taten, ist rückblickend un-

erheblich. Jedenfalls hatten ihre unzutreffenden

Prognosen schlimme Folgen. Mit ihren Gutach-

ten heizten sie die Krise noch an. So war das. In

194

meiner Jugend kam man ins Zuchthaus oder die

Irrenanstalt, später wurde man Wirtschaftswei-

ser oder saß in der EU-Kommission. So verändert

sich die Welt.“

Lukas musste über den Zynismus des Kirchen-

mannes schmunzeln, der unbeirrt fortfuhr:

„Überhaupt war mir diese ganze Börseneuphorie

schon immer suspekt. Dass die Menschen an ihre

Aktienfonds mehr glaubten als an den lieben

Gott, war für mich schon immer das größte Mys-

terium. Doch das Geld aus den ach so sicheren

Anlageformen ist unwiederbringlich fort. Wo

man hinsah, wurden Vermögen abgeschrieben,

es folgten Firmenpleiten, radikaler Abbau von

Sozialleistungen und die ständige Teuerung der

Kunstwährung Euro, dass es kaum für den

Grundbedarf reichte.

Doch in diesen Zeiten erleben wir das erste Mal,

dass Politiker, Manager und überhaupt jene,

welche die Gesellschaft führten, persönlich für

das zur Rechenschaft gezogen werden, was sie

anrichteten. Ach, übrigens, ein Mob hat die Ar-

beitsministerin umgebracht, als sie ins Ausland

fliehen wollte.“

195

„Ist nicht wahr?“

„Doch! Ich hab es im Radio gehört. Es war eine

Straßenlaterne. Und die JP Morgan Chase Bank

in New York wurde gestürmt und angezündet,

zusammen mit ein paar Vorständen.“

„Wo sie gerade von Radio sprechen. Gerade die

sogenannten Qualitätsmedien waren es doch, die

zur Verbreitung des merkwürdigen Glaubens an

die unentwegten Gewinnchancen des entfessel-

ten, globalen Kapitalismus beitrugen“, sagte Lu-

kas.

„Oh ja, sie heizten alle an und gingen mit allen

unter“, sagte der Abt. „Doch letzten Endes sind

dies alles nur Symptome einer Ursache, nämlich

des Zinseszins-Systems.“

„Davor Zinsen zu Verlangen, warnte bereits die

Bibel.“

„Aber natürlich!“ Der Abt schlug sich auf den

Oberschenkel. „Jesus warnte vor nichts so sehr –

nicht einmal vor dem Teufel – wie vor dem Geld,

da er wusste was Geld und im speziellen der

Zinseszins anrichten kann. Bei Hesekiel 18,13 le-

sen wir: Wer Geld verleiht und einen Aufschlag

nimmt, soll der Leben? Er soll nicht leben, son-

196

dern weil er all diese Gräuel getan hat, soll er des

Todes sterben.“

„Da gibt es doch dieses Gedankenspiel“, warf

Lukas ein, „ wenn man zu Lebzeiten Jesu einen

Cent mit 5% Zinsen angelegt hätte, dass man

durch die Hebelwirkung des Zinseszins in der

heutigen Zeit 200 Millionen Erdkugeln in Gold

hätte, oder so in etwa.“

„Ja, dieses – wenn auch sehr stark vereinfachte –

Beispiel zeigt, dass ein System basierend auf Zins

und Zinseszins auf die Dauer nicht störungsfrei

funktionieren kann. Es muss immer wieder in

gewissen Abständen zum Einbruch kommen, wo

alles Geld sich entwertet, eben ein Wirtschaft-

scrash, wie wir ihn jetzt erleben, mit Hyperinfla-

tion, Staatsbankrotten und Währungsreformen.

Es war doch klar, dass durch den Zinseszins-

Effekt der exponentiell anwachsende Schulden-

berg von Staat, Firmen und Privathaushalten die

eigentliche Zeitbombe in unserem politischen

und wirtschaftlichen System war. Je mehr unsere

westlichen Volkswirtschaften alterten, umso

schneller wuchs der Schuldenberg, der uns

schließlich erdrückte.

197

Und nur deshalb war unsere verschuldete, reale

Wirtschaft all die Jahre auf ständiges Wachstum

ausgelegt. Deutschland braucht Wachstum, hieß

es gebetsmühlenartig, ja, die ganze Welt nahm

das für sich in Anspruch. Da aber auf einem end-

lichen Planeten, mit endlichen natürlichen Res-

sourcen ein ständiges Wachstum auf Dauer nicht

möglich ist, beruht unser ganzes Wirtschaftssys-

tem schlicht auf einer falschen Annahme.“

„Mir ist klar, dass es kein ewiges Wachstum ge-

ben kann. Doch ich verstehe nicht ganz, warum

uns dieses Chaosprogramm aufgezwungen wur-

de“, warf Lukas ein.

„Der Zins ist der fatale Grund, warum unsere

Gesamtwirtschaft – obwohl es irrational ist –

ständig wachsen muss. Man hat keine andere

Wahl. Die Gesamtwirtschaft muss schlicht den

immer schneller wachsenden Ansprüchen des

Kapitals gerecht werden, wo durch den Hebel

des Zinseszinses immer höhere Zinserträge ein-

gefahren werden. Das heißt im Klartext, für das

System braucht man Schuldner, die durch zu

zahlende Zinsen Schuldendienst leisten. Wo soll-

ten denn die Banken auch das Geld herholen, das

198

sie an die Kapitalseite weiterreichen? In Wirk-

lichkeit wurden immer neue Darlehenssklaven

gebraucht. Und weil durch die immer höheren

Zinserträge die Kapitalseite immer mehr und

mehr wuchs, wurden immer mehr Schuldner be-

nötigt, also war das System auf Kreditexpansion

ausgelegt.

In der Geschichte waren die besten Verdiener in

der Wirtschaft nie die Hersteller realer Waren,

sondern Banden von Finanzhalunken, die es ver-

standen Banken, Hedgefonds und Gewerkschaf-

ten zu unterwandern. Es ist einfach ein notwen-

diges Prinzip, die Masse der Bevölkerung arm zu

halten, damit niemand von der proletarischen in

die kapitalistische Einkommensklasse wechseln

kann. Deshalb ist es für das System absolut not-

wendig, zahlenmäßig wenige, aber dafür umso

reichere Super-Milliardäre zu haben, welche die

Zinsströme an sich binden. Es war ein gewolltes

Umverteilungssystem von Arm nach Reich. Der

Zinseszins – die Möglichkeit auf Geld ohne Ar-

beit – zwingt letztlich alle Menschen in einen

mörderischen Konkurrenzkampf, in eine Ellbo-

gengesellschaft, wo es keine Moral mehr gibt.

199

Man muss immer schneller werden, noch mehr

und härter arbeiten, andere überflügeln, keine

Rücksicht nehmen, doch je mehr wir uns an-

strengen, je mehr Schulden entstehen. So müssen

Menschen sich gegenseitig bekämpfen, um das

fehlende Geld in Konkurrenz mit all den anderen

Schuldnern zu ergattern.

Unsere Welt ist nur durch die Notenbanken

kriegerisch geworden, da Kriege an sich unbe-

zahlbar sind. Früher konnte ein Herrscher nur

wenige Monate Krieg führen, solange sein Gold

und Silber reichten, heute schmeißt man die No-

tenpressen an. Der hoch gelobte freie Markt er-

wies sich zusammen mit dem Rüstungsgeschäft

als die Hand zig-millionenfachen Massenmor-

des.

Aber bleiben wir beim Zins. Zwangsläufig

kommt man an den Punkt, wo die Schuldner ihre

Schulden nicht mehr bedienen können und dann

kollabiert das System. Von unserem Wirtschafts-

system profitierte aus diesem Grund nur die

Spitze der Pyramide.

Solche Erkenntnisse sind schon seit Jahrzehnten

bekannt, doch man ignorierte sie, da sie das

200

Herrschaftssystem der Welt gefährdeten, ähnlich

wie Galilei damals das Herrschaftssystem der

Kirche. Und so brachte unsere globale Wirt-

schaftsordnung jährlich 50 Millionen Hungertote

in der 3. Welt hervor nach unabhängigen UNO-

Schätzungen.“

„Sie scheinen sich ja mit Ökonomie auszuken-

nen“, sagte Lukas.

Der Abt machte eine wegwerfende Handbewe-

gung. „Damals als ich noch in einem weit größe-

ren Kloster in der Eifel lebte, fragte mich mein

Abt eines Tages, ob ich nicht Lust hätte Cellerar

zu werden. Ich willigte widerstrebend ein und

musste schließlich Betriebswirtschaft studieren

gehen. Furchtbare Zeit. Hat mich damals sehr be-

lastet. Das war Ende der 1970er Jahre. Im Grunde

wusste man schon damals, wenn man kein öko-

nomischer Ignorant war, dass unsere Wirtschaft

auf eine Katastrophe zusteuert, welche die Ver-

nichtungskapazität der Atombombe hat. Schon

zu dieser Zeit beschrieb der Ökonom Ludwig

von Mises den sogenannten Crack-up-Boom, den

Punkt an dem die Inflation außer Kontrolle gerät,

durch steigende Staatsverschuldung, Zinseszins

201

und Gelddrucken der Regierungen. Dieser Punkt

musste mit mathematischer Notwendigkeit

kommen, wo in der letzten Phase eine Preisex-

plosion auf Güter und Dienstleistungen auftritt.

Dass es so kommen musste, wie es letztlich kam,

sagten von Mises die Gesetze der Logik.“ Der

Abt zeigte mit einem seiner bleichen Finger auf

eines der Bücherregale. „Auch der Ökonom Gus-

tav Ruhland beschrieb in seinem mehrbändigen

Werk System der politischen Ökonomie, welches um

die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert er-

schien, den Untergang zahlreicher Hochkultu-

ren, die letztlich am Zinseszins und einem fal-

schen Geldwesen zerbrochen sind. Hier die Ka-

pitalisten, da die Vermögenslosen. Die Kaste der

im Prinzip Vermögenslosen ist natürlich un-

gleich größer. Dadurch entstehen so etwas wie

Vetternwirtschaft und Cliquenwesen, wo nur

Beziehungen zur reichen Schicht zählen, persön-

liche Fähigkeiten jedoch nicht. Es kommt zu ei-

ner Herrschaft der persönlichen Beziehungen,

die über allem Fortschritt steht, sodass sich die

Degenerationserscheinungen im Volk häufen.“

202

Lukas überlegte einen Moment, bevor er sagte:

„Aber was sagt die Religion zum Eigentums-

recht? Was ist mit dem erwucherten Vermögen,

angesichts einer Unzahl an Allerärmsten? Wenn

die Reichen es gestohlen haben, sollte man es

ihnen wegnehmen?“

Der Abt blies die Backen auf. „Dem Verstand

nach könnte man gegen diese Forderung nichts

einwenden. Aber dergleichen wollte Jesus nicht:

Mein Reich ist nicht von dieser Welt. – Und: Wer

das äußere Leben liebt, wird das innere verlieren,

wer aber dem äußeren flieht und gering achtet,

der wird das innere behalten.

Nirgends forderte Jesus dazu auf, sich über die

Güter der Reichen her zu machen. Gib dem Kai-

ser, was des Kaisers ist, sagte er auch. So erteilte

er dem reichen Jüngling den freundschaftlichen

Rat – ohne ihn zu nötigen – all seine Güter zu

verkaufen.“

„Aber was kann man gegen die Ungerechtigkei-

ten tun?“

„Es gibt auch andere Geldsysteme. Stichwort

Schwundgeld, ein zinsfreies Geld, das an Wert

verliert, wenn man es hortet. In bestimmten Ab-

203

ständen zieht der Staat von jedem Bürger einen

bestimmten Betrag ein und gibt einen geringeren

Betrag an den Besitzer wieder zurück, die Diffe-

renz ist die Steuer. Um dem Umtausch zu entge-

hen, konsumiert man oder gibt das Geld zinslos

weiter. Auf diese Art bleibt Geld ein reines

Tauschmittel und nicht Schatzmittel.

In der Zeit der Gotik, 1150 – 1450, waren die Le-

bensbedingungen im sogenannten ‚dunklen Mit-

telalter‘ viel besser als man allgemein annimmt,

da man dort ein Geldsystem dieser Art hatte. Es

gab nur geringe soziale Unterschiede, jeder hatte

genug zu essen, man hatte über hundert arbeits-

freie Tage im Jahr und musste nur vier bis sechs

Stunden pro Tag arbeiten. Davon können Ge-

werkschaftsfunktionäre – die ohnehin vor der

Krise allesamt gekauft waren – nur träumen.

Dann änderte sich im 15. Jahrhundert das Geld-

system. Die Fugger kamen, es wurde wieder

Geld zu Zinsen verliehen. Es folgten Armut, He-

xenverbrennungen, Ablasshandel und eine neue

Gesellschaftsschicht, die der abhängig Beschäf-

tigten.“

204

„Interessant, doch das ist die ökonomische Sei-

te“, sagte Lukas. „Aber zugleich spielt die Natur

verrückt, als würde die Erde fühlen, was auf ihr

passiert. Eine seltsame Koinzidenz, finden sie

nicht? Ich muss gestehen, ich habe keine Proble-

me mit dem Gedanken, dass die Menschheit, ihr

Tun und die Natur eine untrennbare Einheit

sind.“

Bruder Anselm zündete sich eine neue Zigarette