an, bot Lukas eine an, der dankend ablehnte und
entgegnete. „Oh, ich denke, dass diese Erfahrung
evident ist. Sie negiert den Slogan von Ökoakti-
visten, wo es heißt, die Natur brauche den Men-
schen nicht, der Mensch aber die Natur. Unser
Menschsein ist anders, wir sind nicht nur ein
hochentwickeltes Produkt der Evolution. Egal
was wir in dieser Welt tun, wir setzen auf trans-
zendenten Ebenen Prozesse in Gang, die in unse-
re materielle Welt zurückspiegeln. Unsere Ge-
danken und Taten korrespondieren mit diesen
höheren Seinsebenen, und so wir lieblos mit
Mutter Erde sind, dann lassen wir Dinge aus
geistigen Sphären herein, die dann in unserer
205
Welt eine Eigendynamik annehmen. Denken sie
an die Hunde!
Der Mensch versucht dann zu beherrschen, zu
regulieren, zu kontrollieren, aber das Hereinge-
lassene wächst ihm über den Kopf und wird zu
einem kollektiven Schicksal. Dabei ist es egal, ob
wir am Zellkern herummurksen, Atome spalten,
Kontinente roden oder 18-Jährige in militäri-
schen Erziehungslagern zum Massenmord dril-
len und jede Tötungshemmung abschleifen, die
selbst Tieren eigen ist – und das alles unter dem
Firmenschild von Treue und Tapferkeit.“
Lukas musste an die Grauen denken, jene Dä-
monen, die aus einer anderen Realität in ihr Da-
sein strömten. Von daher schienen die Menschen
tatsächlich so etwas wie Tore zu sein, denn wo
sich menschliche Gräuel potenzierten, waren sie
da. „Es ist wie in der germanischen Mythologie“,
sinnierte Lukas, „wo wir Riesen aus Utgard, dem
finsteren Chaos, in unsere irdischen Gefilde nach
Midgard lassen.“
„Ja, man achte auf die Geister, die man ruft, man
wird sie so schnell nicht mehr los! Und da setzt
das wahre Böse an, wovon ich vorhin redete.“
206
Die Stimme des Kirchenmannes senkte sich zu
einem Flüstern herab. „Das Gleichgewicht ist
nicht mehr gewahrt. Wir haben es zu heftig ge-
trieben, nun brechen niedere geistige Kräfte in
diese Welt, deshalb erlebt man allerorten para-
normale Aktivitäten. Das mag für sie recht esote-
risch klingen, aber es ist nicht die Zeit, wo man
mit Ansichten, die früher den Denk- und
Sprechverboten der political correctness unterla-
gen, hinter dem Berg halten sollte. Für mich hat
es fast den Anschein, als ob die geistige Welt in
die materielle Welt durchsickert.“
„Ich bin durchaus offen für solcherlei Ansich-
ten“, gab Lukas unverbindlich zurück. „Aber auf
was spielen sie genau an?“
„Vielleicht ein Andermal“, sagte der Abt nach
kurzem Zögern.
„Wie sie wollen.“
Der Abt quittierte dies mit einem Nicken. „Nur
wenn wir die Balance wieder finden, werden wir
aus dieser endlosen Blutmühle aus Chaos, Ge-
walt und Gegengewalt herausfinden und einse-
hen, dass es bei all dem Zersprengen, Zerfetzen,
207
Zerschießen und Vergasen an keiner Front einen
Sieger gibt.“
„Diese Hunde ... obwohl sie aus dem Labor
stammen, besitzen sie eine übernatürliche Kom-
ponente. Denken sie das auch?“, sagte Lukas.
„Ja, weil das Böse sich in ihnen verkörpert hat.
Sie sind ein Vehikel für diese Mächte in der
Welt.“
„Aber was sollen wir denn gegen sie tun?“
„Bleiben sie mit ihrer Familie vorerst hier. Sie
sind hier willkommen. Die Mauern sind hoch,
die Gitterstäbe stabil, und manchmal geht das
Böse von allein und sucht sich ein leichteres Op-
fer.“
208
8
Als Lukas zurück in die Zelle kehrte, kamen
Tamara und Isabelle gerade zu sich. Er erzählte
Tamara von der Unterhaltung mit dem Abt. An-
schließend entschlossen sie sich zu einem Er-
kundungsgang im Kloster. Sie vertraten sich et-
was die Beine auf dem Klostergelände, vermie-
den es jedoch tunlichst, die innere Umfassungs-
mauer zu verlassen. Der Schneefall wurde immer
stärker, und der Wind begann bedrohlich zu bla-
sen. Sie hielten sich im Kreuzgang auf und Isabe-
lle, die für gewöhnlich ausgelassen herum tollte,
wich nicht von der Seite ihrer Eltern. In den Ni-
schen des Kreuzgangs standen Heiligenstatuen
und Lukas gewahrte im Dämmerlicht eigenartige
Wappen und Gedenktafeln mit lateinischen In-
schriften. Mit einem Mal drang Gesang an ihre
Ohren. Sie verließen davon angelockt den
Kreuzgang und steuerten unter der wirbelnden
Flockenschlacht auf das alte Kirchengebäude am
anderen Ende der Umfriedung zu, neben dem
209
sich ein düsterer Friedhof mit schmucklosen
Gräbern erstreckte. Die Wurzeln der dort wach-
senden Rieseneiche hatten vermutlich schon ih-
ren Weg in die Särge der toten Mönche gefun-
den.
Scheu betraten sie die Kirche, die eigentlich
nicht mehr war, als eine zu groß geratene Kapel-
le. An einem glitzernden Draht hing von der De-
cke herab ein ewiges Licht, dessen rubingläser-
nes Herz leuchtete wie ein blutiger Funken. Vor-
ne im Chor züngelten eine kleine Anzahl Kerzen
und drei Mönche knieten vor einem gedrunge-
nen, schmucklosen Steinaltar und hielten die
Arme in Kreuzform von sich gestreckt, die
Handflächen gen Himmel, während der Abt mit
Weihrauch räucherte. Mit geradezu beneidens-
werter Leichtigkeit schraubten sie ihre Stimmen
in erdentrückte Höhen, um sie danach in die
wärmenden Tiefen ihres Singsangs zu drücken.
Der an- und abschwellende Gesang schuf eine
Aura von Heiligkeit. Lukas und seine Familie
setzten sich in eine der hinteren Bankreihen. Der
Gesang stieg an und fiel in rhythmischen Kaden-
zen. Obwohl Lukas kein Latein verstand, war es
210
nicht von Bedeutung, dem Text einen Sinn ein-
zuverleiben. Er fühlte für einen Moment Frieden
in sich, alle Angst und Zweifel lösten sich in
Wohlgefallen. Schließlich verstummte der Ge-
sang, und die Mönche begannen murmelnd et-
was zu intonieren. Dies ging so eine Weile.
Am Ende verließen sie alle zusammen die Kir-
che und begaben sich mit den Mönchen zum
Abendessen. Als sie den Weg zwischen Kirche
und Kreuzgang zurück legten, durchschnitt die
Dunkelheit ein tiefes, langgezogenes Heulen, das
vom Wald her in unmittelbarer Nähe an ihre Oh-
ren drang. Wie ein Mann blieben alle ruckartig
stehen. Isabelle krampfte sich sogleich an Tama-
ras Bein. Es war ein unheimliches Geräusch, ein
nervenzerstörendes Crescendo, durchsetzt mit
Knurren und Geifern. Schauer in Sonderzahl lie-
fen Lukas über den Rücken. Das abartige Ge-
räusch stand in einem scharfen Kontrast zu dem
frommen, beseligenden Gesang von soeben. Lu-
kas trat zu Tamara und legte in einer beschüt-
zenden Geste den Arm um ihre Schultern, dabei
ballte sich seine freie Hand zu einer Faust, wäh-
rend er gewaltsam die unheimlichen Empfin-
211
dungen in sich niederzukämpfen versuchte, die
ihn gleich einem Tsunami hinwegzuspülen droh-
ten. Das Geheul mutete wie eine Kampfansage
an, die sie moralisch zermürben sollte.
Während des Abendessens wurde nicht viel ge-
sprochen. Später zogen sich Lukas und seine
Familie zurück. Tamara und Isabelle legten sich
auf das Bett in ihrer Zelle. Lukas begnügte sich
mit einer Matratze auf dem Boden, die Bruder
Mathias ihm samt Bettzeug zur Verfügung stell-
te. Als Lukas sich auf seine Schlafstatt sinken
ließ, wurde der Drang die Augen zu schließen
und sich ins Reich der Träume versinken zu las-
sen beinahe übermächtig. Dennoch schaute er zu
dem Bett hinüber, wo Isabelle in Tamaras linker
Armbeuge lag. Beide schliefen. Ihr Atem ging im
Gleichtakt auf und ab, und in ihren Gesichtern
lag ein gefasster Ausdruck. Lukas schüttelte in-
nerlich den Kopf, als er bedachte, dass sie vor
wenigen Stunden an der Schwelle des Todes ge-
standen hatten. Alles schien so unwirklich. Nun
schliefen sie beide und hoffentlich würde ihnen
auch in den Träumen die Gnade des Vergessens
gewährt werden. Ihn überkam eine Liebe für sei-
212
ne Frau und sein Kind, dass es fast körperlich
wehtat, daraufhin streckte er seine Hand aus und
fuhr den Schlafenden sanft über den Kopf.
Langsam ließ er sich auf sein Lager zurücksin-
ken und blickte mit der Hand unter dem Hinter-
kopf noch eine Weile in die Dunkelheit und
dachte über die grauenhafte Erfahrung nach, als
er heute den Hunden gegenübergestanden hatte.
Eine Welle von Gewalt und Aggression war ihm
entgegen geschlagen, wie er sie sich nie zuvor
auszumalen vermochte. Dieser gebündelte Hass
hatte eine ganz neue Qualität, er war durch-
mengt mit dem kompromisslosen Willen zu tö-
ten und schierer Raserei.
In dieser Nacht hatte Lukas einen Traum von
geradezu sagenhafter Klarheit. Es war jene Art
von Traum, wo der Träumende sich bewusst ist,
dass er träumt und alles um ihn herum mit größ-
ter Klarheit wahrnimmt, doch dieses Wissen
machte die Intensität des Erlebten nicht erträgli-
cher, sondern steigerte sie nur noch.
Ihm war, als liege eine überdimensionale
Schlange um das Kloster herum. Da er auf seiner
Matratze lag, konnte er dieses Wesen nicht se-
213
hen, aber er fühlte seine Anwesenheit. Eine nicht
zu beschreibende Kälte beschlich sein Gemüt. Er
spürte mit unglaublicher Intensität das ungezähl-
te Leid der Welt, das seine Seele niederdrückte
und an ihm vorbeirauschte wie schäumendes
Wasser.
Wieso verschlang das Untier sie nicht mit einem
Biss? Warum betäubte das Scheusal sie nicht alle
mit seinem giftigen Atem, um sie anschließend
zwischen seinen gelben Schneidezähnen zu zer-
mahlen? Lukas überkam der Eindruck, dass ir-
gendetwas Unsichtbares dieses Höllending in
Schach hielt. Die Zeit verging. Lukas schlief und
schlief doch nicht, wusste jedoch mit unumstöß-
licher Gewissheit, dass höchste Gefahr drohte.
Plötzlich meinte er, sein Körper beginne zu
schweben. Er wurde von seinem Nachtlager
hochgehoben und verharrte eine Weile schwe-
bend über ihm, ohne das er sich bewegen konnte.
Der Augenblick schien sich zu Unendlichkeiten
zu dehnen. Dann packte ihn eine unbekannte
Macht und schleuderte ihn hinaus in die dunkle
Nacht, ohne dass die Hauswand ein Hindernis
für ihn darstellte, in ein scheinbar nicht endendes
214
schwarzes Nichts. Haltlos taumelte er kopfüber
in den grässlichen Todessog.
Mit der Zeit lichtete sich das abgründige Dunkel
und seine Reise führte ihn durch allerlei hässli-
che Gegenden, die er in der schmutzig-blassen
Schwärze unter sich wahrnahm. Scharfkantige
Felsen und bedrohliche Schluchten sah er, zwi-
schen denen im Schlamm reptilienhafte und
klumpfüßige Kreaturen hausten, die ihren Hass
zu ihm hinauf stöhnten. Ein Geruch nach eitern-
den Wunden lag in der Luft und marterte seine
Nase. Lukas flog dahin und dachte es nähme
kein Ende. Unter ihm war das dunkle Ödland
und über ihm zog schwarzgraues Gewölk.
Plötzlich meinte er, ein wenig Licht von oben
her wahrzunehmen. Sein Blick schweifte in die
besagte Richtung und schon war die vorher emp-
fundene Leichtigkeit vorbei. Sein Körper wurde
wieder träge und schwer und ein Opfer der Gra-
vitation. Haltlos begann er zu fallen und würde
an den Felsen unter ihm zerschellen. Obwohl er
wusste, dass er träumte, verfiel er in Todesangst.
Lukas schrie, doch kein Laut entrang sich seiner
Kehle. In seiner Verzweiflung machte er
215
Schwimmbewegungen, um gegen den Sturz an-
zukommen, aber vergebens. Bald verkrampften
seine Muskeln und bittere Galle stieg in ihm
hoch.
Am Ende seiner Kräfte angelangt, registrierte er,
dass er nicht mehr am Fallen war, sondern am
Aufsteigen. So bemerkte er auch das Licht über
sich, das an Leuchtkraft zugenommen hatte, da-
bei drängte sich ihm der Eindruck auf – auf-
grund der obskuren Logik die Träumen eigen ist
– als hätten all seine Bemühungen die Quelle
über ihm genährt. Das Licht schien ihn nun zu
retten.
Immer höher stieg er, gelangte in Sphären in de-
nen das Licht heller als frisch gefallener Schnee
strahlte. Aus diesem Grund hielt er seine Hände
schützend vor die Augen, um nicht verblendet
zu werden. Er wand das Gesicht ab und blickte
den Weg zurück, wie er ihn gekommen war: Es
war ein schmaler, geröllhaltiger Weg gewesen,
aber dennoch begehbar. Ihm ging auf, dass er gar
nicht geflogen und der Todeskampf rückbli-
ckend unnötig war. Lukas war nur gegangen: ei-
nen Schritt auf den anderen.
216
Er ruckte aus dem Schlaf auf und saß im nächs-
ten Moment bereits aufrecht. Er massierte sich
die Schläfen, immer noch den verstörenden
Traum vor Augen. Tamara und Isabelle schliefen
noch. Ein Blick zum Fenster verriet ihm, dass ei-
ne launige Morgendämmerung allmählich die
Nacht beiseite stieß.
Lukas fragte sich, ob dies womöglich der Weg
aller Menschen sei: Alles beginnt in tiefster Fins-
ternis und Verlorenheit, dann bricht Gefahr aus,
wir verfallen in Verwirrung und Panik und dann
beginnen wir, uns gegen das Licht vorzukämp-
fen, das uns zu sich zieht und niemals fallen
lässt.
Jedoch länger konnte Lukas über die Bedeutung
des Traumes nicht nachgrübeln, denn als er den
Blick hob, sah er vor der Zimmertür den Grauen
stehen, der gleichmütig auf ihn herab starrte.
217
9
Alarmiert zog Lukas Stiefel und Jacke an. Gefahr
drohte. Irgendetwas war passiert oder bahnte
sich an. Entweder war Warstein elendig gestor-
ben, was den Grauen angelockt hatte, oder die
Hunde waren in die Abtei gelangt. Lukas fürch-
tete Letzteres. Sanft aber bestimmt weckte er
Tamara, die ihn verwirrt anblinzelte. „Was ist?“
„Irgendetwas ist passiert“, sagte Lukas.
Ihre Augen verdunkelten sich vor Sorge. „Siehst
du wieder etwas?“
Lukas nickte schwach. „Komm. Wecke Isabelle
und zieh sie an.“
„Wo gehst du hin?“
Lukas hatte bereits die Waffe vom Schrank ge-
nommen. „Ich muss erst nachsehen, was da vor
sich geht. Wir können da jetzt nicht blindlings
rausstürzen.“
Tamara warf ihm einen flehenden Blick zu, der
Furcht verriet. „Bitte sei vorsichtig.“
218
„Ja, bin ich, aber zieht euch jetzt an, falls wir hier
schnell weg müssen“, drängte Lukas.
Mit der Mündung voran trat er auf den Flur, der
ruhig dalag. Der Graue war abgezogen, wohin
das hatte Lukas nicht bemerkt. Die Zellen der
Mönche lagen im Erdgeschoss sowie der Raum
in den man Warstein verfrachtet hatte. Der be-
deutend größere Wohn- und Schlafbereich des
Abtes war ebenfalls im ersten Stock, wo auch ih-
re Unterkunft lag.
Langsam und bedächtig, damit der trockene,
spröde Parkettboden keine verräterischen Ge-
räusche von sich geben sollte – was sich aller-
dings als unmöglich herausstellte –, schlich er
den Gang hinunter bis zur Treppe. Noch bevor
er sie erreichte, vernahm er von unten Tumult.
Es klang in etwa so, als würden Möbel umgesto-
ßen. Der Schrecken in Lukas’ Gesicht vertiefte
sich, nachdem ein panischer Aufschrei sich dazu
mischte. Es bestand kein Zweifel mehr, sie waren
in das Gebäude eingedrungen! Lukas ließ nicht
zu, dass die Angst ihn lähmte, wirbelte stattdes-
sen herum und war mit drei großen Schritten
wieder an der Zimmertür. Er stieß sie auf und
219
Tamara verstand anhand seines Gesichtsaus-
drucks was geschehen war.
„Los, nimm Isabelle!“, zischte er gedämpft.
„Kommt, schnell!“
Tamara kam der Aufforderung nach, schnappte
sich die Kleine und hob sie auf den Arm.
„Du musst jetzt leise sein, Schatz“, sagte Lukas
sanft zu ihr aber mit Nachdruck.
Schnell verließen sie das Zimmer mit Lukas vo-
ran. Unten war der Tumult in vollem Gang. Man
vernahm laute Rufe und qualvolle Entsetzens-
schreie von gleich mehreren Personen, gepaart
mit wütendem Knurren und Gebell. Sie gingen
bis zur Treppe. Im nächsten Moment registrierte
Lukas am Rande seines Gesichtsfeldes einen
Schatten. Dadurch, dass seine Sinne durch die
Anspannung geschärft waren, fuhr Lukas blitz-
schnell herum und hätte fast abgedrückt. Es war
jedoch nur der Abt, der anscheinend auch etwas
gehört hatte und aus einem seiner Gemächer ge-
treten war. Binnen Bruchteilen von Sekunden
hatte auch der Abt den Braten gerochen. Angst
kroch ihm ins Gesicht und ließ den Geistlichen
mindestens zehn Jahre älter erscheinen.
220
„Sie sind da“, sagte Lukas trocken.
Der Abt schluckte und bekreuzigte sich.
„Wo können wir hin, wo sind wir sicher?“, frag-
te Lukas.
Tausend Dramen spielten sich auf dem Gesicht
des Abtes ab. Er schien zu erwägen, seinen Brü-
dern zur Hilfe zu eilen oder irgendetwas zu ihrer
Rettung zu unternehmen, doch er war anschei-
nend intelligent genug, einzusehen, dass die
Mönche und der verletzte Warstein im Erdge-
schoss verloren waren. Nun galt es, die eigene
Haut zu retten. Schließlich sagte er: „In Ord-
nung. Folgen sie mir!“
Sie hetzten den Gang hinunter dicht hinter Bru-
der Anselm her. Hinter sich hörten sie das Ge-
räusch heftig trommelnder Pfoten auf der Trep-
pe. Lukas, Tamara und der Geistliche warfen im
selben Sekundenbruchteil einen Blick nach hin-
ten, als zwei der Hunde am Ende des Ganges er-
schienen. Beinahe lautlos, mit gefletschten Zäh-
nen und lodernder Mordlust in den Augen be-
wegten sich die Tiere auf sie zu, geduckt,
sprungbereit und zitternd vor unbändiger Ener-
gie. Im gleichen Moment in dem sie sich zum
221
Angriff spannten, richtete Lukas die Waffe in ih-
re Richtung und drückte ab. Das Mündungsfeuer
warf ein obskures Lichtspiel auf die engen Wän-
de des Flurs, als er eine hämmernde Salve auf sie
niedergehen ließ, während die Tiere schrill vor
Wut und Schmerz aufheulten.
Stöhnend wälzten sich die Tiere auf dem Rücken
in ihrem eigenen Blut. Lukas ließ die Waffe fal-
len, da er das ganze Magazin verschossen hatte,
und sie stürmten Bruder Anselm hinterher, der
sich bereits in Bewegung gesetzt hatte. Er führte
sie eine Treppe hinunter und noch eine.
„Führen sie uns in den Keller?“, fragte Lukas,
der Tamara Isabelle abgenommen hatte und auf
den Armen trug.
„Ja, aber von dort können wir in einen unterirdi-
schen Gang flüchten“, keuchte der Abt, der
schnappend nach Luft sog. Der Mönch schien
von Zitterkrämpfen geschüttelt.
„Wo führt der Gang hin?“, fragte Tamara, deren
Gesicht eine Maske höchster Anspannung war.
„In die Krypta unter der Kirche. Hinter der Kir-
che steht ein Geländewagen. Vielleicht können
222
wir zu ihm gelangen. Aber nun beeilen sie sich
um Gottes Willen!“
Sie durchquerten einen dunklen, feuchten Kel-
ler, der in nahezu absoluter Dunkelheit dalag.
Lukas glaubte Werkzeuge und landwirtschaftli-
che Geräte in den dunklen Ecken und an den
Wänden zu erkennen. Sie gelangten an eine alte
Eisentür, die sich widerstrebend öffnete. Schnell
schlüpften sie in den Gang dahinter in die Fins-
ternis.
„Geben sie mir ihre Hand“, sagte der Abt und
schob hörbar einen Riegel vor. Lukas legte seine
Hand in die des Abtes, nachdem er sie in der
Schwärze gefunden hatte und spürte wie Tamara
ihn am Mantel packte. „Wir müssen dem Gang
nur ein kurzes Stück folgen, am Ende von ihm
gelangen wir an eine Tür, die in die Krypta unter
dem Chorquadrat und der Apsis mündet.“
Quälend langsam bewegten sie sich voran. Der
Schacht begann allmählich beklemmend auf Lu-
kas Gemüt zu drücken. Von jeher hatte er sich
weiten, unendlichen Flächen verbunden gefühlt,
liebte den nicht endenden Ozean und weit ge-
dehnte Grasflächen. Dies hier verkörperte das
223
genaue Gegenteil. Mit jedem Schritt war ihm, als
rückten die Wände ein Stück näher. Alles was
sein Auge wahrnahm, war ein schreckenerre-
gender Anblick von absoluter Dunkelheit. Jedoch
irgendwie spürte man einen Luftzug und hörte
ganz leise das Heulen des Windes, der sich in
dem Gewölbe verfangen hatte. Es klang wie das
Geflüster abertausender Geisterstimmen, die in
den Tiefen des Höllenschlundes stöhnten. Lukas
glaubte ihr lästerliches Johlen zu vernehmen und
bildete sich ein, ihre höhnenden Gesichter in der
Finsternis abgezeichnet zu sehen. In Lukas brei-
tete sich das irrationale Gefühl aus, sie begingen
einen Frevel und würden durch ihre Schandtat
die verirrten Seelen der Unterwelt erwecken, die
aus den Gräbern nach Vergeltung schrien. Lukas
maßregelte sich innerlich für seine Gedanken
und beschloss sich mehr auf ihr Überleben zu
konzentrieren. Schritt für Schritt stapften sie wei-
ter, bis sie an die Tür am anderen Ende gelang-
ten. Isabelle weinte leise in Lukas‘ Arm. Sein
Herz brach tausendfach, wenn er bedachte, was
diese arme, kleine Seele alles erdulden musste.
224
Der Abt öffnete die Tür zur Krypta und als sie
den kleinen, engen Raum betraten, in dem sich
üblicherweise die Reliquien eines Märtyrers oder
das Grab eines Heiligen vorfanden, sahen sie
dort etwas, das ihnen den Atem stocken ließ.
Der Raum maß höchstens vier auf vier Meter im
Quadrat. Darin standen vier spätromanische
Säulen, über denen sich ein Kreuzrippengewölbe
spannte. Lukas und Tamara folgten ihrem ersten
Impuls und wichen wieder ein paar Schritte zu-
rück in den dunklen Gang. Es sah aus, als sei die
Außenwand der Kammer und damit die der Kir-
che eingestürzt oder als hätte jemand ein Stück
aus ihr heraus gebrochen. Das Sonderbare jedoch
war, dass von dem Loch in der Wand ein seltsam
blaues, pulsierendes Halo ausging, das den gan-
zen Raum in ungewisses Licht hüllte. Lukas be-
trachtete genauso gebannt wie Tamara das be-
schädigte Stück Mauer. Es war etwas mehr als
einen Meter breit und vielleicht doppelt so hoch,
wie eine Tür, doch asymmetrisch aus dem rohen
Stein herausgebrochen. Dahinter erkannte man
die Konturen einer Landschaft, die in grauen
225
Dunst gehüllt war. Auch Isabelle betrachtete das
Ding mit großen Kinderaugen.
„Was ist das?“, platzte Lukas heraus.
„Halten sie sich davon fern!“, rief der Abt hyste-
risch. „Es ist wieder instabil! Folgen sie mir!“
Der Abt steuerte eine steile, schmale Treppe an,
die an der Decke endete. Dort angelangt, drückte
er gegen eine Bodenplatte, sodass sich ein Weg
nach oben auftat. Von da aus gelangten sie in die
Kirche.
„Was ist das da unten?“, fragte Lukas erneut
beim Hochsteigen.
Der Abt ignorierte seine Frage. „Kommen sie,
wir müssen zu dem Geländewagen.“
„Haben sie auch einen Schlüssel?“ Die Frage
von Lukas war leichthin gestellt, doch sie dräng-
te sich geradezu auf.
Der Abt griff sich an die Stirn. „Natürlich nicht.
Dann ... dann müssen wir ihn eben kurz schlie-
ßen.“
Tamara sank auf eine der Treppenstufen vor
dem Altar und verbarg das Gesicht in Händen.
„Das darf alles nicht wahr sein!“
„Wo steht der Wagen?“, fragte Lukas.
226
Der Abt trat an eines der Buntglasfenster. „Dort
an der Seite. Wir könnten versuchen hinein zu
gelangen. Abgeschlossen ist er bestimmt nicht.
Vermutlich wissen diese Viecher noch nicht, dass
wir da sind.“
Lukas setzte Isabelle neben Tamara auf den Bo-
den, trat zum Abt und spähte aus dem Fenster.
Das dichte Schneetreiben behinderte die Sicht, al-
les schien wie unter tanzenden, weißen Schleiern
zu verschwinden, doch er sah ein Stück des Ge-
ländewagens. Im darauffolgenden Moment hör-
ten sie einen Knall. BUMM!
Irgendetwas war von außen mit Wucht gegen
das Kirchenportal geflogen. Man musste nicht
über die Gabe des Hellsehens verfügen, um zu
wissen, was dort vor sich ging. Lukas und der
Abt gingen auf das Fenster neben dem Eingang
zu und lugten vorsichtig heraus. Eine struppige
Chimäre aus Fell und Krallen nahm Anlauf und
sprang mit aller Wucht gegen das Kirchenportal,
als wollte es die Tür aus den Angeln sprengen.
BUMM!
Die vier Hunde hatten sich vor dem Portal ver-
sammelt und begannen nun abwechselnd gegen
227
die Tür zu rennen, als besäßen sie weder Ver-
stand noch Schmerzempfinden.
„Sie wollen die Tür einrennen! Das glaub ich
einfach nicht!“, rief Lukas resigniert. „Diese Bes-
tien!“ Er trat mit dem Fuß gegen das Chorge-
stühl.
BUMM!
Der Abt ging durch das Chorgestühl und ver-
suchte eine Kerze auf dem Altar anzuzünden.
Als ihm das Streichholz abbrach, entfuhr ihm ein
lästerlicher Ton. Erst beim vierten Mal gelang es
ihm die Kerze zu entzünden. „Allmächtiger ewi-
ger Gott, halte deine schützende Hand über
uns“, murmelte er.
Eine Weile herrschte Schweigen, das im gleich-
mäßigen Takt von den Angriffen auf das Kir-
chenportal durchbrochen wurde. Tamara, die als
erste wieder so etwas wie die Fassung gewonnen
hatte, sagte: „Gibt es noch einen Ausgang?“
BUMM!
„Nein“, sagte der Abt mit hängenden Schultern.
„Wir sind gefangen und können nur hoffen, dass
die Tür hält.“
228
„Was ist mit dem Loch im Keller, äh ... in der
Krypta“, fragte Tamara.
„Das ... das ist kein Loch. Das haben sie doch ge-
sehen“, gab der Abt einsilbig zurück.
„Das Gefühl habe ich auch. Und was ist es
nun?“, fuhr Lukas den Geistlichen an, da er all-
mählich verzagte.
BUMM!
„Es ist ein hiatus.“
„Ein hiatus?“
„Ja, so nennen wir ihn, eine Kluft, eine Öffnung
in der Raum-Zeit, etwas in der Art. Das meinte
ich damit, als ich zu ihnen sagte, dass überall pa-
ranormale Aktivitäten beobachtet werden, so
auch bei uns. Seit dem globalen Megakollaps ge-
schieht es ständig, vorher nur selten. Seit dieser
Zeit beobachten wir an etlichen Orten, dass der
hiatus instabil wird.“
„Wen meinen sie mit wir?“, fragte Lukas.
BUMM!
Der Abt zuckte zusammen. „Die Kirche eben.
Sehen sie mal, vor Jahrhunderten, als die alten
Waldlandkulturen wie die Kelten, Germanen
und Slawen noch nicht christianisiert waren,
229
bauten die christlichen Missionare ihre Kirchen
auf alte, heidnische Kultplätze, um den Heiden
den Übergang zum Christentum zu vereinfa-
chen. Ebenso fanden die heidnischen Götterpan-
theons ihre Entsprechung in christlichen Heili-
gen und die keltischen Hainfeste wurden zu
christlichen Feiertagen, aus Samhain wurde Al-
lerheiligen, aus Wintersonnenwende das Weih-
nachtsfest und so weiter. Jedenfalls bauten sie ih-
re Kirchen auf heidnische Kultplätze, die vorher
mit Steinkreisen, Steinsäulen oder Hügelgräbern
markiert waren.“
Lukas lauschte einen Moment, das Schlagen ge-
gen die Tür hatte ausgesetzt. „Und sie meinen,
dass an diesen Orten besondere Kräfte wallten“,
sagte Lukas.
„Ja, so in etwa. Diese kleine Kirche in der wir
uns befinden, wurde im achtzehnten Jahrhundert
gebaut, doch die Fundamente reichen bis ins
sechste Jahrhundert zurück. Ihre Wurzeln rei-
chen zurück bis in die frühmittelalterliche Zeit
der Christianisierung dieser Gegend durch die
Heilige Oranna und ihrer Gefährtin Cyrilla. Sie
missionierten diese Gegend im Zuge der iro-
230
schottischen Missionstätigkeit im 6. und 7. Jahr-
hundert. Die als Einsiedlerin lebende Irin Oranna
überbrachte die frohe Botschaft des neuen Glau-
bens bei den Heiden und wusste in Wort und Tat
zu überzeugen. Dieser Platz war das religiöse
Zentrum der Bewohner dieser Gegend.
Glauben sie mir, die Druiden oder Skalden, die
diese Plätze aussuchten waren hellsichtig, sie
wussten, dass sie Verbindungspunkte zu ande-
ren Welten waren, deshalb markierten sie diese
Stellen mit Steinsäulen oder Menhiren, wahr-
scheinlich auch aus dem Grund, dass die Men-
schen sich davon fernhalten konnten. Nur zu
hohen Feiertagen wie etwa den keltischen Hain-
festen pilgerte das Volk in Scharen zu diesen
Kraftorten, um die Sakramente der Erde zu emp-
fangen.
Für die Heiden war es nur ein Platz, sie brauch-
ten kein Gebäude oder Statuen, um ihre Götter
zu verehren. Ein Eichenwald konnte ein Eichen-
wald sein oder auch das Heim eines Gottes - o-
der beides gleichzeitig. Es war ihre Art, das Uni-
versum zu betrachten. Und daraus bezogen sie
eine große Wertschätzung und Ehrfurcht für alle
231
geschaffenen Dinge. Eine Ehrfurcht, die aus ei-
nem tiefen und beständigen Glauben entsprang.
Der Gedanke, dass ein Gegenstand oder Wesen
realer sein könnte, nur weil es eine materielle
Form besaß, wäre ihnen gar nicht gekommen.
Jedenfalls, aus diesen Gründen haben sich in den
letzten Monaten in vielen christlichen Kirchen –
die auf heidnischen Kultplätzen gebaut wurden
– diese Breschen nach Irgendwohin geöffnet.“
Lukas trat an ihn heran. „Und ein instabiler hia-
tus bedeutet kosmisches Chaos und Katastro-
phen in der manifesten Welt, ist es nicht so?“
„Wir glauben, dass es darauf hinaus läuft“, ent-
gegnete der Abt.
„Wo führen sie hin?“, fragte Tamara. „Da ist
doch eine Landschaft dahinter.“
„Das weiß niemand“, sagte der Abt.
„Demnach ist noch niemand durchgegangen“,
sagte sie.
Der Abt rang nervös seine schlanken Finger.
„Doch, es wurden bereits vom Vatikan Freiwilli-
ge durchgeschickt, zur Erstellung eines Lagebe-
richts, aber soweit ich weiß, hat man bis dato
nichts mehr von ihnen gehört.“
232
„Und was glauben sie, was es ist?“
Der Abt bewegte sich verzagt auf und ab. „Es
gibt dafür keinen Namen. Die alten Kelten hätten
vielleicht gesagt, es sei ein Eingang nach Annwn,
der Anderswelt, die alten Iren hätten es womög-
lich Tir Nan Og, die Insel der Toten genannt. Wie
etwa St. Patricks Purgatory in Irland, eine Höhle
auf dem Lough Dearg, die der Legende nach als
Eingang in die Unterwelt gilt. Der Germane hätte
Asgard gesagt, das er über die Regenbogenbrü-
cke Bifröst betritt, der Christ nennt es das Jen-
seits. Was weiß ich?“ Er lachte humorlos. „Es
gibt viele alte, lokale Sagen über diese Gegend.
Manche erweisen diese Gegend als Schauplatz
andersweltlicher Aktivität, aus Zeiten, wo dieses
Kloster noch nicht stand. Man erzählt, wo Leute
aus den umliegenden Weilern in mondhellen
Nächten den Wald hier durchstreiften, bevor sie
ungemein köstliche Musik hörten, welche aus ei-
nem Hügelgrab kam, das sie plötzlich hier in der
Senke erblickten. Es gibt Geschichten, wo Ein-
heimische mit Besuchern des Elfenlandes redeten
und tanzten. Es heißt aber auch, dass manche
von den Fabelwesen – manchmal in Gestalt von
233
Mädchen von hinreißender Schönheit – in das
Grab gelockt wurden und seitdem verschwun-
den seien...“
Im nächsten Moment zerbarst eines der Bunt-
glasfenster mit einem lauten Knall. Herein flog
ein dunkler Schatten. Der Hund überschlug sich
und kam auf der Seite zum Liegen und rutschte
in die Kirchenbänke hinein. Von draußen ver-
suchte ein weiterer Hund nachzurücken, schaffte
es aber wegen der Höhe in der das Fenster lag
nur mit den Vorderpfoten bis zum Sims und
rutschte daran herab.
Tamara fuhr sofort auf und verschwand geistes-
gegenwärtig mit Isabelle in dem Loch zur Kryp-
ta. Lukas sah den Abt, der am weitesten von ih-
rem letzten Fluchtweg entfernt stand. Der Hund
kam in unmittelbarer Nähe von ihm auf die Füße
und packte sein Bein. Der Abt wehrte sich und
schlug mit der Faust dem Tier auf die Nase, ohne
jedoch mit seinen Schlägen eine Wirkung zu er-
zielen.
Lukas erwog den Bruchteil einer Sekunde dem
Abt zu helfen, schickte sich jedoch zur Flucht an,
da sie so beide des Todes gewesen wären. Er
234
verabscheute sich für seine Feigheit, doch Mut
wäre in diesem Fall ein armseliger Ersatz für In-
telligenz gewesen. Der Gedanke war kaum aus-
gedacht, als ein weiterer Hund es über den Fens-
tersims schaffte, scheinbar unbeeindruckt von
den spitz nach oben ragenden Fensterscherben,
die noch im Rahmen steckten und ihm den Un-
terleib schlitzten.
Mit einem Satz war Lukas bei dem Abstieg und
warf sich mit dem Füßen vorwärts in das Loch.
Auf der schmalen Treppe drehte er sich herum
und zog die Bodenplatte bei. Als sie bereits zur
Hälfte das Loch bedeckte, schnappte einer der
Hunde nach seinem Handgelenk und schob den
Kopf in die Öffnung. Erschrocken fuhr Lukas zu-
rück und stürzte rücklings die Treppe hinunter.
Unsanft schlug er unten auf und spürte wie Blut
an Ellbogen und Knien hinunterlief. Der Sturz
hatte ihm die Luft aus den Lungen getrieben,
und er lag kurz benommen auf dem Boden. Als
er jedoch den Hund sah, der sich wie rasend
durch das Loch mit der halb davor geschobenen
Bodenplatte zwängte, pulste das Adrenalin in
Stößen durch seinen Körper. Tamara kniete sich
235
neben ihn und zerrte ihn in die Höhe, mit einer
Gewalt, die Lukas ihr nicht zugetraut hatte.
„Wir sitzen in der Falle!“, rief Lukas beküm-
mert.
„Dann lass uns durch den hiatus gehen“, sagte
Tamara. „Alles ist besser, als hier zerfleischt zu
werden.“
Sie tauschten einen Blick, der Stille Übereinkunft
versprach. Ohne weiter zu überlegen, schnappte
sich Lukas Isabelle, packte Tamaras Hand und
sie traten auf das kosmische Portal zu. Der Hund
war mittlerweile oben mit dem Hinterteil fast
durch und strebte im folgenden Moment die
Treppe hinunter. Schnell duckten sie ihre Köpfe
und liefen durch die beschädigte Mauer.
Nichts geschah, kein Monster das ihnen den
Kopf abbiss, kein mystischer Schwellenhüter o-
der etwas in den Art. Lukas warf einen Blick zu-
rück auf den Verfolger, der vor dem hiatus ste-
hen geblieben war. Allmählich verblassten die
Konturen des Tieres, er wurde kleiner und sein
Anblick verzerrt wie in einem Spiegelkabinett.
Lukas richtete seinen Blick nach vorne. Weiter
hinten erkannte er die Konturen einer Land-
236
schaft, die in grauen Dunst gehüllt war. Er un-
terdrückte den Impuls stehen zu bleiben. Die
Landschaft dahinter hatte nicht einmal eine vage
Ähnlichkeit mit der, die sich faktisch hinter der
Wand der kleinen Kirche erstreckte.
Erst jetzt sah er eine Art Steg unter ihren Füßen,
nur wenige Schritte lang und höchstens einen
Meter breit, der über einen dunklen Abgrund
hinweg führte, dessen Tiefe Lukas nicht abzu-
schätzen vermochte. Doch es war so, dass dieser
Steg, welcher zu Lukas’ Befremdung in zartem
Hellblau matt leuchtete, das Innere der Krypta
mit der düsteren Landschaft dahinter verband.
Flüchtig dachte Lukas an die mythologische Re-
genbogenbrücke Bifröst, die das germanische
Asgard mit Midgard – das Himmelreich und die
Erdenwelt – miteinander verbindet.
Als sie ein Stück auf dem Steg zurück gelegt hat-
ten und weiter vorwärts gingen, ließ eine stark
aufwärts strömende Luft ihre Kleidung wild flat-
tern. Ein Aufschrei entrang sich ihnen allen Drei.
Eine Welle von Furcht erfasste sie, da um den
Steg herum nur ein dunkler, gähnender Abgrund
prangte. Lukas geriet gefährlich ins Wanken und
237
kämpfte mit dem Gleichgewicht, während er ei-
nen Überraschungsschrei ausstieß, doch Tamara
packte ihn fest am Rumpf.
„Langsam! Setze einen Schritt vor den anderen“,
sagte sie bestimmend.
Ein Fehltritt und er und Isabelle wären unwider-
ruflich in das undurchdringliche Schwarz ge-
stürzt, in diese unermessliche Leere. „Ja, ja“,
keuchte Lukas. „Bleib dicht bei mir.“
Der feuchte, aufrüttelnde Wind ließ nicht nach,
er fauchte und knallte in scharfen Böen. Lukas
und Tamara schoben einen Fuß vor den anderen,
während Isabelle weinte und ihre Tränen in den
gähnenden Abgrund tropften.
Mechanisch redete Lukas beruhigend auf seine
Tochter ein, doch er hatte selbst ein Universum
an Ängsten zu bewältigen. Sein Kopf war plötz-
lich von einem Pochen erfüllt, als würde jemand
mit einem Hammer dagegen schlagen in einem
stetig zwingenden Takt. Zentimeter für Zentime-
ter kämpften sie sich voran. Noch einmal warf er
einen Blick zurück, von den Hunden keine Spur.
Als sie die andere Seite erreichten und wieder
festen Boden unter den Füßen spürten, ebbte der
238
Wind so jäh ab, wie er gekommen war. Mit ei-
nem Mal herrschte Grabesstille. Die Luft hatte
einen undefinierbaren Geruch angenommen und
fühlte sich rau und scharf in ihren Lungen an.
Lukas drehte sich um und der Eingang zur Kryp-
ta war verschwunden.
239
10
Tamara sah anfangs Nichts und Niemanden au-
ßer sich selbst und Lukas mit Isabelle auf dem
Arm neben sich. Die ganze Gegend war in Nebel
gehüllt und mattes Licht getaucht, das einer
Abenddämmerung ähnelte. Der Boden war stei-
nig, geröllhaltig und mit kümmerlichen Moos-
pflänzchen und Flechten überzogen. Auf allem
lag Tau, was den Untergrund schlüpfrig machte.
Ansonsten bot der Ausblick nichts Besonderes,
was Tamara schließlich veranlasste zurückzubli-
cken. In diesem Moment kam der nächste
Schock. Das Loch in der Wand der Abteikirche in
dem blauen, pulsieren Halo war verschwunden
und mit ihr der Steg und das schwarze Nichts
darunter. An Stelle der Steinmauer standen dort
mehrere große Steinsäulen, unbehauene Mega-
lithen wie die Steine von Stonehenge auf der
Hochebene von Salisbury, die sich um etwas
gruppierten, das aussah wie eine prähistorische
Grabanlage. Bei näherer Untersuchung erwies
240
sich, dass der Hügel aus Bruchstein errichtet
war, innen hohl und mit einem Loch an der Seite,
der als Eingang diente. Die Panik lief in Wellen
über sie hinweg, doch sie wollte sich nicht von
ihrer Furcht dominieren lassen und versuchte
das panische Gefühl in den Abgrund zurück zu
jagen, aus dem es gekommen war. Eine Weile
gab sie sich dennoch ihrer Verzweiflung hin. Sie
fühlte sich elend und verlassen. Was wäre, wenn
sie nicht mehr zurück kämen? Andersherum war
nicht zu verkennen, dass sie die Hunde auf diese
Art abgeschüttelt hatten. Zwar gab es niemanden
in ihrem Leben, außer ihrem Mann und ihrer
Tochter – und die waren bei ihr –, der sie vermis-
sen würde, doch sie hatten in der Welt da drau-
ßen zumindest ein Leben gehabt. Das Leben war
für sie stets ein Geschenk gewesen, auch wenn
die Gezeiten des Schicksals sich manchmal gegen
sie verschworen hatten.
Unwillkürlich beschwor das beklemmende Ge-
fühl von Verlorenheit die Erinnerung an ihre
Mutter herauf. Warum gerade jetzt, wusste sie
selbst nicht. Sie erinnerte sich noch recht gut an
das kleine Einfamilienhaus am Stadtrand in dem
241
sie aufgewachsen war und die erdrückende Last,
welche sie allzu oft empfunden hatte, die auf
mysteriöse Weise artverwandt war mit dem Ge-
fühl, das sie genau jetzt empfand. Obwohl es ein
schöner Neubau in Bestlage gewesen war, mit
blütenweißer Fassade und vielen Fenstern, die
der Sonne Zugang gewährten, sowie einem pe-
dantisch gepflegten Vorgarten mit südländi-
schen, biotopfremden Pflanzen darin, sah sie das
Haus in ihrer Erinnerung jedoch nur umsäumt
von dräuenden Schatten unter einem grau-
schwarzen Himmel.
Das Elend ihrer Kindheit trug sie immer noch
mit sich herum und hatte auch nur selten mit
Lukas darüber gesprochen, da, wenn man etwas
nicht selbst durchlebt hatte, es auf ewig eine Abs-
traktion bleibt, hohle nichtssagende Worte. Hin-
zu kam, dass Lukas seine Eltern sehr früh verlo-
ren hatte, dafür trug er seine eigenen Dämonen
mit sich herum. Jedoch war er der erste Mensch
in ihrem Leben gewesen, der auf beinahe magi-
sche Weise all ihre Zweifel aufzulösen konnte,
was mit ein Grund war, warum sie ihn so liebte.
Bereits als sie sich kennen lernten, bemerkte sie
242
schnell, dass Lukas die Tugenden so zu Eigen
waren, dass man sie gar nicht an ihm bemerkte.
Er gehörte nicht zu jenen aufdringlichen Gestal-
ten, die andauernd erstaunt sind über ihre groß-
artige Vorbildlichkeit und so sie etwas Gutes o-
der Großes vollbringen, es sie wie ein Wunder
vorkommt, für das sie jeder bewundern und be-
staunen muss. Bei Lukas konnte Tamara sie
selbst sein, er bot ihr ein Asyl und sie fühlte sich
bei ihm angenommen mit all ihren Fehlern.
Ihr Vater schien das Leben in dem Prestigehaus
ebenso drückend empfunden zu haben, als er
Tamara und ihre Mutter verließ, kurz nach
Tamaras achtem Geburtstag. Jahre später, etwas
weiser und leidensfähiger, war Tamara aufge-
gangen, dass ihr Vater ein schwacher Mann ge-
wesen war, ein kleiner Beamter mit tiefen Min-
derwertigkeitsgefühlen, welche seine Frau in den
Jahren ihrer Ehe noch zu nähren verstand, weil
sie hohe Maßstäbe für ihn ansetzte. Nichts was
dieser Mann tat, stellte seine Frau zufrieden,
nichts was irgendjemand tat, stellte sie zufrieden.
An allem nörgelte sie herum. Nie begegnete
man einem widersprüchlicheren Wesen, launiger
243
als das Schicksal. In einem Moment konnte sie
offen und herzlich sein, im nächsten kühl und
herablassend. All ihr Tun und Streben drückte
gleichzeitig Euphorie und Desinteresse aus.
Entweder war das Essen zu streng oder zu fad,
aber nie richtig, schien die Sonne, störte sie es
genauso, als würde es regnen. Hatte sie wenig zu
tun, klagte sie über Langeweile, gab es Verpflich-
tungen, stöhnte sie unter ihrem Joch. Sie konnte
sich ausgelassen an einen Tisch setzen und em-
pört und frustriert die Tafel verlassen. Wenn sie
litt, litt ihre Umgebung mit.
Da es unmöglich für Tamaras Vater war, den Er-
fordernissen gerecht zu werden, fing er zu trin-
ken an, was schließlich die Ehe vollends ruinierte
und ihn aus dem Haus trieb. Zwei Jahre später
hatte er sich buchstäblich zu Tode gesoffen – Le-
berzirrhose.
Nun wurde Tamara zum Brennpunkt der Be-
mühungen ihrer Mutter Roswitta. Nie wurde sie
ihrer Mutter gerecht. Waren ihre Zensuren in der
Schule gut, wurde sie dennoch getadelt.
Der Zweite ist auch schon ein Verlierer ... Du
tust alles, was du kannst. Das reicht nicht, du
244
muss alles können, was zu tun ist ... Es steckt ein-
fach zu viel von deinem Vater in dir ...
Waren ihre Zensuren jedoch Bestnoten, dann
vertrat Roswitta den Standpunkt, dass Tamara
diese Note schlichtweg nicht verdient hatte, ein
Bewertungsfehler eben.
Tamara schob die Gedanken von sich und zog
Lukas stattdessen am Ärmel. „Sieh mal, der Ein-
gang und das blaue Licht sind fort.“
Lukas starrte eine Weile die Anlage an. „Zu-
mindest sind die Hunde uns nicht nachgekom-
men.“
„Wo sind wir?“, fragte Isabelle.
„In Sicherheit“, gab Lukas zurück.
„Und was tun wir jetzt“, fragte Tamara.
Lukas zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es
nicht. Ich würde sagen, wir warten einfach eine
Zeitlang und versuchen dann wieder zurückzu-
kommen. Die Hunde werden bestimmt nicht
ewig auf der anderen Seite lauern. Aber wenn
wir gleich zurück gehen, besteht Gefahr, dass
wir ihnen in die Arme laufen.“
„Hunde haben doch gar keine Arme“, warf Isa-
belle ein.
245
„Ja, das ist sehr klug von dir, mein Schatz. Sie
haben nur Beine“, gab Lukas zurück.
Tamara presste die Lippen aufeinander. „Wer
sagt, dass wir wieder zurück können?“
„Ich weiß es nicht“, sagte Lukas finster. Er setzte
Isabelle auf die Erde und sank auf die Knie, da-
bei fiel Tamara auf, wie erschöpft er war.
Sie atmete dreimal tief durch, ballte die Hände
zu Fäusten, wandte sich behutsam um und ging
prüfenden Schrittes auf die Steinsäulen zu. Ganz
so roh und unbehauen wie es den Anschein ge-
habt hatte, war der Stein nicht. Auf ihm waren
seltsame Runen und keltische Knoten wie von
Meisters Hand eingemeißelt, jene sich wirbeln-
den Muster, die sich winden und verknoten und
doch kehrte die Linie oder das Band immer wie-
der zum Ausgangspunkt zurück.
Sie betrachtete den Stein eingehend, doch sie
fand nichts, was ihnen in dieser höchst uner-
quicklichen Lage weiterhelfen konnte. Einen
Moment schaute sie sich nochmals die Gegend
um sie herum an, erblickte jedoch nur eintöni-
gen, schmutzigen Nebel. Es war zum Verzwei-
feln.
246
Lukas und Isabelle waren lautlos neben sie ge-
treten und machten ihre eigene Inventur der An-
lage. Lukas ging auf den Eingang des Steinhü-
gels zu und stellte sich davor.
„Sei lieber vorsichtig!“, rief Tamara. „Nicht, dass
du plötzlich wieder auf der anderen Seite bist
und wir sitzen hier ohne dich fest.“
Lukas schüttelte den Kopf. „Das glaube ich
nicht. Schau mal. Hinter dem Eingang siehst du
den Innenraum. Da ist kein blaues Licht und
auch keine Brücke wie vorhin, selbst die Luft
rührt sich nicht. Kommt und seht.“ Er winkte sie
zu sich heran.
Vorsichtig und mit respektvollem Abstand lug-
ten Tamara und Isabelle in den Innenraum des
bienenkorbartigen Gebildes. „Was ist das nur für
ein seltsames Ding?“, fragte Tamara.
„Das ist ein Cairn“, sagte Lukas.
„Ein Kern, wie Kirschkern?“
„Nein, ein Cairn, ein Steingrab, künstlich aus
Steinen errichtet mit einer oder mehreren Kam-
mern. Die alten Megalithkulturen und auch die
Kelten, glaube ich, bauten solche Dinger.“
„Und wozu taugt das hier?“
247
„Wenn ich das nur wüsste. Vielleicht ist es tat-
sächlich ein Ort des Übergangs wie der Abt ge-
sagt hat, ein Verbindungspunkt zwischen zwei
Welten“, entgegnete Lukas.
„Wo sind wir hier?“, fragte Tamara und fürchte-
te die Antwort
„Ich weiß es nicht. Komm wir schauen uns das
Ding von innen an.“
„Du willst dort hinein gehen?“, sagte Tamara
und zog eine Grimasse.
„Komm, es wird schon nichts geschehen.
Schließlich können wir jetzt nicht ins Nichtstun
verfallen.“
„Hältst du es für möglich, dass wir in eine ande-
re Zeit geraten sind, wie in einem deiner Science-
Fiction-Bücher?“
Lukas überlegte einem Moment. „Jedenfalls sind
wir räumlich betrachtet durch die Außenmauer
des Klosters gegangen. Schau mal, die Kirche lag
ein wenig erhöht und grenzte unmittelbar an die
Wehrmauer, die sich wie ein Ring um die Klos-
teranlage zog und zum Wald hin steil abfiel. Das
heißt, wenn du in der Krypta stehst und ein Loch
durch die Außenmauer bohrst, kommst du nach
248
ein paar Metern irgendwo in Bodennähe hinter
der Mauer heraus und stehst im Wald. Aber da
sind wir offenkundig nicht. Ich sehe hier keine
Bäume und auch keinen Schnee, ebenso ist es
nicht so kalt, wie es sein sollte. Daraus schließe
ich, dass wir an einem völlig anderen Ort sind.“
Sie nahmen Isabelle zwischen sich und gingen
langsam auf den Eingang zu. Lukas streckte als
erster den Kopf hinein und zog sie hinter sich
her. Die Luft drinnen roch feucht und modrig.
Tamaras Augen gewöhnten sich schnell an die
Dunkelheit. Der Boden schien aus festgetretenem
Lehm zu bestehen, die Wände aus nacktem Stein,
genauso wie außen. Langsam tasteten sie sich in
der Dunkelheit voran, fanden jedoch nichts Un-
gewöhnliches.
„Ich will hier raus“, sagte Isabelle.
„Ja, das ist wohl Beste“, sagte Lukas. „Hier ist
nichts, das uns weiterhilft.“
Draußen angekommen, resümierte Tamara: „Al-
so hat sich das Portal, oder wie auch immer ich
es nenne, geschlossen.“
„Sieht ganz so aus“, sprach Lukas resigniert und
ließ den Kopf sinken. „Na, wunderbar.“
249
Tamara wandte sich an ihn. „Besser als von den
Hunden zerfleischt zu werden. Findest du
nicht?“
Er hob den Zeigefinger. „Das Argument ist ma-
kellos.“
„Kommen wir jetzt nie wieder zurück“, fragte
Isabelle und sah abwechselnd von Tamara zu
Lukas.
„Doch das werden wir“, sagte Tamara mit we-
nig Überzeugung in der Stimme. Die Erkenntnis
ging ihr jetzt erst völlig auf und potenzierte ihr
Entsetzen ins Unendliche.
„Und wenn nicht?“, hakte das Mädchen nach.
„Doch wir werden einen Weg finden!“, sagte
Lukas fest. „Auf jeden Fall ist es uns gelungen
diese Hunde abzuhängen. Das ist schon mal ein
Erfolg, genau wie Mama sagt.“
Tamara nahm die Gegend noch einmal genau in
Augenschein und drehte sich ein paar Mal um
ihre eigene Achse. Überall behinderte Nebel die
Sicht, doch plötzlich glaubte sie aus der Richtung
hinter dem Cairn etwas Licht wahrzunehmen.
„Sieh mal, Lukas. Dort ist es irgendwie heller.“
„Ja, da steht womöglich die Sonne.“
250
„Sollen wir nicht einmal in diese Richtung ge-
hen, vielleicht lichtet sich der Nebel und wir
können sehen, wo wir sind“, sagte Tamara.
„Gute Idee, hierbleiben und ewig warten bis sich
das Portal öffnet, können wir schließlich nicht.
Also los und bleibt dicht zusammen.“
Widerstrebend machten sie sich auf und beweg-
ten sich Schritt um Schritt in die Terra incognita.
Es glich mehr einem Vorantasten durch den Ne-
bel. Durch die Eintönigkeit verlor Tamara all-
mählich jeden Begriff für Zeit. Irgendwann konn-
te sie nicht mehr sagen, wie lange sie durch diese
Waschküche gegangen waren, es konnten ge-
nauso gut Minuten wie Tage gewesen sein. Ein-
gebettet und geborgen in einem Verlorensein,
umfing sie ein Gefühl von absoluter Einsamkeit.
Irgendwann hatte sie die Möglichkeit, dass sie
wieder zu dem Cairn zurückzufinden würden,
beiseite geschoben. Doch sie erwähnte Lukas ge-
genüber nichts von ihren Zweifeln, da ihre Lage
ohnehin schon aussichtslos erschien. Wie sie ih-
ren Mann kannte, schätzte er die Situation ge-
nauso ein, schwieg aber wie sie aus Gründen der
Rücksichtnahme.
251
Schnell ging ihr auf, dass es nahezu unmöglich
sein würde zu dem Cairn zurückzufinden, da
nichts Orientierung bot, doch was ihr mehr
Angst bereitete, war die Tatsache, dass egal wo
sie gingen oder standen, die unmittelbare Umge-
bung immer dieselbe Eintönigkeit besaß. Jeder
Fleck, den ihre Füße fanden, war karges und
feuchtes Ödland, währenddessen konnten sie
keinen Moment weiter als zehn Meter sehen. Er-
bittert kämpfte Tamara, die in ihr sich hoch kei-
mende Panik nieder. Waren sie auf ewig ver-
dammt durch diesen gottvergessenen Abschnitt
im Raum-Zeit-Kontinuum zu pilgern? Für ihre
kleine Tochter hätte sie sich wahrlich ein anderes
Ende gewünscht, weniger früh und weniger
kläglich.
Isabelles kleine Beine wurden allmählich müde,
sodass Lukas sie huckepack nahm. Dadurch ka-
men sie etwas schneller voran, doch nichts und
niemand begegnete ihnen. Tamara war norma-
lerweise ein Mensch, der sich selbst genügte. Sie
hatte keine Probleme damit, auch mal eine Weile
allein zu sein ohne gleich Einsamkeit zu empfin-
den, sie brauchte nicht viele Leute um sich zu
252
haben, und ihr reichte von jeher ihre kleine Fami-
lie als einziger Umgang – aber das hier war et-
was völlig Anderes. Der Zustand glich einem
Wachsein ohne aufzuwachen, gefangen wie in
einem Übergangsstadium vom Halbschlaf in die
erschreckende Realität – die schiere Angst zu
existieren, das zu sein, sich selbst zu sein.
Die Konfrontation mit dieser absoluten Einsam-
keit, diesem Abgeschnittensein, löste in ihr tiefe
Niedergeschlagenheit aus, die einer Depression
gleichkam. Mit schwerem Gang schleppte sie
sich hinter Lukas her. Die Empfindung, nur noch
alleine zu existieren, verursachte ein derart star-
kes Identitätsgefühl, das es ihr körperlich wehtat.
Es war die Machtlosigkeit, dieses Getrenntsein
von allem Lebendigen, welches jeden Menschen
in den Wahnsinn treibt. Wäre nicht Lukas und
Isabelle bei ihr gewesen, hätte sie vermutlich auf
der Stelle durchgedreht – niemanden zum An-
fassen, niemanden zum Anlehnen. Hemmende
Verzweiflung war ihr ständiger Begleiter.
Und dann diese unnatürliche Stille. Das Einzige
was sie vernahm, war das stete, monotone Tap-
pen, das ihre Füße auf dem Untergrund erzeug-
253
ten. Es zeitigte eine einschläfernde Wirkung auf
ihr Gemüt, sodass Tamara allmählich in einen le-
thargischen Zustand hinüber glitt, obwohl ihre
Sinne geschärft waren wie noch nie. Die chaoti-
sche Leere weckte ihr Menschsein und tötete es
zugleich. Ob dies durch die dumpfe Eintönigkeit
um sie herum verursacht wurde oder ob ein äu-
ßerer Einfluss dem zugrunde lag, darüber konnte
sich kein Urteil erlauben. Irgendwann wehrte sie
sich nicht mehr dagegen, ließ es geschehen und
gab sich der öden Ewigkeit hin. Ihre Gedanken
waren ein wirrer, fiebriger Strudel mentaler Ak-
tivität.
Das moderne Bewusstsein kennt keine Verankerung
im Ewigen mehr, sondern nur noch einsames, ziello-
ses Treiben. Was sind wir Menschen doch für arme
Geschöpfe, dachte sie und wusste selbst nicht ge-
nau wie sie auf derlei Gedanken kam.
Mechanisch zog sie hinter Lukas her, immer ge-
radeaus durch den unheilvollen Dunst, manch-
mal fühlte sie Zuversicht, dass sie doch noch
herausfinden würden, dann war ihr, als breite
sich Wahnsinn aus.
254
Als Tamara meinte, es würde nie enden, ge-
wahrte sie, dass der schmutzige Nebel sich all-
mählich lichtete. Das Gelände begann auch un-
merklich anzusteigen und wurde zunehmend
geröllhaltiger.
Mit einem Mal standen sie vor einer Felswand,
die nahezu lotrecht in die Höhe wuchs. Tamara
starrte an ihr empor, wo ihr Blick sich in dem
ständig vorhandenen Nebel verlor. Einen Au-
genblick keimte das obskure Gefühl in ihr auf,
die Wand könnte Übergewicht bekommen und
auf sie stürzen.
„Drüber hinweg klettern, ist wohl nicht drin“,
murmelte Lukas mehr zu sich selbst und seine
Stimme klang seltsam fremd in ihren Ohren.
„Endsville, der Ort wo alle Züge enden ...“, sin-
nierte sie.
Lukas sah seine Frau entgeistert an. „Was redest
du da?“
„Ach, das war nur ein Zitat aus dem Roman
Stark von Stephen King. War nur so dahin ge-
sagt.“
„Das Buch kenne ich nicht. Werde ich mal lesen,
wenn wir wieder daheim sind.“
255
Wenn wir je wieder daheim sind.
„Wir können den Fels bestimmt umgehen“, sag-
te Lukas.
„Welche Richtung?“
„Da haben wir nur zwei Möglichkeiten. Links
oder rechts herum.“
Sie entschieden sich für Links. Der Nebel lichtete
sich immer mehr und Tamara beglückwünschte
sich für ihre Entscheidung. Der Weg führte
durch eine trostlose Gegend, überall fand das
Auge nur raue, zerklüftete Felsen mit schmalen
jäh endenden Simsen. Braun, grau und granitfar-
ben waren die vorherrschenden Farbtöne. Nir-
gendwo machte man ein Pflänzchen oder ein zart
vor sich hinplätscherndes Rinnsal aus, das einen
Eindruck von Leben vermittelt hätte. Ohne tiefer
darüber nachzudenken, gingen sie voran.
Allmählich änderte die Gegend ihr Antlitz. Ver-
kümmerte Bäume, vollkommen kahl, als hätte
der Frühling noch nicht begonnen, standen am
Wegesrand, wie ein ausgezehrtes Dämonenheer
und hatten es irgendwie fertig gebracht sich im
Fels festzubeißen. Ihre gebeugten Äste wirkten
256
wie gichtbrüchige Klauen, als wollten sie jeden
Augenblick nach den Wanderern greifen.
Erst jetzt fiel Tamara auf, dass sie sich auf so et-
was wie einem ausgetretenen Pfad bewegten, auf
dem schon vor ihnen jemand – oder etwas – ge-
gangen war. Die erschöpften Wanderer kämpf-
ten sich den Pfad hinauf, der von zwei eng beiei-
nander stehenden Bergzügen eingerahmt wurde.
Der Weg führte zwischen den beiden Felswän-
den hindurch. Es herrschte dort beinahe absolute
Düsternis, aber sie hatten keine andere Wahl,
entweder sie gingen voran oder wieder zurück.
Sie entschieden sich für Ersteres. Es war zugleich
feucht und prickelnd kalt, die Luft stank – der
verderbliche Geruch ewiger Dunkelheit. Sie
überstiegen allerlei Hindernisse und zwängten
sich durch Kurven und Biegungen. Im spärlichen
Licht schlugen sie sich mehrmals das Schienbein
oder den Ellbogen am scharfkantigen Gestein
blau. Isabelle klammerte sich mit beiden Armen
in Lukas‘ Nacken.
Der Schacht begann allmählich beklemmend auf
Tamaras Gemüt zu drücken. Panisch hielt sie
sich dicht hinter Lukas gedrängt, der unbeirrt
257
voran schritt. Tamara musste an weit gedehnte
Wiesen und das Meer denken, die immer schon
ein ganz eigentümliches Gefühl in ihr herauf be-
schworen hatten, obwohl sie Letzteres seit ihrer
frühen Jugend nicht mehr gesehen hatte. Dieser
Weg verkörperte für sie in allem das genaue Ge-
genteil. Mit jedem Schritt schien ihr, rückten die
Wände ein Stück näher. Alles was sie sah, war
ein Anblick im Wechselspiel von absoluter Dun-
kelheit und trübem Licht. Die Verzweiflung
wuchs.
Sie passierten eine Stelle, an der die Wände so
eng beieinander standen, dass ein dicker Mensch
befürchten musste auf ewig dazwischen stecken
zu bleiben. Tamara versuchte die grässliche Vor-
stellung zu verdrängen, was ihr nur teilweise ge-
lang. Jedoch war an ein Umkehren nicht zu den-
ken, zu weit waren sie schon in diese Ödnis vor-
gedrungen.
Mit einem Mal drang an ihre Ohren so etwas
wie das Rauschen des Windes, der sich in einem
Gewölbe verfangen hatte. Obwohl das Geräusch
sehr leise war, vernahm sie es überdeutlich, im
258
starken Kontrast zu der unnatürlichen Stille von
vorhin.
Lukas hatte es anscheint auch vernommen.
„Spürst du auch etwas?“
„Meinst du den Wind?“
„Ja, man merkt ganz deutlich, dass die ganze
Zeit die Luft nicht in Bewegung war, jetzt aber
schon. Ist irgendwie seltsam.“
Tamara wusste nicht, ob sie das Phänomen posi-
tiv oder negativ werten sollte, jedoch hörte man
genauer hin, klang es mit etwas Phantasie wie
das Geflüster abertausender Geisterstimmen, die
in den tiefen des Höllenschlundes stöhnten.
Wenn sie sich zu lange darauf konzentrierte,
glich es einem lästerlichen Johlen. Sie versuchte
die Gedanken von sich zu schieben, den Geist zu
leeren. Schicksalsergeben setze sie einen Fuß
nach dem anderen auf den harten Untergrund,
da sie keine Alternative besaß.
Nach einer Weile fühlte sie sich beobachtet und
meinte etwas Lebendiges wahrzunehmen. Sie
kniff die Augen zusammen und blickte an sich
hinunter, dabei sah sie im unsteten Licht eine
Ratte über ihren Fuß grabbeln. Sie machte einen
259
Satz zurück und stieß einen keuchenden Laut
aus.
Lukas wirbelte herum, sodass er fast das Gleich-
gewicht verlor. „Was ist los?“
Sie antwortete nicht sofort, sondern suchte den
Weg vor sich ab. Hier und da sah sie eine kleine
Gestalt huschen. „Ratten!“, sagte sie nach Atem
ringend.
Lukas’ Haltung verkrampfte sich. Mit ange-
strengtem Blick betrachtete er den Boden.
„Komm“, sagte er und streckte die Hand nach
Tamara aus. „Es bleibt uns nichts anderes übrig,
als den Weg fortzusetzen. Komm, je schneller
wir hier raus sind, desto besser.“
Tamara biss sich auf die Lippe und packte die
ihr dargebotene Hand. So gingen sie weiter, und
sie zwang sich dazu nicht nach unten zu sehen.
Nach Stunden lichteten sich die Felswände, und
sie gelangten auf die andere Seite des Berges, wo
zu ihrer Überraschung frühlingshaftes Wetter
herrschte, was dazu beitrug, dass das entmuti-
gende Gefühl in Tamara sich relativierte, welches
ihr Herz seit ihrem Aufbruch gefangen hielt.
260
„Ich werd verrückt!“, stieß Lukas überrascht aus
und schritt rasch voran. Zügigen Schrittes ging
er mit Isabelle im Nacken den Hang vor ihnen
hinab und setzte seinen Fuß auf eine weitläufige
Aue, wo ihm ein frischer Wind entgegen blies,
der den honigsüßen Duft des Frühlings mit sich
trug. Verzückt und zugleich verwirrt betrachtete
Tamara die sanft gerundeten, smaragdgrünen
Hügel, die sich stromlinienförmig vor ihnen aus-
breiteten, und ließ ihren Blick über die Land-
schaft schweifen. Dabei war sie starr vor Stau-
nen, ob dieses radikalen Szenenwechsels.
Die weitläufigen, grasbewachsenen Wiesen
leuchteten in citrusartiger Pracht, deren Reinheit
ihr den Atem nahm. Die Wiesen wirkten heller
und schöner, als alle, die sie bisher gekannt hatte.
Ebenso die vereinzelten kleinen Waldungen, die
in der Gegend verstreut lagen, schienen makello-
ser und feiner gearbeitet, als die in ihrer Welt zu
sein. Auch der Himmel hatte mehr mit Pfauen-
federn und Lapislazuli gemein als mit dem her-
kömmlichen Himmelblau. Einen Augenblick
weidete Tamara sich an dem überwältigenden
Anblick, bis sie Lukas und Isabelle hinterher lief,
261
die schon ein Stück den Hang hinab gegangen
waren. Isabelle war wieder auf der Erde und
ging zwei Meter versetzt neben ihrem Vater.
Tamara hatte schnell zu ihnen aufgeschlossen,
als Lukas plötzlich mit einem Ruck stehen blieb.
„Was ist? Was hast du?“, fragte Tamara.
Lukas wies auf eine kleine Waldung in einiger
Entfernung, in dem die Schwaden eines Feuers
gen Himmel stiegen. „Da vorne ist jemand.“
262
11
Langsam gingen sie in die Waldung und hielten
wachsam die Augen offen. Lukas bedeutete
ihnen mit auf den Lippen gelegten Zeigefinger
leise zu sein. Er setzte sich in Bewegung, dicht
gefolgt von Tamara und Isabelle. Nach ein paar
Schritten spürte Tamara eine Veränderung der
Umgebung. Es war kühler im Innern des Hains
und feucht - der Geruch von Rauch, moosüber-
wachsenen Baumstämmen und herab gefallenen
Blättern stieg ihr in die Nase. Die Luft war still
und der Wald schwieg. Kein Laut war zu hören,
kein Wind in den Blättern, kein Rascheln im Un-
terholz, kein Vogelruf.
Vorsichtig tastete sie sich vorwärts. In den Bäu-
men waren seltsame Schnitzereien. Sie blieb kurz
stehen, spannte sich und legte die Hand auf den
Stamm des Baumes neben ihr. Die Rinde war ab-
geschabt worden, und in das glatte Holz eine Fi-
gur eingeschnitzt. Vorsichtig betastete sie das
grobe Abbild mit den Fingern. Es gab noch mehr
263
davon, beinahe an jedem Baum. Sie stieß Lukas
in die Seite und wies ihn mit stummer Geste auf
die Schnitzereien hin, woraufhin dieser nur mit
einer fragenden Miene antwortete.
Der kleine Hain kam ihr vor wie ein Ort der
Macht, wie ein Nemeton, in dem heidnische Dru-
iden die Kräfte des Feuers, der Erde, des Wasser
und der Luft beschwörten. Sie spürte die Stille
des Hains - eine Stille, die seit undenklicher Zeit
zu bestehen schien, länger als Menschen auf der
Erde wandelten, eine Stille, die jeden Laut über-
wältigte, die beruhigte, schlichtete, befriedete mit
einem Frieden, der alle Dinge mit sich selbst ver-
söhnte.
Seltsam, dieser Ort.
Mit lautlosen Schritten schlichen sie tiefer in die
Waldung. Sie streifte im Vorbeigehen mit den
Händen an den rauen Stämmen der großen
Bäume entlang und roch den süßen, trockenen
Rauch von brennendem Eichenholz.
„He, sie da!“, rief mit einem Mal hinter ihnen ei-
ne Stimme. Sie war tief und dominant und muss-
te zu einem Mann gehören. Sie fuhren herum
und gingen in Habachtstellung. Ein Mann kam
264
durch das Dickicht auf sie zu. Seine mehr als mit-
telgroße und gedrungene Gestalt hatte etwas
Urwüchsiges an sich. Der Kopf war ziemlich
groß im Vergleich zum Rest des Körpers, die
Stirn hoch und breit, die Lippen voll und die Ge-
sichtsformen waren sanft abgerundet. Seine
Kleidung war ein gedämpftes Chaos aus nicht
zueinander passenden Farben. Unter der dun-
kelblauen Tweed-Jacke trug er ein olivfarbenes
Hemd, darunter eine schwarze Hose mit brau-
nen Wanderstiefeln. Die verbogene Brille auf
seiner Nase hätte es dringend nötig gehabt ge-
putzt zu werden. Er kam ihr vor wie die neueste
Variante von Doctor Who.
„Bin ich froh, dass ich endlich jemanden hier
treffe. Sie sind bestimmt auch Weltenwanderer.
Hab ich recht?“
Lukas warf Tamara einen fragenden Blick zu
und sagte an den Mann gewandt. „Was meinen
sie?“
„Na, ob sie Weltenwanderer sind. Sie sind doch
auch noch im Fleisch, genau wie ich. Wo sind sie
rübergekommen? Ich ging im Dachsteingebirge
durchs Portal“, sagte er gutgelaunt, als spräche
265
er über eine Urlaubsreise und darüber welche
Autobahn oder Fluggesellschaft er dafür ge-
nommen habe.
Tamara besah sich den Mann noch einmal ge-
nauer. Seine Miene besaß etwas Freundliches
und die graublauen Augen waren von einer
wohlwollenden Milde beseelt. Das braune Haar
trug er gescheitelt in den Nacken herabfallend
und das Kinn war von einem gleichfarbigen
Vollbart umhüllt, aus dem vereinzelt graue Fä-
den hervorblickten. Tamara glaubte nicht, dass
von ihm Gefahr ausging. „Ich muss ihnen geste-
hen, wir wissen weder, wo wir sind, noch wie
wir dorthin kamen.“
Das anfangs freundliche Lächeln erstarb und
wich aufrichtigem Mitgefühl. „Ach herrje, ist der
Prozess tatsächlich schon soweit fortgeschritten.
Hat die Katastrophe schon eingesetzt.“
„Welchen Prozess meinen sie und was für eine
Katastrophe?“, fragte Lukas verwirrt.
Der Mann schien zu überlegen und seine flinken
Augen betasteten sie nacheinander, als würde er
sie auf ihren Wert schätzen. „Ach, kommen sie
266
erst mal mit. Hier lässt sich nicht gut reden“, sag-
te er, drehte sich herum und winkte sie nach.
Sie folgten dem etwas egozentrisch wirkenden
Mann. Mit langsamem, etwas schwerfälligem
Gang schritt er voran und bahnte sich seinen
Weg durch das Dickicht. Wie scheue Rehe folg-
ten sie ihm. „Dies ist ein Nemeton“, hörte Tama-
ra ihn sagen, während er vorneweg ging „ein ur-
alter Ort, ein heiliger Ort.“
„Ist sonst noch jemand hier?“, fragte Lukas.
„Nein, sie drei sind die ersten Menschen, die ich
seit meiner Ankunft in dieser Welt antreffe.“
Das Unterholz lichtete sich, und sie gelangten an
einen Ort mit einem Erdhaufen vor dem Eingang
zu einer Höhle. Die Höhle hatte einen eingefass-
ten Eingang mit zwei rechteckigen Steinpfosten,
über denen ein steinerner Türsturz lag. Die bei-
den Pfosten hatten Schädelnischen, mit Schädeln
darin von Vögeln und anderem Getier. In dem
Türsturz waren seltsame Ornamente und kelti-
sche Knoten eingemeißelt, welche man mit blau-
er Waidfarbe hervorgehoben hatte. Über einer
Feuergrube an einem Spieß brutzelte irgendein
Tier.
267
„Bevor sie mich fragen, wer an diesem Ort vor
mir war, so muss ich passen. Ich habe alles so
vorgefunden, wie es war, ohne jemanden anzu-
treffen. Ich vermute, dass der oder die Bewohner
dieser Stätte – oder welchem Zweck sie auch
immer diente – sie vor einiger Zeit aufgegeben
haben. Doch kommen sie, setzen sie sich ans
Feuer. Ich habe einen Hasen erlegt. In meiner Ju-
gend war ich mal ein ganz brauchbarer Speer-
werfer.“ Er hielt Lukas einen angespitzten
Eschenstab hin, an dessen Spitze noch Blut kleb-
te. „Wir essen eine Kleinigkeit zusammen und
wenn wir was im Magen haben, sieht die Welt
schon gleich ganz anders aus. Richtig? Ein biss-
chen Geselligkeit, bis wir uns über unsere Auf-
gabe Gedanken machen müssen.“
Stumm kamen sie seiner Aufforderung nach
und ließen sich vor dem Feuer nieder. „Sie schei-
nen ja recht genau zu wissen, wo sie sind und
auch weshalb“, sagte Lukas.
Der Mann sah Lukas eindringlich an, als habe
dieser eine tiefschürfende, philosophische Äuße-
rung gemacht, doch er blieb ihm die Antwort
schuldig, stattdessen schlug er sich gegen die
268
Stirn und sagte: „Erst mal Vorstellung! Mein
Name ist Viktor Engdahl, in meinem wahren Le-
ben bin ich Antiquar und Lebenskünstler.“
Lukas nannte auch ihre Namen.
„Gut, gut. Dann kenne ich sie jetzt alle ihrem
Namen nach. Aber jetzt wird gegessen.“ Er be-
gann mit einem Schweizer Armeemesser an dem
Braten über dem Feuer herum zu sägen.
„Vielleicht können sie uns ein paar Fragen be-
antworten. Kann es sein, dass wir hier in einer
anderen Welt gestrandet sind?“, fragte Lukas.
„Oh, das ist ganz gewiss so“, gab er gleichmütig
zurück. „Wo war ihr Ort des Übergangs.“
„In einem Kloster, genau gesagt in der Krypta
von einem Kloster, in der Nähe unseres Heimat-
dorfes“, warf Tamara ein.
„Ist noch nicht ganz durch“, sagte Viktor abwe-
send und stocherte mit der Klinge in dem Braten
herum. Er bückte sich und blies in die Glut des
Feuers, dass die Flammen nach oben griffen. Das
Fett das ins Feuer tropfte und der Geruch der
Holzscheite ließen Tamaras Magen knurren.
„In Ordnung!“, sagte Viktor schließlich und
schlug sich auf den Oberschenkel. „Ich merke,
269
sie haben absolut keine Ahnung, was mit ihnen
passiert ist und wo es sie hin verschlagen hat.
„Sie bringen es auf den Punkt“, gab Lukas zu-
rück. „Obwohl wir vermuten, dass es sich um ei-
ne Art von anderer Dimension handelt.“
„Ja, so könnte man sagen.“ Viktor graulte seinen
Bart und kaute nachdenklich auf der Unterlippe.
„Dieser Ort, diese Welt, ist ein Übergang zwi-
schen unserer manifesten Welt und der jenseiti-
gen Welt.“ Er dachte eine Weile darüber nach
und gab ein leises, kehliges Grollen von sich, als
er seine Worte in seinem Geist bewegte und ih-
ren Wahrheitsgehalt abwog. „Es gibt so viele
Namen für den Ort, wo wir uns befinden. Aber
der Begriff Ort gefällt mir nicht. Ich denke, der
Begriff Zustand greift hier besser. Die Kelten hät-
ten es vielleicht mit Annwn umschrieben.“
„Die keltische Anderswelt“, stellte Tamara fest.
„Präzise!“, kommentierte Viktor die Äußerung,
als habe sie bei einem Ratespiel die richtige Ant-
wort gegeben. „Aber vergessen wir nicht, dass
Annwn nur die Vorstufe zum Jenseits, eine Ni-
sche zwischen unserer Welt und der jenseitigen
ist – jedoch unendlich in seiner Ausdehnung.“ Er
270
hob einen Ast auf und malte drei konzentrische
Kreise auf den Erdboden. „Dies sind die Kreise
der Schöpfung. Nach der druidischen Schöp-
fungsvorstellung ist Abred der innere Kreis, un-
sere materielle Welt, die Sphäre alles Körperli-
chen und Sterblichen. Dort herrscht der stete
Kreislauf aus Tot und Wiedergeburt.
In Gwynydd, dem dritten Kreis, dem lichten
Jenseits dagegen ist alles belebt und unsterblich,
es ist die strahlende Sphäre des Göttlichen, zu
der alles zurückkehren wird. Man nennt es auch
das Reich der Gesegneten. Nach Gwynnydd gibt
es nur noch Ceugant, was die Unendlichkeit ver-
körpert, das Reich Gottes, welches alle drei
Schöpfungskreise umfasst.
Jedenfalls in Annwn, dem zweiten und mittleren
der drei Kreise, treffen sich die innere und die
äußere Unendlichkeit. Diesseits und Jenseits
prallen dort aufeinander. Verstehen sie etwa,
was ich meine?“
„Ein wenig“, sagte Lukas.
„Jedenfalls sind wir jetzt hier und haben die
Chance das Gleichgewicht zwischen unserer
Welt und dieser Welt wieder herzustellen. In
271
diesem Lichte wird es also zu einer Angelegen-
heit von höchster Wichtigkeit, erstens, herauszu-
finden, wodurch das Gleichgewicht sich ver-
schoben hat, und es sodann wieder ins Lot zu
bringen. Andernfalls ... wird unsere Welt unter-
gehen.“
„Moment mal, das war mir jetzt zu sprunghaft.
Sie glauben also“, sagte Tamara, „dass all diese
Katastrophen in unserer Welt davon herrühren,
dass etwas in der Anderswelt nicht mehr so ist,
wie es sein soll.“
„Ja, das denke ich.“
„Aber was hat diese Welt oder Dimension oder
Zustand oder Weiß-Gott mit unserer Welt zu
tun?“, fragte Tamara.
„Nun, sie ist das Konzept für unsere Welt“, sag-
te Viktor.
Lukas hob die Hand. „Stopp, da komme ich jetzt
nicht mehr mit.“
„Nun, ich denke, dass unsere Welt und diese
Welt miteinander verbunden sind und in Wech-
selwirkung stehen. Sehen sie sich doch um! Die
äußere Beschaffenheit in der Geisterwelt, also
das was sich dem Auge zeigt, ist im Grunde die
272
Selbe wie in der materiellen Welt. Es gibt Bäume,
Berge, womöglich auch Tische, Stühle und sol-
cherlei, eben alles was es auch in unserer Welt
gibt. Dieser Jenseitsglaube mag nun etwas zu na-
iv-kindlich anmuten, um tatsächlich wahr zu
sein, doch schon der schwedische Mystiker
Emanuel Swedenborg geht von der Kausalität
aus, dass alles was es in unserer materiellen Welt
gibt, seine eigentliche Ursache in der geistigen
Welt hat. Diesem Gedankengang folgend, hätte
ein gewöhnlicher Gegenstand wie ein Stuhl oder
eine Gabel von uns Menschen nie erdacht und
gebaut werden können, wenn er nicht zuvor in
der geistigen Welt faktisch existiert hätte. Unsere
Welt und diese hier korrespondieren miteinan-
der, sie stehen in Wechselwirkung und unsere
Welt schöpft aus dieser geistigen Ebene. Hier
entsteht unser kollektives Unbewusstes, die Ur-
bilder und Vorstellungsmuster, die in uns Men-
schen Bestand haben. All unsere Mythen, unsere
Märchen, unsere zivilisatorischen Errungen-
schaften und unsere Kunstwerke rühren von der
Anderswelt her, wo sie vorgebildet wurden.
273
Jedenfalls ist meine Hypothese, dass etwas das
Gleichgewicht zwischen den Welten gestört hat.
Aber was genau passiert ist, weiß ich nicht.“
„Aber was kann das denn sein und überhaupt,
was soll so schlimm daran sein, dass es bis in un-
sere Welt hinein strahlt?“, sagte Tamara.
„Liebe Frau, die Anderswelt ist nicht nur eine
Welt in einer Koexistenz zu unserer Welt, quasi
eine Art Paralleluniversum wie in einem Fan-
tasy-Roman, sie ist das Konzept für unsere Welt,
die Ursache für unsere bloße Existenz.“
Niemand äußerte sich zu Viktors Ausführun-
gen. Die Flammen leckten nach wie vor an dem
bratenden Fleisch. Der Geruch ließ Tamara das
Wasser im Mund zusammenlaufen, und plötz-
lich spürte sie, wie leer ihr Magen war. Eine Wei-
le lauschte sie dem Zischen des brodelnden Fet-
tes, während die heißen Säfte in den Flammen
verdampften. Ihr war schwindlig vor Hunger.
„Ich denke, es ist gar. Lasst uns essen. Später ha-
ben wir noch genug Zeit zu reden. Ich merke, sie
sind nicht sehr bewandert in der Jenseitslehre.
Doch das lässt sich ändern.“
274
„Uns würde es schon genügen, wenn wir wieder
einen Weg nachhause finden würden“, entgeg-
nete Lukas.
„Nun, dazu müssen wir einen Nexus finden, der
offen ist“, entgegnete Viktor leichthin.
Dann hörte Tamara ein lautes Knacken und ein
dumpfes, reißendes Geräusch, und bevor sie sich
versah, hielt Viktor einen dampfenden, gebrate-
nen Schenkel in Händen. „So, meine Kleine, du
bist sicher sehr hungrig“, sagte er an Isabelle ge-
wandt.
„Oh, ja“, entgegnete Isabelle und leckte sich
über die Lippen, während sie die Keule anstarrte
und ihre kleinen Hände rang.
„Ich habe extra das beste Stück für dich heraus-
gesucht“, zwinkerte Viktor ihr zu und drückte
ihr das Fleisch in die Hand.
„Danke!“ Isabelle begann erst zaghaft zu knab-
bern und dann immer größere Streifen abzubei-
ßen, um sie sich in den Mund zu stopfen. Tamara
sah, dass es ihr letztlich sehr gut schmeckte,
nachdem die anfängliche Scheu verflogen war.
Auch Lukas und Tamara bot er von dem Fleisch
an, die bereitwillig zugriffen. Tamara musste sich
275
zurückhalten, um nicht zu gierig zu essen, derart
gut schmeckte das Fleisch. Ihr war, als hätte sie
nie etwas Besseres gegessen. Irgendwann been-
deten sie ihr Mahl.
Kurz darauf stand Viktor blitzartig auf, stemmte
die Arme in die Seite und betrachtete die Umge-
bung mit angestrengtem Blick. „Ich würde sagen,
wir brechen jetzt auf. Ich denke nicht, dass noch
andere Weltenwanderer kommen und wenn,
dann treffen wir sie bestimmt unterwegs.“
„Sie meinen, dass noch andere Menschen ab-
sichtlich oder unabsichtlich sich hierher verirren
könnten. Sie sagten doch eben noch, dass diese
Welt praktisch unendlich in ihrer Ausdehnung
sei“, gab Tamara zu bedenken.
„Nun ja, ich bin der Meinung, dass es kein Zu-
fall ist, dass sich unsere Wege kreuzten. Gerade
in der geistigen Welt zieht Gleiches stets Gleiches
an. Es kommt auf die Gesinnung an. Wenn es
noch mehr Weltenwanderer gibt, wie ich vermu-
te, und sie die gleiche Intention wie wir haben,
dann werden wir ihnen früher oder später be-
gegnen“, sagte Viktor optimistisch.
276
„Ehrlich gesagt“, sagte Lukas, „sind wir nicht so
ambitioniert wie sie. Wir wollen eigentlich nur
nach Hause, und wenn sie uns mit ihrem Wissen
auf diesem Gebiet behilflich sein könnten, wären
wir ihnen sehr dankbar.“
Viktor maß Lukas eine Weile. „Ja, ich verstehe
ihr Anliegen. Schließlich haben sie ein Kind da-
bei.“ Er wies auf Isabelle. „Und unser Vorhaben
kann sich durchaus als gefährlich erweisen. Von
daher ist es vielleicht wirklich das Beste, wenn
sie sich in Sicherheit bringen. Denn ich bin mir
immer noch nicht ganz im Klaren, was das Un-
gleichgewicht in dieser Welt hervorgerufen hat.“
Er maß sie alle mit durchdringendem Blick, dem
Tamara standzuhalten versuchte. „Also am bes-
ten gehen wir. Und bitte, duzen wir uns.“
„In Ordnung“, entgegnete Lukas.
Sie verließen den Hain und schritten eine Weile
durch die Landschaft, ein hinreißend romanti-
sches Naturgemälde, mit vielfach wechselnden
Formen und Farben. Tamaras Auge bekam nicht
genug von den diamandschimmernden Flüssen,
glänzenden Bergen und weiten Ebenen, durch
die sie eine Weile gingen.
277
Allmählich gelangten sie in eine ödere Gegend.
Beinahe unmerklich änderten sich die Beschaf-
fenheit der Landschaft und die Vegetation, auch
nahm die Färbung der Atmosphäre einen trübe-
ren Ton an. Der Untergrund wurde steiniger und
karger, auch wollte die Sonne nicht so recht in
dieses Tal dringen, wenngleich das Zwielicht
immer noch genug Licht spendete, um alles in
der Umgebung zu erkennen.
Die eben noch verloren geglaubte Beklommen-
heit ergriff wieder Besitz von Tamara. Unwill-
kürlich ging sie dichter neben Lukas und nahm
Isabelle an die Hand. Viktor schien das alles
nicht zu bekümmern, mit Georg Friedrich Hän-
dels Sarabande auf den Lippen schritt er vorne
weg.
Dünne Dunstschleier, die sich allmählich gebil-
det hatten, zogen träge über dem Erdboden. Die
Wanderer gelangten in eine flache Ebene, die sie
eine Weile durchzogen. Von Weitem konnte man
es noch nicht genau erkennen, doch als sie nahe
genug herangekommen waren, stimmte Tamara
die dortige Szenerie sonderbar, als wüsste sie
278
nicht, ob dies Scherz oder Ernst war. Das Bild
wirkte zugleich schauerlich und deplatziert.
Viktor bemerkte ihre Irritation und sagte:
„Kommt ruhig weiter, es wird uns nichts ge-
schehen.“
„Ihr Wort in Gottes Gehörgang“, keuchte Tama-
ra.
In unregelmäßigen Abständen ragten aus der
steinigen Ebene kegelförmige Hügel heraus, die
von unten nach oben spitz zusammen liefen.
Über das Material war Tamara sich im Unklaren,
sie sah, dass es sich um eine Art grauen Stein
handelte, der die Beschaffenheit von glatt polier-
tem Marmor besaß. Zwischen diesen Hügeln
bewegten sich Menschen umher. In Schlange
standen sie vor den Gebilden, um nacheinander
oder mehrere zugleich, die Hügel zu erklimmen.
Oben angekommen, ergriff sie offensichtlich der
Schwindel, sie verdrehten in einer theatralischen
Geste die Augen und rutschen auf der anderen
Seite wieder hinab. Unten angekommen, verharr-
ten sie in der Regel nicht lange, sondern drehten
sich um und lachten über die ihnen Nachkom-
menden. Die Gesichter dieser Menschen hatten
279
einen kranken Zug, die Haut war bleich und das
Haar stumpf und spröde. Ihre Augen lagen tief
in den Höhlen und ihre Augenbrauenknochen
sprangen wulstig hervor, hinzu kam, dass sie rot
gerändert und lethargisch in die Ferne starrten.
Zwischen Verwunderung und Entsetzen
schwankend verweilten die Wanderer bei diesem
morbiden Spiel. Es hatte den Anschein, dass sie
die Ankommenden gar nicht wahrnahmen, der-
art waren die Kreaturen in ihre sinnentleerte
Verrichtung vertieft.
„Was machen die da?“, fragte Isabelle.
„Ich weiß es nicht“, gab Tamara zurück.
Tamara wollte Isabelle erst auf ihre Arme heben
und mit ihr fortgehen, doch sie ließ es bleiben,
allzu viel hatte ihre Tochter in diesen Tagen
schon gesehen, sodass sie ihr ein Gefühl von
Normalität und Sicherheit vermitteln wollte und
nicht alles was ihnen noch bevorstünde unnötig
hocheskalieren zu lassen.
„Kommt, wir gehen“, sagte Viktor, nahm Tama-
ra sanft am Ellbogen und zog sie fort.
Sie gingen durch die befremdliche Szenerie hin-
durch, ohne von den Kreaturen in irgendeiner
280
Form behelligt zu werden. Sie entfernten sich ein
Stück. Weiter hinten fiel die Ebene ab, und sie
gelangten in eine mit kümmerlichen Bäumen
bewachsene Senke.
„Großer Gott, was waren das für arme Kreatu-
ren?“, rief Tamara.
„Das waren Seelen, die in dieser Sphäre gefan-
gen sind“, sagte Viktor.
„Aber was hat es denn mit diesem eigentümli-
chen Treiben auf sich und was meinen Sie mit
dem Begriff Sphäre?“, sagte Lukas und deutete
in die besagte Richtung.
„Nach dem steiermärkischen Seher und
Schreibmedium Jakob Lorber, 1800-1864, den
seine Anhänger den Schreibknecht Gottes nann-
ten, ist die jenseitige Welt in Sphären eingeteilt,
die in ihrer Zahl unendlich sind. Es gibt in sei-
nem Jenseitswerk Die geistige Sonne Schilderun-
gen vom Jenseits, die mit denen des eben er-
wähnten schwedischen Sehers Emanuel Swe-
denborg übereinstimmen. Lorber war eine Art
Schreibmedium, dem von einer fremden Intelli-
genz, die er als Gott identifizierte, Worte diktiert
wurden. Nach Lorbers Terminologie gelangen
281
die meisten Verstorbenen – also die Seelen derer
– sofort nach dem Tod in das so genannte Mittel-
reich. Im Grunde das Selbe, was wir vorhin als
Anderswelt oder das keltische Annwn bezeich-
neten, also ein erdnahes Geisterreich und kein
fernes Jenseits.“
„Soll das heißen, dass wir womöglich tot sind?“,
fragte Tamara alarmiert.
„Diese Frage habe ich mir auch schon gestellt“,
gab Viktor offen zurück. „Aber ich denke, nein.
In dem Moment, wo wir die Schwelle überschrit-
ten haben, wurden wir lediglich transformiert
und sind irgendwo in einer Sphäre gelandet, in
die für gewöhnlich Verstorbene gelangen. Nach
dem Mystiker Lorber dient diese Phase der Ori-
entierung und des Kennenlernens des Geister-
reichs. Das Mittelreich gleicht einem großen Ein-
trittszimmer, wo alle ohne Unterschied des Stan-
des und Ranges eintreten.
Fast alle Seelen, so sie in Unvollkommenheit aus
dem Leben scheiden, gelangen drüben in eine
Welt, die der irdischen sehr ähnlich ist und die
sich räumlich – jedoch auf einer rein geistigen
Ebene – in Erdnähe befindet. Ist die Seele hier,
282
verliert sie, genauso wie wir, die Sehe für die ma-
terielle Welt. Sie entwickelt eine Art Phantasie-
welt, die sich aus Neigungen, Gedanken und
Sehnsüchten formt: Die traumartige Phantasie-
welt spiegelt quasi ihr Innenleben wieder, je nach
Beschaffenheit zeigt sich die Gegend himmlisch
schön oder höllisch düster. Und wir sind eben in
diese Sphäre gestolpert.“
„Und was taten diese Kreaturen vorhin?“, fragte
Lukas.
„Wer blind ist, der sieht nichts“, sinnierte Vik-
tor. „Unvollkommene Seelen merken oft gar
nicht, dass sie verstorben sind. Sie gelangen in
einen Zustand, der am ehesten einem Traum-
oder Phantasieleben gleicht. In ihrem Traumle-
ben handelt die Seele – in geistiger Entsprechung
– genauso, als würde sie sich noch auf der Erde
befinden, da sie ihre Phantasiewelt für feste Rea-
lität hält. Das liegt darin begründet, dass sich im
Jenseits die innere Vorstellungs- und Gedan-
kenwelt des Menschen in Form einer real wahr-
nehmbaren Außenwelt darstellt, da liegt der ent-
scheidende Unterschied zu unserer Welt. Das
heißt, das Innenleben des Menschen mit seinen
283
Gedanken, Gefühlen und Neigungen gestaltet
sich zu einer äußeren Lebenssphäre oder Wohn-
gegend.
Wir waren soeben in einer geistigen Sphäre mit
Seelen, die sich nach dem Ablegen ihres irdi-
schen Leibes noch nicht gefunden haben. Keine
erzbösen Menschen waren es, sondern Menschen
deren Seelenleben erstarrt und verkümmert war,
die zu Lebzeiten kopflastig waren und alles mit
dem Verstand zu erklären versuchten. Sie hatten
stark entwickelte Gehirne und waren das, was
wir auf Erden als hoch intelligent bezeichnen
mögen.“
„Aber wie kommst du denn darauf?“, fragte
Tamara.
Er stieß ihr freundschaftlich in die Seite. „Das
Gehirn mit seiner Fülle an Wissen und Informa-
tionen, die dort hinterlegt sind, können nach
dem Ablegen des Körpers nicht mit hierher ge-
nommen werden. Nur was wahrhaftiger Be-
standteil deines Seelen-Ichs ist, nimmst du mit in
die Welt des Geistes. Das tote Wissen bleibt zu-
rück, es sei denn, es wurde ein Teil deiner selbst,
sprich deiner Seele.
284
Nimm diese Kreaturen, wie du sagst, die auf
diesen spitzen, kegelförmigen Hügel stiegen und
oben angekommen, wieder hinunter rutschten:
Zu ihren Lebzeiten waren es wissbegierige Men-
schen, scharfsinnig und analytisch. Sie wollten –
symbolisch gesprochen – den Berg der Erkennt-
nis erklimmen, um in großer Höhe, die Geheim-
nisse der Himmel zu erfassen, und dachten der
Verstand sei dabei die höchste Waffe. Du hast
gesehen, wie sie immer wieder auf die Kegel
kletterten. Es ist klar, je höher sie – mit ihrer In-
telligenz – kommen, desto weniger Stand und
Grifffläche haben sie, und spätestens wenn sie
die Spitze vollends erreicht haben, besitzen sie
keine Standfläche mehr und lassen sich wieder in
die Ebene rutschen, wo sie herkamen. So ist es
bestellt, um das irdische Wissen. Je höher wir es
damit treiben, desto weniger Stand haben wir. Ist
man oben auf dem Kegel, ergreift einen der
Schwindel und man rutscht hinab. Sie simulieren
ihr Erdenleben. Erkennst du die klare Sprache
des Geistes darin?“
„Ich bin mir nicht sicher“, sagte Tamara.
285
„Sie durchlaufen solch eine Phase der Orientie-
rung. Diese Prozesse können nach menschlichem
Zeitgefühl oft Jahrhunderte in Anspruch neh-
men, je nach Reife der Seele, obwohl Zeit hier
weniger Bedeutung hat als in der manifesten
Welt. Genau wie in den Kundgaben Sweden-
borgs wird in den Offenbarungen Lorbers betont,
dass der Mensch in seinem Denken, Fühlen, Wol-
len und seinen Ansichten im Grunde immer
noch der Gleiche ist wie zu Erdenzeiten. Danach
kommt es allmählich zu einem Zustand des Er-
kennens, der wahren Natur der Seele und die
Motive und der Charakter treten unverhüllt zu-
tage. Da der innere Zustand des Menschen, oder
besser gesagt des Geistes, auch in Wechselwir-
kung mit seiner äußeren Umgebung im Jenseits
steht – Swedenborg und Lorber benutzen hierfür
das Wort ‚Entsprechung’ – so kann je nach inne-
rer Beschaffenheit des Betrachters, die Gegend
hell und schön oder düster und trostlos sein. Es
hängt somit alles von der Konstitution der Seele
ab.
Nach Swedenborg und Lorber sind Himmel und
Hölle keine eschatologischen Vorstellungen einer
286
jenseitigen Unterwelt oder ein Platz der Gotthei-
ten, also ferne Örtlichkeiten, sondern Lebens-
wirklichkeiten von Geistern, die einst als Men-
schen auf der Erde lebten. Eben das, was wir
vorhin sahen.“
„Also sind diese Kreaturen die Urheber ihres ei-
genen Zustandes“, warf Lukas ein.
„Ja, so in etwa“, sagte Viktor. „Ich will damit sa-
gen: Himmel und Hölle sind keine Namen für
tatsächliche Orte, sondern bezeichnen Zustände,
die ihren Platz in der Schöpfung haben. Der Tod
bewirkt demnach nur eines: Unser Seelenleben –
unsere Ängste, Sehnsüchte, Hoffnungen, Triebe –
tritt in äußere Erscheinung, manifestiert sich in
der jenseitigen Umgebung und gestaltet sich dort
und in uns zu einer Welt. Alles ist ein System
von Entsprechungen. Der Zustand dieser Krea-
turen entsprach ihrem Inneren.
Jeder Gedanke stellt sich hier als plastische Hül-
le dar. Das Ablegen des Körpers nach dem Tod
gleicht dem Ablegen einer Maske. Selbstbetrug,
Heuchelei und Eigenliebe zerfallen ins Nichts,
sodass die Seele sich in ihrer inneren Gestalt
zeigt. Die Gedanken sind an keine feste Form ge-
287
bunden, sondern ändern sich je nach Gesin-
nungswechsel. Sie sind real und phantomhaft
zugleich, doch für die Geister, die wir hier sahen,
sind sie vollkommene Realität.“
„Ich verstehe in etwa, worauf du hinaus willst,
aber von allein wäre ich nie darauf gekommen“,
entgegnete Lukas.
„Nun, mein Brotberuf ist Antiquar und oben-
drein bin ich ein verdammter Büchernarr. Ich
habe mich jahrelang mit mystischen und okkul-
ten Schriften auseinander gesetzt. Was man da
für allerlei Unsinn begegnet! Ich habe solche Bü-
cher gesammelt, quasi eine Bibliothek der Irrtü-
mer, doch gibt es Schrifttümer, die durchaus
ernst zu nehmen sind: Vor allem die Riesenwer-
ke der eben genannten medialen Genies.
Täglich schrieb dieser Lorber für mehrere Stun-
den, ohne die Feder abzusetzen oder im Schreib-
fluss inne zu halten, auch ohne irgendwelche
Nachschlagwerke zu rate zu ziehen, sondern nur
was die geheimnisvolle Stimme ihm diktierte.
Diese Tatsache wurde immer wieder von Au-
genzeugen bestätigt, die bei dem seltsamen
Schreibgeschäft zugegen waren. Im Laufe der
288
Jahre entstand ein Werk von astronomischer
Größe, das fünfundzwanzig eng gedruckte fünf-
hundertseitige Bände füllt, welche heutzutage
noch im Buchhandel erhältlich sind, die kleine-
ren Kundgaben nicht mitgerechnet. Die darin
enthaltenen Themen umfassen ein breites Spekt-
rum an Themen, wie die Erschaffung der Geis-
terwelt, das Leben im Jenseits, Kundgaben über
dem Aufbau des Universums, die Erschaffung
des Kosmos, Bibelauslegungen, erhellende
Kundgaben über den Erdenweg Jesu und Pro-
phezeiungen für die Endzeit. Das Besondere ist,
dass viele Darstellungen Lorbers, die um die
Mitte des 19. Jahrhunderts zu Papier gebracht
wurden, zum Teil erst vor wenigen Jahrzehnten
durch die wissenschaftliche Forschung Bestäti-
gung fanden. Die Übereinstimmungen Lorbers
mit Betrachtungen aus verschiedenen wissen-
schaftlichen Disziplinen sind teilweise so subtil,
dass Jakob Lorbers Verstand als Quelle dieser
Kundgaben nicht in Betracht gezogen werden
kann.
Und der 1688 geborene Swedenborg gilt als der
größte Universalgelehrte seiner Zeit. Auf nahezu
289
allen damaligen Wissensgebieten galt er als Ex-
perte beziehungsweise als Genie. Eine Vielzahl
von Patenten geht auf ihn zurück. Swedenborg
war zudem Mitglied des schwedischen Parla-
ments und wurde seiner Zeit geadelt. Nach einer
Christusvision zu Beginn seines letzten Le-
bensdrittels hatte er fast drei Jahrzehnte, nach ei-
genen Angaben, Zugang zur geistigen Welt. Da-
bei dokumentierte er seine praktischen Erfah-
rungen mit der geistigen Welt wissenschaftlich
genau, in noch heute erhältlichen Schriften.“
„Und daher hast du dein Jenseitswissen bezo-
gen?“, fragte Tamara.
„Ja, unter anderem, ich habe mich jahrelang mit
der Jenseitslehre und der Wissenschaft der Ent-
sprechungen befasst, erstellte Tabellen und such-
te nach Mustern und Gesetzmäßigkeiten. Ist gar
nicht so schwer, wenn man ein bisschen Übung
darin hat“, sagte Viktor leichthin. „Aber was ich
noch zu den Seelen da hinten sagen wollte. Diese
Seelen vegetieren in einem wenig bewussten Zu-
stand und reflektieren ihr Tun kaum. Im Grunde
wissen sie selbst nicht, wozu ihre eitle Kletterei
nütze ist – genau wie in ihrem Erdenleben. Sie
290
kommen, wie ihr gesehen habt, nicht umhin sich
selbst auszulachen. Nach menschlichem Zeitge-
fühl kann dieser Zustand Jahrhunderte für sie
andauern. Selten lösen sie sich schnell davon und
ziehen weiter in eine hellere Sphäre.“
„Aber das ist ja schrecklich!“, stellte Lukas fest.
„Mag sein“, sagte Viktor, „doch ich denke, ir-
gendwann glimmt etwas in den Seelen auf. Sie
beginnen in sich zu gehen und fragen sich, wa-
rum sie diesem törichten Treiben nachgehen. Sie
fragen sich ernsthaft, was sie denen voraus ha-
ben, die sich an dem Berg der verstandesmäßi-
gen Erkenntnis nicht versucht haben. Das ist
zumindest meine Interpretation. Dieser Zustand
sagt mir, dass der Weg zum Endziel des Men-
schen in ebenem Gelände kerzengerade verläuft
und es nicht vonnöten ist, jene Berge oder Kegel
zu erklimmen. Diese Seelen sind in einem Läute-
rungszustand, wo die menschliche Weltweisheit
sich allmählich abstumpft. Leider über oftmals
große Zeiträume, aber die Seelen leiden nicht
schwer, da sie in einer Art lethargischem Schwe-
bezustand sind. Was lehrt uns das? Vielleicht,
dass wir in einer Minute Erdenleben, mehr errei-
291
chen können, als in tausend Jahren Jenseits. Es ist
eine harte Schule, scheinbar unbarmherzig, die
Abtötung des menschlich toten Wissens.“ Viktor
hielt einen nachdenklichen Moment inne.
„Viktor, war das, was wir sahen ein Teil der
Hölle?“, fragte Tamara.
„Nein, es ist nicht die Hölle, wir sind in einer
Übergangsregion. Im Mittelreich – wenn ich bei
Lorbers Terminologie bleiben darf – dort triffst
du alles an, das Schöne und das Schaurige. Wir
könnten Jahrhunderte herumgehen und du er-
lebtest nicht mal den Trillionsten Teil davon.“
„Also ist dieser höllische Zustand als solches im
Grunde nicht mehr als ein Bild für die seelische
Verfassung dieser Menschen“, erwog Tamara.
„Ja. Sicherlich ist das, was wir sahen, höllischer
Art, aber es ist nicht an und für sich die Hölle, es
zeigt nur ungeschminkt die abgeschlossene An-
schauung eines Lasters, wie es sich in den jensei-
tigen Welt zeigt.“
So machten sie sich wieder auf den Weg. Sie wa-
ren nur ein kurzes Stück gegangen, als Tamara
sich umdrehte, um einen Blick zurückzuwerfen
und feststellte, dass sie sich bereits etliche Kilo-
292
meter von den ominösen Anlagen entfernt hat-
ten. Es war, als galten hier die Gesetze von Dis-
tanz und Perspektive nicht, fern war nah und
nah war fern. Sie stieß einen Ton der Überra-
schung aus und zeigte nach hinten.
„Ja, im Geisterland reist man unter Umständen
außerordentlich schnell“, lächelte Viktor sie an.
„Na, das wird ja immer obskurer“, bemerkte
Lukas.
„Ohne, dass man die Schnelligkeit der Bewe-
gung wahrnimmt“, fügte Tamara nicht ohne
Verwunderung hinzu.
Sie durchquerten eine menschenleere, kahle
Ebene. Eine vollkommene Ödnis breitete sich
seuchengleich in jede Richtung aus. Doch zu ih-
rem Glück ließen sie auch diesen Abschnitt ir-
gendwann hinter sich und gelangten schon bald
in ein Tal, umgeben von recht flachen und
schmutzigen Gebirgsrücken. Tamara erwartete
nichts Gutes dort vorzufinden. Lukas war wäh-
renddessen neben sie getreten und hatte ihre
Hand genommen, seltsamerweise gab ihr die un-
scheinbare Geste Kraft – Kraft irgendwo hinzu-
gehen, zu einem Ende das ungewiss war.
293
Es war weder Tag noch Nacht in der Senke. Die
Umgebung zeigte sich in gespenstisches Däm-
merlicht getaucht, und der Himmel war schäbig
verhangen. An den nackten Ginsterbüschen, die
dort wuchsen, rüttelte ein behäbiger Wind, der
die Kraftlosigkeit dieser Gegend trefflich charak-
terisierte. Es waren die einzigen Pflanzen, die
dort wuchsen, außer dem Gras unter den Füßen,
dem die Kraft der Sonne fehlte und in dem ver-
einzelte blinde Wasserpfützen hervorstachen.
Seltsamerweise sah man in dem Tal unter ihnen
Häuser, die in dieser Gegend unangebracht
wirkten. Während ihres Abstiegs setzte sich Lu-
kas Isabelle erneut in den Nacken, da die kleinen
Beine immer schwerer wurden. Sie gingen auf
einem geröllhaltigen Weg an den Häusern vor-
bei, die dort dumpf vor sich hin brüteten. Es
handelte sich um große, wuchtige Häuser mit
weiß getünchten, schmutzigen Fassaden mit
schimmeligen Strohdächern und rußgeschwärz-
ten Kaminaufsätzen. Die Wege waren nur grob
gepflastert und zeigten sich vernachlässigt. Als
erstes fiel Tamara auf, dass paradoxerweise in
294
Sonnenrichtung die Häuser weder Fenster noch
Eingänge aufwiesen.
Viktor hielt vor einem solchen Haus und wies
mit dem Finger auf die Haustür. „Habt ihr das
gehört?“
„Was gehört?“, fragte Lukas.
„Seid mal kurz leise!“, zischte Viktor.
Ein leises, kümmerliches Stöhnen drang hinter
der Haustür hervor.
„Seht mal, die Tür ist nur angelehnt“, sagte Vik-
tor und deutete auf den Eingang.
„Ja, und?“, fragte Lukas.
„Da ist jemand dahinter“, flüsterte Viktor.
„Ja, das höre ich auch.“
„Warte, ich schaue mal hinein“, beschloss Viktor
und drückte den hölzernen Türflügel langsam
nach Innen. Das Scharnier gab ein lang gedehn-
tes Quietschen von sich.
„Ich halte das nicht für eine gute Idee, Viktor“,
rief Lukas ihm hinterher.
„Reine Neugier, Lukas, reine Neugier, immer im
Dienste der Wissenschaft“, kam es zurück. Vik-
tor konnte nur wenige Schritte in das Haus getre-
ten sein, als er wenige Sekunden später wieder
295
im Eingang erschien und ihnen zu winkte. „Los,
kommt, das müsst ihr euch ansehen! Aber lasst
die Kleine draußen.“
„Was ist denn dort?“, fragte Tamara, erhielt aber
keine Antwort, da Viktor wieder im Haus ver-
schwunden war.
„Also, ich lasse Isabelle nicht allein hier draußen
warten“, sagte Lukas kategorisch. „Keine Ah-
nung, was er dort entdeckt hat. Geh du mal hin.
Sollte es sich lohnen, werde ich es mir später
noch anschauen.“
„Also, mein Interesse hält sich auch in Gren-
zen.“ Tamara rang einen Augenblick mit sich.
„Ach, was soll es.“ Sie machte eine wegwerfende
Handbewegung und ging widerstrebend auf den
Eingang zu. Als sie die Schwelle überschritten
hatte, marterte sogleich ein Geruch ihre Nase,
der sie an ranzigen Käse erinnerte. Der kurze
Flur mündete in einen Raum und was sie dort
drinnen sah, war unmenschlich. Viktor stand im
Türrahmen angelehnt und betrachtete die Szene-
rie, als handele es sich um eine Ausstellung über
prähistorische Salatschüsseln, zwar mit echtem
Interesse aber relativ emotionslos.
296
In einer kärglich eingerichteten Stube mit dunk-
lem, abgenutztem Parkett und weiß gekalkten
Wänden saß ein menschenähnliches Ungeheuer
auf einem breiten Stuhl. Es war fett, hatte Fisch-
augen, einen abscheulich herabhängenden Bauch
und nahm etwa ein Drittel der Kammer ein. Dre-
ckige, dicke Fettwülste hingen ihm von Hals und
Gesicht, ein scheußliches, fett gemästetes Wesen.
Der Bauch hing unsäglich weit hinab und breite-
te sich vor ihm aus. Der Kopf erinnerte an die
Physiognomie einer Hyäne. Seine Arme schienen
keine Gelenke zu besitzen, sondern bewegten
sich schlangenartig, und die Füße glichen den
Pranken eines Grizzlybären. Sein überproportio-
naler Bauch diente ihm paradoxerweise als Tisch,
wo er auf einem Spieß ein abgemagertes Men-
schenwesen aufgesteckt hatte. Genüsslich kaute
der Vielfraß an dem Aufgespießten, der sich in
seinen letzten Todeszuckungen wand. Beim
Kauen lief ihm der Sabber vermischt mit Blut
und Körpersäften die Mundwinkel hinab. Wäh-
renddessen griff er mit seinem Schlangenarm
nach dem nächsten Unglücklichen und stieß ihn
297
ebenfalls auf den Spieß. Dies alles geschah mit
erschütternder Routine.
Tamara wollte ihren Anblick losreißen und aus
dem Haus stürmen, doch es gelang ihr nicht, da
die abgründige Faszination des Schauspiels stär-
ker war. Vor dem Monster standen im Raum
noch drei weitere jämmerlich abgemagerte Ge-
stalten, vollkommen nackt und baten das Untier,
es möge sie auffressen.
„Bitte, friss uns! Nun mach schon!“, drängten sie
mit Stimmen, die dünn und spitz waren.
Tamara wandte den Blick ab und sah rechts ne-
ben der Tür einen Haufen abgenagter Men-
schenskelette liegen, an denen noch Fetzen fauli-
gen Fleisches hingen. Zu ihrem Entsetzen reali-
sierte sie, dass einige von ihnen sich noch beweg-
ten und unverständliche Flüche murmelten.
Tamara wurde schlecht, und sie rannte nach
Draußen, wo der Brechreiz übermächtig wurde
und sie sich in einem weiten Strahl dicht neben
der Hauswand übergab.
Lukas trat neben sie. „Tamara, was ist?“, fragte
er besorgt.
298
Keuchend kam Tamara hoch und wischte sich
mit dem Ärmel ihrer Jacke das Erbrochene aus
dem Mundwinkel. „Geht schon wieder.“
„Was ist da drin?“, fragte Lukas mit bebender
Stimme.
„Das willst du nicht wissen“, entgegnete Tamara
knapp und schnappte hastig nach Luft.
Im selben Moment trat Viktor ins Freie, die Tür
hinter sich zuschlagend.
„Eine tolle Idee uns da rein zu rufen“, fuhr
Tamara ihn an.
Viktor hob abwehrend die Hände. „Oh, verzeih
mir, bitte. Es geschah aus rein investigativen
Gründen. Ich dachte, es würde euch interessie-
ren. Ich dachte ... Bitte nicht mehr böse sein.“
„Es ist wohl das Beste, wenn wir von hier ver-
schwinden“, sagte Lukas und schritt mit Isabelle
voran. Tamara und Viktor folgten ihnen.
„Also dieses Bild, diese Entsprechung, wie du
sagst, mag begreifen wer will. Es ist grausam!“,
stieß sie hervor.
„Es ist womöglich der Zustand eines großen In-
dustriellen oder Geschäftsmannes aus unserem
Zeitalter, eines Wucherers“, sagte Viktor trocken.
299
„Das musst du mir jetzt aber wirklich erklären,
wie du darauf kommst“, sagte Tamara.
Viktor rückte seine Brille zurecht. „Nun, der Gu-
te hatte es auf Erden wohl als seine Lebensauf-
gabe angesehen, alles zu verspeisen, was ihm
zinserträglich schien. Er war vermutlich ein
Mann, der alle Schätze der Welt an sich gerissen
hat, der nie eine Träne vergoss über hungernde
oder verwaiste Kinder. Für Hungerlöhne ließ er
Menschen hart arbeiten, die keine andere Wahl
hatten.“
„Das hier übertrifft an Abscheulichkeit alles,
was ich mir auszumalen vermag“, bekräftigte
Tamara.
„Es übertrifft noch unterbietet es irgendetwas“,
sagte Viktor, „sondern ist lediglich die nackte
Wahrheit. Die geistige Entsprechung zum Leben
eines Menschen, der einst auf Erden wandelte.
Was tat dieser Handelsmann oder Geschäfts-
mann in seinem Erdenleben? Nimm doch mal
ein Metermaß und messe seinen Rachen, den er
nicht voll genug bekam. Es war der Kopf einer
Hyäne. Ich sage das ganz ohne Bitterkeit. Sieh dir
seine Arme an, der eine fährt ununterbrochen
300
ein, die andere ist ständig darauf aus, sich über
die Beute her zu machen.
Der Bauch steht wie ein Symbol für die Selbst-
sucht und Eigenliebe. Er benutzt ihn als Tisch,
quasi als Altar, wo er die Opfer seiner Habsucht
aufspießt. Du fragst dich, wen die armseligen
Menschlein vor ihm darstellten. Nun, ich könnte
mir vorstellen, dass es keine realen Seelen waren,
sondern lediglich Erscheinlichkeiten, sie verkör-
pern schlicht einen Teil der Seele des Wucherers.
Denkbar ist auch, dass sie zum einen die Klein-
händler versinnbildlichen, die dieser Großspeku-
lant Zeit seines Lebens auspresste, zum anderen
stellen sie die Völker anderer Länder dar, die mit
diesem Hause in Handelsverbindung standen,
ebenso jene, die für ein geringes Entgelt schufte-
ten. So in etwa.“
„Langsam verstehe ich, was du mit deiner Ent-
sprechungslehre meinst.“
„Ach, das ist gar nicht so schwer. Mit etwas
Übung kannst du uns bald die nächste Erschei-
nung deuten.“
„Das muss die unterste Hölle gewesen sein!“,
sagte Tamara.
301
Viktor zupfte nachdenklich an seinem Bart.
„Zumindest ist das, was du sahst, höllischer Art,
aber es bezeichnet nur das schwere Laster einer
Seele und ist nicht die Hölle selbst.“
Sie verließen die schmutzige Schlucht, Tamara
hing eine Weile ihren eigenen Gedanken nach
und sah nach Viktors Auslegungen das Erlebte
mit anderen Augen.
Ehe Tamara sich versah, fanden sie sich auf ei-
nem der höheren Gebirgsrücken wieder. Ihren
Augen bot sich ein befremdlicher Anblick: Auch
das Tal unter ihnen lag in einem finsteren Gra-
ben ohne Sonnenlicht. Es war ein einziges düste-
res Loch mit Erdaufwürfen, die zu groß gerate-
nen Maulwurfhügeln glichen. Tamara dachte
sich, dass dort unten unmöglich jemand Wohnen
konnte.
„Umgehen ist wohl nicht drin“, stellte Lukas
fest.
„Wir müssen da durch“, sagte Viktor.
„Wenn wir nur wüssten, wo wir hingehen“,
stöhnte Tamara.
„Komm Schatz, alles wird gut.“ Lukas reichte
ihr die Hand, welche sie ergriff.
302
Sie machten sich an den Abstieg und blieben vor
dem ersten Erdhaufen stehen, der sich ihnen in
den Weg stellte und alles in allem recht un-
scheinbar wirkte.
Plötzlich drangen aus dem Erdreich des Hügels
eine Reihe dicker, schlangenartiger Geschöpfe
hervor und sperrten ihre giftigen Rachen auf,
während sie ein gurgelndes Geräusch von sich
gaben. Lukas, Tamara und Isabelle fuhren alle-
samt zurück. Viktor, der am dichtesten davor
stand, machte einen Satz nach hinten, blieb je-
doch an einer Unebenheit im Gelände hängen,
strauchelte rückwärts und setzte sich auf sein
Hinterteil. Wie die Chtulhu-Monster aus einer
Schauermär des Autors H.P. Lovecraft wälzten
und wanden sich die schlüpfrigen Körper.
Viktor erlangte als Erster wieder die Fassung. Er
ging auf den Schlangenhügel zu, als sei nichts
geschehen.
„Pass bloß auf!“, warnte Lukas.
Er schien Lukas Einwand zu ignorieren und gab
ihnen mit einer Geste zu verstehen, ihm auf die
Rückseite des Hügels zu folgen. Mit einem ge-
wissen Widerwillen folgten sie ihm. Dort ange-
303
kommen, sahen sie ein Loch in dem Erdaufwurf
nach der Art eines Fuchsbaues.
„Seht einmal“, sagte Viktor. „Kommt ruhig nä-
her, uns kann nichts geschehen.“
Obwohl Tamara es eigentlich nicht wollte, ging
sie neben Viktor in die Hocke und lugte in den
Hügel, der hohl war und einen Innenraum bilde-
te. Lukas blieb wiederum mit Isabelle zurück.
Im Hintergrund sahen sie ein Wesen kauern in
Gestalt eines Drachen, klumpfüßig und mit
Schuppenpanzer. Nicht, dass Tamara jemals et-
was gegen jene Fabeltiere gehabt hätte, doch die-
ser besaß einen menschlichen Kopf, offenkundig
den einer Frau, aber anstatt Haare krümmten
sich um ihn eine Unzahl kleiner Schlangen, die
sie mit feurigen Augen anstarrten. Im Vorder-
grund sah man eine unbestimmte Anzahl
menschlicher Gestalten, bleich und ausgemer-
gelt, die an Händen und Füßen geknebelt waren.
Eine Menge freier Schlangen kroch um sie her-
um, biss den Gepeinigten die Adern auf und
saugte ihnen das Blut ab.
Das scheußliche Drachenwesen mit dem von
Schlangen umwundenen Haupt hielt in einer
304
Pranke ein glühendes Schwert, um das eine
Schlange geschlungen war und in der anderen
eine Schriftrolle. Es verging eine Weile, als plötz-
lich die Schlangen einige der höchst unglücklich
scheinenden menschlichen Wesen vor das sit-
zende Ungeheuer zogen. Tamara und Viktor ver-
folgten den Vorgang atemlos, ohne, dass die
Kreaturen sie auch nur wahrnahmen. Emotions-
los schlug das Monster die Unglücklichen mit
dem Schwert in viele Stücke. Alles ging wie in
tollwütiger Raserei von Statten. Als es abließ, er-
götzten sich die Schlangen zu seinen Füßen an
dem Blut. Dies alles sah Tamara, bevor sie sich
zutiefst angewidert abwandte.
Auch Viktor kam wieder auf die Beine.
„Kommt“, sagte er, „ich denke, wir haben genug
gesehen.“
Sie entfernten sich wortlos und verließen ohne
zurückzublicken das Tal.
„Welches Laster auf Erden soll denn diesem
Schauerbild entsprechen?“, fragte Tamara immer
noch voll Ekel.
Viktor überlegte ein paar Herzschläge lang, als
müsste er sich seine Worte zurecht legen. „Es
305
entspricht der tyrannischen Herrschaftspolitik
auf unserer Erde. Verstehe darunter aber nicht
weise Staatsklugheit, von guten Politikern und
Regenten, die über ihr Volk wachen und sich für
es einsetzen. Dieses Bild versteht sich als die höl-
lische Cleverness, mit der Menschen sich auf die
schändlichste Kriecherei versuchen irgendeinen
Posten oder Amt zu verschaffen, durch den sie
über andere herrschen können.
Haben sie ein solches Amt, dann verschanzen
sie sich hinter nach außen scheinender Recht-
schaffenheit, Bescheidenheit und geheuchelter
Ausgeglichenheit. Aber ihr Umfeld ist voll lau-
schender Schlangen, die nach außen blicken und
wachen – denke an die Schlangenköpfe in dem
Erdhaufen von eben –, ob sich ihrer Fassade
nichts nähert, was sie entlarven könnte.
Dass es der Beute in der Wohnung dieses We-
sens schlecht ergeht, hast du augenscheinlich ge-
sehen. Das glühende Schwert, um das sich eine
Schlange wand, bezeichnet die erschlichene
Herrscherstelle, also irgendein Amt, Fach oder
Beruf während des Erdenlebens. Die Schlangen,
anstatt Haaren auf dem Kopf des Wesens, sind
306
das rastlose Streben nach noch mehr Gewalt und
Einfluss. Übrigens, die Schlange um das Schwert
herum deutet darauf hin, dass die anvertraute
Macht mit großer Schlauheit errungen wurde.
Du weißt, die Schlange ist ein Symbol für die List