Daniel Daub
Apokalypse
Roman
© 2013 AAVAA Verlag
Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2013
Umschlaggestaltung: AAVAA Verlag, Berlin
Coverbild: Fotolia.de, #46245220 -Planet in danger, © Ig0rZh
Printed in Germany
ISBN 978-3-8459-0577-8
AAVAA Verlag
www.aavaa-verlag.com
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Alle Personen und Namen innerhalb dieses Romans sind frei erfunden. Ähnlichkei-ten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
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Für meine Eltern
3
1
Mit konfuser Deutlichkeit sah Lukas den Geist
neben dem Bett des sterbenden Mannes. Das
Wesen stand einfach nur reglos da und starrte
auf den Beinahetoten hinab. Manchmal unter-
brach der Geist seine Starre und vollführte un-
deutbare Bewegungen mit seinen Händen in der
Luft über dem Sterbenden, denen Lukas keinen
Sinn einzuleiben vermochte.
Lukas konnte sie praktisch von Kindesbeinen an
sehen, sodass diese Erfahrung für ihn schon zur
Alltäglichkeit geworden war, ihn aber dennoch
stets aufs Neue mit Verwunderung erfüllte.
Trotz des häufigen Umgangs mit ihnen konnte er
sich bis heute über die meisten ihrer Handlungen
keine Rechenschaft ablegen. Hier jedoch schien
klar zu sein, dass der Lebensfaden vom alten
Hans bald reißen würde. Das Geistwesen würde
ihn hinübergeleiten – wohin auch immer.
In den achtundzwanzig Jahren, die Lukas lebte,
hatte er noch nicht viele Menschen sterben sehen,
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doch er wusste, wenn jenes ätherische und sil-
bern pulsierende Kraftfeld um sie herum zum
Versiegen kam, dass es mit ihnen zu Ende ging.
Und der alte Hans hatte bereits in dem Moment,
als Lukas die Tür zu dem Zimmer betrat, keine
Aura mehr gehabt – wie Lukas diese Erschei-
nung in Ermangelung eines besseren Begriffes zu
nennen pflegte.
Neunzig Jahre hatte der Mann, den alle im Ort
nur den „Alten Hans“ nannten, diesen Körper
bewohnt. Bis ins hohe Alter war er rüstig gewe-
sen, bis er sich vor drei Tagen wegen Unwohl-
sein ins Bett gelegt hatte und nicht mehr aufge-
standen war. Hans war ein Original gewesen
und starb nun in dem gleichen Haus, in dem er
als Säugling in dieser Welt einst erwachte.
Lukas löste seinen Blick von dem Sterbenden
und sah zu der Frau des alten Mannes hinüber,
die eingesunken auf dem Stuhl neben ihm saß
und die Hände wie zum Gebet ineinander ver-
schränkt hatte. Lene hatte Lukas gerufen, als sie
merkte, dass es mit ihrem Ehemann zu Ende
ging, denn für den alten Hans war Lukas so et-
was wie ein Sohn gewesen. Als Lukas vor drei
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Jahren mit Frau und Tochter hier im Ort ankam,
praktisch besitzlos, nur mit einem alten Auto, ei-
nem Anhänger mit ein paar Habseligkeiten und
so gut wie keinem Geld in der Tasche, da hatte
der alte Hans ihnen geholfen, weil auch er schon
bittere Zeiten hinter sich hatte.
Lukas machte sich um Lene wenig Sorgen, sie
würde mit dem Verlust klarkommen. Sicherlich
würde sie traurig sein, aber in ihrem Alter besaß
der Tod nicht mehr jene einschüchternde Wir-
kung, die er auf jüngere Menschen ausübt.
Sie legte ihre Hand auf die Stirn ihres hinschei-
denden Mannes. „Vor drei Stunden hat er das
letzte Mal gesprochen, dann trat Lethargie ein“,
sagte sie leise in die Stille der Kammer hinein.
„Kurz davor bestand er darauf, verkehrt herum
ins Bett gelegt zu werden, mit dem Gesicht nach
Osten, zum Heiland, hat er gesagt. Dann sagte er,
ich solle kein betrübtes Gesicht machen. Der Tod
hätte für ihn keinen Schrecken mehr und würde
ihn endlich erlösen von diesem irdischen Leben.“
Lukas kommentierte ihre Äußerungen mit ei-
nem Nicken.
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Eine Weile saßen sie noch still am Bett, der Atem
des alten Hans ging immer flacher, bis der Brust-
korb sich nur noch wenig und sehr langsam hob
und senkte. Lastende Stille lag in dem Zimmer,
dass sie beinahe zu greifen war. Lukas schaute
aus dem Fenster, vor dem sich mit einem halben
Meter Schnee eine klirrend kalte Winterland-
schaft lang und weit erstreckte. Die Sonne war
bereits hinter den Hügeln verschwunden, und
die Dunkelheit rückte beharrlich heran. Noch ei-
ne Weile saßen sie stumm an dem Bett, bis die al-
te Frau in die Stille hauchte: „Ich glaube, er ist
jetzt tot.“
In diesem Moment registrierte Lukas, dass auch
der Geist am Fußende des Bettes nicht mehr an-
wesend war. Es war ein schöner Geist gewesen,
fand Lukas, auch wenn es sich um eine Art
Schönheit handelte, die nicht mit irdischen Maß-
stäben zu messen war, da ihr eine gewisse Selt-
samkeit innewohnte. Meist besaßen diese Wesen
menschenähnliche Gestalt und unterschieden
sich in ihrem grundlegenden Äußeren nur wenig
von herkömmlichen Menschen. Dennoch gab es
sie in allen möglichen Erscheinungen. Manche
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hatten monströse Gesichter wie die Masken bei
der alemannischen Fastnacht, anderen haftete
etwas Vampirähnliches an, und wiederum ande-
re wirkten krank und ausgemergelt. Daneben
gab es jene, die wunderschön waren und ir-
gendwie erdentrückt. Manche von ihnen jedoch
wirkten so normal, dass es schon wieder unnor-
mal war. Sie redeten nicht und bewegten sich
vollkommen lautlos, dabei konnten sie sich nach
Belieben auflösen und wieder erscheinen, durch
Wände gehen oder sogar durch einen hindurch,
wie es Geistern nun mal eigen ist.
Früher, als Lukas noch jünger war, hatte er ver-
sucht mit ihnen zu reden, doch auf irgendeine
Weise schienen sie nicht ansprechbar zu sein,
obwohl sie durchaus mit der manifesten Welt in
Wechselwirkung standen und konkret auf Ge-
schehnisse reagierten, wenngleich ihre Handlun-
gen für Lukas oft keinen Sinn ergaben.
Lukas legte seine Hand auf die Hand der alten
Frau, welche wiederum auf der des Toten lag. So
verharrten sie eine Weile. Lukas verabschiedete
sich in Gedanken von seinem Freund und über-
legte, was er der alten Witwe sagen sollte, doch
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bevor er einige nichtssagende Trostworte von
sich geben würde, entschied er sich lieber den
Mund zu halten. Stattdessen sagte er: „Soll ich
morgen früh wieder vorbei kommen, damit wir
ihn beerdigen können?“, fragte Lukas.
Eine Träne löste sich aus den rotgeränderten
Augen der alten Frau, rann die Wange hinab und
tropfte auf ihre Schürze. „Nein, nein, drei Tage
muss er noch hier bleiben, dann erst beerdigen
wir ihn. Wir werden ihn am Waldrand in der
Nähe von dem alten Wegkreuz vergraben.“
„In Ordnung, ich werde morgen trotzdem bei
dir vorbei schauen – natürlich nur, wenn es dir
recht ist.“
„Ja, tu das.“ Sie nickte verhalten.
Noch vor weniger als einem Jahr wäre das Ver-
graben von Leichen in der freien Natur als eine
höchst fahrlässige Ordnungswidrigkeit angese-
hen worden, sinnierte Lukas, doch seit dem gro-
ßen, globalen Wirtschaftcrash letztes Jahr im Ok-
tober mit allem was er mit sich brachte, nahm
man es mit solchen Dingen nicht mehr allzu ge-
nau. Nicht dass die Welt auseinandergebrochen
wäre, es gab immer noch Gesetze und einen
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Staat, doch einen chronischen Mangel an Geset-
zeshütern und einer ausführenden Gewalt, die
Dieses oder Jenes verlangen oder durchsetzen
konnten. Alles war durcheinander. Zwar wurden
noch Steuern erhoben, um den Staat irgendwie
zahlungsfähig zu halten, doch es gab keinen
Schulzwang mehr, keinen Impfzwang, keinen
Versicherungszwang, keinen Leinenzwang für
Hunde oder sonstige Reglementierungen. Seit
dem Crash hatten die Regierungen genug damit
zu tun, staatliches Leben zu erhalten.
Und so war es auch mit Beerdigungen. Man
brauchte keine Genehmigung von einem Minis-
terium oder der Ortspolizeibehörde für eine pri-
vate Grabstätte, da der Staat sich ohnehin im
Ausnahmezustand befand. Man verzichtete auch
auf die Leichenschau und Todesbescheinigung
eines Arztes, da das einst so hoch gelobte Ge-
sundheitssystem nur noch rudimentär vorhan-
den war, und eine Beerdigung konnte sich ohne-
hin kein Bürger mehr leisten, da die Hyperinfla-
tion alles Geld dermaßen entwertet hatte, dass es
nicht mal für die Grundbedürfnisse reichte.
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Selbst Lukas als studierter Biologe mit nur ober-
flächlichen Kenntnissen in Ökonomie hatte da-
mals eine Katastrophe im Finanzsystem herauf-
ziehen sehen. Der kleine Wirtschaftscrash des
Jahres 2008 und der von 2014 waren nur die
Vorboten des großen Knalls von 2017 gewesen.
Rückblickend lag alles auf der Hand, aber zuvor
hatten nur wenige Zyniker und Pessimisten da-
mit gerechnet.
Es muss noch früher Morgen am 04. Oktober
2017 gewesen sein, als die Computer der Banken
in New York City registrierten, dass eine ausge-
machte Krise nahte. In den Handelszentren rund
um den Globus schrillten die automatischen Te-
lefonrufsysteme wie Kriegssirenen, welche die
Finanzmanager in ihre Vorstandsbüros beorder-
ten. Die Börsenkurse stürzten in nie gekannte
Tiefen. Die Panik war nicht mehr abzuwenden.
Mittags bildeten sich bereits Schlangen von
ängstlichen Anlegern an den Bankschaltern. Ein
Bankmob nach dem anderen wurde zahlungsun-
fähig und ging über die Klinge. An der
Wallstreet krachte es unaufhörlich, genauso in
London, Frankfurt und Tokio, woraufhin man
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die Aktienmärkte schloss und den Handel ein-
stellte. Es zog sich über Wochen hin und täglich
hörte man in den Medien von Vermögensver-
nichtungen, Bankpleiten, Kursverlusten und Ar-
beitslosigkeit, doch es war nur die Spitze des
Eisbergs.
Nach den Konjunkturprogrammen der Regie-
rungen in aller Welt stellte sich eine Phase der
Stabilisierung ein. Man redete einmal mehr da-
von, dass die Talsohle der Wirtschaftskrise
durchschritten sei und man bereits das Licht am
Ende des Tunnels sah. Wie sich herausstellte,
war das Licht lediglich die Scheinwerfer des Zu-
ges, welcher der Welt entgegen raste. Man ver-
suchte alles: Setzte die Leitzinsen auf null Pro-
zent und versorgte das marode Finanzsystem
mit Scheinblüten.
Die Gangster im Nadelstreif hielten das aufgeta-
kelte Scheinsystem solange wie möglich aufrecht,
bis im Dezember des Jahres 2017 der Deckel
endgültig wegflog. Der totale Kollaps trat ein
und mit ihm die größte wirtschaftliche Depressi-
on der Menschheitsgeschichte. Es folgte eine
Bankenkrise nie dagewesenen Ausmaßes, gefolgt
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von der Verstaatlichung aller Banken mit exorbi-
tanten Kosten. Der Euro brach auseinander und
der Dollar wurde als Weltleitwährung fallen ge-
lassen. Als der Abverkauf einsetzte, verlor die
US-Währung ihre gesamte Kaufkraft, selbst Toi-
lettenpapier besaß plötzlich einen höheren inne-
ren Wert als der Dollar. Die Blase der Staatsan-
leihen, die von Lehrbuchinvestoren immer wie-
der angepriesen worden war, platzte und eine
Megawelle von Staatsbankrotten setzte ein, ge-
folgt von Firmenpleiten, die wie eine Feuerwalze
um die Welt lief.
Die globale Finanzelite und unfähige, korrupte
Politiker hatten den Bogen überspannt und das
Finanzsystem ausgehöhlt. Die Preise für Rohstof-
fe und Lebensmittel stiegen innerhalb weniger
Monate ins Gigantische. Der Inflationsdruck
wurde immer größer und das produzierende
Gewerbe kam zum Erliegen. Geld verlor stünd-
lich an Wert. Letztlich akzeptierte man nur noch
Realgüter und physische Edelmetalle wie Gold,
Silber und Platin. Der moderne Kapitalismus
entwickelte sich allmählich zu einer Tauschwirt-
schaft. Die Fitness- und Spaßgesellschaft war
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Vergangenheit. Genauso die Zeit in der Medi-
enzare das Volk dumm hielten und Zentralban-
ker es arm – denn nun waren mit einem Schlag
alle arm.
Binnen Kurzem verloren die meisten Leute ihre
Arbeitsstelle, ebenso Haus, Auto, Vorsorge und
Pension, weil der Staat bankrott war. Niemand
half einem, weder die Bank noch das Sozialamt.
Die Massenarmut explodierte, plötzlich ging es
nur noch darum, eine warme Mahlzeit und eine
Schlafstelle zu finden. Das finanzielle Armaged-
don zog eine Welt der Kriege, des Chaos, von
Hunger und Durst, der Gesetz- und Obdachlo-
sigkeit sowie der Völkerwanderungen nach sich.
In den heruntergewirtschafteten Großstädten,
ökologisch verwüstet und überbevölkert, stritt
man sich in guerillaartigen Kriegen um die letz-
ten winzigen Flächen ausgelaugten Agrarbodens
und vor den Küsten Europas versenkten die Mi-
litärs die anlandenden Flüchtlingsboote.
Die Bürger in Krisenzeiten zu schützen und zu
versorgen, war stets eine hoheitliche Aufgabe
des Staates, verfassungsrechtlich verankert durch
die staatliche Pflicht zur Daseinsvorsorge. Das
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behauptete zumindest der Bundeskanzler in ei-
ner Fernsehansprache. Elementar war hierbei die
Nahrungsmittelversorgung. Mit dem Zusam-
menbruch der Weltwirtschaft brach auch die Lo-
gistik von Gütern und Waren für die ersten Mo-
nate komplett zusammen. Binnen weniger Tage
waren die Supermärkte leer gekauft. Die Men-
schen benahmen sich wie Tiere, um noch ein
Stück des Kuchens zu ergattern, der längst
durchgeschimmelt war. Wo war Vater Staat?
Irgendwie vergaß die Bundesanstalt für Land-
wirtschaft und Ernährung das Dorf in dem Lu-
kas mit seiner Familie wohnte, lediglich die
Menschen in den Ballungsräumen konnten sich
Mahlzeiten aus Reis und Hülsenfrüchten sowie
etwas Mehl ergattern, welches sie jedoch nicht zu
Brot backen konnten, da ein Großteil der Strom-
netze ausfiel. Nach drei Tagen brach das staatli-
che Notfallsystem zusammen, welches eigentlich
für zehn Tage ausgelegt war. Ob es nun an der
ausgefeilten Logistik der Bundesbehörden lag
oder an den gewalttätigen Plünderungen in den
Sammelverpflegungseinrichtungen, wusste am
Schluss niemand.
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Als hungernde Demonstranten den Bundes-
kanzler und seine Frau im Regierungsviertel von
Berlin an einer Straßenlaterne aufhängten, wuss-
te auch der Letzte, welche Ausmaße die Lage an-
genommen hatte: Amerika und Europa hatten
ihren Platz unter den notleidenden Staaten ein-
genommen.
Alles auf der Welt unterliegt Mechanismen, und
die Welt reagiert nun mal auf Nahrungsmittel-
knappheit mit Hungertoten. Nach dem Zusam-
menbruch der Industrie- und Nahrungsproduk-
tion nahmen die Hungerrevolten schnell apoka-
lyptische Ausmaße an, zuerst in Asien und Ost-
europa, dann auch in Amerika und in den west-
europäischen Staaten. Am schlimmsten traf es
die Bewohner der modernen Städte. Die Bal-
lungszentren waren in höchstem Maße abhängig
vom stetigen Zufluss von Nahrungsmitteln und
Energie. Waren einmal die leicht verwundbaren
Lebensstränge in den urbanen Zentren gekappt,
brach die Massenpanik aus. Die Leute starben
wie die Fliegen – ein fruchtbarer Boden für revo-
lutionäre Bewegungen.
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Die davon ausgehende Gewalt veranlasste die
Staaten das Kriegsrecht auszurufen, so auch in
Deutschland. Paramilitärische Eingreiftruppen
wie die EUROGENDFOR schlugen allerorts Auf-
stände nieder. Die mit geheimdienstlichen Kom-
petenzen ausgestattete Sondereingreiftruppe
sollte in Zusammenarbeit mit den europäischen
Militärs die Sicherheit in Krisenzeiten gewähr-
leisten. Mit anderen Worten: Die Truppe sollte
Aufstände niederschlagen, den heimischen Mili-
tärs vorauseilen, um den Eindruck abzuwenden,
die Armee des Landes schieße auf die eigenen
Bürger. Dies alles wurde bereits vorsorglich am
18. Oktober 2007 im Vertrag von Velsen geregelt.
Das kreuzförmige Schwert im Wappen der EU-
ROGENDFOR symbolisierte die Kriegstruppe,
das Lorbeerblatt den Sieg und die in Flammen
stehende Granate die militärischen Wurzeln.
Ganz nach ihrem Motto Lex Paciferat – Recht
bringt Freiheit – schossen sie in die Menge der
Revoltierenden in den Notstandsgebieten, gemäß
Artikel 4 des Gründungsvertrages zum Schutz
der Bevölkerung, des Eigentums und Aufrecht-
erhaltung der öffentlichen Ordnung beim Auftre-
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ten öffentlicher Unruhen. Dennoch erwiesen sich
die Ballungszentren als unkontrollierbar. Die In-
ternierungslager der Katastrophenschutzbehörde
quollen schnell über und wurden bald aufgege-
ben.
Jeden Tag kamen neue Horrormeldungen
durchs Radio: Hunderte von Toten bei Benzin-
preisprotesten in Spanien, tausende bei Unruhen
in Peking wegen zu teurem Reis und Brot, bluti-
ge Massenproteste in New York von Hungern-
den. Die Regierungen schlugen alle Aufstände
nieder und riegelten die Großstädte ab, zur Er-
haltung von Sicherheit und Ordnung. In London
fegte das Militär wütende Demonstranten mit
Maschinengewehren hinweg, die die Bank of
England stürmen wollten. An allen Ecken des
Globus brachen Verteilungskriege aus. Amerika
kämpfte gleich an mehreren Fronten in Eurasien
und im Nahen Osten.
Ständig überschlugen sich neue Gerüchte über
eine UN-Währung und Politiker überboten sich
gegenseitig mit Reformvorschlägen, die nach
Hightech-Feudalismus und globalem Totalita-
rismus rochen.
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Die Krisenanfälligkeit des Weltwirtschaftssys-
tems brachte auch eine Veränderung der ge-
wohnten Wetterabläufe mit sich. Sogar das Öko-
system begann verrückt zu spielen, als spüre
Mutter Erde, was auf ihr vorging. Überall bra-
chen Unwetter aus, es kam überdurchschnittlich
häufig zu Erdbeben, Vulkanausbrüchen und
sonstigen Verheerungen, ein extrem heißer
Sommer und ein kalter Winter wechselten sich
ab. Doch das Spektakulärste war der Asteroiden-
schauer, der über Süddeutschland und Teilen
von Österreich niederging, als Teile der russi-
schen Armee nach Deutschland vordrangen. Ein
Asteroid streifte die Erdatmosphäre. Tagelang
lag eine dunstige Glocke über dem Land und
sorgte dafür, dass es nie vollständig hell wurde.
Jedoch ein paar Hundert Kilometer entfernt
sprach man von einer dreitägigen Finsternis. Es
kam in Bayern und Baden-Württemberg sogar zu
Gesteinsniederschlägen und giftigen Gasen in
der Atmosphäre, an denen Leute starben. So kam
jedoch der Angriff der russischen Truppen ins
Stocken und verhinderte einen dritten Weltkrieg.
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Lukas blieb noch eine Weile an dem Bett sitzen,
bis er sich erhob. Lene geleitete ihn noch an die
Haustür, wo sie sich ein letztes Mal umarmten.
Alles geschah in stiller Übereinkunft, ohne viel
Worte und unnötige Floskeln. Lukas versprach
ein letztes Mal, dass er morgen wieder vorbei
schauen würde und ging hinaus in die kalte
Winterlandschaft.
Die Nacht war bereits hereingebrochen. Der Ne-
bel hatte sich ins Tal hinab gesenkt und erstreck-
te sich dicht über dem Erdboden zu einem wo-
genden Gebrodel, düster und erhaben zugleich.
Eiskristalle hatten sich an den Zweigen der Tan-
nen und Buchen am Wegesrand festgebissen,
während der Schnee unter Lukas’ Füßen knirsch-
te. Er leuchtete mit seiner Dynamotaschenlampe
voran, da an Batterien immer noch Mangel
herrschte. Im Grunde hätte er das Licht nicht ge-
braucht, er war den Weg schon so oft gegangen,
dass er ihn auch im Dunkeln gefunden hätte, oh-
ne fehl zu treten.
Es galt etwa 100 Höhenmeter zu überwinden.
Manche Stellen an den Hängen waren glatt, dass
er ab und zu ins Straucheln geriet. Der Strahl der
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Taschenlampe vermochte den Nebel um nur we-
nige Meter zu durchdringen. Er stieg beharrlich
bergan. Weiter oben löste sich der Dunst auf. Das
sich vor ihm erstreckende Plateau schien wie ei-
ne Insel im Nebelmeer und die Himmelskuppel
zeigte sich blank gefegt, während die Sterne im
kalten Glanz auf ihn herabschienen. Doch es
dauerte nicht lange, bis von Osten her Wolken
dem Mond hinterher jagten und sich auf ihn
stürzten.
Kein Geräusch war auf dem winterlichen Hügel
zu vernehmen, auch kein künstliches Licht, bis
auf das, welches hinter den Läden des nahegele-
genen Bauernhauses hervordrang. Lukas, seine
Frau Tamara und seine kleine Tochter Isabelle
trotzten der Krise oben auf dem Hügel recht gut,
was mehrere Gründe hatte. Zum einen verfügten
sie über einen Selbstversorgergarten, hatten mit
einem größeren Lebensmittelvorrat vorgesorgt
und zum anderen entwickelte sich eine große So-
lidarität unter den Bewohnern des kleinen Dor-
fes seit Ausbruch der Krise.
Obwohl die Bevölkerung auch in Deutschland
durch Hungersnöte und Pandemien stark dezi-
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miert wurde, überstanden sie die chaotische Pha-
se des Niedergangs viel besser als die Menschen
in den Städten. Ihr Dorf gehörte nur einer klei-
nen unbedeutenden Gemeinde im Südwesten
Deutschlands in französischer Grenzregion an,
von der Welt unbeachtet und relativ abgeschnit-
ten, umringt von dichten Wäldern und weitläu-
figen Wiesen. Die Wirren der Zeit trafen die
Menschen dort nicht so hart wie in den großen
Städten, was auch an der Mentalität der Land-
bewohner liegen mochte.
Die kleine Gemeinschaft entwickelte einen tieri-
schen Überlebenswillen, gepaart mit einer ge-
sunden Portion Solidarität. Das gegenseitige Un-
terstützen aller im Dorf, vom Landwirt über den
Ingenieur bis zum Handwerker, trug wesentlich
zum Überleben bei. Sie wurden zusehends au-
tark und bauten ihre eigene Wasserversorgung
auf, denn sauberes Wasser war elementar, da
schmutziges krank macht und eine Krankenver-
sorgung, welche diese Bezeichnung verdiente,
gab es momentan nicht.
Als alle Welt noch Augen und Ohren verschlos-
sen hielt, legte Lukas bereits einen Lebensmittel-
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vorrat an, der ihn und seine Familie durch die
ersten Monate brachte. Ferner hatte er einen Gar-
ten, den er bebaute. Lange bevor die Stromnetze
zusammenbrachen, hortete er Petroleum, Ker-
zen, Lampen und Gas, da sie wochenlang ohne
Elektrizität waren. Es dauerte Monate, bis die
Stromversorgung wieder einsetzte und selbst
dann war die Versorgung nur sporadisch. Ohne
Strom lief nichts. Ohne Strom gab es keine Was-
serversorgung, kein Erdgas, keine Energie zum
Kochen und der Zapfhahn an der Tankstelle lief
auch nicht. Als es wieder Strom gab, wurde es
etwas besser, doch eine durchgehende Versor-
gung mit Energie, Nahrung, Brennstoff und
Wasser war nicht ständig gewährleistet. Ebenso
war der Wasserdruck ungleichmäßig und blieb
manchmal vollständig aus. Für den Notfall ver-
fügte Lukas jedoch über einen Tiefbrunnen auf
seinem Grundstück, dessen Wasser er abkochte
und mit speziellen Tabletten entkeimte.
In den Anfangsmonaten kam nahezu die gesam-
te Wirtschaft in den modernen Ländern zum Er-
liegen und nur allmählich entstand wieder so
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etwas wie Produktivität, staatliches Leben und
Infrastrukturen.
Vor der Krise, als der Konjunkturmotor noch
brummte, gehörten Lukas und seine Frau Tama-
ra bereits zu den Verlierern des Systems. Als sie
beide zeitgleich mit ihrem Universitätsstudium
fertig wurden, stellten sie sich bereits einer Ar-
beitsmarktflaute. Lukas schloss als Diplom-
Biologe ab und Tamara als Soziologin. Bundes-
weit war keine Arbeit zu finden und obendrein
wurde Tamara noch schwanger, und für zwei
Akademiker ohne Job ist ein Kind genau ein
Kind zuviel.
Lukas war Vollwaise und in Kinderheimen auf-
gewachsen, doch nach dem Studium erbte er
dieses heruntergekommene Bauernhaus von ei-
nem Onkel, den er vorher niemals gesehen oder
gesprochen hatte. Da der Mann über keine wei-
teren Erben verfügte, griff bei Lukas die Erbfol-
ge. Anfangs wollte er den Hof verkaufen, doch
niemand wollte ihn haben. Da sich ihre Perspek-
tiven nach Tamaras Entbindung nicht verbessert
hatten, schlugen sie alle Zelte hinter sich ab und
bezogen das alte, baufällige Hofgut.
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Lukas erinnerte sich noch sehr lebhaft an den
Tag, als sie dort mit ihrem alten klapprigen Fies-
ta, einem Anhänger mit diversen Möbeln, die ih-
ren ganzen Besitz verkörperten, und buchstäb-
lich dem letzten Tropfen Benzin hier ankamen.
Es war auf Allerheiligen gewesen. Das Wetter
war grau, nebelig und ungemütlich – Totenzeit –
ganz wie Lukas’ Seelenstimmung. Tamara war in
Sachen Veränderung stets die Mutigere von
ihnen gewesen, doch er spürte, dass auch ihr da-
bei unwohl war. Als sie vor dem Bauernhaus mit
den dicken, schwarzen Holzbalken und dem aus
Bruchstein bestehenden Untergeschoss vorfuh-
ren, sank sein Mut. Das Haus besaß einen unver-
kennbar dunklen Anflug und eine vernachlässig-
te Atmosphäre, die von den bleigefassten But-
zenscheiben und dem wuchernden Efeu, der sich
an der Hauswand empor rang, noch unterstützt
wurde. Das zweistöckige Wohngebäude war ir-
gendwie windschief, neben ihm gruppierten sich
mehrere Gebäude von vorsintflutlichem Charak-
ter, die einmal als Scheune und Schuppen ge-
dient hatten. Um das Gelände herum erstreckte
25
sich im Sommer ein Kleefeld, das in einen dich-
ten Mischwald überging.
Insbesondere die Stille und Abgeschiedenheit
hatten ihnen anfangs zu schaffen gemacht, im
Kontrast zur nervösen Energie der Stadt, in der
sie vorher gelebt hatten. Nachbarn gab es hier
oben keine. Gelegentlich näherte sich ein Fuchs,
Dachse, ein Rudel Rehe oder eine Wildsau ihrer
Einfriedung.
Der erste Winter war hart und zerrte an den
Nerven, da sie wochenlang eingeschneit waren,
obwohl Lukas immer noch weit davon entfernt
gewesen war, wie Jack Nicholson in dem Film
Shining durchzudrehen und seine Familie mit
der Axt zu zerlegen. Aber sie gewöhnten sich da-
ran, sich selbst zu genügen und hatten vor allem
mit Isabelle, die ein Säugling mit Dreimonatsko-
liken war, genug Ablenkung.
Vor allem die stillen Winternächte, wenn drau-
ßen ein halber Meter Schnee lag, bewirkten, dass
Lukas mehr als je zuvor in jene unsichtbaren Be-
reiche abtauchte. Vorher war es meist so gewe-
sen, dass er die Geister nur in Momenten höchs-
ter Empfindsamkeit sah, doch durch das
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zwangsweise In-sich-kehren, wurde sein Geist in
dieser Hinsicht empfänglicher, sodass er es sogar
willentlich beeinflussen konnte, ob er sie erblick-
te oder nicht.
So kam es, dass er in ihrem ersten Winter auf
dem Hügel viele Geistwesen sah, die auf Durch-
zug waren. Manchmal sah er sie, wie sie durch
das Haus gingen, manche verweilten sogar eine
Zeitlang bei ihnen. Häufig verließen sie das Haus
durch den Windfang oder den Kamin und Lukas
frage sich, ob die Legende vom Weihnachts-
mann, der durch den Kamin hinab stieg, nicht
vielleicht daher rührte. Fast immer war es so,
wenn eines der hässlichen Wesen zu lange blieb,
dass jemand im Haus krank wurde, war keines
anwesend, blieben sie alle gesund.
Sie bissen sich durch, Lukas klagte ab und zu,
doch Tamara beschwerte sich nie und be-
schwichtigte ihn stets, wenn ihn die Schwermut
packte, wegen der Einsamkeit und ihrer materi-
ellen Not. Es war ein viel intensiveres Leben auf
dem Hügel, als in ihrer Einzimmerwohnung in
der Stadt, wo sie sich mit Barrieren aus Beton,
Glas und Plastik von der Umwelt abgeschottet
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hatten. Auf dem Hügel rissen die Jahreszeiten sie
unerbittlich mit, sie schleuderten sie auf die Hö-
hen des Sommers, um sie danach in die kalten
Tiefen des Winters zu stürzen. Sie fanden ihren
eigenen Rhythmus und irgendwann machten
Lukas und Tamara die Feststellung, dass sie ihr
Zeitempfinden von Vollmond zu Neumond zu
Vollmond ausrichteten und nicht nach dem offi-
ziellen, abstrakten Kalender, der für Behörden,
Schulen und eine Finanzbuchhaltung Bedeutung
hat.
Nach dem ersten Winter ergab sich für Lukas
und Tamara die Möglichkeit, bei der örtlichen
Volkshochschule Kurse abzuhalten, womit sie
etwas Geld verdienen konnten. Lukas unterrich-
tete gleich mehrere Fächer von Ökologie über
Ethnologie bis hin zu Workshops in Pflanzen-
heilkunde und Tamara versuchte sich in jüdi-
scher Philosophie und Kabbala, schließlich hat-
ten sie mit ihren Studiengängen etwas zu bieten.
Später gelang es Lukas noch ein Manuskript
über bekannte Heilpflanzenkundige wie Edward
Bach, Maria Treben, Sebastian Kneipp, Paracel-
sus und Hildegard von Bingen bei einem Verlag
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unterzubringen, das sich passabel auf dem
Buchmarkt durchsetzte.
Lukas öffnete das Gartentor und ging auf die
Haustür zu. Der Bernasennenhund Orwell kratz-
te bereits von Innen an der Haustür, ehe Lukas
den Schlüssel ins Türschloss gesteckt hatte.
Nachdem der Hund ihn begrüßt hatte, hing Lu-
kas Mantel, Mütze und Schal über den Haken im
Flur. Er betrat das Wohnzimmer, im Kamin
zuckte und spuckte ein Feuer aus Kiefernschei-
ten. Tamara saß auf der Couch vor dem Fernse-
her, sie stand sofort auf, als sie ihn eintreten sah
und eilte ihm mit sorgenvollem Blick entgegen.
„Hans ist tot“, sagte er einfühlsam, aber ohne
Umschweife.
Tamara nickte wissend und legte ihre Stirn an
seine Brust. Lukas schlang seine Arme um sie,
und sie verharrten eine Weile schweigend.
„Sein Tod war sanft. Ich glaube, er hatte keine
Schmerzen, es war, als sei er entschlafen. Jeder
wünscht sich einen solchen Tod.“
„Das freut mich für ihn“, sagte Tamara und sah
auf. „Ich hätte mir bei ihm ein Dahinsiechen auf
29
einer Pflegestation ohnehin nicht vorstellen kön-
nen.“
Lukas verlor sich eine Weile in Tamaras eben-
mäßigem Gesicht, das nur geringfügige Abwei-
chungen vom dem hatte, was man im allgemei-
nen Schönheit nannte, Abweichungen, die ihrem
Aussehen Charakter und Einzigartigkeit verlie-
hen. In ihrem Gesicht suchte man vergeblich
nach Unregelmäßigkeiten, obwohl manchem ihre
Stirn vielleicht zu hoch und ihre Wangenkno-
chen zu ausgeprägt gewesen wären. Ein großzü-
giger Mund balancierte ihr Gesicht aus, das sehr
oft ein Lächeln hervorbrachte. Lukas überkam
kurz der Drang sie auf ihre Stirn und anschlie-
ßend auf die herrlich geformten Lippen zu küs-
sen, doch stattdessen sagte er: „Schläft Isabelle
schon?“
„Ja, schon seit etwa einer halben Stunde.“
„Das mit Hans wird ihr nicht gefallen. Sie wird
traurig sein und heulen wie ein Schlosshund. I-
sabelle hat den alten Mann immer besonders
gemocht, wegen seiner Späße, die er mit ihr
machte, auch die Adlerfeder, die er ihr letzten
30
Sommer geschenkt hatte, hütet sie wie ihren
Augapfel.“
„Unterschätze deine Tochter nicht“, entgegnete
Tamara. „Kinder haben ihre eigene Art mit dem
Tod umzugehen. Sie stehen oft schneller auf als
Erwachsene. Komm wir setzen uns.“
Emotional ausgelaugt ließ Lukas sich auf die
speckige Ledercouch fallen. Tamara setzte sich
dicht neben ihn und legte ihren Kopf an seine
Schulter. „Soll ich dir etwas zu Essen machen?“
„Nein, danke, Schatz, im Moment nicht.“
Eine Weile starrte Lukas ins Leere und dachte
über die Vergänglichkeit des menschlichen Seins
nach und kam sich für einen kurzen Moment
wieder wie damals vor, als er seine Eltern im Al-
ter von fünf Jahren bei einem Autounfall verlo-
ren hatte. Wenngleich die Erinnerung an jene
Zeit, die traumatische Spuren hinterlassen hatte,
höchst verschwommen war, drang bei ihm den-
noch immer wieder ein Gefühl durch, als sei er
der einzige Überlebende nach einer Sintflut, auf
ewig dazu verdammt in einer Arche dahinzu-
dämmern und immer allein auf einem uferlosen
Ozean dahinzutreiben. Das Gefühl der absoluten
31
Einsamkeit kannte er von der Zeit im Waisen-
haus, bis er Tamara kennenlernte, die für ihn zu
einem Fixpunkt in einem chaotischen Universum
wurde. Lukas hatte sich im Geheimen manchmal
mit einer kleinen Pflanze verglichen, die entwur-
zelt wurde und der man das Sonnenlicht, den
Regen und die Erde, alles was sie zu Leben
brauchte, genommen hatte. Der Tod von Hans
zeitigte bei weitem nicht jene Wucht, wie der
Tod seiner Eltern, bewirkte jedoch, dass er sich
wieder damit auseinandersetzte.
„Ein paar Fernsehkanäle übertragen wieder. Es
werden jeden Tag mehr“, sagte Tamara. „Soll ich
den Fernseher ausmachen?“ Ihr Finger schwebte
einen Moment unentschlossen über der Fernbe-
dienung.
„Nein, lass nur, ist schon in Ordnung“, sagte
Lukas und schaute auf den Bildschirm. Der Fern-
seher lenkte ein wenig von dem Erlebten ab und
vermittelte in dem stillen Raum die Illusion von
Aktivität.
„Einmal angeeignete Fähigkeiten verlernt die
menschliche Rasse nicht. Wofür sie früher Jahre
brauchte, erledigt sie jetzt womöglich in ein paar
32
Monaten. Würde mich nicht wundern, wenn
bald alle wieder auf Sendung gehen. Das öffent-
liche Leben kommt wieder langsam in Gang“,
warf Tamara ein.
„Es ist als kämen wir wieder in die alte Tret-
mühle“, sagte Lukas. „Und dennoch wird vieles
anders sein als vorher.“
Er nahm die Fernbedienung und schaltete auf
den nächsten Kanal, wo eine alte Folge von Lin-
denstraße lief. Die nächsten Kanäle zeigten nur
ein Testbild. Schließlich blieb er bei einem Nach-
richtenkanal hängen. Stumm verfolgten sie die
Sendung bei nur mäßiger Lautstärke, doch es
war gar nicht nötig die Stimme des Reporters im
Hintergrund zu vernehmen, denn die Bilder
sprachen für sich selbst, klar und unzensiert. Die
Zeiten der gleichgeschalteten Presse gehörten
der Vergangenheit an.
In kurzen, prägnanten Bildern zuckte eine Kata-
strophenmeldung nach der anderen über den
Bildschirm. Man sah Armeen von Obdachlosen
nach Überschwemmungen irgendwo im vorder-
asiatischen Raum, danach kam ein Bericht über
einen Tsunami, der die Küste Northumberlands
33
heimgesucht hatte, einen Staudamm sprengte
und für mehrere hundert Opfer sorgte. Ansons-
ten herrschte in vielen Regionen Dauerregen, der
die Kanalsysteme überforderte. Dadurch kam es
zu Missernten, die nicht nur die Existenz der
Landwirte bedrohte, sondern die allgemeinen
Versorgungsengpässe noch verschärfte.
Die nächsten Bilder zeigten zur Abwechslung
keine überfluteten Innenstädte, sondern Bürger-
kriege. In irgendeinem südeuropäischen Land,
womöglich Italien oder Spanien, erwog Lukas,
tobten Ausschreitungen. Hungernde Menschen
lieferten sich Straßenschlachten mit der EU-
Eingreiftruppe. Die Kameraaufnahmen schienen
mitten in dem Tumult aufgenommen worden zu
sein, es wurde mit Steinen und Molotowcocktails
gegen die Staatsdiener vorgegangen, die ihrer-
seits mit brutaler Vehemenz gegen die Hungern-
den vorgingen, über allem schwebte die unsicht-
bare Stimme des Kommentators.
„So viel zum Vertrag von Lissabon“, kommen-
tierte Tamara.
Ähnliche Szenen stammten aus Moskau, wo Po-
lizisten mit Wasserwerfern und Gummigeschos-
34
sen Hungeraufstände auflösen wollten. Doch der
Hunger war dort anscheinend zu groß gewesen
und die Aktion lief aus dem Ruder, was zu meh-
reren toten Polizisten führte und zu Verwüstun-
gen und Plünderungen in der Innenstadt.
Es wurden aber auch Bilder aus einer Enklave
von Superreichen und Politikern gesendet, die
sich in ihrem eigenen Refugium in Paraguay mit
einer Berufsarmee von Killerspezialisten abge-
schottet hatten, die sie vor der Armut schützen
sollten, die sie selbst verursacht hatten. Irgend-
wann muss ihren Beschützern jedoch aufgefallen
sein, dass sie die Gewehre hatten und ihre Her-
ren nur das Geld.
Normalerweise gehorchen Fernsehberichte bei
allen Schrecknissen aus Krisen- oder Katastro-
phengebieten nicht der Dramaturgie eines Kino-
films, doch diese Bilder taten es. Was Lukas je-
doch noch mehr verstörte, waren die paranorma-
len Wesenheiten, die er in dem Getümmel und
Elend erblickte. Lukas war jedes Mal dabei, als
rutsche ein Eiszapfen seine Wirbelsäule hinab. Es
waren keine herkömmlichen Geister, wie derje-
nige, der Hans hinübergeleitet hatte, sondern je-
35
ne Gestalten, die Lukas in Ermangelung einer
treffenderen Bezeichnung immer nur „die Grau-
en“ zu nennen pflegte. Die Gestalten ähnelten
sich alle mehr oder minder, ähnlich wie Asiaten
für Europäer nicht zu unterscheiden sind, und
besaßen eine vage menschliche Physiognomie,
doch ihre Formen und Züge wirkten leer und
konturlos, wie auf einem Negativfoto. Obwohl
sie keine Substanz zu haben schienen, waren sie
mehr als Nebel aber weniger als Fleisch. Ein
schwaches, kränkliches Leuchten ging perma-
nent von ihnen aus, als seien sie von innerem
Licht erfüllt. Ihre Haare waren unordentlich und
sandfarben und der Körper übersät mit unre-
gelmäßigen Punkten, die an Leberflecke erinner-
ten. Die Augen blickten Lukas manchmal an, als
sei er der Geist. Sie waren gänzlich grau, wie das
Meer, wenn eine Gewitterwolke darüber hing,
verwirrend, farblos und ohne Lidschlag. Den-
noch lag in ihren Augen eine unerschütterliche
Gewissheit, eine Gewissheit über das Unglück.
Über ihre Herkunft war Lukas sich alles andere
als sicher, aber er vermutete, dass sie nie in
menschlicher Gestalt durch die Welt gezogen
36
waren und nie das Leben kannten, wie die Men-
schen es kennen.
Schon von Kindheit an war er sich bewusst, dass
diese Präsenzen nichts Gutes verhießen, er ließ es
sich jedoch diesen Wesen gegenüber nicht an-
merken, da er schlimme Folgen befürchtete,
denn das Kuriose war, dass diese Wesen die Nä-
he von negativen Gefühlen wie Bosheit, Angst,
Neid, Missgunst, Hochmut und Mordlust such-
ten, weil sie sich auf irgendeine Art an diesen
Gefühlen labten. Sie schienen ihr Element zu sein
– eine perfekte Symbiose. Meistens traf man sie
irgendwo an, oftmals nur einzeln, und kurz da-
rauf ereignete sich ein schwerer Autounfall oder
sonstiges Unglück, doch wo das Elend besonders
tobte, kamen sie in Scharen, so wie jetzt.
Mit einem Gefühl von Kümmernis, das von un-
ten in ihn hineinzukriechen schien, beobachtete
Lukas das Treiben im Fernsehen. Die Grauen
bewegten sich mitten durch die Straßenschlacht,
ohne in irgendeiner Form aktiv daran teilzuha-
ben. Kam es zu Verletzten oder Toten, dann
drängten sie sich dicht darum, manche von ihnen
warfen sich in die Blutlache oder auf die Leichen
37
und leckten mit ihren dünnen Zungen daran
herum, ohne das Blut oder eine sonstige Sub-
stanz an ihnen haften blieb.
So war Lukas sich auch nicht schlüssig darüber,
inwiefern sie Einfluss auf das Elend nahmen. Es
war wie mit dem Henne-Ei-Problem. Verursach-
ten sie das Leid oder gebar das Leid sie? Lukas
glaubte, dass beides im Grunde stimmte, wie bei
einem Möbius-Band, wo die Ursache zugleich
Wirkung ist und die Wirkung Ursache. Die Men-
schen selbst waren es, die Elend und Missstände
herauf beschworen, wofür man die Grauen letzt-
lich nicht verantwortlich machen konnte. Aber
die paranormalen Entitäten gingen dort hin, wo
das Elend war und verschlimmerten es durch ih-
re dunkle Präsenz, die in die Welt hineinstrahlte.
In manchen Fällen wirkte es auf Lukas wie eine
paranormale Manipulation, als würden sie durch
gedankliche Impulse oder Eingebungen, die sie
den Menschen buchstäblich in den Kopf pflanz-
ten, das Chaos mehren. Lukas nahm dies bildlich
so war, dass sie sich dicht um Menschen dräng-
ten oder sie griffen mit ihren bleichen Händen in
ihre Köpfe, was bei den Betreffenden zumindest
38
ein Gefühl des Unbehagens hervorrief und sie
nervös oder aggressiv werden ließ. Manche
wurden auch zu Raserei oder sonstigen Untaten
getrieben, bis die Grauen sich einen neuen Wirt
suchten. Während seiner Zeit im Waisenhaus
hatte Lukas schon beobachtet, dass sie in Abläu-
fen die über Monate und Jahre gingen, Menschen
durch Willensmissbrauch zu wahren Teufeln
heran bildeten. Einmal hatten sie es auf einen der
Erzieher abgesehen, dem man später nachwies,
Mädchen in der Einrichtung missbraucht zu ha-
ben. Lukas fiel es schwer, die Grauen als Teil von
Gottes Schöpfung anzusehen und gleichzeitig an
die Doktrin seiner unendlichen Gnade zu glau-
ben.
Seit der Pubertät versuchte er die Ursache für
sein seltsames Talent zu ergründen, doch aufge-
klärtes Denken bot letztlich keine griffige Erklä-
rung für seine Gabe. Die kalte Objektivität ließ
nur eine Erklärung zu, dass aufgrund von Ge-
hirnchemie alles was er sah, auf eine psychologi-
sche Projektion reduziert werden müsste. Daraus
war zu schlussfolgern, dass er unter Halluzinati-
onen leide und somit geisteskrank war. Er kam
39
nicht umhin, diese Sicht als unzureichend für
sein Problem zu betrachten. Die Neurobiologie
war für ihn das Produkt eines Gesellschaftssys-
tems, das neben Glühbirnen und Zentralheizun-
gen auch noch Raketen, digital pulsierende,
krebserregende Funkmasten, genmanipulierte
Tomaten und Kindergeld für Millionäre hervor-
gebracht hatte und somit per Definition als un-
zureichend anzusehen war – und obendrein
noch im Untergang begriffen.
Kurz darauf wurde hinter einer Fernsehspreche-
rin eine Deutschlandkarte eingeblendet, welche
die Städte kennzeichnete, in denen noch Not-
stand herrschte. Jeder dieser Brandherde war mit
einer kleinen, gelben Flamme markiert – und es
waren viele. Anschließend wurde ein Bericht
über einen Weltuntergangsprediger auf dem Pe-
tersplatz in Rom übertragen. Ein Mann in
schwarzer Kutte stand auf einem Sockel vor ei-
ner Menschenmenge und predigte mit Donner-
stimme, während es wie aus Eimern schüttete.
„Das Wetter spielt immer noch verrückt“, sagte
Lukas. „Es ist, als würde die Erde spüren, was
auf ihr los ist.“
40
„Jetzt haben sie ihren Klimawandel, den sie all
die Jahre predigten, nur, dass es immer kälter
wird, anstatt wärmer.“ Tamara zog sich ihre
Strickweste enger um die Schultern und warf ei-
nen flüchtigen Blick zum Kamin, wo das Feuer
immer noch munter vor sich hin loderte.
„Ich habe das Getöse des Weltklimarates ohne-
hin nie geglaubt“, sagte Lukas trocken und
schlang beide Arme um Tamara, die sich in seine
Umarmung schmiegte. „Du musst fragen, wem
die Klimakatastrophe nutzen sollte. Man wollte
es kommerzialisieren. Katastrophen erzeugen
Ängste, um diese zu beruhigen, hätten die Bür-
ger alles getan. Man wollte ein weltweites Ge-
schäft mit Angst als Basis aufbauen. Deshalb
warnten sie uns vor dem CO2. Die Bekämpfung
von CO2 zu gesetzlich vorgeschriebenen Ausga-
ben sollte ein gigantisches weltweites Geschäft in
Gang bringen. Für jeden verdienten Euro oder
Dollar im Umweltschutzbereich sollte der Staat
Steuern kassieren. Nichts gegen Umweltschutz,
aber nirgendwo ist belegt, dass die Tier- oder
Pflanzenwelt unter CO2 leidet. Das sage ich als
Biologe.“
41
„Vielleicht ist ihnen auch nur der Antichrist zu-
vor gekommen“, sagte Tamara und versuchte ei-
ne teuflische Fratze aufzusetzen, was kläglich
misslang. „Man muss Lügen eben nur oft genug
wiederholen, bis sie geglaubt werden, dazu ein
paar Schreckensszenarien, gewürzt mit verein-
fachten, dramatischen Statements, gespickt mit
politisch militanten Grünen und fertig ist die Er-
derwärmung. Aber, Schatz, die Gletscher und
Eisberge sind doch wirklich geschmolzen, oder?“
„Ja, schon, andernfalls hätte Grönland vor eini-
gen hundert Jahren nie Grünland geheißen. Es
gab schon immer eine Minderheit von Wissen-
schaftlern, die dies anzweifelten, doch kein Ge-
hör fanden. So ähnlich wie damals mit der
Schweinegrippe, weißt du noch? Letztlich gab es
sie gar nicht. Da wollten die Pharmafirmen nur
einen Reibach machen und viele glaubten an die
Lauterkeit von denen, die unsere Gesellschaft
führten.“
Tamara blies die Backen auf. „Verdammt. Das
waren kranke Fantasien, genau wie bei der NA-
SA mit ihrem Terra-Forming-Scheiß. Man will
den Mars kolonisieren, kann aber nicht mal auf
42
der Erde richtig leben – institutionalisierter
Wahnsinn, gestützt mit Steuergeldern.“
Lukas brachte ein Schmunzeln zustande. „Im
Moment hat die Menschheit ganz andere Sachen
am Hals, als die nächste Marsmission. Unsere
Verstandesgesellschaft irrte im Grunde in allen
Punkten und verstrickte sich immer mehr in Wi-
dersprüche und Absurditäten. Deswegen war
unsere Zivilisation so dekadent und ist es immer
noch.“
„Harte Worte.“
Lukas schüttelte den Kopf. „Mag sein, aber ich
empfinde nun mal so. Sieh mal, für uns hier oben
hat sich nicht allzu viel geändert, doch für die
Menschen in den Städten brechen Welten zu-
sammen. Ich trauere nicht darum, da ich ihre
Werte schon immer als unecht und die Ideale als
oberflächlich angesehen habe.“
Noch eine Weile schaute Lukas auf den Fernse-
her, ohne wirklich etwas davon wahrzunehmen.
Das nimmersatte Gefühl von Trauer, das ihm die
eigene Sterblichkeit bewusst machte, hatte sich
beharrlich in ihm eingenistet. Der Weggang des
alten Hans verstörte ihn mehr, als er sich einge-
43
stand, doch Lukas beabsichtigte nicht gegen das
Gefühl anzukämpfen, was es erfahrungsgemäß
nur schlimmer machte, sondern die Trauer zuzu-
lassen, ja, sich von ihr erschlagen zu lassen.
Tamara gähnte. „Komm lass uns schlafen gehen.
Glaubst du, du kannst schlafen?“
Lukas schaute abwesend auf die Uhr über dem
Kamin. Es ging allmählich auf Mitternacht. Er
musste sich ebenfalls eingestehen, dass er müde
und ausgelaugt war, doch zugleich hatte sich ei-
ne penetrante Unruhe in ihm ausgebreitet, die
erhebliche Zweifel aufkommen ließ, dass er in
dieser Nacht Schlaf finden würde. „Ich werde es
auf jeden Fall versuchen.“
Tamara stand auf, trat an den Kamin, wo ein
halb heruntergebranntes Feuer züngelte und be-
gann mit einer schmiedeeisernen Zange die di-
cken Kieselsteine aus der Glut zu ziehen, welche
sie zuvor dort deponiert hatte, um sie in eine alte
Bratpfanne zu legen. Diese nahmen sie mit ins
Schlafzimmer, da sie dort keine Heizmöglichkeit
hatten, um die beißende Winterkälte wenigstens
ein wenig aus dem Raum zurückzudrängen.
44
Tamara war schnell eingeschlafen, wie Lukas
nach wenigen Minuten an ihrem regelmäßigen
Atem hörte. Jedoch für ihn war an Schlaf nicht zu
denken. Die Nacht strebte jenem Punkt zu, in
dem alle Ängste und Unsicherheiten fauchend
auf einen einstürmen. Ein Rollladen klapperte im
Nachtwind in unregelmäßigen Intervallen gegen
die Hauswand. Manchmal wünschte sich Lukas,
in einem heimeligeren Haus zu leben. Recht
schnell gestand er sich ein, nicht einschlafen zu
können. Irgendwie hatte er noch den Drang nach
seiner Tochter zu sehen, die im Zimmer gegen-
über schlief. Er schwang sich aus dem Bett und
warf sich den langen, dicken Morgenmantel
über, während er in die Pantoffeln schlüpfte.
Zaghaft bewegte er sich über die knarrenden Bo-
dendielen, vorbei an dem rustikalen Holzbett mit
den schweren Bettdecken aus Entendaunen und
dem mit Schnitzereien verzierten, doppeltürigen
Kleiderschrank, hinaus in den Flur.
Er öffnete die nur angelehnte Tür zum Kinder-
zimmer. Der Mond schien durch das Fenster, an
dem sich Eisblumen empor gerankt hatten und
leuchtete das kleine Bett an der Wand gegenüber
45
mit seinem schwachen Licht aus. Lukas trat an
das Bett seiner fünfjährigen Tochter, die den
Schlaf der Unschuldigen schlief. Bis an die Ohren
hatte sie sich mit der dicken Federdecke zuge-
deckt, sodass man nur noch ihre dunkelblonden
Locken daraus hervorkommen sah. Isabelle lag
vollkommen still und reglos, nicht einmal ihren
Atem konnte Lukas wahrzunehmen, sodass ihn
einen Moment die obskure und erschreckende
Vorstellung überkam, die sich schnell zur Panik
ausbreitete, sie hätte aufgehört zu atmen. Doch
als er genauer hinsah, bemerkte er, wie sich die
Bettdecke beinahe unmerklich hob und senkte.
Er trat noch einen weiteren Schritt heran und
konnte dem Drang nicht widerstehen, ihren Kopf
zu streicheln. Anschließend verließ er leise den
Raum.
In seinem Bett schob er sich die linke Hand un-
ter den Hinterkopf und starrte noch eine Weile in
die Dunkelheit. Er war froh solch eine Frau und
solch ein Kind zu haben. Bei Lukas und Tamara
war es tatsächlich so etwas wie Liebe auf den ers-
ten Blick gewesen. Als er sie auf der Universität
das erste Mal auf dem Flur vor einem Hörsaal
46
sah, drängte sich ihm unwillkürlich ein Zitat aus
Umberto Ecos Der Name der Rose in den Sinn: Sie
war schön wie die Morgenröte und schrecklich
wie eine waffenstarrende Heerschar...
Natürlich konnte Tamara den Autoverkehr zum
Erliegen bringen, aber das alleine war es nicht,
was so wunderbar ambivalent auf ihn wirkte. Es
schien, als könne Tamara nichts berühren. Allen
Gegebenheiten um sich herum begegnete sie mit
Gleichmut und betrachtete sie ohne Neigung.
Was man für Arroganz halten konnte, war in
Wirklichkeit jedoch nur eine versteckte Unsi-
cherheit, ein sympathische Unsicherheit, wie Lu-
kas bald herausfand, als er sie auf der Studen-
tenparty unter Zuhilfenahme von Alkohol und
seines verbliebenen Mutes ansprach. Von da an
ging alles wie von selbst.
Vor Tamara hatte Lukas zwei Beziehungen zu
Frauen gehabt, die beide jeweils fast zwei Jahre
dauerten. Danach hatte er fürs Erste die Nase
voll vom weiblichen Geschlecht. Beide Male hat-
te es sich um junge Frauen gehandelt, die auf
dem schmalen Grat aus Zorn und Tränen, Be-
sonnenheit und Hysterie unterwegs waren. Lu-
47
kas versuchte immer Verständnis und Geduld
aufzubringen, doch wenn die persönliche Unzu-
friedenheit, die sich in ständigem Gejammer äu-
ßerte, auch noch mit emotionaler Erpressung
einherging, wurde es Lukas irgendwann zu eng.
Bei Tamara fühlte er sich vervollständigt, mit ihr
war es eine völlig neue Erfahrung, ein Miteinan-
der kein Gegeneinander.
Es herrschte eine alles einhüllende Stille, die
beinahe erdrückte. Die erhitzten Steine in der
Pfanne auf dem kleinen Tisch am Fußende des
Bettes strahlten immer noch Wärme ab. Lukas
konnte nicht sagen, wie lange er dort lag und
nachsann, doch irgendwann fielen ihm die Au-
gen zu und ein bleierner Schlaf übermannte ihn,
der ihm die Gnade des Vergessens gewährte.
Doch selbst im Schlaf war sein Geist rege, und es
verfolgten ihn die Bilder der Reportagen bis in
seine Träume. Die Welt war im Wandel und Lu-
kas träumte von der Zukunft der Menschheit,
doch die Bilder, die kaleidoskopartig auf ihn
eindrangen, glichen mehr einem Strang endlicher
Zeitenreihen, einem Netz sich teilender und
überlagernder Wirklichkeiten, die schwindeler-
48
regend ineinandergriffen, sich formten und wie-
der verdorrten. Es war ein Zeitennetz, das
scheinbar jede Daseinsmöglichkeit umspannte.
Es war unmöglich für ihn zu sagen, ob es nur
ein wirres Schauen seiner Seele war oder tatsäch-
liche Scheinbarkeiten der Zukunft, daneben war
es ihm ohnehin nicht möglich, aus dem Rausch
der Bilder eine Chronologie abzuleiten. Manche
Visionen waren von großer Strahlkraft, andere
düster und niederdrückend. Zu den weniger
schönen Bildern gehörte das verbrannte und ver-
schmutzte Angesicht der Erde, verödete Felder,
Asche die den Himmel verdunkelte und Miss-
ernten. Dann gewahrte er eine atmende Erde, mit
ganzheitlich orientierten Gemeinden, wo ökolo-
gischer Landbau betrieben wurde und die Be-
wohner Anhänger von Meditation und eines
vergeistigten Lebensstils waren und im Einklang
mit einer regenerierten, grünen Umwelt lebten.
Im darauffolgenden Moment erblickte sein geis-
tiges Auge Hightech-Siedlungen, wo ein Teil der
Menschen in supermodernen, meist unterirdi-
schen Kolonien oder überkuppelten Städten lebte
mit künstlich erzeugter Biosphäre, der andere
49
Teil in armseligen Dörfern und Trümmern der
Großstädte.
Lukas pflegte sehr lebhaft zu träumen und hatte
diese Eigenschaft, genau wie seine andere Gabe,
als ein Teil seines Selbst akzeptiert.
50
2
Am folgenden Tag war Markt unten im Dorf.
Lukas, Tamara und Isabelle kämpften sich vom
Hügel hinunter durch den Schnee ins Tal. Der
wolkenlose Himmel zeigte sich in kräftigem
Azurblau, trotzdem war es immer noch empfind-
lich kalt. Der Marktplatz lag in der Ortsmitte und
war eingerahmt von pittoresken Häusern, seine
Mitte zierte ein Brunnen, wo sich bei milderen
Temperaturen ein schwacher Wasserstrahl aus
dem Mund eines pausbäckigen Putten ergoss,
der mit seinen leeren Augen das ganze Treiben
von seiner Steinplatte aus, auf der er fest beto-
niert war, abschätzig musterte.
Lukas drängte sich dicht hinter Tamara durch
das Gewühl mit Isabelle oben im Nacken, die
aufgeweckt umher blickte. Sie schlenderten eine
Weile über den Marktplatz und bahnten sich den
Weg durch brüllendes, blökendes Vieh und nicht
minder laute Kaufleute, die ihre Ware feilboten.
Es war ein heilloses Durcheinander. Zwischen
51
Gegacker und Gegrunze wurde lauthals gehan-
delt und gestritten.
Der Wochenmarkt war aus der Notwendigkeit
der Nahrungsbeschaffung heraus entstanden.
Kurz nach dem Systemkollaps waren die Super-
märkte schnell leer gekauft und nur allmählich
entstand wieder so etwas wie eine Lebensmittel-
logistik, die sich im Moment jedoch vor allem auf
die Ballungszentren beschränkte, da dort die Not
am größten war. Das Einkaufszentrum in der
Dorfmitte hatte immer noch geschlossen.
„Wir brauchen noch Getreide zum Mahlen“,
sagte Tamara.
„Dann mal los und sei sparsam mit dem Silber“,
entgegnete Lukas und machte eine auffordernde
Handbewegung. Mit der Gabe des Feilschens
war Tamara eindeutig die Gesegnetere von ihnen
beiden. Sie besaß die rechte Mischung aus Hart-
näckigkeit und selbstbewusstem Auftreten, die
ihr regelmäßig zu ihrem Ziel verhalfen, auch
wenn die Händler sich noch so halsstarrig ge-
bärdeten.
Einen Vorteil hatten sie dennoch. Es waren Zei-
ten, in denen alle Art von Papiergeld nicht gerne
52
gesehen wurde, da es einen Großteil seines Wer-
tes durch die weltweite Hyperinflation eingebüßt
hatte. Lukas hatte schnell den Braten gerochen
als das Weltfinanzsystem das erste Mal in seinen
Grundfesten erschüttert wurde und hatte ihr Er-
spartes in Edelmetalle umgeschichtet, sprich, er
hatte sein ganzes Geld abgehoben und bei einem
Edelmetallhändler physisches Gold und Silber
gekauft, das sich in der Krise immer mehr auf-
wertete und von Händlern und Kaufleuten lieber
genommen wurde als ungedecktes Papiergeld.
Bisher war es ihm möglich gewesen, seine Fami-
lie mit einer Unze Silber eine ganze Woche lang
zu ernähren. Früher hätte er dafür gerade mal
ein Mittagessen in einem Restaurant bekommen.
Lukas drehte sich um und ließ seinen Blick über
den Markt schweifen. Tamara hatte schon be-
gonnen mit dem Händler zu verhandeln und
zeigte sich wenig beeindruckt von seinen Un-
mutsäußerungen. Erst schnaufte er, irgendwann
gab er sich entsetzt, doch Lukas war sich sicher,
dass Tamara ihn mit dem Silber weichklopfen
würde.
53
Ein Geräusch drängte sich an den Rand seines
Bewusstseins, ein Geräusch, das Lukas im ersten
Moment nicht recht einzuordnen vermochte, da
es in letzter Zeit selten zu hören war. Schnell
ging ihm auf, dass es sich um ein Motorenge-
räusch handelte. Er drehte den Kopf in die be-
sagte Richtung und sah wie ein dunkelgrünes
Militärfahrzeug der Bundeswehr die Straße hin-
auf fuhr und vor dem Marktplatz in eine Neben-
straße einbog, doch was Lukas am meisten be-
fremdete, war die Tatsache, dass es von Grauen
besetzt war. Die beiden Soldaten auf Fahrer- und
Beifahrersitz konnten sie natürlich nicht sehen,
doch die Unwesen saßen auf dem Autodach,
dem Kühler und der Abdeckplane der Ladeflä-
che.
Ein Übelkeit erregendes Gefühl keimte in ihm
auf. Immer wenn sie auftauchten, stand fest, dass
etwas Schreckliches geschehen würde. Er hatte
sie schon Monate nicht mehr erblickt. Das letzte
Mal im Sommer, als das Sägewerk am Stadtrand
abgebrannt war und wo mehrere Menschen ums
Leben gekommen waren. Damals sah er zwei
dieser Kreaturen in der Nähe stehen.
54
Er hatte sie zwar nicht gezählt, doch hier muss-
ten es mindestens ein Dutzend gewesen sein und
was immer auf der Ladefläche verborgen war, es
verhieß nichts Gutes.
„War das ein Traktor?“, rief Isabelle, von seinem
Nacken aus und zeigte mit ihren Fingern auf das
Fahrzeug.
„Nein, mein Schatz, kein Traktor. Das ist ein
LKW, ein Lastwagen“, sagte Lukas abwesend,
während er unentwegt dem Fahrzeug hinterher
starrte, das allmählich seinem Sichtfeld ent-
schwand.
„Lastwagen“, echote die Kleine.
„Der fährt nach Ban Saint Jean, ins Schwarze
Lager“, hörte Lukas eine Stimme in seinem Rü-
cken. Er drehte sich um und sah Andreas Kopp,
den Leiter der städtischen Bibliothek, an seinem
behelfsmäßigen Stand sitzen, der sich mit seinem
selbst gebrannten Schnaps in den Zeiten des
akuten Mangels an Genussmitteln, ein goldenes
Näschen verdiente.
Lukas drehte sich herum. „Oh, hallo, Andreas.“
„Hallo, Lukas, na, Lust auf etwas Feuerwasser,
selbst gebrannt, 60% Alkoholgehalt?“ Er machte
55
eine präsentierende Handbewegung über seine
Auslagen. „Ich gebe dir zwei Flaschen für eine
Silberunze. Ist das nicht ein Angebot?“
„Nein, lass mal“, entgegnete Lukas gepresst. Es
bereitete ihm Unbehagen, dass jedermann ihm
gegenüber so unverhohlen bekundete, dass er
über heiß begehrte Edelmetalle verfügte.
„Und wie läuft es oben auf dem Hügel?“
„Nicht viel anders als hier unten. Woher weißt
du, dass sie ins Schwarze Lager fahren.“
„Wo sollen sie denn sonst hin? Das ganze Areal
ist militärisches Gelände.“
„Ja, aber was macht deutsches Militär in einem
französischen Militärlager. Ich dachte immer, der
Stützpunkt sei geschlossen.“
„Nein, nein, da läuft schon die letzten ein, zwei
Jahre irgendeine Kooperation zwischen deut-
schem und französischem Militär. Du weißt ja,
für das Militär ist das ganze Jahr über Sylvester.
Man hat sogar einen neuen Maschendrahtzaun
mit NATO-Stacheldraht um das Gelände herum-
gezogen. Ich habe es selbst gesehen. Das läuft
schon die ganze Zeit so, dass hier Militärfahr-
zeuge raus und rein fahren.“
56
Lukas schüttelte beklommen den Kopf. „Also ist
das Gelände jetzt militärisches Sperrgebiet.“
„Ach, das war es im Grunde schon immer, auch
als es stillgelegt war.“ Andreas stand von dem
Campingstuhl auf, indem er es sich hinter sei-
nem Stand bequem gemacht hatte, kam um seine
Auslagen herum und stellte sich dicht neben Lu-
kas, dabei sprach er seltsam gedämpft, als fürch-
te er, es könnte sie jemand belauschen. „Sogar in
meiner Jugendzeit war der Zutritt offiziell verbo-
ten, was von der französischen Polizei auch strikt
überwacht und mit empfindlichen Bußgeldern
belegt wurde. Was uns als junge Leute natürlich
nicht daran hinderte, Samstagabend nach dem
Discobesuch dort hin zu gehen, zum Trinken
und um an den Mädchen herumzufummeln. Es
ist ein unheimlicher Ort.“
„Ja, ich war früher mal ganz in der Nähe bei ei-
nem Waldspaziergang. Das was ich von Außen
gesehen habe, die verfallenen überwucherten
Gebäude und Baracken, wirkte schon etwas
schaurig“, bekräftigte Lukas.
„Manche Leute sagen, dass es an dem Ort
spukt.“
57
Lukas legte die Stirn graus. „Wie meinst du das
genau?“
Andreas hatte begonnen in seinem Mantel zu
wühlen, zog ein Päckchen Tabak hervor und
drehte sich gemächlich eine Zigarette. Bevor er
antwortete, steckte er sie an und nahm einen tie-
fen Zug, schloss während des Inhalierens die
Augen und behielt etwa drei bis vier Sekunden
den Rauch in der Lunge, bevor er ihn in einem
langen, dünnen Kometenschweif in die kalte
Morgenluft blies. „Angelegt wurde das Dorf Ban
Saint Jean als Siedlung für französische Offiziere
der Maginot-Linie in den Jahren 1937/38. Damals
galt es auch wegen seiner Rosengärten als mus-
terhafte Anlage. Mit der Kapitulation Frank-
reichs im 2. Weltkrieg geriet Ban Saint Jean unter
die Verwaltung der deutschen Wehrmacht. Ab
dem Jahr 1942 wurden dort Sowjetsoldaten in
großer Zahl hingerichtet, die in den Gruben und
Stahlwerken, aber auch in der Landwirtschaft
zur Zwangsarbeit verdonnert wurden – das
Massaker von Ban Saint Jean. Kurz nach Kriegs-
ende entdeckte man über zwanzig Massengrä-
58
ber. Bei einer Umbettungsaktion fand man Ende
der 1980er Jahre an die 3.000 Tote.
Ein Jahr nach dem Krieg zog die französische
Armee wieder in Ban Saint Jean ein und seitdem
ist es militärisches Sperrgebiet. Inzwischen ist ein
Teil der Kasernen und Offiziershäuser abgeris-
sen. Das Dorf wurde nach dem Krieg von Offi-
zieren und ihren Familien bewohnt, diese sollen
aber Anfang der 1960er Jahre Ban Saint Jean ver-
lassen haben, bei Nacht und Nebel, niemand
weiß wohin und ihre Namen tauchen auch nir-
gends mehr auf. Zu der Geschichte gibt es auch
noch eine zweite Version: Man sagt, die Offizi-
ersfamilien empfanden diesen Ort als „sündig“.
Eines Nachts umschloss ein mysteriöser Nebel
das Lager, am Tag darauf waren alle ver-
schwunden. Ihre Leichen hat man nie entdeckt.
Die alten Leute aus Boulay hinter der Grenze er-
zählen, dass es diesen Ort nicht gäbe, wenn man
sie heute danach fragt. Das habe ich sogar schon
selbst erlebt.
Doch es gibt dieses Dorf, und es weckte schon
immer das Interesse der Menschen: Jetzt ist die
Geisterstadt leer und zugewachsen, bis vor ein
59
paar Jahren deutsche und französische Militär-
fahrzeuge ein- und ausfuhren. Ist bestimmt so
ein geheimer Militär-Scheiß. Das Gelände ist na-
türlich rund um die Uhr bewacht.
Vorher sollen dort schwarze Messen abgehalten
worden sein, Leute seien dort schon verschwun-
den, in der ganzen Stadt würde man keine Tiere
hören und bei Vollmond würden die Schornstei-
ne qualmen. Des Weiteren soll dort eine alte Tu-
berkuloseklinik in den Kellerräumen sein, wo
noch angeblich Lungenteile in Einmachgläsern
herumstehen.
Wegen der Legenden und Spukgeschichten, die
sich um den Ort ranken, fanden sich eine Menge
Gruseltouristen ein, die auf dem Areal zur Tag-
und Nachtzeit einfielen. Taschenlampen und
Kameras würden auf dem Areal ohne ersichtli-
che Gründe versagen, munkelt man, und aus ei-
nem Brunnen – der eigentlich mehr wie ein Be-
tonkübel aussieht – sei wochenlang Blut geflos-
sen. Manche reden von mysteriösen Klopfzei-
chen, ein vermeintliches Medium habe sogar
geisterhafte Erscheinungen gehabt und unnatür-
liche Stille würde manchmal grundlos eintreten.“
60
Lukas stieß einen anerkennenden Pfiff aus. „Du
scheinst dich ja auszukennen.“
Andreas machte eine abwehrende Geste. „Als
Stadtbibliothekar –vorübergehend außer Dienst –
und Vorsitzender des Heimatvereins gehört das
zum Rüstzeug. Außerdem war ich selbst schon
dort. Aber was ich immer seltsam fand, war, dass
die Schornsteine der Ruinen wie neu gemauert
aussahen. Die Klinkersteine haben keine Verfär-
bungen durch die Witterung, obwohl sie 1938 ge-
fertigt wurden.“
Tamara war neben sie getreten und griff Lukas
am Ellbogen. „Ich hab alles, Schatz, von mir aus
können wir gehen. Hallo Andreas, wie geht es?“
„Ach, letztes Mal ging’s noch.“
„Was macht Elena?“, erkundigte sich Tamara
nach seiner Frau.
Andreas griff sich an die Stirn. „Ach, das habe
ich ganz vergessen zu fragen.“ Er wandte sich an
Lukas. „Du hast doch mal Heilkräuterkurse an
der Volkshochschule abgehalten.“
Lukas bejahte.
„Elena ist die Kellertreppe runtergefallen und
hat sich den Arm gebrochen – das vermuten wir
61
zumindest. Und da das Wort Unterversorgung
für das aktuelle Gesundheitswesen noch ge-
schmeichelt ist und wir auf uns selbst gestellt
sind, wissen wir nicht wirklich, was wir machen
sollen. Ich dachte, womöglich kannst du uns ei-
nen Trick verraten. Andersherum, denke ich, wie
sollen Kräuter uns bei einem Bruch helfen. Viel-
leicht kannst du uns aber auch sagen, wie wir
den Arm fixieren sollen.“
„Doch man kann auch mit Kräutern Brüche hei-
len. Ich habe sogar schon mit frischer Beinwell-
wurzel einen Trümmerbruch geheilt. Die Um-
schläge brachten jeden Splitter wieder in seine
archetypische Form zurück, aber momentan ha-
be ich kein Beinwell auf Vorrat. Sie soll stattdes-
sen Schachtelhalm-Tee trinken wegen der Kiesel-
säure.“
„Und davon soll ein Bruch heilen?“, fragte An-
dreas ungläubig.
„Ja, durch die Kieselsäure, wie gesagt. Bei Expe-
rimenten mit Ratten und Mäusen fand man her-
aus, nachdem man ihnen im Labor die Beine ge-
brochen hatte, dass bei den Tieren, die Schach-
62
telhalm tranken, die Brüche viel besser verheilten
– und das hoch signifikant.“
„Und wo krieg ich diesen Schachtelhalm her?“
„Komm einfach mal vorbei, dann gebe ich dir
was von dem Zeug.“
Andreas legte ihm die Hand auf die Schulter.
„Das wäre wirklich nett.“ Im gleichen Moment
trat ein Herr an Andreas’ Stand. „Ich muss dann
mal“, sagte Andreas und wandte sich dem Kun-
den zu.
„Ja, mach’s gut. Bis demnächst.“ Lukas schaute
sich noch einmal auf dem Markt um, ob sie nicht
etwas vergessen hatten und wandte sich an
Tamara. „Komm lass uns gehen, diese Keimzelle
der freien Marktwirtschaft macht mich nervös.“
„Bestimmt ist eine Flasche Schnaps drin, wenn
Andreas den Schachtelhalm holen kommt.“ Sie
zwinkerte ihm verschlagen zu.
Lukas lächelte schief. „Also ich für meinen Teil
mag das Zeug nicht allzu sehr.“
„Also ich könnte ab und zu Einen vertragen“,
entgegnete sie. „Und untersteh dich abzulehnen,
wenn er dir von dem Gesöff anbietet. Das nennt
man dann einen Tausch.“
63
„Ganz wie du willst“, gab Lukas sich geschla-
gen.
Sie durchquerten das Dorf bis zum Waldrand
und machten sich an den Aufstieg. Während der
ganzen Zeit überlegte Lukas, was sich im
Schwarzen Lager wohl zusammenbraute. Er ver-
spürte die Ahnung eines drohenden Unheils.
64
3
Das Gefühl einer heraufziehenden Gefahr stei-
gerte sich im Laufe des Vormittags um weitere
Grade. Sie hing wie feuchter Nebel über Lukas’
Gedanken, sodass er sich nachmittags entschied
zum Schwarzen Lager zu gehen. Er beschloss
Tamara vorerst noch über seine beunruhigende
Beobachtung in Unkenntnis zu lassen. Womög-
lich könnte er ihr nach seiner Erkundung Genau-
eres sagen.
Nach dem Mittagessen ging er mit seinem Hund
Orwell aus dem Haus, der ausgelassen im
Schnee hin und her lief. Lukas schätzte, dass er
den Weg in knapp zwei Stunden zurücklegen
könnte, wenn er sich beeilte. Hinter ihrem Haus
erstreckte sich im widerstrebenden Licht ein wei-
tes Feld, auf dem weiter hinten vereinzelte Wal-
dungen verstreut in der Landschaft lagen, hier
ein paar verkrüppelte Tannen, da ein kümmerli-
cher Ginsterbusch. Dahinter zogen sich lange,
flache Hügel in die Ferne, im Sommer überwach-
65
sen mit Straußfarn und Bärlapp, bevor sie mit ei-
nem dichten Wald dahinter verschmolzen, wel-
cher sich mächtig am Horizont aufbaute.
Vor wenigen Tagen hatte Lukas ein paar hun-
dert Meter vom Haus entfernt eine seltsame Er-
scheinung gehabt. Es war wie so oft, wenn sich
sein Bewusstsein verschob, dass er seltsame Din-
ge erblickte, doch dieses Bild war an Seltsamkeit
nur schwer zu überbieten. Er sah einen Mann, in
einer mittelalterlichen Tracht und einem Kreuz
auf der Brust, der mit einem Speer einen schup-
penbewehrten Drachen tötete, dessen Blut sich in
einer weiten Lache ergoss, während der Lind-
wurm zuckte und sich wand. Lukas hielt sich die
Hand vor Augen und fragte sich, ob er nun wirk-
lich dabei war, den Verstand zu verlieren. Als er
wieder aufsah, hatte sich die Vision zu Staub ge-
löst.
Er vermochte sich keine Rechenschaft über das
Gesehene abzulegen, doch recht schnell fiel ihm
ein, dass der Hügel auf dem sie wohnten, dem
Heiligen Magnus – im Volksmund St. Mang –
geweiht war. Der Legende nach soll der Heilige
66
Magnus einen Drachen getötet haben, der in die-
sem Hügel gehaust haben soll.
Es war anstrengend sich durch den fast knietie-
fen Schnee voranzukämpfen und obwohl Lukas
sich in einer recht brauchbaren konditionellen
Verfassung befand, ging sein Atem bald stoßwei-
se und ließ weiße Wölkchen wie der Atem eines
Drachen in der klirrend kalten Luft entstehen.
Zielstrebig bewegte er sich über den Hügelkamm
auf die Naht des Waldes zu. Er begann zu
schwitzen und dennoch tat ihm die körperliche
Anstrengung gut. Als er sich dem Wald näherte,
verlangsamte er sein Tempo.
Drohend wie ein Bollwerk ragte der Urwald am
Horizont auf, und die alten Bäume blickten auf
Lukas herab, als schienen sie trotzig über die Ge-
gend zu wachen. Uralte Buchen und Riesenei-
chen schlossen ihre breiten, kahlen Äste zu gi-
gantischen Kuppeln zusammen.
Mythenträchtige Assoziationen drängten sich in
Lukas’ Geist. Er dachte an verborgene Schluch-
ten, Plätze, wo sich Götter und Nymphen aufhal-
ten, wo verzauberte Kräuter wachsen und eigen-
67
tümliche Düfte verströmen, Orte die für die All-
tagsseelen unfassbar wären.
Im Wald herrschte seltsame Düsternis. Alles war
schneebedeckt und die Bäume und Sträucher im
schwachen Schimmer wie gefangen. Der Wind
erzeugte ein hohl tönendes Säuseln und die
Bäume ächzten ab und an. Lukas ging weiter
querfeldein, der harte Schnee knarrte unter sei-
nen Schuhsohlen und Orwell streunte umher,
entfernte sich aber nie weiter als zwanzig Meter
von seinem Herrn.
Sie kamen zügig voran. Unmerklich überschrit-
ten sie die Grenze nach Frankreich. Sie gingen
über schneebedeckte Felder und durchquerten
kleine in der Gegend verstreute Waldungen, lie-
ßen die Dörfer Hargarten aux Mines und Coume
links liegen und überquerten die Rue de Ham,
auf der kein einziges Auto unterwegs war.
Sie gingen durch die französische Hügelland-
schaft, gelangten in einen Wald und stießen dort
auf den Fahrweg, der sie zum Haupttor von Ban
Saint Jean führen sollte. Lukas verharrte einen
Moment unentschlossen, als er plötzlich ein Mo-
torengeräusch vernahm. Da er es für besser hielt,
68
nicht gesehen zu werden, hastete er zurück ins
Gebüsch und verbarg sich unter den lang herab-
hängenden Ästen einer Fichte. „Orwell! Fuß!“,
rief er.
Der Hund schoss hinterher und kauerte sich
dicht neben seinen Herrn. Ein militärisches Ge-
ländefahrzeug donnerte die Hügelkuppe hinauf,
fuhr Schnee und Dreck aufschleudernd an Lukas
und Orwell vorbei und verschwand hinter der
östlichen Flanke hügelabwärts. Das Kreischen
des Motors ebbte allmählich ab, als Lukas sich
aus seinem Versteck hervor wagte.
„Komm, Orwell, wir sind auf dem richtigen
Weg.“
Sie folgten dem Fahrzeug auf dem Weg, der zu
beiden Seiten von hohen Kiefern gesäumt war.
Der Boden unter dem Schnee war hart und stei-
nig. An einer Weggabelung folgten sie den Rei-
fenspuren und gelangten schließlich zu einer
Mulde in der das Schwarze Lager eingebettet lag.
Die verräterischen Spuren, die Lukas auf dem
jungfräulichen Schnee hinterließ bereiteten ihm
Unbehagen, aber noch hatte er ja nichts Unrech-
tes getan. Er war immer noch ein unbescholtener
69
Spaziergänger. Langsam tasteten sie sich den
Hang hinab, diesmal jedoch abseits der Wege
und im Schutz der Vegetation, die dort im Win-
terschlaf vor sich hinbrütete.
Lukas schätzte das gesamte Gelände auf etwa 50
Hektar groß. Bis auf den Wachmann, der im
Torhaus saß und Kreuzworträtsel löste und dem
patrouillierenden Soldaten weiter hinten, waren
nirgendwo Anzeichen von Aktivität. Um das ge-
samte Areal war, wie Andreas gesagt hatte, ein
nagelneuer Stacheldrahtzaun gezogen worden,
den alten hatte man anstatt zu entsorgen achtlos
danebengeworfen. In regelmäßigen Abständen
prangten abweisend Warnschilder, die das Betre-
ten des Geländes untersagten, unter Androhung
strafrechtlicher Verfolgung und dem Einsatz von
Schusswaffen.
Unten angekommen, zog Lukas einen Bolzen-
schneider unter der Jacke hervor und begann
den Maschendrahtzaun von unten herauf zu
durchtrennen. Anschließend verstaute er das
Werkzeug wieder unter der Jacke und schlüpfte
durch das Loch im Zaun, nachdem er sich davon
70
überzeugt hatte, dass die Wache, die auf dem
Hauptweg patrouillierte, nicht in der Nähe war.
Lukas drehte sich um und sah, dass Orwell im-
mer noch auf der anderen Seite des Zaunes
stand. „Komm, Orwell! Fuß!“
Orwell war für gewöhnlich kein furchtsamer
Hund, und selbst wenn er etwas Ungewöhnli-
ches witterte, blieb er immer an Lukas’ Seite.
Nachdem er sich noch mehreren Befehlen wider-
setzt hatte, ging Lukas zurück und zog ihn am
Halsband durch die Öffnung im Zaun, dabei ent-
rang sich Orwell ein leises Winseln. Furcht be-
kroch Lukas, eine Furcht die von ganz unten
kam und sein ganzes Wesen ausfüllte. Der Hund
witterte etwas, das ihm echte Angst bereitete.
Doch an ein Umkehren war nicht zu denken, das
Verhalten des Hundes war nur ein weiteres Indiz
dafür, dass sich im Schwarzen Lager etwas zu-
sammenballte und um das herauszufinden, war
Lukas gekommen.
Er graulte den Hund im Nacken. „Wenn es eng
wird, sind wir beide auch wieder ganz schnell
verduftet. Jetzt komm!“
Orwell schniefte und sah ihn anklagend an.
71
Etwas im Blick des Hundes ließ Lukas Reue
empfinden. Obwohl jeder Verhaltensforscher es
abgestritten hätte, entdeckte er eine Mischung
aus Enttäuschung und Empörung im Blick des
Hundes, die real war, und dafür schämte Lukas
sich. Schnell hatte er das aufkeimende Gefühl
wieder in den Abgrund gejagt, aus dem es em-
por gekommen war und gab Orwell einen Klaps
auf die Flanke. „Nun komm schon.“
Der Hund kam anstandslos der Aufforderung
nach, gab aber wie zur Erwiderung ein tiefes,
kehliges Knurren von sich.
Sie kämpften sich eine Weile durch Gebüsch
und gelangten schließlich zu dem asphaltierten
Hauptweg, der sich arg vernachlässigt zeigte.
Von allen Seiten drang die Vegetation auf sie ein,
und der Frost hatte den Asphalt über die Jahre
an allen möglichen Stellen aufplatzen lassen. Lu-
kas ließ seinen Blick in alle Richtungen schweifen
– von dem wachhabenden Soldaten keine Spur.
Dicht an das Gebüsch gedrängt, in dem sie im
Falle ihrer Entdeckung schnell untertauchen
wollten, begannen sie ihre Erkundung. Orwell
trottete einen knappen Meter hinter Lukas her
72
mit eingezogenem Schwanz und angelegten Oh-
ren.
Allmählich verstand Lukas, warum Andreas
von einer Geisterstadt gesprochen hatte, obwohl
der Begriff Totenstadt vielleicht passender gewe-
sen wäre. Das Schwarze Lager war ein schauri-
ger Ort, wenngleich von ihm eine gewisse de-
pressive Romantik ausging. Wie im Märchen von
Dornröschen ragten aus dem undurchdringli-
chen Gestrüpp Häuserruinen mit toten Giebeln
hervor, welche durch ihre leeren Fensternischen
die Eindringlinge argwöhnisch betrachteten. Den
meisten der Gebäude fehlten die Dächer, und ein
Großteil der Mauerstümpfe zeigte sich efeuum-
rankt. Durch die Dächer sah man noch intakte
Treppen oder Böden, in deren Tragekraft man
kein Vertrauen fassen konnte. Ratten hatten die
Ruinen in Besitz genommen und auf den Tür-
stürzen nisteten Vögel, welche mit ihrem Kot die
Eingänge befleckten. Ab und zu passierte Lukas
schlammverkrustete, kaum noch lesbare Hin-
weisschilder an altersgrauen Pfosten, auf denen
die Farbe blätterte. An einer anderen Stelle
schaute zwischen Baumwipfeln ein zerstörter
73
Wasserturm bedrohlich auf Lukas herab, der
trotzig über diese Gegend zu wachen schien.
Ihr Weg führte sie vorbei an verschütteten Bun-
kerzugängen und an einem Gebäude, das sich als
ehemalige Kirche entpuppte. Das Areal wirkte
auf Lukas so unwirklich, wie ein makabrer Frei-
zeitpark und ihm ging schnell auf, dass man ei-
nen ganzen Tag oder länger brauchte, um das
Gelände vollständig zu inspizieren.
Lukas war gerade im Begriff sich an einer Bie-
gung vorzutasten, als der wachhabende Soldat in
Sicht kam. In Bruchteilen eines Augenblicks,
flüchtete Lukas in den Schatten einer Hauswand,
dicht gefolgt von Orwell. Hatte man ihn ent-
deckt? Wenn er den Soldaten gesehen hatte, be-
stand die Möglichkeit, dass der Soldat auch ihn
gesehen haben könnte. Sein Atem ging plötzlich
stoßweise. Orwell senkte den Kopf und machte
einen Buckel, die Muskeln am Rumpf spannten
sich sichtbar, während er leise knurrte. Es hatte
den Anschein, als wollte er jedem Moment los-
rennen.
„Ruhig! Behalt die Nerven, Kumpel!“, zischte
Lukas durch seine zusammengebissenen Zähne.
74
Der Hund verstummte umgehend. „Komm, wei-
ter!“
Überstürzt stiefelten sie durch totes Gestrüpp
über den schneebedeckten Untergrund, dabei
suchte so mancher Ast Lukas’ Gesicht zerkrat-
zend heim. Er ignorierte den Schmerz und
kämpfte sich bis zur nächsten Häuserreihe
durch, hinter der er vorsichtig hervor lugte. Ur-
sprünglich hatte Lukas vorgehabt, das Lager le-
diglich zu umrunden, doch durch ihre überstürz-
te Flucht waren sie tiefer darin eingetaucht und
stießen so ungewollt auf den belebteren Teil.
In etwa fünfzig Metern Entfernung parkten etli-
che gepanzerte Armeefahrzeuge, drum herum
waren mehrere ultramoderne, chromfarbene
Waggons gruppiert mit Satellitenschüsseln auf
den Dächern. Die Waggons trugen nicht zu dem
Eindruck eines verlassenen und verkommenen
Stützpunktes bei, eher sahen sie aus wie mobile
Laboratorien und suggerierten das Vorhanden-
sein von Hightech-Equipment.
Der Wachmann schlenderte gemächlich den
Weg hinunter, wobei er Lukas den Rücken zu-
kehrte. Als er sich ein Stück entfernt hatte, wagte
75
Lukas sich aus seinem Versteck hervor. Langsam
bewegte er sich auf die Ansammlung von Fahr-
zeugen zu. Seine Schuhe erzeugten knirschende
Geräusche im Schnee. In gebückter Haltung tas-
tete er sich an einem der Lastwagen vorbei und
lugte um die Ecke. Kein Mensch war zu sehen.
Der wachhabende Soldat entfernte sich erneut.
Vermutlich würde es eine Weile dauern, bis er
wieder von seinem Rundgang zurück käme.
Mit einem Mal nahm Lukas eine Bewegung am
Rande seines Sichtfeldes wahr. Instinktiv wollte
er sich bereits umdrehen und wegrennen, als er
bemerkte, dass es sich um einen der Grauen
handelte. Sein Blick folgte dem Wesen, das prak-
tisch aus dem Nichts aufgetaucht war und sich
zielstrebig auf eine Stelle zwischen den Waggons
zu bewegte. Dort war der Anfang einer Treppe,
die unter dem Erdboden verschwand. Atemlos
beobachtete Lukas wie das Wesen darauf zuging
und die Treppe abwärts nahm, bevor er sich ent-
schied ihm zu folgen.
Als er ein paar Stufen genommen hatte, bemerk-
te er, dass die Treppe einen alten, rostigen Fahr-
stuhlschacht beherbergte. Das Wesen schien
76
nicht an Lukas interessiert und strebte weiterhin
die Treppe hinunter. Lukas beeilte sich die
schmutzigen Stufen herunterzukommen, um es
nicht aus den Augen zu verlieren.
Die Stufen führten zu unterirdischen Stockwer-
ken, die manchmal offen und manchmal mit di-
cken Stahltüren verrammelt waren, denen jedoch
allesamt Türklinken fehlten und die anscheinend
nur von Innen geöffnet werden konnten.
Manchmal zweigte der Graue in fensterlose
Gänge ab, die an wenigen strategischen Stellen
von schwachen Neonlampen erhellt wurden.
Lukas Angst entdeckt zu werden, steigerte sich
mit jedem Schritt, aber er überwand sie und ging
voran.
Nackte, abbröckelnde Betonwände und marode
Wasser- und Stromleitungen zeichneten das vor-
herrschende Bild. Lukas glaubte ein Luftfiltersys-
tem leise arbeiten zu hören. Nichts ließ Rück-
schlüsse auf den Zweck des Ortes zu, außer das
man darauf bedacht war im Verborgenen zu ar-
beiten, da man anscheinend einen gewissen Wert
auf Isolations- und Sicherheitsvorkehrungen leg-
te. Was immer dort unten getrieben wurde, es
77
fiel Lukas schwer sich vorzustellen, dass es nir-
gendwo sonst auf der Welt einen geeigneteren
Ort geben sollte, als dieses schäbige Militärlager.
Das Einzige was für diesen Ort und die Gegend
hier sprach, war, dass sie relativ weit weg von
der Zivilisation war und für Westeuropa dünn
besiedelt und somit geschützt vor neugierigen
Augen. Doch welche außergewöhnlichen Um-
triebe sollten dort stattfinden, wo nur der nackte
Beton vorhanden war? Es war rätselhaft und
gleichzeitig zutiefst beunruhigend.
Im untersten Stockwerk zeigte sich am Fuß der
Treppe eine breite Stahltür im stahlverstärkten
Beton, durch die der Graue hindurch ging, als sei
sie nicht vorhanden. Das Besondere an dieser
Tür war, dass neben ihr eine Vorrichtung für ein
Codeschloss und darunter ein Scanner für ein
Fingerabdruck-Sicherheitssystem angebracht
waren. Links und rechts davon erstreckten sich
wiederum Korridore, die von kleinen Räumen
umringt waren. Lukas suchte die Umgebung ab.
Nirgendwo war eine Luke, Öffnung oder Luft-
schleuse, die Aufschluss über das geben konnte,
was hinter der Tür lag.
78
Unschlüssig verharrte Lukas eine Weile und
fand, dass es keinen Sinn machte sich noch wei-
ter in das Labyrinth vorzuwagen. Er hatte auch
so schon zu viel riskiert. Tamara wäre mit Si-
cherheit böse auf ihn, wenn sie wüsste, dass er
und Orwell sich derart in Gefahr begaben.
Im nächsten Moment drang ein Schrei gedämpft
hinter der Tür hervor, der so kurzlebig und hohl
war, dass Lukas ihn zuerst seiner Einbildungs-
kraft zuschob. Er besaß eine Tonlage für die
menschliche Stimmbänder nicht gemacht waren,
wie von einem gequälten Tier.
Orwell kläffte und ging zwei Schritte zurück.
„Still, Orwell!“, zischte Lukas.
Er verharrte fast eine Minute, als der grauenvol-
le Schrei erneut ertönte, von dem eine nahezu
hypnotisierende Wirkung ausging. Orwell gab
ein leises Grollen von sich, das zugleich Angst
und Zorn ausdrückte. Lukas glaubte mit einem
Mal, dass sein Rücken vom Steißbein bis zum
Nacken mit Eis überzogen war. Angst packte ihn
mit kalter Klaue, doch es war keine greifbare
Furcht, sie rührte mehr an den Urtrieb in seinem
79
Inneren. „Komm, Orwell, wir verschwinden
hier!“, keuchte er.
Plötzlich überkam ihn der Drang zu rennen.
Ohne sich zu bemühen weiterhin leise zu sein,
jagte Lukas die Gänge zurück und die Treppen
hinauf. Orwell, der eine schnelle Drehung voll-
führte, folgte ihm nur zu gerne. Am Ausstieg
oben angekommen, konnten sie schnell den
Wachmann ausmachen, der etwa dreißig Schritte
entfernt stand, mit Rauchen beschäftigt war und
ihnen den Rücken zukehrte.
Jetzt oder nie, dachte Lukas, und begann erneut
zu laufen. Sie überquerten das Gelände unbehel-
ligt und gerade als er den Rand des Gebüschs
vor Augen hatte und in den Windschatten der
roten Ziegelsteinmauer eines verfallenen Gebäu-
des tauchte, hörte er plötzlich einen Ruf hinter
sich: „He! Sie da! Stehen bleiben oder ich schie-
ße!“
Lukas dachte nicht im Entferntesten daran und
beschleunigte seinen Schritt. Im nächsten Mo-
ment hörte er einen Warnschuss durch die kalte
Winterluft peitschen. Als die Rinde an dem
Baum neben ihm aufplatzte und die nächste Ku-
80
gel dicht an ihm vorbeisauste, ging ihm auf, dass
dies kein Warnschuss war, sondern der Soldat
Schießbefehl hatte. Orwell, der die ganze Zeit
hinter seinem Herrn hergelaufen war, hatte die
Gefahr erkannt und hechtete in wilder Panik an
Lukas vorbei.
Das Gestrüpp wurde nun dichter und Lukas
hoffte, dass die wild wuchernden Sträucher ihm
genug Sichtschutz boten, bis er aus der Gefah-
renzone käme. Der Gedanke war kaum ausge-
dacht, als er schon einen zornigen Ausruf in sei-
nem Rücken hörte und hastige, knirschende
Schritte auf dem verschneiten Boden vernahm.
Lukas stürmte weiter und warf ungewollt einen
Blick über die Schulter zurück und registrierte
mit seltsam distanziertem Schrecken, dass der
Soldat seine Waffe auf ihn angelegt hatte. Er
schlug einen Haken nach rechts, hörte im selben
Moment einen peitschenartigen Schuss und sah
wie die Kugel ein paar Meter neben ihm ein-
schlug. Ohne, dass es eine bewusste Entschei-
dung war, steuerte Lukas auf einen verfallenen
Kasernenblock zu. Womöglich hatte er dort et-
was Deckung.
81
Eine Kugel sauste dicht an seinem Kopf vorbei,
doch Lukas lief unbeirrt weiter, ohne dass er ei-
nen klaren Gedanken zu fassen vermochte. Wo
war Orwell?
Immer weiter kämpfte er sich auf dem ver-
schneiten Untergrund voran, in welchem er mit
jedem Schritt versank und der die Konsistenz
von Schlagsahne besaß. Lukas warf einen hasti-
gen Blick zurück, von dem Verfolger war nichts
mehr zu sehen, er war offensichtlich ebenso in
die Waldung gerannt. Unter Aufbietung all sei-
nes Willens verscheuchte er den Gedanken und
versuchte sich darauf zu konzentrieren einen
Fuß vor den anderen zu setzen. Er hatte über
Dreiviertel des Weges bis zum Zaun zurück ge-
legt. Seine Beine fühlten sich an, wie aus Blei ge-
gossen, jeder Schritt auf dem Untergrund kostete
mehr Kraft, und Lukas war sich nicht mehr si-
cher, ob er den Weg bis dorthin ohne hinzufallen
schaffen würde. Aber was wäre, wenn er das
Loch im Zaun erreichte? Womöglich würde man
ihn auch von dort aus weiter jagen. Mit aller
Energie, die ihm zur Verfügung stand, kon-
zentrierte er sich darauf, den Waldrand zu errei-
82
chen, doch die Distanz schien sich auf fast magi-
sche Weise ins Unendliche zu dehnen. Er warf
einen hastigen Blick zurück, von dem Verfolger
keine Spur, jedoch von Orwell auch nicht. Angst
würgte Lukas bei dem Gedanken, dass ihn wo-
möglich eine Kugel erwischt hatte.
Als er sich der asphaltierten Straße näherte, fan-
den seine Füße plötzlich festeren Halt. Sie ver-
sanken nur noch wenige Zentimeter im Schnee.
Im Gegensatz zu dem mühseligen Sich-
Fortkämpfen schwenkte Lukas mit seiner ganzen
Behändigkeit intuitiv nach rechts und kämpfte
sich durchs Unterholz und stieg über einen um-
gestürzten, morschen Baumstamm hinweg. Mitt-
lerweile hatte er seinen Laufrhythmus gefunden,
der ihm gestattete, zügig von der Stelle zu kom-
men und dennoch dosiert mit seinen Kräften zu
wirtschaften. Noch einmal mobilisierte er all sei-
ne Kräfte, als er einen ungeschützten Abschnitt
überqueren musste. Er konnte es schaffen.
Der Gedanke war wie ein Stichwort, denn im
nächsten Moment vernahm er die Schritte. Hin-
ter ihm stürmte sein Verfolger aus dem Gebüsch!
Als Lukas noch wenige Meter vom Rand der
83
Waldung entfernt war, die zwischen Straße und
Zaun lag, hörte er einen Knall, im selben Mo-
ment spürte er einen warmen Lufthauch an sei-
nem Ohr, und einen Sekundenbruchteil später
platzte die Rinde eines nahe gelegenen Baumes
auf, sodass mikroskopisch kleine Holzsplitter
wie Schrapnellgeschosse daraus hervor stieben.
Lukas packte das schiere Entsetzen, und er muss-
te all seine Willenskraft aufbieten, damit die
Angst ihn nicht vollends lähmte.
Beim nächsten Schuss war Lukas, als ritze je-
mand mit einer heißen, rotglühenden Nadel über
seine Schulter. Der Schmerz war im Grunde aus-
zuhalten, aber die Wucht der Kugel brachte ihn
zum Straucheln, sodass er stolpernden Schrittes
zu Boden ging.
Ein anderer wäre vielleicht liegen geblieben, je-
doch Lukas war von Natur aus in körperlich ro-
buster Verfassung und besaß einen angeborenen
starken, beinahe trotzigen Willen. Er überschlug
sich, wirbelte herum und rannte Haken schla-
gend zwischen die Bäume. Die nächste Kugel
zerfetzte dünne Äste über seinem Kopf und war
84
weit genug entfernt, um keine Gefahr darzustel-
len.
Der Verfolger schien zumindest vorläufig das
Feuer eingestellt zu haben. Panisch kämpfte Lu-
kas sich ins Gebüsch, blieb mit wachsender Ver-
zweiflung stehen, überprüfte seine Schulter und
stellte befriedigt fest, dass es sich nur um einen
Streifschuss handelte. Die Erkenntnis, dass es im
Grunde nur ein Kratzer war, beflügelte ihn und
gab ihm die Kraft weiter zu laufen. Er rannte
durch Gestrüpp und Unterholz und gelangte an
die Stelle mit dem Loch im Zaun. Dort stand der
keuchende Hund und wartete auf ihn. Das kluge
Tier hatte den Weg allein gefunden und auf der
dem Lager zugewandten Seite des Zaunes auf
seinen Herrn gewartet. Der Anblick verlieh Lu-
kas neue Kraft. Sie schlüpften durch den Zaun
und rannten die Böschung hinauf in den dichten
Kiefernwald. Sie liefen noch eine Weile, bis Lu-
kas sich sicher war, dass er den Soldaten abge-
schüttelt hatte.
Es hatte stark zu schneien begonnen, was Lukas
nur recht war, da so seine verräterischen Spuren
verwischt würden. Anders hätte man seine Spur
85
bis zum Haus verfolgen können. Dabei ging ihm
ein weiteres Mal auf, wie unbesonnen er gehan-
delt hatte.
„Tut mir leid, alter Junge, dass ich uns in Gefahr
gebracht habe.“ Er streichelte Orwell über das
feuchte Fell. „Wenn Frauchen das erfährt, dann
setzt es was – und das mit Recht. Ich schlage vor,
wenn wir es ihr erzählen, dann aber die ent-
schärfte Fassung. In Ordnung?“
Orwell gab ein versöhnliches Winseln von sich
und drückte seine Schnauze sanft an Lukas’
Oberschenkel, als wollte er ihn daran erinnern
weiterzugehen und nicht den ganzen Tag stehen
zu bleiben und mit Entschuldigungen zu ver-
bringen.
Auf Umwegen gingen sie zum Haus zurück,
dabei ging Lukas bewusst über die Straßen, wo
die Bordsteine freigeschaufelt waren, um keine
Spur bis zum Haus zu legen. Als die Sonne
schon fast den Horizont berührte, kam er dort
an.
86
4
Es lag der typische Geruch von alten Büchern in
der Luft, wie man ihn in Bibliotheken zuweilen
wahrnimmt, schimmelig und staubig, aber nicht
unangenehm. Die Mahagoniregale waren mit
Büchern aller Art, Größe und Alter gefüllt, ohne
dass man sofort dahinter eine Systematik erkannt
hätte. Manche von ihnen besaßen wundervoll
gestaltete Buchrücken, andere waren vergilbt
und zerfleddert, wiederum andere wirkten voll-
kommen unscheinbar.
Viktor strich mit seinen Fingerkuppen beinahe
liebkosend über sie. Manche der Bücher waren
für ihn fast so etwas wie Kinder. Obwohl sie in
seinem Antiquariat herumstanden und auf Ab-
nehmer warteten, waren sie in der aktuellen
Wirtschaftslage unverkäuflich. Selbst ausge-
machte Bibliophile, die ständig auf der Jagd nach
raren Exemplaren oder Erstausgaben waren, hat-
ten im Moment andere Probleme. Nun überkam
Viktor so etwas wie Wehmut, da er nicht wusste,
87
ob er seine Bücher je wiedersehen würde. Für
das, was er vorhatte, musste er dieses Risiko al-
lerdings einkalkulieren. Er zog einen in Leder
gebundenen Folianten aus dem Regal und blät-
terte versonnen darin herum. The White Goddess
von Robert Graves war schon immer eines seiner
Lieblingsbücher gewesen, nun hielt er die Erst-
ausgabe von 1948 in Händen. Beinahe scheu
strich er mit den Fingerkuppen über den Buch-
deckel, bevor er den Band wieder ins Regal zu-
rückschob, sorgsam darauf bedacht, den Einband
nicht zu knicken.
Als nächstes zog er eine alte Ausgabe von Gus-
tav Meyrinks Das grüne Gesicht hervor. Er schlug
die letzte Seite auf. Dort las er: „... konnte Hau-
berrisser in die jenseitige Welt und zugleich in
die irdische Welt hineinblicken und ihre Einzel-
heiten und Dinge klar unterscheiden: Er war hü-
ben und drüben ein lebendiger Mensch.“
Seltsam, dass er gerade dieses Buch herausgezo-
gen hatte. Auf dem freien Markt hätte er vor ei-
nigen Jahren noch ein paar Hundert Euro dafür
bekommen, doch nun hatten die Leute andere
Sorgen, als sich um antiquarische Gegenstände
88
zu scheren, die im Grunde keinen inneren Wert
besaßen, außer dem Heizwert. Und überhaupt,
was waren heute noch ein paar Hundert Euro,
wo eine Rolle Toilettenpapier schon soviel koste-
te – wenn man denn eine auftreiben konnte, an-
sonsten behalf man sich mit Zeitungspapier.
Doch er wollte nicht wie in Das grüne Gesicht
nach „hüben und drüben“ sehen, er wollte auch
nicht das „Zimmer ohne Zugang“ betreten, wie
Meyrink es in seinem okkulten Roman Der Golem
beschrieb oder ins „Haus zur letzten Laterne“
gehen – nein, er hatte etwas anderes vor.
Viktor drehte den Kopf und sah die Regalreihe
entlang. Er zog einen Schlüsselbund aus der Ho-
sentasche, riss sich von dem Anblick seiner Bü-
cher los und schloss die Tür zum Laden von In-
nen ab. Er ging durch einen Durchgang, der von
einem fleckigen, braunen Vorhang verdeckt war
in den hinteren Teil des Gebäudes, in einen
Raum, der bis unter die Decke mit Büchern voll-
gestopft war. Von dort stieg er eine wurmstichi-
ge, knarrende Holztreppe hinauf, die in einen
Flur mündete. Er warf sich den Schal um den
Hals, schlüpfte in den dicken schwarzen Mantel,
89
warf sich den alten Armeerucksack um die
Schultern und trat aus dem Haus.
Kleine, harte Schneeflocken peitschten ihm ins
Gesicht. Er ging die Straße ein Stück hinauf und
blickte noch einmal zu dem alten Fachwerkhaus
zurück, in dem er gewohnt und gearbeitet hatte.
Wien wirkte an diesem Morgen so düster wie
nie. Falls er nicht zurückkommen sollte, so gab es
hier ohnehin nichts, woran sein Herz hing – au-
ßer an seinen Büchern. Denn seit seine Frau Ka-
ren tot war, hatten materielle Dinge für ihn oh-
nehin allen Reiz eingebüßt. Seit Karen vor fast
drei Jahren einem Hirntumor erlag, hatte Viktor
praktisch jegliche Bindung zu Menschen verlo-
ren.
Er ging Richtung Donau, überquerte die Reichs-
brücke und ging von dort in die Lasallenstraße.
Links von ihm lag der Wiener Prater. Viktor ver-
suchte das Innere der Stadt zu umgehen, um
nicht in einen Straßenkampf rivalisierender Par-
teien bei Protestaktionen verwickelt zu werden.
So gelangte er auf Nebenstraßen zum Westbahn-
hof, der wie ausgestorben dalag. Dennoch fuhren
einige Züge.
90
Er nahm den Zug nach Filzmoos und musste
unterwegs nur einmal umsteigen. Während der
Fahrt gelang es ihm sogar etwas zu schlafen, den
Rest der Zeit schaute er aus dem Fenster, ohne
wirklich etwas zu sehen, da seine Gedanken
ganz bei seinem Vorhaben waren.
Es war bereits Nachmittag, als er an dem kleinen
Bahnhof in Filzmoos ausstieg und sich kurz da-
rauf auf der Straße vor dem Bahnhofsgebäude
wiederfand.
Viktor verlor keine Zeit und ging los, mäßig
schnell. Wäre jemand auf der Straße gewesen
und hätte ihn gesehen, hätte er nie geahnt, was
dieser Mann vorhatte. Ja, vermutlich entsprach
sein Äußeres in allem dem Gegenteil von der
Vorstellung, die ein Uneingeweihter sich von ei-
ner Person machen würde, die solcherlei Absich-
ten hegte. Seine mehr als mittelgroße und ge-
drungene Gestalt hatte etwas Schwerfälliges an
sich. Der Kopf war ziemlich groß, die Stirne hoch
und breit, die Lippen voll, alle Gesichtsformen
sanft abgerundet, die Miene düster und die
graublauen Augen wirkten irgendwie fern. Trau-
rige Lebensfurchen standen in seinem Gesicht,
91
dennoch lag ein seltsamer Kontrast dazu in den
Augen – ein Glanz von Unendlichkeit. Sein Ge-
samtausdruck war eine widersprüchliche Mi-
schung aus ungewöhnlicher Ideenkraft, über die
sich eine schreckliche Gedankenleere gebreitet
hatte.
Viktor ging und setzte einen Schritt vor den an-
deren. Gedanken und Zweifel bestürmten ihn. Er
ließ sie kommen und gehen, ohne sich mit ihnen
zu befassen. Diese geistige Übung hatte er in den
letzten Jahren vervollkommnet. Nur kurz ver-
harrte er bei dem Tod seiner Frau, die viel zu
jung gestorben war. Es war eine kummervolle
Zeit gewesen, die sich auf ein halbes Jahr er-
streckt hatte, nervenaufreibend und hektisch. Al-
les schien wie ein trunkener Alptraum voll Ge-
sichtern mit falschem Lächeln und gespielter An-
teilnahme. Ein ständiges Hin und Her von Be-
sprechungen mit Ärzten, Krankenbesuchen und
Reisen in andere Krankenhäuser in andere Teile
des Landes, um spezielle Untersuchungen
durchzuführen und sich an die letzten Strohhal-
me zu klammern, die man zu greifen bekam. Et-
was in Viktor wusste damals, dass seine Karen
92
sterben würde, noch ehe die Ärzte und sie selbst
es wusste, denn in der drückenden Stille seines
Gemütes hörte Viktor die Todesuhr bereits ti-
cken, doch er hatte den Gedanken immer weit
von sich geschoben.
Bis sein Kopf leer war, der Körper nur noch me-
chanisch einen Schritt vor den anderen setzte,
und er sich wie ein unbeteiligter Beobachter vor-
kam, bedurfte einiger Willenskraft. Doch Viktor
hatte diesen Zustand schon öfter erlebt, es war
wie ein spontanes Meditationserlebnis. In Ge-
danken bezeichnete er diesen Zustand für sich
selbst als Ich-Tod, wo die Bastion, die das Ego
um das Bewusstsein baut, rissig wird und er sich
mit allem in Verbindung wähnt, wo jegliche
Empfindung, ob Schmerz, Trauer, Freude oder
Sehnsucht in potenzierter Form auf ihn einströ-
men, ohne ihn niederzudrücken. In solchen Mo-
menten spürte Viktor ganz besonders die Last
der unzählbaren Jahre und Menschenalter dieser
Welt, all das ungezählte Leid der Menschen, das
seinen Geist bannte und wie schäumendes Was-
ser an ihm vorbeirauschte. Wenn er den Zustand
abschüttelte oder von jemandem unterbrochen
93
wurde, dann schwankte er die ersten Minuten
zwischen tiefer Trauer und heiterer Gelassenheit.
Doch in solchen Momenten war er wach und
fühlte sich nicht mehr in dem Netz gefangen,
welches die Menschen Wirklichkeit nannten.
Seine Mitmenschen hatten ihn oft wegen seiner
Weltsicht und Lebenseinstellung als Träumer
angesehen, womit er ihnen recht gab, denn er
selbst sah sie als Schlafende an, die durch das
Leben wie Herdenvieh gingen, stumpf, teil-
nahmslos.
Er als Träumer hatte ein paar irreführende Bli-
cke auf eine andere Wahrheit erhascht, die ihn
lehrten, dass alles was die Menschheit als richtig
annahm, letztlich falsch gewesen war – auch
wenn es noch so richtig war.
Manchmal, wenn er – so wie jetzt – wach war,
empfand er jenes Körper durchrieselnde Gefühl
im Hier und Jetzt zu sein, wo er wusste das der
Alltagszustand einer Schlaftrunkenheit gleich-
kam. Es war wie ein kleiner Schritt vom Knecht-
tum zur Allmacht. Die Menschheit hatte sich ei-
nen Schutz gegen diesen Zustand zugelegt, den
Materialismus, der aber zugleich ihre Kerker-
94
mauer war. Eine geistige Brustwehr, die immer
nur ein närrisches Lächeln für derlei Dinge bereit
hielt.
Er wanderte weiter und weiter und gelangte an
den Fuß des mächtigen Dachsteingebirges. Doch
heute befand es sich im Nebel, auch die Bi-
schofsmütze, das Ziel seiner Wanderung. Er war
sich ziemlich sicher, dort oben in diesem Bann-
gebiet das zu finden, was er hoffte.
Viktor wusste, was er tun musste. Wer sollte es
auch sonst tun, wenn nicht er? So wie die Dinge
lagen, konnte es nur schlimmer werden, wenn
niemand etwas unternahm. Als der große Crash
kam, den man anfangs nur als eine weitere Wirt-
schaftskrise ansah, wusste Viktor, dass aus ihr
die tiefste Krise für die Menschheit erwachsen
würde. In die chaotische Grundstimmung fiel
auch noch der Ausbruch eines Nahostkrieges
hinein, der den gesamten Nahen Osten in Brand
setzte. Für die westlichen Staaten stellte sich
wieder einmal die Frage: Eingreifen oder nicht
eingreifen? Dies hatte Friedensbewegungen zur
Folge, doch durch die Arbeitslosenzahlen, die
leeren Sozialkassen und Versorgungsengpässe
95
kam es zu offenen Unruhen in den Staaten West-
europas.
Aus Italien hörte man früh etwas von bürger-
kriegsähnlichen Zuständen, zudem brachen neue
Kämpfe auf dem Balkan aus. Es geschah prak-
tisch über Nacht, als mit einem Mal russische
Truppen nach Serbien vordrangen, es war so
überraschend und unwahrscheinlich, dass man
es gar nicht glauben wollte. Die rote Armee
brach danach auch in deutsches und österreichi-
sches Staatsgebiet ein und stieß nach Westen vor.
Trotz der Frühwarnsysteme war die Deutsche
Bundeswehr völlig überrumpelt. An eine effekti-
ve Gegenwehr war nicht zu denken. Alles lief auf
einen dritten Weltkrieg hinaus. Am Rhein stie-
ßen die russischen Invasoren zum ersten Mal auf
eine natürliche Verteidigungslinie, wo die An-
griffswalze zum Stehen kam. Das gesamte Gebiet
östlich des Rheins und nördlich der Donau war
unter russischer Kontrolle. Das nördliche Alpen-
vorland war zum größten Teil noch nicht besetzt.
Die deutsche Armee tat daraufhin etwas Unge-
wöhnliches. Man wusste, wenn die rote Armee
den Rhein überschritte, würde es schwierig wer-
96
den. Man schickte Staffeln von Flugzeugen los,
von der Ostseeküste beginnend, von wo man bis
Prag reichend und von dort nach Südosten einen
breiten Streifen Land chemisch derart verseuch-
te, dass in dieses Gebiet keine Bodentransporte
mehr möglich waren. Der russischen Armee war
somit der über den Boden laufende Nachschub
abgerissen.
Den westlichen Truppen gelang es allmählich
die rote Armee zurückzudrängen. Es kam zu gi-
gantischen Schlachten. Bis zu diesem Zeitpunkt
verzichtete man auf den Einsatz von Nuklear-
waffen, doch die Gefahr wuchs, je mehr eine
Kriegspartei in die Defensive geriet. Eine aus mi-
litärischer Sicht adäquate Antwort auf den stra-
tegischen Chemie-Angriff des Westens, wäre
wohl ein dosierter Atomschlag gewesen, um des-
sen Versorgungsstränge abzuschneiden. Viktor
überlegte in dieser Zeit ernsthaft Österreich zu
verlassen und sich eine Weile nach Südeuropa zu
verdrücken, doch es war überall unsicher.
Seine Entscheidung wurde ihm jedoch abge-
nommen. Über dem umkämpften Europa er-
schien ein hell leuchtender Himmelskörper, der
97
kurzzeitig die Sonne überstrahlte. Die ganze
Welt hielt den Atem an. Der Meteor streifte je-
doch nur die Erdatmosphäre und eine dunkle
Wolke senkte sich herab. Die Luft in Süddeutsch-
land und Nordösterreich war angefüllt mit gifti-
gem Staub und wer ihn einatmete starb nach ein
paar Atemzügen. Die kriegstreiberischen Ele-
mente jedoch waren ausgeschaltet.
Die Finsternis dauerte drei Tage und drei Näch-
te. Vor allem Süddeutschland und Teile von Ös-
terreich waren am stärksten betroffen. In diesen
Gebieten soll etwa ein Drittel der Bevölkerung
gestorben sein. Viktor saß drei Tage lang in sei-
nem Keller bei Kerzen und betete. Auch wenn
Wien nicht so stark betroffen war, herrschte auch
da Verwirrung und Chaos. Die Welt war aus den
Fugen geraten.
Mit qualvoller Hingabe erklomm Viktor die ers-
te Steigung, indem er sich durch das Schneegela-
ge kämpfte. Anfangs ging er auf markierten
Wanderwegen unterhalb der Südwand des
Dachsteins mit seinen grandiosen Stürzen ent-
lang, welche serpentinartig nach oben führten.
Dicker schmieriger Nebel wogte in Dunstschwa-
98
den über dem Erdboden und behinderte die
Sicht. Der Wind erzeugte hohl tönende Geräu-
sche, während dichte Wolken am sturmzerzaus-
ten Himmel entlang preschten. Ihm war, als be-
fände er sich in einer Schauermär von Edgar
Alan Poe. Ebenso behinderte die kniehohe
Schneedecke ein zügiges Vorankommen.
Die mächtigen Gebirge trugen schon seit Ur-
Tagen ihre Geheimnisse in sich und Viktor war
es im Laufe der Jahre gelungen, ihnen das ein
oder andere zu entreißen. Er wusste, dass die
mächtigen Grate des Dachsteingebirges mehr als
nur Felsen waren, sie waren gewaltige kosmische
Antennen, die Brücken zu anderen Seinsebenen
darstellten. Jahrelang hatte es ihn immer wieder
auf diese riesige Bergkette gezogen. Je länger er
dort war, desto mehr spürte er, wie seine innere
Sehe sich öffnete.
Einmal, es war in einem Sommer vergangener
Jahre gewesen, nur wenige Monate nach dem
Tod seiner Frau, da hatte er sie gesehen. Es war
oben unterhalb der Bischhofsmütze am Johannis-
tag gewesen. Er stieg um einen Felsgrat herum,
als ihm plötzlich war, als ströme kaltes Wasser
99
seinen Rücken hinab. Er sah sie, mit konfuser
Deutlichkeit: drei Wesen, keines von ihnen reich-
te höher als sein Knie, grau wie der Fels und
doch von menschenähnlicher Gestalt. Es handel-
te sich um Berggeister. Das Tageslicht drang
durch ihr Fleisch, da sie keine echte Substanz be-
saßen. Dennoch war es eine unförmige Erfah-
rung. Er wagte damals erst gar nicht zu begrei-
fen, was er dort sah. Dies waren keine Trugbil-
der, sondern wesenhafte Individuen. Viktor sah
sie klar, sein Bewusstsein war nicht getrübt
durch Drogen oder eine Ekstasetechnik, ebenso
waren die Dinge der Außenwelt auch nicht ver-
schwommen. Es war keine Einbildung oder
Wunschdenken. Als er sich näherte, gingen sie
auf den Berg zu und verschwanden in ihm. Als
Viktor an die Stelle kam, suchte er nach einem
Schacht oder Eingang zu einer Höhle, doch alles
was er sah, war eine glatte Felswand, die kühn
gen Himmel strebte.
Immer wieder kehrte er an den Ort zurück und
entdeckte, dass er so etwas wie ein Eingang war,
den diese Wesen benutzten. Viktor las in der
Folgezeit alles, was ihm zu diesem Thema in die
100
Hände fiel. Es war ein fürchterliches Durchei-
nander, angefangen von quantenphysikalischen
Theorien, der Vielweltentheorie, Mythen und
Anschauungen der keltischen und germanischen
Anderswelt, bis hin zu den Offenbarungen des
Geistersehers Emanuel Swedenborg und des
Schreibmediums Jakob Lorber mit ihren Kund-
gaben über das Jenseits und Parallelwelten. Nach
Jahren des Studiums schloss sich alles zu einem
Gesamtbild. Nun würde er dieses Wissen endlich
nutzen. Doch wie sollte er den Eingang öffnen?
Diese Wesen konnten offenbar durch die Materie
hindurchgehen. Doch auch daran hatte er ge-
dacht und Werke über Schamanismus gelesen.
Notfalls würde er sich eines schamanischen Ri-
tuals bedienen, um die Schwelle zu öffnen.
Es war nicht mehr weit bis zu der Stelle. Auf
dem letzten flachen Stück folgte er einem ausge-
tretenen Pfad, der über einen schmalen Felsgrat
führte. Der Untergrund war glatt und Viktor
musste acht geben, nicht in die Tiefe zu stürzen
und an einem der weiter unten liegenden scharf-
kantigen Felsen zu zerschellen. Er folgte dem
Kammverlauf und ein seltsames Gefühl unter
101
dem Brustbein bemächtigte sich seiner, das im
gleichen Maße anregend wie furchteinflößend
war.
Nachdem er um den besagten Felsvorsprung
herumgestiegen war und den Ort erreichte, lä-
chelte er sein rätselhaftes, seltsames Lächeln. Das
Portal war offen, genau wie er gehofft hatte. Es
bedurfte somit keiner weiteren Maßnahmen. Die
Felswand pulsierte wie flüssiges Silber. Als er
dicht davor trat, kam seine Entschlossenheit für
den Bruchteil eines Augenblicks ins Wanken,
doch er ignorierte das Gefühl.
Viktor ballte die Hände zu Fäusten, sein Atem
ging stoßweise. Er schritt auf die Felswand zu
und war nicht mehr in dieser Welt.
102
5
Angehörige von christlichen Religionsgemein-
schaften werden nach ihrem Tode üblicherweise
auf Friedhöfen im Rahmen eines Aussegnungs-
gottesdienstes oder einer kurzen Andacht beige-
setzt, doch nicht so der alte Hans. Er hatte darauf
bestanden, am Waldrand bei dem alten Weg-
kreuz beerdigt zu werden. Zu Lukas hatte er das
ein oder andere Mal von diesem Ort gesprochen
und über die Wirkung, die er auf das menschli-
che Gemüt zeitigen konnte. Hans hatte gemeint,
dass es sich um einen heiligen Ort handeln wür-
de, da er dem Heiligen Hubertus geweiht sei,
dem Schutzpatron der Jäger, der jedoch nur die
christianisierte Version des gehörnten, keltischen
Gottes Cernunnos verkörpere. Lukas dachte,
dass es vermutlich keinen passenderen Ort für
das Grab von Hans auf der Welt gab, da er ihm,
durch seine zu Lebzeiten offenkundige enge
Verbundenheit mit dem Wald, manchmal durch-
aus wie eine Inkarnation des Waldgottes
103
Cernunnos vorkam. Wenn Hans durch den Wald
gegangen war, hatte er nie die regulären Wege
benutzt, sondern ging stets querfeldein. Er hatte
auch immer gewusst, wo die schönsten Pilze
wuchsen und die Rehe sich trafen.
Da seit der Krise die Menschen sich wieder stär-
ker auf Familie, Sippe, Stamm oder Dorfgemein-
schaft konzentrierten – im Gegensatz zu dem
entkoppelten, anonymisierten Leben der einst-
mals globalisierten, mobilen Gesellschaft – waren
viele Leute zu der Beerdigung gekommen, um
ihre Anteilnahme zu bezeugen. Nachdem sie die
alte, steinerne Kirche, die von den Unbilden der
Witterung arg gezeichnet war, verlassen hatten,
zogen die Trauernden aus dem Dorf aufs Feld
hinaus. In einem langen Leichenzug wurde der
Tote in einem behelfsmäßigen Sarg zu Grabe ge-
tragen. Die Wolkendecke hing tief, der Himmel
sah aus wie aus Blei gehämmert und erweckte
den Eindruck, als wolle er jeden Augenblick auf
sie niederstürzen. Von Westen wehte eine steife