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Von dieser Eröffnung Daisys war Alec so irritiert, daß er prompt einen Luftschlag ausführte. Ein Sprühregen landete auf dem freien Platz im Heck. Da ohnehin alle schon voll- kommen durchnäßt waren, machte dieser Spritzer auch nichts mehr aus. Alec geriet kurz aus dem Gleichgewicht, schaffte es aber, nicht in Cherrys Schoß zu landen.
Trotz diesen Zwischenfalles glitten die Ufer auf dem Weg zurück nach Bulawayo wesentlich rascher vorüber als auf der Hinfahrt. Die Männer ruderten schweigend. Sie brauchten alle Luft für diese körperliche Betätigung. Daisy blieb still, um Alecs Konzentration nicht noch einmal zu stören. Aller- dings wirbelten in ihrem Geist tausend Spekulationen herum.
Was in aller Welt hatte Lord DeLancey auf Temple Island zu suchen? Im Morgengrauen, mit Horace Bott? Abgesehen natürlich von seinem Vorhaben, ihn zu erschießen. Wenn De- Lancey Bott die Verantwortung für den Tod seines Bruders gab, dann konnten diese Schüsse nur Rache bedeuten. Aber was in aller Welt hatte dann umgekehrt Horace Bott im Mor- gengrauen auf Temple Island mit Lord DeLancey zu suchen?
Eines immerhin war sicher: sie konnten sich unmöglich zu- fällig dort getroffen haben. Wenn DeLancey das Treffen vor- geschlagen hatte, dann mußte Bott verrückt gewesen sein, sich dort einzufinden – es sei denn, er war unschuldig und hatte obendrein keine Ahnung, daß er der Haupttatverdäch- tige war.
Andererseits: warum sollte Bott sich mit DeLancey treffen wollen? In der Hoffnung, ihn von seiner Unschuld zu über- zeugen? Sie Alec zu beweisen wäre sinnvoller.
Ein Rendezvous mit Pistolen im Morgengrauen klang nach einem Duell. Aber diese Sitte war in England vor mehr als einem halben Jahrhundert ausgestorben. Außerdem fanden Duelle zwischen Gentlemen statt, und diesen Status billigte Lord DeLancey Bott nicht zu.
Könnte es jemand anderes gewesen sein als Lord
DeLan- cey? Aber das erchien noch unwahrscheinlicher als ein
Duell.
Nichts von dieser ganzen Angelegenheit ergab einen Sinn. Jedenfalls
keinen, den sie erkennen konnte, dachte Daisy.
Man näherte sich dem Landsitz der Cheringhams. Cherrys häufige
Blicke über die Schulter und die vielen Kursverände- rungen über
die Ruder hatten das Boot auf einem relativ ge- raden Kurs
gehalten. Die Biege im Fluß tat das Ihre, so daß sie schon ganz
dicht am Landesteg waren, ohne daß weitere Manöver notwendig
gewesen wären.
»In Ordnung, Fletcher, die Ruder bitte ins Boot, und dann den
Bootshaken bemannen.« Cherry führte das Boot mit scheinbarer
Leichtigkeit sanft an den Landesteg.
Alec bemannte den Bootshaken. Doch kaum war Cherry an Land getreten
und hatte das Boot sicher vertäut, sackte der Inspector von diesen
frühmorgendlichen Leibesübungen er- schöpft zusammen.
»Meine Arme … Kann nicht mehr«, keuchte er auf. »Trau mich nicht …
Bott hochzunehmen … fallen lassen.«
»Sie haben das sehr gut gemacht«, sagte Cherry freundlich. »Beim
Rudern braucht man fast jeden Muskel im Körper. Von manchen wissen
die meisten Menschen gar nicht, daß sie sie haben. Ich sause mal
hoch zum Haus und hole Hilfe. Ein paar von diesen laschen Fritten
werden wohl wach sein.«
»Bitte nicht … erzählen …«, keuchte Alec.
Daisy dolmetschte: »Bitte erwähnen Sie Lord DeLancey nicht, Cherry.
Und auch nicht die Schüsse oder die Pistole«, fügte sie hinzu, als
Alec eine schwache Geste zu seiner zer- knüllten Jacke
machte.
»In Ordnung.« Cherrys Energie, als er den Rasen hinauf- lief, war
unerträglich. Alec kratzte alle seine verbliebenen Kräfte zusammen,
um ihm ärgerlich hinterherzuschauen. »Er hat schließlich über Jahre
alle wichtigen Muskeln trai- niert«, tröstete Daisy ihren
Verlobten. Taktvollerweise ließ sie die zehn Jahre
Altersunterschied unerwähnt. »Ich war ja schon nach zwanzig Metern
völlig erschossen. Oh … Egal. Alec, hast du irgendwelche
Vorstellungen, was die beiden dort zu suchen hatten? Lord DeLancey
und Bott? Ich versteh das einfach nicht.«
»Ich hatte bislang noch keine rechte Gelegenheit zum Nachdenken.«
Mit dem Atem war auch seine Ironie zurück- gekehrt. »Erzähl mir
lieber, was du geschlußfolgert hast, oder besser, warum du zu
keinem Schluß gekommen bist. Aber zunächst, wie geht es
Bott?«
»Er hat sich kein einziges Mal bewegt.« Daisy schaute unter dem
Notverband nach, nahm dann das Taschentuch ab und faltete es noch
einmal neu zusammen. »Die Blutung scheint aber gestillt zu
sein.«
»Was macht denn sein Puls? Ich gehe davon aus, daß er noch einen
hat?«
»Er atmet, wenn auch etwas schwer.« Sie legte das Taschen- tuch mit
der sauberen Seite wieder auf die Wunde und nahm Botts Handgelenk.
»Pulsmessen geht bei mir nie so gut. Er scheint regelmäßig zu sein,
aber eher schwach.«
»Ich hoffe wirklich, daß er sich erholt. Sonst finden wir nie
heraus, was sich da abgespielt hat.«
Als Daisy zu Ende erklärt hatte, warum sie sich das alles nicht
erklären konnte, nahte Hilfe. Rollo, Leigh und Mere- dith
galoppierten den Garten hinunter, als stellten sie den Sturm der
Leichten Brigade im Krimkrieg nach. Tom Tring und Ernie Piper
bildeten die Nachhut.
Alec griff sich hastig die in die Wolljacke gewickelte Pistole,
stieg auf den Landesteg und half Daisy aus dem Boot. Glück-
licherweise war ihr leichtes Sommerkleid soweit getrocknet, daß es
nicht mehr so unanständig an ihr klebte.
Während Piper, Rollo, Leigh und Meredith gemeinsam Bott auf den
Landesteg hievten, reichte Alec die Mauser dis- kret an Tom Tring
weiter. Der Sergeant schlug die Waffe in sein eigenes, gepunktetes
Taschentuch ein und ließ sie in die großräumige Tasche seines
lebhaft blau- und weißkarierten Jacketts gleiten.
»Mr. Cheringham hat Mr. Gladstone losgeschickt, um Bister zu
wecken. Er soll das Automobil von Lady Chering- ham starten, Chief.
Jetzt ruft er gerade im Krankenhaus an, damit die sich vorbereiten
können. Er hat nichts gesagt, nur, daß es Mr. Bott
schlechtgeht.«
»Das erkläre ich Ihnen alles im Auto, Tom.«
»In Ordnung, Chief. Und was ist mit dem hier?« Er klopfte sich auf
die Tasche.
»Das nehmen Sie mit. Und holen Sie bitte dafür Ihr Lieb-
lings-Arbeitszeug.«
»Verstanden, Chief.«
Während Tom zurück ins Haus eilte, fragte Daisy: »Hat er denn schon
die Patscherchen von Lord DeLancey, um die miteinander zu
vergleichen?«
»Nein. Wir müssen die noch irgendwoher besorgen.«
Sie wandten sich zu den anderen. Piper zog sich gerade die Jacke
aus und sagte: »Mit zwei Jacken und zwei von den Pad- deln … von
den Rudern da kann man eine Tragbahre bauen.«
»Prima Idee«, sagte Rollo und legte seinen Blazer ab, während
Meredith und Leigh ein paar Ruder besorgten.
Sanft wurde Bott von den Planken auf die Notbahre geho- ben, und
zum zweiten Mal in diesen Tagen machte sich eine Prozession zum
Haus auf. Immerhin lebte die Person auf der Bahre diesmal noch.
Noch.
»Wie stehen denn die Aussichten für Bott?« fragte Daisy Alec,
während sie hochgingen.
»Wenn er jetzt medizinisch gut versorgt wird, wird er die Sa- che
sicherlich durchstehen. Aber bei Menschen, die fast ertrun- ken
sind, kann noch vieles schiefgehen. Nicht nur mit ihren Lungen,
sondern auch mit dem Herzen oder mit dem Gehirn. Ich hatte schon
ein paar Mal mit solchen Unfällen zu tun. Dann kommt noch der
Blutverlust dazu. Und die möglichen Folgen von Kopfverletzungen
haben wir ja gerade erst erlebt.«
»Stimmt.« Daisy schauderte, obwohl der Morgen schon recht warm
war.
»Du gehst jetzt hoch und ziehst dich um«, ordnete Alec an. »Ich
möchte nicht, daß du auch noch eine Lungenentzün- dung riskierst.
Reicht mir schon, wenn Bott das tut.«
»Mir geht es bestens.« Daisy hatte nicht im geringsten vor, mit
einem Kleiderwechsel Zeit zu verschwenden. Denn auf Bulawayo bliebe
sie nicht. »Fährst du mit ins Krankenhaus, oder wirst du erst Lord
DeLancey befragen?«
»Ins Krankenhaus. Als erstes muß ich dort für einen Wach- posten
sorgen.«
»Bott könnte doch in seinem Zustand gar nicht weglaufen, selbst
wenn er das wollte.« Sie hielt am Fuß der Treppe ent- setzt inne.
»Ach so, du glaubst, Lord DeLancey könnte es noch einmal
versuchen?«
»Sehr unwahrscheinlich, würde ich sagen, aber man kann es nicht
ausschließen. Außerdem muß ich mir vom Arzt eine Prognose geben
lassen. Wenn ich großes Glück habe, wird sich Bott vielleicht schon
erholen und mir etwas erzählen, womit ich DeLancey konfrontieren
kann.« Alec schmiedete offenbar im Reden Pläne. »Wenn nicht, bleibt
Tom bei ihm. Er kann eine Aussage aufnehmen, wenn er eine macht,
und gleichzeitig Wache stehen.«
»Miss Hopgood wird gerne bei Bott sein wollen.«
»Du liebe Zeit, die hatte ich ganz vergessen. Ein hysteri- sches
Weibsstück ist das letzte, was ich jetzt brauchen kann.«
»Susan Hopgood ist keine, die hysterische Anfälle erlei-
det.«
»Meinetwegen. Aber wäre es trotzdem nicht besser, wenn sie nichts
von dieser Sache erfährt, ehe Bott wieder bei Be- wußtsein
ist?«
»Oder ehe er gestorben ist? Nein«, sagte Daisy mit fester Stimme.
»Bister kann sie abholen. Und Bott wird eine Familie haben, die
informiert werden muß.«
»Nicht, ehe ich nicht genauer weiß, was hier gespielt wird«, sagte
Alec mit der gleichen Festigkeit, während sie im Gefolge der Bahre
und ihrer Träger ins Haus traten. Mit lauter Stimme gab er
Anweisungen: »Tragen Sie ihn bitte in die Ein- gangshalle, Frieth,
daß wir ihn gleich ins Automobil verlegen können, sobald das
vorfährt.«
Wells und Poindexter standen im Flur und versuchten, mehr aus dem
bewußt wortkargen Cherry herauszubekom- men, als die Tatsache, daß
Bott verletzt war.
Als sie Rollo sahen, wandten sie sich ihm zu in der Hoff- nung, von
ihm mehr Informationen zu erhalten. Cherry reichte Daisy eine Rolle
Verbandsmull und wandte sich er- leichtert zu Alec.
»Ich hab eben mit der diensthabenden Schwester im Town- lands
Hospital gesprochen. Sie holt einen Arzt und läßt ein Bett
vorbereiten. Sergeant Tring sagte, Bott soll in ein Einzel-
zimmer?«
»Ja, vielen Dank. Das Automobil von Lady Chering- ham …?«
»Ist auf dem Weg. Bister schlief noch, als Gladstone bei ihm
angerufen hat. Es stehen natürlich noch andere Wagen zur Verfügung,
aber ich dachte, Bott würde im Humber weniger durchgerüttelt und
…«
Ein spitzer Aufschrei unterbrach ihn. Alles schaute zur Treppe,
woher er gekommen war.
Tish und Dottie waren auf ihrem Weg hinunter stehen- geblieben.
Tish schaute über die Balustrade zu Bott hinab, der schlaff und
aschfahl auf der improvisierten Bahre auf dem Fußboden lag. Sie
wurde fast genauso blaß wie er und brach dann ohnmächtig
zusammen.
Irgendwie schaffte es Dottie, Tish so aufzufangen, daß sie nicht
mit dem Kopf auf eine Stufe fiel oder die ganze Treppe
hinunterpolterte. Rollo und Cherry eilten hinauf, um ihr zu helfen.
In diesem Augenblick kam Gladstone durch die of- fene Haustür
hinein und sagte mit einer Stimme, die dienst- bereit blieb und
dennoch durch das allgemeine Durcheinan- der zu hören war: »Mr.
Fletcher, Sir, der Humber steht vor der Tür.«
In diesem Augenblick mußte sich Daisy entscheiden, ob sie bei Tish
bleiben oder mit Bott fahren wollte. Es fiel ihr leicht. Neugier
hatte nichts damit zu tun, versicherte sie sich selbst. Ihre
Cousine hatte schließlich Dottie und Tante Cynthia als
Unterstützung, ganz zu schweigen von Rollo und Cherry, während
Susan Hopgood niemand beistehen würde.
Daisy glitt leise hinaus und saß schon auf dem Rücksitz des Humber,
als Wells und Poindexter, gefolgt von Meredith und Leigh, Bott
hinaustrugen. Alec, der ihnen mit Piper und Tring folgte, schaute
sie stirnrunzelnd an.
Sie lächelte auf das freundlichste zurück. Sie war sich eini-
germaßen sicher, daß er sie in Gegenwart all der anderen nicht aus
dem Automobil schmeißen würde. Und sie hatte mit ihrer Zuversicht
recht. Allerdings war nicht klar, ob das an der An- wesenheit von
möglichen Zeugen lag oder weil Alec endlich begriff, daß es keinen
Sinn hatte, sie herumkommandieren zu wollen.
Und so kam es, daß Horace Botts bandagierter Kopf auf Daisys immer
noch leicht feuchtem Schoß lag, während der Humber die Auffahrt
hinuntersauste. Piper saß vorne neben Bister, der für diese Aufgabe
seine Chauffeursuniform und
-kappe angezogen hatte.
Alec folgte in seinem gelben Austin Seven mit Sergeant Tring. Daisy
hätte zu gerne gewußt, worüber die beiden sprachen. Gemeinsam
würden sie vielleicht das Rätsel lösen, was Bott und Lord DeLancey
im Morgengrauen auf Temple Island zusammengeführt hatte. Es war
wirklich zu ungerecht, dachte sie bei sich. Alec erwartete immer
von ihr, daß sie ihm alle ihre Ideen zur Verfügung stellte, aber im
Gegenzug – nichts.
Sie seufzte. Als Ehefrau eines Detective würde sie sich daran wohl
gewöhnen müssen.
Als sie in die Stadt einfuhren, sah Daisy vor einem Zei- tungskiosk
eine Reklametafel: Schlagmann erschlagen –
Tod auf der Regatta. Bei aller Freude am Wortspiel der
Schlagzeile hoffte sie doch, die Presse hätte noch nicht
herausgefunden, wo Basil DeLancey vor seinem dramatischen Tod
gewohnt hatte.
Bott wandte den Kopf und stöhnte auf.
»Piper, er hat sich bewegt!«
Der junge Detective wandte sich zu ihr. »Wacht er auf, Miss?«
fragte er ängstlich. »Soll ich mich zu Ihnen setzen, um Ihnen zu
helfen?«
»Nein, jetzt ist er wieder ganz ruhig«, berichtete Daisy be-
dauernd. »Aber das muß doch ein gutes Zeichen sein, finden Sie
nicht?«
»Ich vermute, ja, Miss. Der Chief wird sich freuen.«
Sie beobachtete Bott jetzt genau, doch war nichts mehr zu bemerken,
keine noch so geringe Bewegung oder gar ein Off- nen der Augen. Als
sie einige Minuten später im kleinen Krankenhaus ankamen, fragte
sie sich, ob diese so kurzen Le- benszeichen von Bott vielleicht
nur Produkt ihres Wunsch- denkens waren. Bott lag immer noch
schrecklich schlaff da, als er aus dem Auto gehoben
wurde.
»Ich bin mir fast sicher, daß er eben den Kopf bewegt hat«, sagte
sie zu Alec. »Ich dachte gerade über etwas anderes nach und hab es
daher mehr gespürt als gesehen, aber trotzdem. Und ich habe gehört,
wie er aufgestöhnt hat.«
»Hat er dabei die Augen geöffnet?«
»Das ist mir nicht aufgefallen.«
»Ich werd dem Arzt davon erzählen. Klingt vielverspre- chend.
Vielen Dank für deine Hilfe beim Transport hierher.«
Diese Worte machten auf Daisy entschieden den Eindruck, als sollte
sie gleich verabschiedet werden. »Ich geh mal und hol Miss
Hopgood«, sagte sie rasch, damit er keine Chance hätte, ihr
mitzuteilen, daß sie im Krankenhaus unerwünscht sei. Sie wollte
ohnehin noch nicht hineingehen. Sie hätte nichts zur Be- wältigung
der Aufgabe beitragen können, Bott in ein Kranken- hausbett und
unter die medizinische Lupe zu bekommen, selbst wenn sie es gewollt
hätte. Aber sie wollte es gar nicht. »So viele Talente Bister auch
haben mag«, erklärte sie, »als Bote einer solch schlechten
Nachricht will ich ihn doch nicht schicken.«
»Nein, das wäre sicherlich ungeschickt. Ich bin mir sicher, daß sie
die lieber von dir hören würde. Sag es ihr, aber sei so gut und
versuch sie zu überzeugen, nicht ins Krankenhaus zu
kommen.«
»Ich werd mal sehen, was sie davon hält«, sagte Daisy ohne große
Überzeugung.
»Deiner Tante wäre das doch nicht unangenehm, wenn du Miss Hopgood
nach Bulawayo mitnimmst, oder? Dann könntest du ihr Gesellschaft
leisten, und sie wäre in der Nähe eines Telephons, falls es
irgendwelche Nachrichten gibt.«
»Ich bin überzeugt, daß Tante Cynthia nichts dagegen hätte. Aber
ich glaube, Miss Hopgood wird bei Bott sein wol- len. Sie hat ihn
wirklich sehr gerne.«
Alec runzelte die Stirn. »Ich könnte ihr – und vielleicht sollte
ich das auch – das Zimmer verbieten lassen.«
»So gemein kannst du doch nicht sein! Er ist schließlich das Opfer,
nicht der Übeltäter. Außerdem ist er in ihrer Gegen- wart ein ganz
und gar anderer Mensch, überhaupt nicht mehr so kampfeswillig. In
ihrer Nähe muß er sich eben nicht ver- teidigen. Sie ist sehr
vernünftig. Und es könnte durchaus sein, daß sie ihn zum Reden
bringt, wenn er wieder aufwacht.«
»Wenn er Schwierigkeiten macht, kann ich ja immer noch nach ihr
schicken lassen«, sagte Alec.
»Ich werd mal sehen, was sie davon hält«, wiederholte Daisy und
stieg in den Humber.
Sie wußte, daß sie keine Chance hatte, beim Gespräch mit Lord
DeLancey zugegen zu sein. Egal, ob Susan Hopgood es vorzog, an
Botts Krankenlager zu eilen oder nicht, Daisy würde jedenfalls in
ihrer Nähe bleiben.
»Victoria Road, Bister«, sagte sie dem Chauffeur mit den so
vielfältigen Aufgaben.
In allen Fenstern dieser Straße wurden Vorhänge diskret beiseite
geschoben, als der Humber vor der Unterkunft von Miss Hopgood
anhielt. Daisy war sich der vielen Augen be- wußt, und obwohl sie
nicht soweit ging, Bister zur Haustür zum Anklopfen zu schicken,
bevor sie ausstieg, wartete sie doch, daß er um den Wagen herum kam
und den Schlag für sie aufriß. Sollte doch die freundliche
Vermieterin von Miss Hopgood die Ankunft eines Automobils mit
Chauffeur vor ihrem kleinen Häuschen so weit wie möglich
auskosten.
Bevor Daisy selbst anklopfen konnte, wurde die Haustür schon
geöffnet und Susan Hopgood erschien auf der Schwelle. Auf ihrem
hübschen Gesicht lag Sorge.
»Miss Dalrymple! Was ist denn?« Sie sah das offene Fen- ster im
Nachbarhaus und senkte die Stimme. »Hat Horace sich in
Schwierigkeiten gebracht? Er hat doch nichts ange- stellt, oder?
Dieser Detective, der ihn gestern abgeholt hat, wollte ja auch
nichts sagen.«
»Er ist nicht festgenommen worden oder dergleichen«, ver- sicherte
ihr Daisy. »Aber ich fürchte doch, daß ich eine schlechte Nachricht
habe. Darf ich hereinkommen?«
Susan wurde blaß. »Er ist doch nicht etwa tot?«
»Nein, nein. Aber er liegt im Krankenhaus.«
»Sind Sie gekommen, um mich zu ihm zu bringen? Könn- ten Sie mir
das alles nicht auf dem Weg dorthin erzählen?« Miss Hopgood riß
sich mit einiger Anstrengung zusammen. »Es ist wirklich schrecklich
nett von Ihnen, mich zu benach- richtigen und zu bringen.
Augenblick, lassen Sie mich nur meine Handtasche holen. Bin in
einer Minute wieder da.«
Das wär’s also mit dem Überredungsversuch, sie solle nicht ins
Krankenhaus kommen, dachte Daisy und wandte sich wieder zum Auto.
»Miss Hopgood kommt mit zurück zum Krankenhaus«, sagte sie
Bister.
Er salutierte. »Geht in Ordnung, Miss. Nur eine Frage: woll- ten
Sie, daß ich dort noch warte? Denn ich muß noch ein paar Kartoffeln
ausheben, wenn es welche zum Mittagessen geben soll. Die jungen
Herren putzen richtige Unmengen weg.«
»Nein, Sie brauchen nicht zu warten.« Daisy war es nur recht, daß
er gleich weiter mußte. Alec würde unmöglich von ihr erwarten, daß
sie Susan einfach an der Schwelle des Kran- kenhauses absetzte.
Wenn sie loszog, um Botts Zimmer zu suchen, wäre Bister schon auf
dem Weg nach Hause. Ohne sie. Und keineswegs würde Alec Zeit damit
verschwenden, sie nach Bulawayo zurückzubringen, bevor er Lord
DeLancey befragte.
Sollte er das doch wollen, würde sie ihn daran erinnern, daß Horace
Bott sich ihr schon einmal anvertraut hatte und daß er eventuell
davon überzeugt werden könnte, dies noch einmal zu tun, wie
zögerlich er sich auch gegenüber Sergeant Tring äußern
mochte.
Susan eilte aus dem Haus, und Bister half ihr auf die Rück- bank im
Humber neben Daisy, ehe er an seinen Platz hinter dem Steuer
zurückkehrte. Obwohl es sicherlich eine neue Er- fahrung für sie
sein mußte, daß ein Chauffeur ihr behilflich war, in ein elegantes
Automobil zu steigen, war Miss Hopgood viel zu beunruhigt, als daß
sie sich daran hätte freuen können.
»Ich bin wirklich dankbar, daß Sie gekommen sind, Miss Dalrymple,
und nicht ein Polizist«, sagte sie, als der Humber losfuhr. »Was
ist denn mit meinem armen Horace? Geht es ihm sehr
schlecht?«
»Nicht gut, fürchte ich. Er ist verletzt – eine
Kopfwunde.«
Daisy erinnerte sich an Alecs Ermahnung und erwähnte die Pistole
nicht. »Ich weiß nicht, wieviel Blut er verloren hat, aber bei
Kopfverletzungen ist das immer eine Menge. Außer- dem ist er in den
Fluß gefallen und dabei fast ertrunken. Es kann ihm durchaus
hervorragend gehen, wenn wir ihn gleich sehen. Andererseits sind
alle möglichen schrecklichen Kom- plikationen nicht auszuschließen.
Ich wollte nicht erst das Urteil der Ärzte abwarten, bevor ich Sie
hole.«
»Der arme Horace.« Susans Lippen zitterten. Sie wirkte viel jünger,
als ihre geradlinige, vernünftige Art sie sonst scheinen ließ, und
außerdem ängstlich. Daisy nahm ihre Hand. »Er muß sich ja
schrecklich schlecht fühlen.«
»Momentan fühlt er sich wohl gar nichts. Er ist immer noch
ohnmächtig. Jedenfalls war er es, als ich losgefahren
bin.«
»Ach so. Das … Das ist nicht so gut, oder? Aber er ist wirk- lich
sehr, sehr durchtrainiert. Das wird doch sicherlich helfen, nicht
wahr?«
»Bestimmt«, versicherte ihr Daisy.
»Wie ist das denn passiert? Hat er sich am Kopf verletzt, als er
ins Wasser gefallen ist, oder wie kam das?«
Daisy zögerte. »Es tut mir leid, das kann ich Ihnen nicht
sagen.«
»Sie meinen eigentlich ›darf ich Ihnen nicht sagen‹, das merke ich
doch. Sind die Coppers immer noch hinter ihm her? Was hat er denn
angestellt?«
»Wahrscheinlich nichts. Alles ist im Moment sehr verwir- rend. Alec
– mein Verlobter – ich hatte Ihnen doch erzählt, daß er ein
Detective ist? – hat auch nicht die geringste Ahnung, was hier
eigentlich vor sich geht«, sagte Daisy und leistete Alec im Geiste
Abbitte.
Susan wirkte erleichtert. »Ihr Freund hat die Sache in die Hand
genommen? Er wird ja nicht versuchen, alles so zu dre- hen, daß
Horace etwas angestellt hat, wenn es einer von den oberen
Zehntausend da auf Bulawayo war.«
»Bestimmt nicht!«
»Nein, Sie wären ja auch nicht in ihn
verliebt, wenn er nicht anständig wäre. Ich bin froh, daß er den
Fall untersucht. Mein armer Horace. Vermutlich hat es noch niemand
seiner Mam und seinem Dad erzählt. Er ist ihr einziges Kind. Tante
Flo wird bestimmt herkommen wollen, aber mit der Bahn dauert das ja
ewig.«
»Tante? Ich wußte gar nicht, daß er Ihr Vetter ist.«
»Horace? Ist er nicht. Tante Flo ist nur die beste Freundin von
meiner Mam. Lady Cheringham ist aber Ihre richtige Tante, nicht
wahr?«
»Ja, die Schwester meiner Mutter.« Voller Schuldbewußt- sein
erinnerte sich Daisy, in welchem Zustand sie ihre Cou- sine
verlassen hatte. Seither hatte sie nicht ein einziges Mal an Tish
gedacht. Botts leblosen Körper zu sehen, wie er auf dem Boden lag,
hatte das arme Mädchen wohl in gewaltigen inne- ren Aufruhr
versetzt.
Vielleicht hätte Daisy dort bleiben sollen. Aber nein, ihre
Begründung von vorhin galt auch jetzt. Susan Hopgood klammerte sich
an ihre Hand wie eine Ertrinkende – herrje- mine, schon wieder so
eine morbide Redewendung! Sie würde anrufen und sich nach Tish
erkundigen, sobald Susan sie nicht mehr brauchte.
»Da wären wir«, sagte sie, als der Humber vor dem Town- lands
Hospital hielt. »Vielleicht sollten Sie denen lieber sagen, daß Sie
seine Cousine sind oder seine Verlobte. Nur, falls die sich
anstellen, wen sie in sein Krankenzimmer lassen.«
»Aber Sie werden mich doch begleiten, Miss Dalrymple? Das ist ein
großer Gefallen, um den ich Sie bitte, ich weiß, aber bitte.«
»Selbstverständlich, wenn Sie mich gerne dabei haben wol- len«,
sagte Daisy ganz spontan. Als wäre ihr dieser Gedanke nie selbst
gekommen.
Ein größeres Krankenhaus hätte vielleicht nachgeprüft, was zwei
junge Damen bei einem von der Polizei bewachten Pati- enten
suchten. Der Portier und Krankenpfleger dieses winzi- gen
Dorfkrankenhauses jedoch wies ihnen schlicht den Weg zum Zimmer des
jungen Mannes. Düster schüttelte er den Kopf: »Tut mir ja leid,
Miss, aber dem geht es richtig schlecht. Der Herr Doktor hat keine
große Hoffnung mehr.«