6

Trotz der unruhigen Nacht – vielleicht aber auch wegen ihr – erschien Daisy als eine der ersten unten im Speisezimmer zum Frühstück, wo sie Cherry und Leigh vorfand. Glück- licherweise, denn das beruhigte sie sehr, folgte ihr Bott auf dem Fuße.

Auf seinem Gesicht waren keine Spuren zu sehen, die von einem Zusammentreffen des selbigen mit DeLanceys Faust gekündet hätten. Seine Übellaunigkeit überschritt auch nicht das gewohnte Maß. Er begrüßte Daisy und erzählte ihr, er würde nach dem Frühstück nach Henley wandern, um sich dort mit Miss Hopgood zu treffen.

»Auf dieser Seite gibt es keine öffentlichen Verkehrsmittel, und über die Straße ist es ja ganz schön weit«, stellte Cherry fest. »Ich kann dich doch in einem der Skiffs rüberrudern«, bot er Bott freundlich an.

Bott warf ihm einen etwas mißtrauischen Blick zu, be- dankte sich aber durchaus höflich.
Rollo, Poindexter und Wells gesellten sich zu ihnen.
»Tish ist noch nicht unten?« fragte Rollo. Er wirkte ein we- nig besorgt. Richtig, dachte Daisy, seine Aufgabe als Mann- schaftskapitän war unerwartet anstrengend geworden, und dann hatte er bestimmt auch mit seinen ganzen Zukunftsäng- sten zu kämpfen.
»Als ich aufgestanden bin, schlief sie noch«, sagte sie ihm. »Gestern abend war sie ganz schön müde. Tante Cynthia hat ja die Gastgeberinnenpflichten im wesentlichen auf sie ab- gewälzt, und das ist sie nicht gerade gewohnt. Machen Sie sich keine Sorgen, ich seh schon zu, daß sie rechtzeitig zum Ren- nen aufsteht.«
Es würde doch bestimmt einer der anderen Ruderer für De- Lancey einspringen können, wenn das nötig werden sollte? Er war schließlich nicht unersetzlich, wie der Steuermann.
Als nächster erschien Fosdyke im Frühstücksraum, gerade von seinem Morgenlauf zurückgekehrt. Sorgsam vermied er es, Daisy anzuschauen. Während er sich am Sideboard den Teller füllte, sagte sie beiläufig: »Vielleicht sollte ich mir doch ein Sausage gönnen«, und gesellte sich zu ihm.
Sie hob nur die Augenbrauen.
»Schlief noch, als ich gegangen bin«, zischte er ihr aus dem Mundwinkel zu. »Vor einer halben Stunde ungefähr. Ich weck ihn dann schon, wenn er nicht bald kommt.«
»Sie sind wirklich einfach großartig«, sagte Daisy, und er errötete.
Bott ging mit Leigh, der angeboten hatte, ihn an Cherrys Statt überzusetzen, denn der hatte schließlich an dem Mor- gen noch ein Rennen zu rudern. Dottie und Meredith kamen in das Speisezimmer. Immer noch kein Anzeichen von Tish oder DeLancey. Die Zeit drängte ja noch lange nicht, beru- higte sich Daisy, während sie beobachtete, wie Fosdyke durch den Essensberg auf seinem Teller pflügte.
Endlich trat DeLancey ein. Einen Augenblick stand er in der Tür, die Hand am Rahmen, und warf aus triefeligen Augen einen Blick um sich. Dann schwankte er unsicher in den Raum.
Rollo sprang sofort auf und fixierte ihn wütend. »Was ist denn mit dir los?«
»Aber gar nichts«, erwiderte er schwerfällig. »Hab nur ein bißchen Kopfweh. Wird sich leicht mit einer Tasse Kaffee und einem kleinen Frühstück beheben lassen.«
»Das darf ja wohl nicht wahr sein! Wenn du nicht rudern kannst …«
»Mir geht’s bestens«, sagte DeLancey ärgerlich. Er konnte ja auch kaum etwas anderes sagen, nachdem ihn alle so an- starrten und sich daran erinnerten, wie erbarmungslos er sich am Vorabend über Bott lustig gemacht hatte.
»Setz dich hin.« Rollo hatte zu seinem Kommandoton zurückgefunden. »Ich bring dir was zu essen.«
Daisy war eher überrascht, welch herzhaften Appetit De- Lancey zeigte. Sie hatte immer gedacht, Übelkeit sei eine un- abwendbare Begleiterscheinung eines Katers. Und auch wenn man von seinem Benehmen am Vorabend nichts wußte, so machte sein gegenwärtiges Verhalten doch deutlich, daß er an einem solchen litt. Vermutlich war es eine persönliche Eigen- art von ihm, daß er nach Trinkgelagen viel essen mußte. Je- denfalls schien er seine Fähigkeiten und Grenzen zu kennen, und wenn er meinte, später rudern zu können, dann würde er wohl wissen, was er tat.
Daß er so tüchtig essen konnte, ließ Daisy ihre letzte Be- fürchtung ebenfalls ablegen: daß Bott ihn mit Nikotin vergif- tet haben könnte. Sie konnte sich an die einzelnen Symptome nicht mehr erinnern, aber ganz sicher gehörte Übelkeit dazu.
Als sie mit dem Frühstück fertig war, ging sie hinauf, um nach Tish zu sehen.
Ihre Cousine war gerade aus dem Bett gekrochen und zog sich mit matten Bewegungen den Morgenmantel über. Sie sah aus, als wäre sie viel lieber nicht aufgewacht.
»Komm du mal lieber in die Hufe«, riet ihr Daisy, »wenn du vor dem Rennen noch ein Frühstück sehen willst.«
»Hab keinen Hunger. Daisy, was war das gestern …?«
»Ich fürchte, es war nicht nur ein böser Traum. Aber De- Lancey ist schon unten beim Frühstück. Er hat weder meinen Blick gesucht, noch ist er mir aus dem Weg gegangen. Von sei- nem kleinen Ausflug zu uns hat er nichts gesagt – noch nicht einmal in Andeutungen, was ja sonst seine Art ist. Also ver- mute ich, daß er das Ganze vergessen hat. Und außerdem be- hauptet er steif und fest, heute mitrudern zu können.«
»Wirklich?« Tishs Miene hellte sich sofort auf. »Es geht ihm wirklich gut?«
Daisy fand es überflüssig zu erwähnen, daß der Honou- rable Basil vorhin durchaus unsicher auf den Füßen gewesen war. »Der muß einen Schädel aus Granit haben. Oder vielleicht auch nicht, wenn man an sein Verhalten gestern abend
denkt. Aber jedenfalls scheint er unter seinem Kater nicht
sonderlich zu leiden. Als ich eben hochging, aß er wie ein …
na, wie ein echter Ruderer eben.«
Tish warf ihr ein eher schwaches Lächeln zu. »Gott sei
Dank. Vielleicht habe ich sogar doch ein bißchen Appetit.
Aber ich will ihm auf keinen Fall über den Weg laufen, selbst
wenn er wirklich alles vergessen hat. Könntest du eines der
Dienstmädchen bitten …«
»Ich bring dir lieber selber was hoch. Wie wärs mit Tee und
Toast und einer Scheibe Bacon?«
»Prachtvoll. Danke dir, Daisy. Hach, ich bin richtig froh,
daß du meine Cousine bist.«
Mit dieser unerwarteten Zuneigungsbekundung ver- schwand sie im Badezimmer.

Alec kam genau rechtzeitig an. Daisy hielt zwar nicht direkt nach ihm Ausschau – jedenfalls sagte sie sich das. Sie stand wirklich nur vorn im Garten, weil sie dort ihre Tante an- getroffen hatte. Und wenn man dieser so schwer zu greifen- den Dame guten Morgen sagen wollte, mußte man sie eben dort aufsuchen, wo sie sich gerade befand.

Diese äußerst vernünftige Begründung konnte jedoch nicht verhindern, daß sie einen wahren Freudenschauer spürte, als der kleine gelbe Austin Seven in die Auffahrt einbog.

»… viel zu kalkhaltig, als daß Rhododendren gedeihen könnten … Daisy, du hörst mir ja überhaupt nicht zu. Unter- brich mich bitte, wenn ich langweiliges Zeug über das Gärt- nern erzähle. Ach so, ich verstehe. Das ist doch das Automo- bil von deinem jungen Mann, nicht wahr?«

»Genau, Tante Cynthia. Aber laß dich nicht stören – deine Rhododendren gedeihen auf diesem Boden also ganz wunder- bar?«

»Eben gerade nicht. Jetzt saus mal los, Liebes. Bring ihn her, daß er guten Tag sagt, und ich versprech auch, daß ich we- nigstens ihn mit den Rhododendren verschone.«

Alec hatte das Verdeck des Austin Chummy geöffnet. Als Daisy ihm wie wild zuwinkte, wandte er den dunklen Kopf, auf dem kein Hut saß, winkte zurück, und hielt an. Daisy gab jeden letzten Rest an Würde ihrer immerhin fünfundzwanzig Jahre auf und rannte über den Rasen. Sie riß die Tür auf und setzte sich neben ihn.

Seine grauen Augen, deren merkwürdig durchdringender Blick jeden Verdächtigen vor Furcht erzittern ließ, lächelten sie voller Wärme an. Die schweren, dunklen Augenbrauen, mit denen er Skepsis oder Mißfallen auf das deutlichste aus- drücken konnte, lagen glatt und friedlich auf seinem Antlitz. Seine Haare sprangen immer noch frisch von seinen Schläfen auf, in dieser herrlichen Weise, die förmlich von ihr verlangte, daß sie mit den Fingern hindurchfuhr.

Das tat sie dann auch. »Du hast dich ja gar nicht verändert.« Alec lachte. »Wenn ich mich richtig erinnere, haben wir ge- rade den letzten Sonntag gemeinsam verbracht und waren mit Belinda im Zoo.«
»Aber ich hab dich dann eine ganze Woche lang nicht gesehen!«
»Und jetzt haben wir zwei ganze Tage vor uns.« Alec konnte diesen ehrlichen blauen Augen, die ihn so hoffnungs- voll anstrahlten, einfach nicht widerstehen. Er küßte sie. Noch bevor ihre Lippen sich berührten, merkte er jedoch, daß die Dame, mit der seine Verlobte sich eben noch unter- halten hatte, sie beobachtete. Auf die Entfernung konnte er es nicht so gut erkennen, doch hoffte er, daß der Aus- druck auf ihrem Gesicht der eines nachsichtigen Amüse- ments war.
Der Kuß fiel entsprechend kurz aus. Mit einem verlegenen Hüsteln hob er den Kopf und erwiderte das Winken der Dame. »Deine Tante?« flüsterte er.
»Ja. Jetzt sieh mal nicht so entsetzt aus. Tante Cynthia ist viel einfacher im Umgang als Mutter.«
»Ich sehe gar nicht entsetzt aus, du kleines Biest. Detective Chief Inspectors wissen gar nicht, wie das geht.«
»Dann hast du es aber ziemlich gut gespielt. Fahr mal bitte vors Haus, dann gehen wir zu Fuß zurück, und ich stell dich vor.«
Alec tat wie befohlen und parkte neben einem grünen Lea- Francis, einem eher billigen, aber sehr sportlichen Fahrzeug. Jeden x-beliebigen, vom Pfad der Tugend abgewichenen Duke konnte er mit Leichtigkeit festnehmen, aber Daisys aristokra- tische Verwandtschaft ließ ihn doch regelmäßig innerlich zu- sammenschrumpfen. Diese Menschen machten ihn unsicher, und seine Zweifel meldeten sich auch diesmal zurück. Sollte Daisy nicht lieber mit einem eleganten jungen Herrn in einem Zweisitzer unterwegs sein, anstatt neben einem biederen Copper zu sitzen, der zehn Jahre älter war als sie und sie in einem biederen, für die Mittelschicht typischen Wagen her- umkutschierte?
Ihr selbst allerdings schien das nichts auszumachen. Freundlich glättete sie sein Haar, wo sie es eben durcheinan- dergebracht hatte. Er richtete seine Krawatte – die vom Royal Flying Corps, die er immer umband, wenn er mit den oberen Zehntausend zu tun hatte – und ging zur Beifahrertür, um sie für seine Verlobte zu öffnen.
Daisy nahm seine Hand, als sie über den Rasen schritten. Ihre warme kleine Hand in der seinen verlieh ihm Selbstver- trauen, und doch regten sich seine Zweifel erneut. Als er in ihrem Alter war, damals vor dem Großen Krieg, wäre selbst ein verlobtes Paar niemals Hand in Hand unter die Augen einer Familienangehörigen getreten. Jedenfalls nicht in seinen Kreisen. Aber wer wußte schon, welche Sitten diese Stagenos unter sich pflegten?
Lady Cheringham schien jedoch nichts daran zu finden, sondern lächelte ihn freundlich an. Sie zog ihre schmudde- ligen Gärtnerhandschuhe aus, um ihm die Hand zu geben, während Daisy ihn vorstellte: »Tante Cynthia, das ist Alec Fletcher.«
»Willkommen bei uns, Mr. Fletcher! Ach so, muß ich Sie gar Detective Chief Inspector nennen?«
»Du liebe Zeit, bitte bloß nicht! Ich bin ganz und gar außerdienstlich hier, Lady Cheringham. Was für einen wun- derschönen Phlox Sie da haben!«
»Ist wirklich ganz gut geraten, nicht wahr?« stimmte Ihre Ladyschaft zu und betrachtete zufrieden die bunten Rabatten in ihrem Garten. »Aber ich hab Daisy versprochen, Sie nicht mit Gärtner-Gesprächen von Ihren eigentlichen Vorhaben ab- zuhalten. Sie wollen ja sicherlich zum Fluß, um das Rennen zu sehen.«
Auf dem Weg zurück zum Haus sagte Daisy empört: »Du stilles Wasser aber auch! Ich wußte gar nicht, daß du Phlox von Fingerhut unterscheiden kannst.«
»Bescheidenheit ist eben eine Zier. Mein Vater war passio- nierter Gärtner. Wenn ich mehr Zeit hätte, wäre ich das auch.«
»Übrigens sollte ich dir sagen, daß Blumen und Pflanzen und Gespräche darüber im allgemeinen und besonderen der direkte Weg in Tante Cynthias Herz sind.«
»Mein liebes, höchst geschätztes Mädchen. Du bist mit einem Detective verlobt, vergiß das bitte nicht. Als ich Lady Cheringham da in Gummistiefeln und erdverkrusteten Hand- schuhen im Garten stehen sah, eine Schaufel in der Hand und Grasflecken auf dem Rock bis an die Knie, da hab ich mir ge- dacht: entweder die Dame hat gerade eine Leiche verbuddelt oder aber …«
»Idiot«, sagte Daisy lachend. Ihr Lachen mochte er beson- ders gern.
Er war ja völlig von ihr hingerissen, dachte er bei sich, und dieser Gedanke kam ihm nicht zum ersten Mal. Im Leben würde er nicht mehr von ihr lassen, da konnten ihrer beider Mütter so sehr gegen diese Verbindung opponieren, wie sie wollten. Und die schier entsetzlichen Verwirrungen, in die seine Verlobte ihn allzu oft stürzte, würden daran auch nichts mehr ändern.
Sie gingen durch die gastfreundlich offenstehende Tür hin- ein in eine hübsche Eingangshalle mit Parkettfußboden. Alec, der an der Universität Geschichte belegt und sich dabei auf die Georgianische Epoche spezialisiert hatte, erfreute sich insbesondere an der stimmigen bläulich-grau und weiß ge- streiften Tapete aus der Regency-Zeit und am mit Intarsien geschmückten, halbmondförmigen Tisch.
»Rosen«, sagte er und wies auf die Blumenvase auf dem Tisch, die vom darüber hängenden Spiegel reflektiert wurde.
Wieder mußte Daisy lachen. »Angeber! Jetzt komm und laß dich mal allen vorstellen. Na, fast allen, die Mannschaft wird schon auf dem Wasser sein.«
Sie führte ihn durch ein hübsches, gemütlich eingerichtetes Wohnzimmer auf die Terrasse, von der aus man einen Blick auf den Fluß hatte. Vier junge Männer in weinroten Blazern sprangen auf die Füße, und auch ein hübsches blondes Mädchen stand auf, Daisys Cousine Patricia Cheringham, wie sich herausstellte.
Miss Cheringham begrüßte ihn genauso freundlich wie ihre Mutter, doch wirkte sie etwas müde. Es mußte sehr anstren- gend für sie sein, das Haus voller kräftiger, lauter Ruderer zu haben. Sie stellte ihm ihre Freundin Miss Carrick vor, eine eher unscheinbare junge Dame mit einer wie warmer Honig fließenden Stimme, und die vier jungen Studenten. Der große Respekt, mit dem sie ihm begegneten, war ohne Zweifel sei- nem hohen Alter geschuldet, dachte er selbstironisch. Seine Stellung hingegen würde sie keinesfalls beeindrucken, selbst wenn sie von ihr wüßten. Für diese privilegiert heranwach- senden Adels- und Grundbesitzer-Sprößlinge würde ein Poli- zist niemals so richtig »einer von uns« sein.
Wenigstens schien es sie nicht zu stören, daß er nicht ganz den richtigen Akzent hatte. Nicht zum ersten Mal dankte Alec im stillen seiner Mutter, die nicht zugelassen hatte, daß seine Sprachmelodie auch nur das geringste bißchen nach North London klang. Er sprach klassisches King’s English, und zwar ein noch reineres als diese ganze Mannschaft. Mit ihrem Uni-Jargon und den wohlgerundeten Stimmen klangen sie allesamt wie aufgeblasene Idioten.
Eton und Oxford machten nicht unbedingt aus jedem jungen Mann einen aufgeblasenen Idioten, schalt sich Alec. Er mußte die Dinge wirklich gelassener sehen.
Alle zusammen gingen sie zum Flußufer, wo zwei Doppel- Skullboote angetäut lagen. Im Heck eines jeden gab es einen Sitz mit Blick nach vorn, zum V-förmigen Platz im Bug, und zwei Bänke für die Ruderer in der Bootsmitte.
»Ich hoffe, du erwartest nicht von mir, daß ich dich jetzt hinüberrudere«, flüsterte Alec seiner Verlobten leise zu, als er den Schwarm kleiner Boote sah, die sich alle stromaufwärts bewegten. »Wenn ich mit der Strömung zu Rande kommen soll, kann ich nicht auf den Schiffsverkehr achten. Und um- gekehrt. Beides gleichzeitig geht nicht. Ein Ausflug auf der Serpentine, dem Teich im Hyde Park, ist alles, was ich an Erfahrung zu bieten habe.«
»Ich hab schon mal auf dem Severn gerudert.«
»Dann kannst du mich ja hinüberrudern.«
»Wohl kaum! Das ist Jahre her, und außerdem ist der Se- vern ein viel kleinerer und ruhigerer Fluß. Aber wir haben ja zum Glück unsere vier kräftigen jungen Ruderer.«
Die Männer des Ambroser Ruderteams hatten ohnehin an- genommen, daß sie die Skulls hinübersteuern würden. Miss Cheringham und Miss Carrick stiegen bei Meredith und Leigh, Alec und Daisy bei Wells und Poindexter ein.
»Sie wissen doch, wie man ein Boot lenkt, Mr. Fletcher?« fragte Miss Carrick, als er sich mit Daisy auf dem gut ge- polsterten Sitz im Heck niederließ.
Daisy drückte ihm die Steuerleinen in die Hand.
»Ich glaub, ich schaff das schon«, sagte Alec zögerlich.
Miss Carrick und Miss Cheringham warfen sich einen Blick zu. »Da draußen sind eine ganze Menge Boote«, sagte Miss Cheringham. »Ich fahr mal bei euch mit.«
Obwohl es für alle jede Menge Platz gab, wollte Daisy nicht, daß Miss Carrick ganz alleine im Boot blieb, und tauschte daher mit ihrer Cousine die Plätze.
»Ich wollte mich nur vergewissern«, entschuldigte sich Miss Cheringham bei Alec, der das Boot mit einem Bootshaken vom Landesteg abstieß. »Daisy hat uns gestern kreuz
und quer über den Fluß gelenkt. Aber das muß ja nicht
heißen, daß Sie davon schon angesteckt sind.«
Alec lächelte sie an. »Andererseits könnte es ja auch sein,
daß ich uns geradewegs auf ein anderes Boot zulenke und
zwei Bootsbesatzungen in den Fluten versenke. Sie hatten
durchaus recht, mir nicht zu trauen, Miss Cheringham.« »Nennen Sie mich doch bitte Tish. Schließlich sind wir
ja bald Vetter und Cousine. Es sei denn, Patricia ist Ihnen
lieber.«
Noch während Alec ihr erklärte, daß Tish ihm sehr gut ge- fiele, überlegte er, was das über sein Alter aussagte, wenn sie
ihm anbot, sie bei ihrem richtigen Vornamen anstelle des
Spitznamens zu nennen. Waren seine Haare etwa über Nacht
grau geworden, ohne daß er es gemerkt hatte?
Daisy war fünf Jahre älter als ihre Cousine, sagte er sich zu
seiner Beruhigung. Obwohl sie in ihrem hübschen Sommer- kleid mit dem von Margueriten umrandeten Hut nicht älter
als achtzehn wirkte.
Zwei ganze Tage, und keine Vorhaben außer einem: ihre
Gesellschaft zu genießen, freute er sich.
Sie kamen am anderen Ufer an und stiegen aus. Alec und
Daisy gingen auf dem Treidelpfad am Fluß ein kleines Stück
hinter den anderen, die sich beeilten, um den Start des Am- brose-Vierers nicht zu verpassen.
»Du hast aber eine charmante Cousine«, sagte Alec. »Hab
ich das richtig verstanden, daß ihr Vetter da mitrudert? Erzähl
mir doch ein bißchen von der Mannschaft, die ich gleich an- feuern soll.«
»Genau, Cherry ist einer davon.« Daisy steckte eine Hand
in die Armbeuge ihres Verlobten. »Für Tish ist er aber eher so
was wie ein Bruder. Seine Eltern haben sie mehr oder minder
großgezogen, als meine Tante und mein Onkel im Ausland
waren. Er ist mit Dottie verlobt. Die beiden sind unheimlich
helle und werden wohl in der Wissenschaft Karriere machen.
Aber nett sind sie trotzdem, nicht das geringste bißchen herablassend zu uns Normalsterblichen von durchschnitt- licher Intelligenz.«
»Damit meinst du doch sicher nur dich selbst!«
»Unbedingt.« Ihre Augen funkelten, als sie zu ihm empor- blickte. »Mir ist deine intellektuelle Brillanz durchaus be- wußt, auch wenn du nicht mit uralten griechischen Zitaten um dich wirfst wie Jupiter mit Blitzen.«
»Zeus tut das. Machen die beiden das denn?«
»Selten, aber es kommt vor. Rollo Frieth: der arme Kerl ist im Gegensatz zu ihnen gerade durch die Examina gefallen. Er und Cherry sind älter als die meisten in der Mannschaft, weil sie im Großen Krieg gekämpft haben. Rollo ist Mannschafts- kapitän, Cherrys Freund und Tishs Verehrer, die Reihenfolge ist wohl egal. Er ist ein durch und durch netter Mensch und wirkt sehr ausgleichend. Beste Voraussetzungen also für den Kapitän dieser Mannschaft.«
»Streiten die sich denn so viel?« fragte Alec. Er machte eine Geste zu den jungen Männern vor ihnen auf dem Pfad. »Die wirken doch alle ganz friedlich.«
»Die meisten sind es auch, insbesondere der junge Fosdyke, der anscheinend nichts im Leben kennt außer rudern, laufen, essen und schlafen. Ein netter, zuvorkommender Junge, das kann man nicht anders sagen. Er rudert auch im Vierer mit. Und dann ist da der Honourable Basil.«
Er konnte es schon an ihrem Tonfall erraten. »Die Fliege in der Suppe?«
»Eine Stechmücke, eher.« Sie rieb sich nachdenklich den Arm und erklärte: »Ich bin neulich abends gestochen worden. Jetzt guck nicht so entsetzt: von einer echten Mücke, nicht von Basil DeLancey. Ich glaube, der ist gar nicht so schlimm, wie alle glauben, aber beschwören will ich es nicht.«
»Eher ein Don Juan?«
Sie runzelte die Stirn. »Nein, so auch wieder nicht. Cherry hat erzählt, er hätte ein Ladenmädchen in Schwierigkeiten ge- bracht, und dann hat er Tish verfolgt wie Nachbars Lumpi. Aber ich glaube, damit will er eher Cherry und Rollo ärgern, das meint er gar nicht … Nein, das ist es auch wieder nicht. Er sagt einfach nur, was ihm gerade durch den Kopf geht, und da spazieren eben mitunter auch ganz gewaltige Unverschämt- heiten herum. Er scheint die meisten Menschen schlichtweg zu verachten. Die arme Dottie hat er neulich richtiggehend beleidigt. Meiner Meinung nach ist ihm überhaupt nicht klar, wie ekelhaft er ist. Es kann ein Mensch doch unmöglich ab- sichtlich dafür sorgen, daß er nur Feinde im Leben hat, oder?«
»Ich kenne schon den einen oder anderen, dem so etwas völlig egal ist.«
»Genau, das ist es. Es ist ihm gleichgültig. Susan Hopgood hat mir erzählt, er sei der jüngste in seiner Familie. Wir haben dann zusammen überlegt, daß er als Kind wohl permanent vermittelt bekommen haben wird, alles, was er sagte, sei ganz schrecklich intelligent oder lustig oder beides.«
»Susan Hopgood?« fragte Alec nach.
»Die Freundin von Horace Bott. Er ist der Steuermann vom Achter und das hauptsächliche Opfer von DeLancey.«
»Jetzt rede mir doch bitte nicht von Opfern! Schließlich hab ich dieses Wochenende frei.«
»Verzeihung, ich bessere mich«, versprach Daisy schmun- zelnd. »Da drüben ist Temple Island. Schau doch nur, wie viele Menschen da stehen und den Start sehen wollen! Hof- fentlich kriegen wir überhaupt was mit.«
Alec, der sich ganz auf Daisy konzentriert hatte, war das baumbestandene Inselchen mitten auf dem Fluß nur am Rande bewußt geworden. Jetzt aber sah er die vielen Men- schen, die sich alle vor ihnen am Ufer versammelt hatten. Ganz in der Nähe markierten Fähnchen die Startlinie, und da- hinter war der Fluß durch Pontons in zwei Bahnen aufgeteilt. Auf einem Motorboot standen wichtige Amtsträger, wohl Stewards, die das Nahen von zwei Vierern beobachteten. Die Ruderer im Boot dichter an den Zuschauern trugen weinrote, kurze Hosen.
»Auf dieser Seite ist das Boot von Ambrose?« fragte Alec.
»Genau, auf der Berkshire-Seite. Die andere Bahn heißt im Volksmund die Bucks-Seite, weil sie zu Buckinghamshire gehört. An der Ziellinie wiederum landet man in Oxfordshire. Gegen wen tritt die Mannschaft denn an, Mr. Meredith?« fragte Daisy, als sie bei den anderen angekommen waren.
»Medway. Gegen den Medway Rowing Club. Wir dachten, wir gehen noch ein bißchen weiter vor, Miss Dalrymple, et- was von dieser Menschenmenge weg.«
Miss Carrick schaute sich zu ihr um. »Dann sind wir zwar nicht ganz an der Startlinie, aber wir können die Dinge besser verfolgen«, erklärte sie.
»Da kommen wir doch mit«, sagte Daisy.
Poindexter bahnte ihnen allen einen Weg mit dem wieder- holten Satz: »V-verz-zeihung, bi-bitte um E-e-entschuldi- gung.«
Die meisten derer, die sich an der Startlinie versammelt hatten, waren junge Männer. Ohne Zweifel wollten sie ihre Freunde in diesem oder in einem anderen Durchlauf an- feuern. Es standen auch ein paar ältere Herren da, wahr- scheinlich Väter von Ruderern, und einige junge Damen. Ein korpulenter Constable mittleren Alters hatte sich entspannt einige Meter entfernt auf der Wiese postiert und betrachtete wohlwollend die Menge.
Obwohl Alec sich redliche Mühe gab, den Beamten zu ignorieren, traf er doch irgendwie dessen Blick. Der Polizist trat ein paar Schritte nach vorn und sagte in vertraulichem Ton: »Die jungen Herrn regen sich manchmal bißchen auf, Sir, wenn es zu ‘nem Fehlstart kommt oder so, oder wenn sie meinen, es wär ein Fehlstart gewesen.«
Alec lächelte und nickte. Im Weitergehen fragte er Daisy: »Sehe ich dermaßen wie ein Polizist aus?«
»Du weißt doch, daß du das nicht tust. Der hat das be- stimmt nicht im entferntesten geahnt. Das liegt nur daran, daß du irgendwie so eine natürliche Autorität ausstrahlst. Ver- mutlich hast du nur den Eindruck erweckt, als fragtest du dich, was er hier macht, und da hat er es dir eben erzählt.«
»Hauptsache, er erwartet nicht von mir, daß ich ihn aus irgend etwas herauspauke, wenn es hier mal richtig zur Sache
geht«, knurrte Alec und verbarg seine Freude. Also fand sie,
er strahle natürliche Autorität aus. Das gefiel ihm gut. Dann zog er eine Grimasse in Richtung ihres Hinterkopfes,
denn er erinnerte sich daran, daß seine Autorität, natürlich
oder nicht, sie noch nie daran gehindert hatte, genau das zu
tun, was ihr gerade in den Sinn kam.
Tish, die Anführerin ihrer kleinen Truppe, hatte am oberen
Ende der Insel haltgemacht, knapp hinter dem Start. Alles
versammelte sich um sie herum. Man hatte von dort eine aus- gezeichnete Sicht auf die Boote, die sich gerade an der Start- linie in die richtige Position brachten. Dieses Manöver er- schien Alec eine ausgesprochen komplizierte Angelegenheit
zu sein.
Poindexter erklärte es ihm. »Ver-vers-stehen Sie, S-Sir, das
Heck soll ei-eigentlich an der S-startli-li-linie sein, aber damit
hat ein lä-längeres Boot einen V-vorteil, weil ja der erste Bu- bug über der Zielli-linie gewinnt. Also wird das lä-längere
Boot zurü-rückgeholt, damit die Bu-buge in einer Li-linie
stehen.«
Alec verkniff sich die Frage, warum man dann nicht einfach
beide Buge auf die Startlinie brachte. Schließlich hatte jeder
Sport, jeder Beruf und jedes Handwerk seine eigenen Ge- heimregeln, die Außenstehenden völlig unverständlich waren. Einer der Amtsträger auf der Stewards-Barkasse hob den
Arm. In das sofort eintretende Schweigen brach der Ruf eines
Kuckucks ein. Daisy packte Alec am Arm, auf rührende Weise
aufgeregt.
Der Startschuß knallte. Die Ruder durchschnitten die Was- seroberfläche. Runde Rücken der Männer, angestrengt vorge- beugt. Die Boote schossen vor. In wunderschöner Gleich- mäßigkeit, so graziös wie der Flügelschlag eines Reihers,
hoben sich die Ruder, schwebten durch die Luft nach hinten,
tauchten wieder ins Wasser.
Beim dritten Ruderschlag zogen die Boote an ihnen vor- über. »Vorne im Bug sitzt Cherry«, erklärte Daisy, »dann kommt Rollo, dann Fosdyke, schließlich DeLancey als Schlagmann. Er muß mit den Füßen steuern und den Schlag ausrufen, und dann … Himmel, der sieht ja ganz fürchterlich schlecht aus.«
Noch während sie sprach wurde deutlich, daß DeLancey sich nicht nach vorne beugte, um den nächsten Schlag zu tun, sondern sich vor Schmerzen wand. Er ließ sein Ruder fallen, griff sich an den Kopf, um sich dann über den Bootsrand zu lehnen und in den Fluß zu speien.
»O Gott, genau wie Bott gestern«, stöhnte jemand auf.
Das Boot geriet außer Kontrolle. Die anderen drei Ruderer versuchten verzweifelt, irgendwie Kurs zu halten. Obwohl das Rennen schon so gut wie verloren war, brüllte Chering- ham irgendwelche Kommandos. Der Verlust des Schlagmanns und gleichzeitig eines von vier Ruderern, ganz zu schweigen vom Ungleichgewicht, das sich durch den herüberhängenden Körper DeLanceys ergab, machten die Sache jedoch aus- sichtslos.
Das Boot schlingerte, tot im Wasser, und glitt stromab- wärts.
Der Schlagmann wollte sich anscheinend wieder aufrecht hinsetzen, erhob sich aber dann mit einem verkrampften Zucken und kippte vornüber in den Fluß.
Ehe die Zuschauer auch nur aufkeuchen konnten, war Che- ringham schon hinter ihm ins Wasser gesprungen. DeLanceys widerstandsloser Körper wurde von der Strömung ein paar Meter den Fluß hinabgetragen, dann erreichte ihn Chering- ham und drehte ihn auf den Rücken. Mit kräftigen Bewegun- gen schwamm er mit seiner Last auf das Ufer zu.
In den wenigen Sekunden, bevor die beiden den Ponton am Ufer erreichten, ergriff Alec die Initiative.
»Bitte treten Sie zurück, meine Damen und Herren. Die brauchen jetzt Platz. Officer, bitte hierher zu mir. Poindexter, Wells, helfen Sie den beiden bitte aus dem Wasser. Und Sie beide, unterstützen Sie bitte den Constable dabei, die Men- schen zurückzuhalten.«
Einer der älteren Herren, ein stämmiger, wohlhabend aus- sehender Gentleman mit einem Jagdhocker in der Hand, schob sich durch die Gaffer hindurch. »Ich bin Arzt«, tat er kund.
»Ausgezeichnet. Vielen Dank, Sir.« Alec wandte sich wie- der um und sah, wie Poindexter und Wells links und rechts von DeLancey standen und ihn heraushievten.
Sie legten ihn auf das Gras. Noch im Niederknien griff der Arzt schon nach dem Handgelenk.
Cheringham schob sich selbst auf das Ufer, und das Wasser strömte an ihm herab. »Dreht ihn mal auf den Rücken«, keuchte er. »Ich weiß, wie man jemanden künstlich beatmet.« Er ließ sich neben DeLanceys regloser Gestalt auf die Knie fallen.
Der Arzt schüttelte den Kopf. »Kein Puls zu fühlen. Tut mir leid, junger Mann. Nichts mehr zu machen. Merkwürdig. Er war doch gar nicht lange genug im Wasser, daß er ertrinken konnte. Mir scheint das …« Er hob eines der Augenlider von DeLancey an und untersuchte das blicklose Auge.
Cheringham ließ die Schultern hängen.
Alec half ihm beim Aufstehen. »Sie haben Ihr Bestes getan. Jetzt treten Sie bitte alle drei mal zurück.« Während Chering- ham und die anderen beiden Ruderer einen Schritt zurück machten, erschien Daisy, ganz blaß im Gesicht. »Daisy, ich bitte dich!«
»Nur eines. Ich glaube, es könnte sich hier um eine Niko- tinvergiftung handeln«, sagte sie zögerlich.
Der Arzt schaute zu ihr empor und schüttelte wieder den Kopf. »Nein. Ich bin mir ziemlich sicher, daß es sich um eine Subduralblutung handelt. An beiden Seiten des Schädels fin- den wir Hämatome. Also schlicht gesagt: Man hat ihm auf den Kopf geschlagen.«