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»Lord DeLancey hat eine Menge von dem bestätigt, was Miss Dalrymple mir erzählt hat, Tom«, berichtete Alec, als sie aus dem Schatten des Portikus in die brütende Nachmittagshitze traten.

»‘türlich hat er das!« sagte Piper empört, während er sich auf den Rücksitz des Austin begab.
»Er hat bestätigt, daß sein Bruder davon geredet hat, die Nacht im Bootshaus zu verbringen?« fragte Tom.
»Ja, obwohl er das sehr heruntergespielt hat.« Alec setzte sich auf den Beifahrersitz und schloß die Tür. »Er meinte, er hätte nicht geglaubt, daß Basil damit wirklich Ernst machen würde.«
»Sieht aber so aus, als hätte er das doch getan«, wandte Tom lakonisch ein und ließ die Kupplung kommen. Er war ein vor- sichtiger und aufmerksamer Fahrer, sonst hätte Alec ihm ja auch nicht seinen geliebten Chummy anvertraut.
»Und was haben Sie alles entdeckt?«
Tom blinzelte im Wechselspiel von Licht und Schatten auf der an sich hellen Auffahrt und sagte: »So was wie eine Blut- spur, Chief, und ein paar dunkle Haare auf dem Boden. In einer hinteren Ecke lag ein Kissen. Wo man es nicht bemerken würde, auch nicht den, der darauf sitzt, wenn man zur Tür hereinkommt. Und einer der jungen Herren hat mir gesagt, eines der Ruder sei beschädigt. Das hätten sie festgestellt, als das Boot heute morgen ins Wasser gelassen wurde.«
»Beschädigt?« Alec runzelte die Stirn. »Erstaunlich. Ein Schlag mit dem Ruderblatt, der an DeLanceys Schädel kaum wahrnehmbare Verletzungen verursacht hat, soll jetzt das Ruder sichtbar beschädigt haben?«
»An der Kante des Blattes war eine Einbuchtung. Mr. Che- ringham meinte, es sei wahrscheinlich heruntergefallen. Das hat Mr. Frieth ganz schön geärgert, der ja der Mannschafts- kapitän ist.«
Ein Ruder auf dem Boden wäre Daisy aufgefallen, auch wenn sie ein Kissen hinten in einer Ecke nicht gesehen haben mochte. Wenn DeLancey im Bootshaus geschlagen worden war, dann mußte das passiert sein, bevor er bei ihr im Schlaf- zimmer gelandet war.
»Hat man das Ruder am Morgen auf dem Boden liegend gefunden?« fragte Alec.
»Nein, es war ordentlich in das Gestell zurückgelegt wor- den, Chief. Könnte sein, daß derjenige, der DeLancey ge- schlagen hat, es vor Schreck fallengelassen hat oder so. Um es dann wieder aufzuheben und wegzulegen. Ich denke mal, es wäre ja auch unnatürlich, wenn ein Ruderer ein Ruder ein- fach so herumliegen lassen würde.«
»Sehr gut beobachtet. Fingerabdrücke vorhanden?«
»Jede Menge. Sieht so aus, als seien die auf den Rudern alle mehr oder minder identisch. Jeder rudert mit jedem Ruder. Dann haben noch die jungen Damen, Miss Cheringham und Miss Carrick, oft tragen geholfen, sagt Mr. Cheringham.«
»Mr. Cheringham scheint Ihnen ja sehr hilfreich gewesen zu sein.«
»Er meinte, er hätte Gastgeberpflichten, nachdem sein On- kel die Biege gemacht hat. Er ist aber nicht Miss Dalrymples Vetter, oder, Chief?«
»Genau. Er ist sozusagen als Bruder von Miss Cheringham aufgewachsen. Und die wiederum ist Miss Dalrymples Cou- sine.« Alec seufzte. Wie Tring und Piper sehr wohl wußten, tendierte Daisy immer dazu, einen oder auch mehrere Tat- verdächtige unter ihre Fittiche zu nehmen. Und wer kam diesmal besser dafür in Frage als Cherry?
»Ach ja, noch was.« Tom dachte einen Augenblick nach. »Er hat mir gesagt, seine Patscherchen seien ganz sicher auf dem beschädigten Ruder, weil er es heute morgen vom Gestell heruntergenommen hat. Bevor irgend jemand ge- merkt hatte, daß es eine Macke hat.«
»Meinen Sie, er wollte damit seine Spuren verwischen? Wenn da so viele Fingerabdrücke drauf sind, dann wird es ohnehin nicht weiterhelfen, wenn wir sie einzeln unter- suchen.«
Der Sergeant war da anderer Meinung. »Manche von denen liegen übereinander. Wenn ich die erst einmal zugeordnet habe, kann ich vielleicht sogar sagen, wer das Ruder zuletzt angefaßt hat, außer Mr. Cheringham. Oder ich kann die aus- schließen, die es nicht in der Hand hatten.«
»Stimmt. Sie sollten sich mal am besten gleich daran ma- chen, wenn wir wieder zurück sind, Tom. Das Bootshaus ist versiegelt?«
»Ich hab mir ein Schloß von Bister geben lassen, dem Gärt- ner und Mädchen für alles. Hier ist der Schlüssel, Chief. An- scheinend machen die sich im Sommer nicht die Mühe, das Haus abzuschließen«, sagte Tom mißbilligend. »Aber haben Sie schon mal gehört, daß einer im Winter ein Boot geklaut hätte?«
Alec mußte lachen. »Nein, allerdings nicht. Sie haben eine Probe von der Blutspur genommen, damit die analysiert wer- den kann?«
»Schon geschehen.«
»Gut gemacht. Einer der Bobbies von hier kann sie in die Stadt zum Labor bringen. Vermutlich haben wir kein Glück mit Fußspuren vor dem Bootshaus? Es ist zu trocken ge- wesen in letzter Zeit, und wenn dasselbe gilt wie bei den Fin- gerabdrücken, dann war einfach jeder da.«
»Kein Glück mit den Fußspuren, Chief, aber der Constable und ich haben jede Menge Schnecken und Ohrwürmer und …«
»Tom!«
»… und Spinnen gefunden«, fuhr Tom unschuldig fort, »und ein altes Entennest und Zigarettenstummel und einen Hering von einem Zelt.«
»Einen Hering?« Warum erschien ihm das so wichtig? »Nicht aus poliertem Holz wie das Ruder, also keine Pat- scherchen. Keine getrockneten Blätter drauf, so daß ich an- nehmen würde, er lag noch nicht lange da. Aber Heringe be- nutzt man bekanntlich draußen und steckt sie in die Erde; dieser hier ist entsprechend schmutzig und abgenutzt.«
»DeLancey wurde aber nicht mit einem Hering ermordet, Sarge«, bemerkte Ernie Piper von hinten.
»Nein«, stimmte ihm Alec zu, während der Austin in die Auffahrt zum Landsitz der Cheringhams einbog. »Aber ich hab trotzdem das Gefühl, daß der Hering von Bedeutung ist. Bitte nicht verlieren, Tom!«
»Ich und ein Beweisstück verlieren!« Tom war verletzt. »Hören Sie mal, Chief, wann habe ich schon mal Beweismate- rial verbummelt?«
»Wollte mich nur ein bißchen für die Ohrwürmer rächen«, beruhigte ihn Alec. Piper kicherte. »Haben Sie einen Blick in das Schlafzimmer von DeLancey und Fosdyke werfen kön- nen?«
»Nur einen kurzen Blick, für mehr war keine Zeit. Ich hab DeLanceys Patscherchen von seinem Rasierzeug abgenom- men. Alles andere war bestens poliert, richtig auf Hochglanz, auch die Taschenlampe auf dem Treppenabsatz. Die Chering- hams haben für diese Woche, wo das Haus so brechend voll ist, ein paar Mädchen extra eingestellt, und die Haushälterin hält die gut auf Trab.«
»Reden Sie doch mal mit dem Dienstmädchen, das das Zimmer gemacht hat. Falls es da irgend etwas zu sehen gab, dann sind Sie garantiert derjenige, der es von ihr erfährt.«
Alec lächelte, als er sah, wie Tom sich zufrieden über den Schnurrbart fuhr, während er den Austin vorne an der Tür des Hauses zum Stehen brachte. Trotz seines Umfangs und seiner ebenso großen Zuneigung zu seiner Frau hatte der Sergeant eine Art, insbesondere mit weiblichem Personal umzugehen, aber auch mit Dienstboten im allgemeinen, die bei Unter- suchungen sehr hilfreich war. Man mußte ihm gar nicht erst sagen, was er fragen sollte, wenn er die Angestellten vernahm
– und das war einer der Gründe, warum Alec ihn unbedingt hatte hierhaben wollen.
»Aber das hat noch Zeit«, fuhr Alec fort. »Es sieht ja ganz danach aus, als sei das Bootshaus der Ort, an dem das Ver- brechen verübt …«
»Genau wie Miss Dalrymple vermutet hat«, warf Piper von hinten ein.
»Das heißt, daß es Ihre erste Amtshandlung sein wird, Tom, die Fingerabdrücke von allen im Haus zu nehmen und sie mit denen auf dem Ruder zu vergleichen. Und wir beide haben weitere Befragungen vor uns, Ernie. Haben Sie auch genügend Bleistifte gespitzt?«
»Klar doch, Chief«, versicherte ihm der junge Detective Constable.
Obwohl die Tür offenstand und er nach einer nur kurzen Abwesenheit zurückkehrte, klingelte Alec. Er glaubte zwar nicht, daß Lady Cheringham beleidigt wäre, wenn er einfach so hineinträte, aber der Butler wäre es dafür mit Sicherheit – also vielleicht der letzte, der DeLancey gesehen hatte, bevor der eins über den Kopf bekam. Entsprechend war es wichtig, sich gut mit ihm zu stellen.
Gute Zusammenarbeit mit einem Butler war grundsätzlich von großer Wichtigkeit für eine polizeiliche Untersuchung, aber das Zustandekommen einer solchen Kooperation war ein seltener Glücksfall.
Lady Cheringhams Butler war allerdings ziemlich anders als das hochnäsige Individuum, das in Crowswood Anstellung ge- funden hatte. Zuerst einmal war dieser Butler schwarz. Alec war ihm bislang noch nicht begegnet, denn Daisy hatte ihn neu- lich ins Haus begleitet und ihn später zum Telephon in der Bi- bliothek geführt, und ein Dienstmädchen hatte ihm seine Sand- wiches zum Lunch gebracht. Er war einen kurzen Augenblick verwirrt, doch dann fiel ihm wieder ein, daß die Cheringhams lange in Afrika gelebt hatten. So überraschte es nicht, daß sie einen ihrer Dienstboten mit nach England genommen hatten.
Tom hatte den Butler schon kennengelernt. »Das ist Mr. Gladstone, Sir«, stellte er den hochgewachsenen Afrikaner vor. »Habe hier Detective Chief Inspector Fletcher, Mr. Glad- stone, und Detective Constable Piper mitgebracht.«
Gladstone verbeugte sich mit einer dem Ernst des Augen- blicks angemessenen Würde und gleichzeitig mit der Ehrer- bietigkeit, die dem Verlobten der Nichte von Sir Rupert und Lady Cheringham gebührte. Ohne jeden Zweifel war ihm klar, um wen es sich bei Alec handelte. »Wie kann ich Ihnen behilflich sein, Chief Inspector?« fragte er mit einer tiefen, auf freundliche Weise höflichen Stimme, die überhaupt kei- nen Akzent hatte.
»Ich benötige ein Zimmer, in dem ich mit den Gästen des Hauses sprechen kann«, sagte ihm Alec. »Die Bibliothek wäre zum Beispiel hervorragend geeignet, wenn wir dort den Ab- lauf im Haus nicht stören.«
»Aber ganz und gar nicht, Sir. Die Herren und Miss Carrick sind alle im Salon oder auf dem Rasen unter der Kastanie, glaube ich. Auf der Terrasse gibt es keinen Schatten, verstehen Sie.«
»Miss Cheringham ist immer noch nicht nach unten ge- kommen?«
»Man hat mir gesagt, daß Miss Cheringham sich zum Tee zu ihren Gästen gesellen wird. Der wird demnächst serviert. Ich bin sicher, es ist im Sinne Ihrer Ladyschaft, wenn ich Ihnen ebenfalls etwas bringe.«
»Ein Tee wäre sehr schön«, dankte ihm Alec.
»Aber für mich bitte etwas Kühles, wenn das ginge, Mr. Gladstone«, bat Tom und wischte sich mit seinem gepunkte- ten Taschentuch über die Stirn.
»Aber selbstverständlich, Mr. Tring.«
»Und wenn Sie irgendwo eine Spülküche hätten, in der ich die Fingerabdrücke abnehmen könnte, dann würde mir das die Sache sehr erleichtern. Es ist eine etwas unappetitliche Angelegenheit.«
»Für die Herren gibt es unten noch eine Garderobe und einen Waschraum, das wäre vielleicht praktischer«, schlug der Butler vor.
»Ganz recht, und an die Damen machen wir uns ran, wenn es soweit ist. Ich meine doch nur, was die Auswahl der Fin- gerabdrücke angeht«, fügte Tom eilig hinzu, als Gladstone ihn schockiert anschaute. »Damit wir wissen, wen wir bei der Un- tersuchung aussparen können.«
»Aber selbstverständlich«, sagte der Butler erleichtert. »Sie finden zur Bibliothek, Chief Inspector? Wenn Sie mir bitte folgen wollen, Mr. Tring, dann zeige ich Ihnen den Weg.«
»Ich rede als erstes mit Mr. Leigh, Sergeant«, sagte Alec. »Suchen Sie sich für die Fingerabdrücke welche von den an- deren aus. Piper, da drüben die Tür führt zur Bibliothek, das da ist der Salon, von dort gehen große Türen auf die Terrasse und den Rasen. Holen Sie doch bitte Mr. Leigh herein.« Er befragte meist zuerst diejenigen, auf die kaum Verdachtsmo- mente fielen. Oft konnte er sie dann schon von seiner Liste streichen und hatte doch weitere Informationen von ihnen er- halten, die die Vernehmung jener, die eher als Tatverdächtige in Frage kamen, einfacher machten.
»Ja, Sir.«
»Und schicken Sie von den anderen gleich ein paar zu mir, junger Freund«, sagte Tring.
Alec ging in die Bibliothek. An jedem der offenen Fenster stand sich ein Paar Sessel gegenüber. Einen drehte er so, daß das Gesicht desjenigen, der darin saß, gut im Licht lag, ohne di- rekt von der Sonne beschienen zu sein – wenn jemand blin- zelte, konnte man nur schwer seine Gefühlsregungen erken- nen. Etwas seitlich, am Schreibtisch, würde er selbst sitzen, beschloß Alec. Damit hätte er eine etwas beherrschendere Stel- lung, von der aus er einen ausgezeichneten Blick auf sein Opfer hätte. Ein Stück hinter dem Sessel hatte er für Piper einen Stuhl bereitgestellt – Tatverdächtige schwiegen oft, wenn sie merkten, wie jedes ihrer Worte aufgeschrieben wurde.
Piper führte Leigh herein. Der junge Ruderer schien sich vom ersten Schock über das Ableben seines Sportsfreundes erholt zu haben, und das bevorstehende Polizeiverhör schüchterte ihn offenbar nicht besonders ein.
»Entschuldigen Sie bitte die Hemdsärmel, Sir«, sagte er fröhlich. »Ist einfach teuflisch heiß heute, trotz der Brise vom Fluß. Sie wollen vermutlich was über die Auseinandersetzung zwischen DeLancey und Bott hören.«
»Unter anderem, Mr. Leigh.« Alec bedeutete ihm, er möge in dem Sessel Platz nehmen, und setzte sich an den Schreib- tisch. »Ihr Vorname bitte, für das Protokoll. Detective Con- stable Piper wird es anfertigen und dafür entsprechend Noti- zen machen.«
»Donald. Unter anderem? Sie meinen, es war nicht Bott, der ihm eins übergezogen hat?« Leigh konnte es offenbar nicht fassen. Ganz offensichtlich hielt er, wahrscheinlich ebenso wie die anderen, den Fall für abgeschlossen.
»Ich habe noch lange nicht genug Beweismaterial, um da eine Entscheidung zu fällen.«
»Aber Bott hat sich doch aus dem Staub gemacht, und außerdem ist er derjenige, den DeLancey so schlecht behan- delt hat. Und dann hat er noch gedroht …«
»Nun mal langsam!« Manchmal lohnte es sich ja, einen Zeugen oder einen Tatverdächtigen einfach drauflosreden zu lassen, aber das hier führte zu nichts. »Ich würde Ihnen gern ein paar Fragen stellen.«
»Ja, selbstverständlich, Sir. Verzeihung. Du liebe Zeit, heißt das, wir sind allesamt …? Verzeihung! Ich sag nichts mehr. Ich antworte nur noch, meine ich.«
»Danke.« Alec lächelte ihn an. »Wieso glauben Sie denn, Horace Bott hätte hier seine Zelte abgebrochen?«
Leigh wurde rot. »Ich meine, das haben wir doch alle die ganze Zeit gesagt. Aber es stimmt wohl gar nicht, was? Ich hab ihn heute morgen selber hinübergerudert, lange bevor DeLancey das Zeitliche gesegnet hat. Er wollte den Tag mit seiner Liebsten verbringen.«
»Hat er irgend etwas mitgenommen?«
»Nur, was er gerade bei sich hatte. Keine Tasche oder so was, wenn Sie das meinen. Er redete davon, etwas zum Pick- nicken mitzunehmen und flußaufwärts Rast zu machen. Vermutlich wollte der arme Kerl so weit wie möglich von dem Ort weg, an dem er sich so blamiert hat. Und jetzt, wo wir davon reden: der hat wahrscheinlich noch gar nicht erfahren, was passiert ist, nicht wahr?«
»Nein«, antwortete Alec abwesend. Er hatte Leigh nur mit halbem Ohr zugehört, hatte im Geiste die Dinge sortiert. Die Frage nach den abgebrochenen Zelten hatte ihn von seiner eigenen Frage abgelenkt. »Hat er erwähnt, was er nach der Regatta unternehmen wollte?«
»Er wollte wandern gehen«, antwortete Leigh wie aus der Pistole geschossen. »Im Zelt übernachten. Ich vermute, der kann sich noch nicht einmal eine Übernachtung in einem Gasthof leisten.«
»Entschuldigen Sie mich bitte einen Augenblick. Ich bin gleich wieder da. Piper!« Alec ging mit ihm aus der Biblio- thek. Im Flur sagte er: »Gehen Sie sofort hoch in Botts Schlafzimmer.«
»Der Hering«, sagte Piper.
»Ganz genau. Er muß einen ganzen Beutel davon hier ha- ben. Nehmen Sie einen und vergleichen Sie ihn mit dem, den Tom gefunden hat. Lassen Sie aber niemanden mitkriegen, was Sie da machen, Ernie. Die sind alle schon so überzeugt, daß Bott es war. Aber selbst wenn der gefundene Hering ihm gehört, ist das noch lange kein Beweis.«
»Verstanden, Chief.«
Alec kehrte in die Bibliothek zurück. Während er auf der Suche nach Papier und einem Stift für seine Notizen eine Schublade öffnete – obwohl er keinesfalls vorhatte, Wort für Wort Protokoll zu führen –, beobachtete Leigh ihn nervös. »Wenn es nicht Bott war«, brach es schließlich aus ihm her- aus, »wer war es dann? Ich hab DeLancey nicht geschlagen. Er hat mich nie besonders gestört.«
»Aber gemocht haben Sie ihn auch nicht?«
»Na ja, besonders gern hatte ich ihn nicht. Er war ein übler Kerl. Nicht durch und durch verdorben, wenn Sie mich ver- stehen, aber er war ein bißchen unmanierlich. Wenn Sie mich fragen«, sagte Leigh ganz ernsthaft, »dann hätte er besser ins Christ Church College gepaßt. Da ist man diese geballte Gräflichkeit gewohnt. Er hätte sich nur ein bißchen anständi- ger benehmen müssen. Aber so war er erst der Liebling der Familie und dann ein großer Fisch in einem kleinen Teich, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
»Ach, tatsächlich?«
»Ambrose ist ein kleines College, und im wesentlichen ge- hen da die Söhne der Grundbesitzer hin, nicht der Adel. Meine Familie zum Beispiel hat nicht das geringste bißchen adelige Verwandtschaft. Sein Vater hingegen ist der Earl of Bicester, und er hat doppelt soviel Geld als Wechsel bekom- men wie wir anderen. Und dazu war er auch noch ein guter Sportler und hat seine Prüfungen ohne allzu viel Büffelei be- standen … Na ja, das alles hat ihn jedenfalls nicht weniger selbstbewußt werden lassen. Er mußte ja auch noch nie auf ir- gend jemandes Gefühle Rücksicht nehmen. Ach, herrje. Tut mir leid, jetzt rede ich schon wieder ganz durcheinander und so viel auf einmal!«
»Aber gar nicht. Es ist oft eine große Hilfe, wenn man den Charakter des Opfers ein bißchen besser kennt. Also war Basil DeLancey es gewohnt, alle in seiner Umgebung rück- sichtslos unterzubuttern?«
»Ja, und er war ganz besonders unhöflich zu denjenigen, die er verachtete, wie zum Beispiel Bott oder Miss Carrick. Er fand, Frauen gehören nicht auf die Universität. Und darüber hinaus ist sie ja nun auch nicht – na ja, man würde sie nicht mit der schönen Helena verwechseln«, bemühte sich Leigh um eine taktvolle Umschreibung. »Er hat sie richtiggehend mißhandelt. Mit Worten, meine ich. Ich habe mehr als einmal gehört, wie gräßlich er zu ihr war. Natürlich hat er sie nicht angerührt. Miss Cheringham, die hätte er gerne mal in die Finger bekommen, wenn ich das so sagen darf.«
»In Liebesdingen, vermute ich? Hat sie seine Werbung denn freundlich aufgenommen?«
»Um Himmels willen, natürlich nicht! Allerdings hat der es ja geschafft, selbst ein Kompliment zu einer Beleidigung umzumünzen. So hat er mal gesagt, mit einer Ausbildung würde sie nur ihre Zeit verschwenden.«
»Das muß sie und Miss Carrick ganz schön aufgebracht haben.«
»Nicht so sehr wie Cheringham und Frieth. Aber ich sollte wirklich nicht so viel über die Leute klatschen«, sagte Leigh verlegen.
»Das ist kein Klatsch«, versicherte ihm Alec. »Sie sind viel- mehr der Polizei dabei behilflich, einen Mörder dingfest zu machen.«
»Es war doch nicht wirklich ein Mord, oder? Ich meine Bott – oder wer auch immer DeLancey geschlagen hat –, hätte ihn schließlich gleich an Ort und Stelle erledigen können, wenn er das gewollt hätte. Du liebes bißchen, Sie glauben doch nicht etwa, daß es Frieth oder Cheringham waren, oder?«
»Noch gibt es einfach nicht genug Beweismaterial, um ir- gend etwas mit Sicherheit annehmen zu können.« Alec ging im Geiste noch einmal durch, was von wem gesagt worden war und wann. Leigh und die anderen wußten wahrscheinlich nicht, daß DeLancey mit einem stumpfen Gegenstand von hinten auf den Kopf geschlagen worden war. »Was glauben Sie denn?«
»Frieth hätte ihn nie vor dem Rennen geschlagen.« Leigh wirkte und klang völlig sicher. »Nicht, solange wir noch eine Chance hatten, für Ambrose den Pokal zu gewinnen. Ich glaube nach wie vor, daß es Bott gewesen sein muß, selbst wenn er noch nicht weiß, daß DeLancey tot ist. Er ist kleiner und leichter, und auch wenn DeLancey in der Boxmannschaft von Oxford war, so spielt Bott doch Racquets. Der ist schnell auf den Füßen. Und wenn DeLancey nicht aufgepaßt hat, hätte er ihm gut eins überziehen können.«
Ohne sich selbst dabei einen Schaden zuzufügen? Alec machte sich nicht die Mühe, seinen Zweifeln Ausdruck zu verleihen, denn es tat ohnehin nichts zur Sache. Es war ihm sehr wohl aufgefallen, daß Leigh im Hinblick auf Cheringham seiner Frage ausgewichen war. Der Vetter von Daisys Cousine hatte doppelten Grund, wütend zu sein. Jedenfalls mehr als Frieth, denn er hatte sowohl seine Cousine als auch seine Ver- lobte zu beschützen. Darüber hinaus wären ihm, wenn er den Schlagmann außer Gefecht setzte, die möglichen Folgen wahrscheinlich weniger wichtig als Frieth. Schließlich war er eher ein Intellektueller.
Wenn es aber andererseits Frieth wichtig war, eine Trophäe mit nach Hause zu nehmen, dann hätte der eher noch einmal nachts im Bootshaus vorbeigeschaut, um nach dem Vierer zu sehen. Er hätte sich möglicherweise dort mit DeLancey ge- stritten, vielleicht über dessen Umgang mit dem Steuermann und die Folgen für den Achter von Ambrose, vielleicht aber auch wegen Tish. Und vor lauter Wut hätte er möglicherweise doch die Folgen für das Rennen am nächsten Morgen aus dem Blick verloren.
Aber hätte einer von beiden mit etwas anderem zugeschla- gen als mit der Faust? Es war zwar unwahrscheinlich, dachte Alec, aber nicht unmöglich.
»Erzählen Sie mir von Bott und DeLancey«, bat er.
Abgesehen von dem reumütigen Geständnis, daß er und seine Freunde DeLancey in der Angelegenheit mit dem Whisky eher angestachelt als gebremst hatten, unterschied sich Leighs Bericht nur in winzigen Details von dem Daisys. »Bott ist eher ein Brechmittel«, sagte er freiheraus, »aber er hatte jedes Recht der Welt, unheimlich wütend zu sein. De- Lancey ist da einfach zu weit gegangen. Wenn er nicht gleich daran gestorben wäre, dann hätte ich die Dresche wirklich für eine verdiente Strafe gehalten.«
»Das klingt ja so, als hätte DeLancey gewußt, wie man sich Feinde schafft. Hatte er obendrein einen Ruf als Frauenheld?«
»Es hat da irgendeine Geschichte gegeben. Aber das war ein Ladenmädchen, nicht eine anständige junge Dame wie Miss Cheringham«, fügte Leigh hastig hinzu. »Das Übliche: hat das Mädchen ins Unglück gestürzt und sie dann sitzengelassen. Ich hab gehört, sein Bruder hätte ganz schön was sprin- gen lassen müssen, um die Angelegenheit im stillen zu regeln. Wohlgemerkt, es ging nicht um ein nicht eingelöstes Ehever- sprechen. Es hat wohl nur ihre Mutter gedroht, einen riesigen Aufriß zu veranstalten.«
»Aber einen Vater oder Bruder, der Rache geschworen hätte, gab es nicht?«
»Nicht daß ich wüßte«, sagte Leigh bedauernd. Es schmerzte ihn offenbar sehr, einen möglichen Tatverdächti- gen abschreiben zu müssen, der als vollständiger Außenseiter sehr praktisch gewesen wäre. »Die Mutter war Witwe und die Tochter Einzelkind, glaube ich. Jedenfalls haben sich die Leute letztes Jahr gewaltig die Mäuler darüber zerrissen. Es wäre eher merkwürdig, mit der Rache so lange zu warten. Das tut man doch nur, wenn man eine etwas ausgefeiltere Form wählt als die, dem Gegner eins über die Rübe zu ziehen.« Alec war erleichtert, die Oxforder Stadtpolizei nicht um Amtshilfe bitten zu müssen. Wie hätte sie ihm einen namen- losen und möglicherweise auch nur in dieser Erzählung be- kannten Übeltäter ausfindig machen sollen? Dennoch nahm er sich vor, diese Auskunft von Leigh an den Aussagen der an- deren zu überprüfen.
»Ist er im Bootshaus geschlagen worden?« fragte Leigh. »Ich hab vorhin Ihren Beamten da herumwühlen sehen.« »War DeLancey denn Ihres Wissens gestern abend am Bootshaus?«
»Ich hab ihn da nicht hingehen sehen, aber er hat dauernd davon geredet, daß Bott Drohungen ausgesprochen hätte und daß das Boot deswegen bewacht werden muß. Meinte, er würde nicht verstehen, was sein Bruder dagegen hätte, wenn er die Nacht unter etwas ungemütlichen Umständen dort ver- bringen wollte. Es sei schließlich seine Sache.«
»Das war gestern abend?«
»Ja, nach dem Abendessen.«
»Und wer war alles dabei?«
»Lady Cheringham, Miss Dalrymple, eine Weile lang Fosdyke, aber der geht ja mit den Hühnern zu Bett. Dann noch Poindexter, Wells, Meredith.« Leigh hielt einen Augenblick inne, um nachzudenken. »Cheringham und Frieth waren die meiste Zeit draußen auf der Terrasse, mit Miss Cheringham und Miss Carrick. Beziehungsweise umgekehrt, wenn Sie ver- stehen, wie ich das meine. Miss Dalrymple ist dann hinausge- gangen, um ein Telephonat zu führen, und ist danach zurück- gekommen und hat sich zur Nacht verabschiedet. Das muß so gegen halb zehn gewesen sein, denke ich. Zu der Zeit hat Lady Cheringham die anderen Mädchen auch hereingeholt, und die sind alle zusammen hochgegangen. Cheringham und Frieth sind ein paar Minuten später hineingekommen und ebenfalls gleich zu Bett gegangen.«
»Die sind nicht einen Moment dageblieben und haben De- Lanceys Reden gelauscht?«
»Nicht daß ich mich daran erinnern könnte.«
»Und Bott war nicht da?«
»Nein, der ist noch nicht einmal zum Essen dagewesen. Hat den Abend mit seiner Süßen verbracht, vermute ich, und ist dann gleich ins Bett gegangen, als er zurückkam. Das kann man ihm auch nicht verübeln, nach allem, was am Abend da- vor und an dem Morgen passiert ist. Wenn der sich gezeigt hätte – also DeLancey hätte auf keinen Fall den Takt besessen, ihn einfach in Ruhe zu lassen. Der war schon beim dritten Whisky, als er ans Telephon gerufen wurde. Während er tele- phonierte, sind wir anderen ins Bett gegangen. Wir hatten alle ziemlich die Nase voll von seinem Gerede.«
»Sie sind alle hochgegangen?«
Leigh dachte noch einmal nach. »Ja, ich glaube schon. Ich bin mir sogar sicher. Meredith ist unmittelbar nach mir aus dem Wohnzimmer gekommen, und der war der letzte.«
»Und Sie haben später nicht gehört oder gesehen, wie De- Lancey hochgekommen ist?«
»Nein. Es gab natürlich das übliche Durcheinander mit dem Badezimmer und so, aber ich bin dann ziemlich schnell eingeschlafen und hab bis zum Morgen wie ein Stein gepennt. Es muß auch nicht sein, daß DeLancey viel Lärm gemacht hat. Der konnte drei Whiskys vertragen, ohne gleich zu sin- gen oder über seine Schnürsenkel zu stolpern.«
Alec wurde klar, daß er gar nicht wußte, was DeLancey an- gehabt hatte, als er geschlagen wurde. Daisy hatte seine Klei- dung nicht erwähnt, als sie von der Invasion ihres Schlafzim- mers berichtet hatte, und Tom hatte noch nicht die Zeit gefunden, den Inhalt des Schranks zu untersuchen.
»Ziehen Sie sich hier zum Dinner um?« fragte er.
Leigh schaute ihn zutiefst erstaunt an. »Du liebe Zeit, aber natürlich. Wir Ruderer mögen ja der Welt zu bestimmten Ge- legenheiten unsere Knubbelknie präsentieren und uns an einem heißen Tag in Hemdsärmeln im Garten herumfläzen, aber das heißt noch lange nicht, daß wir alle Regeln der Zivi- lisation hinter uns gelassen hätten.«
Alec hatte den Geschichten darüber, daß sich britische Gentlemen auch im Dschungel zum Dinner umzogen, eigent- lich nie rechten Glauben schenken mögen. Aber vielleicht stimmten sie tatsächlich. Würde Daisy von ihm erwarten, daß er sich allabendlich umzog, wenn sie erst einmal verheiratet wären?
Nur mit Mühe konnte er sich von seinen Zukunftsträumen lösen. Die Hitze und sein Durst machten, daß er sich kaum konzentrieren konnte. Und der wunderbar diskrete Glad- stone würde bestimmt nicht mitten in eine Befragung mit einem Tee hereinplatzen.
Alec blickte sich um, als er hörte, wie sich die Tür öffnete. Es war nicht Gladstone mit einem Tablett, sondern Piper, der kolossal zufrieden aussah.
»Das wäre dann alles, vielen Dank«, sagte Alec zu Leigh. »Das war sehr hilfreich. Sergeant Tring wird Ihnen jetzt die Fingerabdrücke abnehmen, damit wir Sie als Tatverdächtigen ausschließen können. Möglicherweise werde ich später noch einmal mit ein paar Fragen auf Sie zukommen. Wollten Sie schon heute aus Henley abreisen?«
»Nein, das sitz ich schon aus. Will ja nicht die anderen so mitten im Gefecht hängenlassen. Was dagegen, wenn ich den anderen Läufen vom Rennen zusehe?«
»Gar nicht, bitte sehr. Wenn Sie eine halbe Stunde warten, dann können noch ein paar andere mit Ihnen gehen. Aber ich möchte Sie bitten, nicht über das zu sprechen, was wir hier erörtert haben.«
»Geht in Ordnung, Sir.«
Leigh ging hinaus, und Alec wandte sich zu Piper. »Haben Sie was erreichen können?«
»Gefunden, Chief. Paßt genau zueinander. Jede Wette, Bott wollte damit ein Loch ins Boot bohren.«
»Kann gut sein«, sagte Alec. »Die Frage ist nur, warum zum Teufel er dann den Hering ins Gebüsch wirft?«