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Alec verbrachte eine etwas frustrierende, am Ende aber doch erfolgreiche Stunde am Telephon in Sir Ruperts Bibliothek.Er hatte nunmehr die Erlaubnis der Chief Constables von Buckinghamshire und Oxfordshire, in ihrem jeweiligen Be- reich so weit wie erforderlich tätig zu werden. Beide waren sie außerordentlich erfreut, daß sie sich nicht mit einem Mordfall befassen mußten. Insbesondere nicht mit einem, in den die Aristokratie verwickelt war.
Alecs Superintendent am Scotland Yard hatte, als man ihn in seinem Landhaus erreichte, dem Antrag der drei Chief Constables – denn der von Berkshire hatte ja schon den ent- sprechenden Wunsch geäußert – eher ungehalten zugestimmt und Alec für diesen Fall abgestellt. Mit etwas Glück würde der Assistant Commissioner for Crime gar nicht in die Sache einbezogen werden müssen. Er würde zwar den Abschluß- bericht erhalten, aber Alec würde sein möglichstes tun, um Daisys Namen aus der Sache herauszuhalten.
Detective Sergeant Tom Tring und Detective Constable Er- nie Piper waren schon auf dem Weg nach Henley. Alec tat es leid, sie aus ihrem Wochenende mit ihren Familien heraus- zureißen. Aber bei einem Fall, der so viele Komplikationen in sich barg, brauchte er Männer um sich, auf die er sich ver- lassen konnte.
Ein Constable aus Henley war losgeschickt worden, sich in der Unterkunft von Botts Freundin nach seinem Verbleib zu erkundigen (Daisy hatte den Namen und die Adresse gewußt; wie zum Teufel machte sie das nur immer?).
Der Beamte aus Berkshire, der die Bahre tragen geholfen hatte, stand im Salon Wache und behielt die jungen Leute im Auge. Von der Buckinghamshire Police waren schon drei Constables eingetroffen. Anscheinend hatte man dort nur wenig mit der Regatta zu tun. Einer bewachte das Bootshaus, einer das Schlafzimmer, das DeLancey sich mit dem jungen Fosdyke geteilt hatte – was sonst noch bewacht oder durch- sucht werden mußte, konnte Alec sich beim besten Willen nicht vorstellen. Der dritte Beamte stand also vor der Tür zur Bibliothek, bereit, zu erledigen, was anfiel.
Auch der Polizeiarzt war angekommen. Als nächster Punkt stand auf Alecs Liste, daß er mit Dr. Dewhurst sprechen wollte. Ob er wohl mit Mr. Fosdykes Diagnose überein- stimmte?
Alec schluckte den letzten Bissen von den Sandwiches her- unter, die Lady Cheringham ihm freundlicherweise hatte her- eintragen lassen, und nahm noch einen Schluck lauwarmen Tee. Daisy hatte Alec bei ihrer Tante entschuldigt, da dieser sofort nach ihrer Ankunft zum Telephon geeilt war. Er war sehr froh, daß ihr Onkel sich in London aufhielt – obwohl die Hiobsbotschaft ihn vielleicht an den heimischen Herd zurückeilen lassen könnte.
Er wies den Constable an, am Telephon in der Bibliothek Wache zu halten, und machte sich auf zur alten Remise und zu den Ställen, die man zu Garagen umgebaut worden hatte. In einer davon befanden sich die sterblichen Überreste des Ho- nourable Basil DeLancey.
Dr. Dewhurst und Mr. Fosdyke saßen auf einer Bank vor einer sonnenbeschienenen Mauer aus rotem Backstein. Erste- rer rauchte eine Pfeife, letzterer eine Zigarre. Im Gehen ta- stete Alec in der Jackentasche nach seiner eigenen Pfeife und dem Tabaksbeutel, den Belinda für ihn genäht und mit einem etwas schief geratenen Monogramm versehen hatte.
Die Mediziner sahen ihn kommen und erhoben sich. Fos- dyke stellte Alec dem Polizeiarzt vor, einem kleinen, schlan- ken, ältlichen Herrn, der aber noch sehr lebhaft wirkte.
»Miss Dalrymple ist Ihre Verlobte, Chief Inspector?« fragteDr. Dewhurst, während er ihm die Hand schüttelte. »Eine äußerst charmante junge Dame. Und nach ihrer Beschrei- bung …«
»Sie haben schon mit ihr gesprochen?« verlangte
Alec zu wissen.
»Aber ja. In solchen Fällen sind Augenzeugenberichte un- bedingt
vorzuziehen, und wenn ich richtig verstanden habe, ist die junge
Dame des Hauses, die das alles auch erlebt hat, momentan nicht in
der Lage, vom Ereignis zu berichten.«
Mr. Fosdyke schüttelte ernst den Kopf. »Ich hab bereits mit Miss
Cheringham gesprochen. Hab versucht, ihr ihre Schuld- gefühle
irgendwie auszureden. Sie konnte ja nicht ahnen, daß der junge Mann
nicht nur betrunken war. Aber das alles be- reitet ihr jetzt
außerordentlichen Kummer.«
»Das war sehr freundlich von Ihnen, Sir.«
»Sie nimmt sich die Angelegenheit viel zu sehr zu Herzen, fürchte
ich. Ich habe ihr ein Bromid verschrieben, und die Mutter, eine
sehr vernünftige Dame, hat sie erst einmal ins Bett
gesteckt.«
»Es tut mir wirklich leid zu hören, daß diese Angelegenheit sie so
beschäftigt«, sagte Alec und fragte sich, ob Tish mög- licherweise
an dem Wissen, nicht nur an dem Verdacht leiden könnte, daß
Cheringham oder Frieth mit der Sache zu tun hatten.
»Miss Dalrymple dagegen ist aus härterem Holz ge- schnitzt«, sagte
Dr. Dewhurst in einem Tonfall, der Alec wohl zu dieser Verlobten
gratulieren sollte. »Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, daß ich
schon mit ihr gesprochen habe.«
Alec stopfte den duftenden Tabak mit dem Daumen in seine Pfeife und
unterdrückte ein Seufzen. »Nein, natürlich nicht, Sir.« Er hätte es
gleich wissen sollen, daß Daisy sich mal wieder total in diesen
Fall verstrickte. Er wußte selber schon nicht mehr, ob er sie aus
der Angelegenheit hatte heraushalten wollen, um sie zu schützen –
oder eher sich selbst.
»Sie hat einen bewundernswert nachvollziehbaren Bericht von den
Symptomen des Verstorbenen gestern abend und heute morgen gegeben«,
fuhr der Polizeiarzt fort. »Wenn man Mr. Fosdykes Aussagen über den
Todesfall mit meinen vor- läufigen Ergebnissen vergleicht, dann
deckt sich das beides vollkommen. Es würde mich außerordentlich
überraschen, wenn die Autopsie als Todesursache nicht eine
Subdural- blutung mit Hämatomen als Ergebnis eines Schlages gegen
den Kopf und anschließenden Sturzes feststellen sollte.«
»Würden Sie sagen, daß DeLancey möglicherweise betrun- ken war, als
sie ihn gestern nacht gesehen hat? Was ich damit fragen will:
könnte es sein, daß man ihn erst später geschlagen hat?«
»O ja, durchaus möglich. Aber er hätte genausogut auch da schon an
der Gehirnverletzung leiden können. Der Laie kann diese beiden
Dinge nicht unterscheiden. Das Ganze ist nicht mehr als
achtundvierzig Stunden her und nicht weniger als vier. Keine große
Hilfe, so was, aber vielleicht kann ich das nach der Autopsie noch
ein bißchen einengen.«
»Vielen Dank, Sir. Vermutlich sollte ich mir die Verletzun- gen
einmal selber anschauen. Dazu würde ich gerne Ihre Hilfe in
Anspruch nehmen, damit ich sie besser deuten kann.«
»Ich werde dann mal losziehen«, sagte Fosdyke, »wenn Sie mich nicht
mehr brauchen. Hier ist meine Visitenkarte, Chief Inspector. Ich
übernachte im Catherine Wheel in Henley. Da bin ich bis morgen
abend zu erreichen. Ach so, das gilt natür- lich nur, falls Sie
möchten, daß Nicholas – mein Sohn – hier- bleibt.«
»Darauf kann ich nicht bestehen, Sir, aber es wäre wesent- lich
praktischer.« Alec führte das dritte Streichholz an seine Pfeife
und sog kräftig.
»Abgemacht. Nick war es nicht, das kann ich Ihnen ver- sichern. Er
würde seinem Gegner vielleicht mit der Faust ins Gesicht schlagen,
aber ihm hinterrücks mit einem stumpfen Gegenstand eins auf den
Kopf geben – niemals.«
»Danach sieht die Wunde aus?«
»Sie werden das ja gleich selbst sehen.« Alec dankte Mr. Fosdyke
für seine Hilfe. Er hoffte, der Arzt schätzte seinen Sohn richtig
ein.
Als Alec die blauen Flecke am Schädel DeLanceys betrach- tete,
stimmte er Fosdyke und seiner Diagnose im stillen zu. Allerdings
konnte man die Hämatome auch noch anders deu- ten. Zum Beispiel
schien keine der Schwellungen von einer Faust
herzurühren.
»Der Abdruck der einzelnen Knöchel ist aber in neunund- neunzig
Prozent der Fälle gut sichtbar«, sagte Dr. Dewhurst und fügte dann
vorsichtig hinzu: »Es gibt natürlich das eine Prozent, in dem die
Dinge anders liegen.«
Welche Beule zuerst entstanden war, konnte man nicht sicher
erkennen. Sie lagen beide an der Seite des Schädels, also nicht
oben, vorn oder im Nacken. Die rechte Verletzung be- fand sich eher
oben und hinten, die linke dagegen etwas wei- ter vorn, aber
durchaus noch hinter dem Haaransatz. Letztere machte einen
aufgerissenen, abgeschabten Eindruck, obwohl das Blut nach dem
Eintritt des Todes in den Hinterkopf ge- gangen sein
mußte.
»Das muß doch geblutet haben«, sagte Alec.
»Ja, aber nicht stark. Es ist eher eine Schürfwunde als eine
Platzwunde. Das Blut tröpfelt bei solchen Verletzungen nur leicht,
ohne zu fließen. Als Arzt sieht man so was, aber bei Laien erregt
es keine Aufmerksamkeit. Insbesondere nicht bei so dunklem Haar, da
verliert es sich völlig.«
»Und diejenigen, die ihn an dem Abend erlebt haben, schliefen ja
noch halb. Das wäre dann also die Sekundärver- letzung, oder was
meinen Sie?« schlug Alec vor. »Sieht so aus, als sei er gefallen
und dann über eine rauhe Fläche gerutscht.«
Dewhurst pflichtete ihm bei. »Außerdem ist die Schwel- lung hier
geringer. Als wäre sie durch einen Sturz aus geringer Höhe
verursacht, nicht durch einen kräftigen Schlag. Zudem hat er noch
einige blaue Flecken an der linken Hüfte und …«
»Das glaub ich Ihnen gerne, brauch ich mir gar nicht anzu-
schauen«, sagte Alec hastig, als der Arzt anfing, das Tuch
zurückzuziehen. Es fiel ihm schon schwer genug, die Fassung zu
bewahren, wenn er den Kopf eines Toten zu begutachten hatte. Da
brauchte er nicht noch den ganzen mitleiderregenden nackten
Leichnam zu sehen. Er sog an seiner Pfeife, ob- wohl diese Leiche,
im Gegensatz zu vielen anderen, gar kei- nen Gegenreiz der
Geruchsorgane nötig machte. Gott sei’s
gedankt.
Auch der Doktor paffte seine Pfeife und redete dann, die
Pfeife im Mund: »In der zweiten Wunde befinden sich
einige
winzige Holzsplitter, wie auch in der linken Hand«,
bemerkte
er.
»Stammen die von einem Holzboden? Dielen, kein Par-
kett?«
»Das müssen Sie wohl herausfinden, Chief Inspector, aber
es wäre für mich eine naheliegende Schlußfolgerung. Mir
fällt
übrigens keine Waffe ein, die solche Spuren hinterläßt.
Aber
auch das ist Ihre Angelegenheit. Andererseits scheint die
rechte Parietal-Verletzung von irgendeinem stumpfem Ge- genstand
herzurühren, eher flach als abgerundet, würde ich
sagen, glatt und nicht rauh. Keine Blutung.«
»Der Schlag erfolgte also von hinten, ausgeführt von
einem
Rechtshänder«, schloß Alec.
»Von hinten und schräg oben.«
Alec runzelte die Stirn. »Das Opfer ist doch recht groß,
oder?«
»Ein Meter neunundachtzigeinhalb.«
»Ganz schön. Hatte sich DeLancey gebückt?« Lauerte er
im Bootshaus jemandem auf?
»Blauer Fleck an der Hüfte«, entgegnete Dr. Dewhurst. »Er
muß aus größerer Entfernung darauf gelandet sein, nicht
aus
kniender oder kauernder Position.«
»Hmmm. Man hat ihn bewußtlos geschlagen, nehme ich
an.«
»Nicht unbedingt. Die Auswirkungen in dem Augenblick
selbst können ganz unbedeutend gewesen sein. Eine An- schwellung im
Schädel selbst, eine Blutung, möglicherweise
ein Gerinnsel, hat ihn umgebracht.«
»Dann hat sein Angreifer vielleicht gar nicht gewußt, wie
schwer sein Opfer verletzt war.«
»Es würde mich überraschen, wenn sich DeLancey nicht ziemlich
groggy gefühlt hat«, sagte der Arzt. »Gehirnverlet- zungen sind
jedoch eine merkwürdige Sache. Es ist genauso- gut möglich, daß er
aufgestanden und einfach weggegangen ist.«
DeLancey hätte also gut aus eigener Kraft vom Bootshaus zurück ins
Haus finden können. »Gibt es sonst noch etwas, was ich bedenken
muß?« fragte Alec. »Ach so, noch eins. Werden Sie die gerichtlich
angeordnete Untersuchung der Todesursache durchführen,
Sir?«
»Wenn Sie das möchten. Ich glaube kaum, daß man sich um die
Zuständigkeit für diesen Fall streiten wird, und in Reading habe
ich ein gutausgestattetes Institut. Wenn Sie die Leiche heute
nachmittag dorthin schicken, dann kann ich mich gleich damit
befassen.«
»Je rascher das geschieht, desto besser, würde ich sagen. Es ist
schließlich ganz schön heiß. Wenn Sie die Untersuchung machen,
könnten Sie dann auch gleich den Coroner vor Ort informieren?
Vielen Dank, Herr Doktor.«
Auf dem Weg zum Haus traf Alec den Constable, den er am Telephon
zurückgelassen hatte. »Das Polizeirevier hat ge- rade angerufen,
Sir«, meldete der. »Also die Polizei von Hen- ley, meine ich. Miss
Hopgoods Vermieterin sagt, sie hätte den beiden ein Picknick
bereitet, also der jungen Dame und Mr. Bott, und die beiden hätten
davon geredet, daß sie einen Spaziergang flußaufwärts machen
wollten, in Richtung der Schleuse von Marsh.«
»Die Strecke führt doch weg von der Regatta?«
»Ganz genau, Sir. Die Schleuse ist ungefähr zwei Kilometer oder so
von der Brücke weg. Die wollen jetzt wissen, ob je- mand Bott
folgen soll?«
Diese Frage bedachte Alec, während sie durch einen Sei- teneingang
ins Haus gingen. Er sah nicht, wie Bott von De- Lanceys Tod hätte
erfahren können, also gab es gar keinen Grund für ihn, einen
Fluchtversuch zu unternehmen. Es würde auch nichts schaden, vor
einer Unterredung mit ihm noch mehr Informationen einzuholen. Die
Dinge standen schlecht für den Steuermann. Alec konnte sich
vorstellen, daß Frieth oder der junge Fosdyke oder Cheringham sich
auf einen Faustkampf einließen, aber jemanden von hinten mit einer
Waffe zu attackieren, das entsprach ganz und gar nicht dem
Eherenkodex eines Gentleman.
Dennoch hätte er nicht zulassen dürfen, daß Cheringham mit den
Mädchen ins Haus zurückkehrte. Damit hatte er reichlich Gelegenheit
gehabt, alle erdenklichen Indizien zu vernichten.
»Alec!« Daisy kam auf ihn zu, als er durch den Flur zur Bi-
bliothek ging. »Gerade hab ich dich gesucht.«
»Ach, Daisy. Bott wird doch hier zurückerwartet, oder
nicht?«
Das war ja eine wirklich liebevolle Begrüßung! dachte sie, während
sie praktisch neben ihm herlaufen mußte, um Schritt zu halten. »Ja.
Er hat sich Sorgen gemacht, Tante Cynthia könnte von ihm erwarten,
daß er das Haus verläßt, weil der Achter ja nicht mehr im Rennen um
den Thames Cup dabei ist. Aber natürlich tut sie das
nicht.«
»Gut so.«
»Er wollte noch bleiben wegen Miss Hopgood, und weil es unmöglich
ist, in der Stadt ein Hotelzimmer zu bekommen. Wenn sie morgen
abend nach London zurückfährt, will er wandern gehen und im Zelt
übernachten. Aber ich weiß, daß er seine ganze Ausrüstung
hiergelassen hat. Leigh hat ihn über den Fluß gerudert – auf dem
Treidelpfad ist der Weg kür- zer als auf der Landstraße –, und dann
sind die beiden direkt nach dem Frühstück aufgebrochen. Alec, ich
…«
»Einen Augenblick noch, Liebling. Die Polizei von Henley erwartet
meinen Rückruf.«
Daisy blickte auf ihre Armbanduhr. Es blieben ihr noch ein paar
Minuten. Ungerührt hörte sie zu, wie Alec dem dienst- habenden
Beamten mitteilte, es sei nicht notwendig, Horace Bott von seinem
Ausflug zurückzuholen.
»Aber weisen Sie den für den Bereich zuständigen Bobby bitte an, er
soll die Unterkunft von Miss Hopgood im Auge behalten. Und man soll
mir Mitteilung machen, wenn die bei- den zurück sind.« Er lauschte
in den Hörer, und sein Gesicht entspannte sich. »Am Bahnhof? Sehr
gut. Ich hol sie selber ab. Können Sie mir sagen, wie ich hinkomme?
Und geben Sie mir doch bitte die Telephonnummer dort.«
»Tring und Piper?« Daisy formte die Frage lautlos mit den Lippen,
und er nickte. Sie wartete, während er die Nummer aufschrieb und
dann das Gespräch beendete, um schließlich zu sagen: »Wenn du in
die Stadt fährst, könntest du mich mit- nehmen?«
»Wohin denn genau?« fragte er und wählte schon wieder.
»Ich hab einen Termin …«
»Hallo. Hier spricht Detective Chief Inspector Fletcher.«
»… mit einem Freund, der mich …«
»Ganz genau. Sagen Sie den beiden doch bitte, daß ich sie in einer
Viertelstunde abhole.«
»… jemandem vorstellen will …«
»Ja, vielen Dank.«
»… nämlich Prince Henry, dem Duke of Gloucester.«
»Wie beliebt, Daisy? Dem Duke of Gloucester?«
»Für meinen Artikel. Wenn ich zu Fuß da hingehe, dann muß ich jetzt
sofort aufbrechen. Oder ich muß mich beeilen, und dann wird mir
ganz heiß, und ich klebe überall. Rollo meinte, er könnte mich auch
fahren, aber vermutlich wirst du ihn hierbehalten wollen. Es ist
doch in Ordnung, wenn ich fahre, oder? Ich bin ja schließlich keine
Tatverdächtige.«
»Nein?« grinste Alec sie an.
»Nein«, sagte Daisy mit fester Stimme und führte ihn in die
Eingangshalle. »DeLancey hat mich nie beleidigt. Schließlich bin
ich genauso eine Honourable, wie er einer war.«
»Und dabei noch ehrbarer, will ich hoffen.«
»Ach, du Blödmann. Nimmst du mich bis zur Brücke mit?«
»Ja, mein Schatz. Bist du soweit? Geh schon mal zum Auto. Ich muß
mich bei den Herren entschuldigen, daß ich sie jetzt noch ein
bißchen länger warten lasse. Nicht, daß es mir besonders leid täte.
Es kann sicherlich nicht schaden, sie noch
ein bißchen vor sich hin dampfen zu lassen, es wird wahr-
scheinlich sogar sehr hilfreich sein. Ich brauche Tring
und
Piper hier, wenn ich mit der Befragung anfange. Wo sind
sie
denn alle?«
»Im Salon und auf der Terrasse. Die tun sämtlich so, als
wäre nichts passiert, was ja nicht so einfach ist, wenn
ein
Bobby danebensteht und zusieht. Dottie ist bei ihnen, mit
Cherry. Tish allerdings hat sich ins Bett gelegt.«
»Ja, das hatte Mr. Fosdyke schon gesagt, und daß er ihr
ein
Bromid verschrieben hat. Es tut mir leid, daß sie es so schwer-
nimmt. Wie schön, daß du da mehr Stehvermögen hast, mein
Schatz. Bin gleich zurück.«
Daisy strahlte ob dieses ungewohnten Komplimentes und
ging hinaus zum gelben Austin. Es machte ihr nun nichts
mehr aus, daß er gar nicht bemerkt hatte, wie elegant sie
in
dem neuen bernsteinfarbenen Kleid aus Seidengeorgette aus- sah.
Selbst Lucy sagte, die schmalen Falten von den Schultern
bis zum Saum ließen sie fast schon schlank wirken. Die
hatten
das Kleid auch schrecklich teuer gemacht, aber
schließlich
würde sie gleich Prince Henry vorgestellt, und mit einem
Tuch würde es auch sehr gut als Kleid zum Abendessen tau-
gen.
Der Chummy stand im Schatten. Ein Glück, denn sonst
wären die Sitze ja viel zu heiß gewesen, um sich darauf
setzen
zu können. Bei heruntergelassenem Verdeck dürfte es ganz
schön stickig werden im Auto. Immerhin war die Straße
nach
Henley hinein, also die nach Marlow, eine Schotterstraße,
so
daß die Fahrt nicht allzu staubig würde. Sie suchte in
ihrer
Handtasche nach einem Kamm.
Alec ließ sie nicht warten. »Eigentlich«, sagte er, als er
sich
neben ihr an das Steuer setzte und den Anlasser drückte,
»bist
du wirklich keine Tatverdächtige. Es sieht so aus, als wäre
der
Angreifer mindestens so groß wie DeLancey gewesen. Der
Schlag wurde von oben geführt.«
»Dann war es auf keinen Fall Bott.«
»Ist der so klein gewachsen?« Alec klang überhaupt nicht
erfreut.
»Er ist Steuermann. Alle Steuermänner sind klein, damit sie nicht
zu viel Gewicht ins Boot bringen. Hattest du gedacht, er wäre der
Täter?«
»In die Richtung gingen meine Vorstellungen schon«, grunzte ihr
Verlobter, während er aus der Auffahrt nach links in eine Straße
einbog, die von Hecken gesäumt war, in die sich Waldreben und
duftendes Geißblatt gerankt hatten. »Es er- schien mir sehr
unwahrscheinlich, daß jemand, der als Gen- tleman erzogen worden
ist, einen Gegner von hinten mit einer Waffe niederstrecken würde,
anstatt ihm von vorn mit der Faust ins Gesicht zu schlagen.
Jedenfalls nicht, wenn es kein ernsteres Tatmotiv als einen
Wutanfall gibt. Aber ver- mutlich bin ich naiv.«
»Gentlemen mögen ja als solche erzogen worden sein, aber sie müssen
sich noch lange nicht so verhalten. Denk nur mal an DeLancey!« wies
ihn Daisy zurecht. »Aber die andern Jungs sind wirklich Gentlemen.
Könnte nicht jemand Kleines ihn mit einem langen Gegenstand
geschlagen haben?«
»Hm, das ist natürlich auch eine Möglichkeit. Womit du doch wieder
eine Tatverdächtige wärst.«
»Nein, das bin ich nicht«, widersprach Daisy empört. »Wenn
überhaupt, dann habe ich ihn beleidigt und nicht
umgekehrt.«
»Liebling, hast du das wirklich?«
»Ich habe mich – eher kurz angebunden – schlichtweg ge- weigert,
mit ihm zum Tanzen zu gehen, und dann habe ich ihm noch gesteckt,
daß seine Manieren noch viel schlechter sind als die von
Bott.«
»Um Gottes willen! Da hab ich ja richtig Glück, daß er nicht dir
eins über den Kopf gezogen hat!«
Daisy warf ihm eine Kußhand zu. »Nicht wahr? Alec, könnte DeLancey
mit einem Ruder geschlagen worden sein? Es gibt im Bootshaus so ein
Gestell für Ruder. So weit ich es erkennen konnte, lagen die alle
an ihrem Platz, als ich nach- geschaut habe, aber …«
»Als du nachgeschaut hast? Daisy, hast du mir da etwas ver-
schwiegen?«
»Schau mal, da drüben liegt Crowswood, wo Lord DeLan- cey zu Gast
ist.«
Obwohl Alec einen gedankenvollen Blick auf das geöffnete Tor und
das Pförtnerhäuschen warf, versagte dieses Ablen- kungsmanöver doch
ganz und gar. »Was hast du zu einer Zeit im Bootshaus zu suchen
gehabt, als ein nicht im Ruder- Gestell befindliches Ruder als
Tatwaffe hätte dienen kön- nen?« verlangte er zu wissen.
»Ich war auf der Suche nach Bott.«
»Auf der Suche nach Bott? Jetzt erzähl
mir nicht, du hättest dir wegen möglicher Sabotage des Vierers
solche Sorgen ge- macht …«
»Du liebe Zeit, nein. Ich habe mir wegen Bott Sorgen ge- macht. Ich
dachte, wenn DeLancey am Bootshaus Wache schiebt und Bott wirklich
hinuntergeht, dann schlägt De- Lancey vielleicht ihn zusammen und läßt ihn dort liegen. Und wenn er
nicht gleich tot ist, dann ist er zumindest verletzt. Ich dachte,
das wäre vielleicht der Grund für DeLanceys Zustand. Schock, weißt
du.«
»Also bist du mitten in der Nacht hinunter zum Bootshaus gegangen.
Vermutlich allein?«
»Es schliefen ja schon alle, und ich konnte Bott nicht ein- fach da
liegenlassen, falls er schwer verletzt gewesen wäre. Insbesondere,
nachdem ich gesehen hatte, daß die Türen vom Salon zur Terrasse
offenstanden, daß also jemand – schau doch nur, da ist die Einfahrt
von Phyllis Court. Hatte ich dir schon erzählt, daß wir da heute
abend eingeladen sind?«
»Hast du. Aber ich kann nicht versprechen …«
»Ich weiß. Doch bis dahin hast du den Fall sicher
gelöst.«
»Dein Glaube versetzt Berge, mein Schatz.« Alec lächelte sie an und
wandte sich rasch wieder der Straße nach Marlow zu, die hier auf
die Hauptstraße von Henley traf. »Es kann je- doch genausogut sein,
daß ich dann vollkommen verwirrt bin, wie der Ochs vorm Berg stehe
und mich ein bißchen vom Fall lösen muß. Also sag noch nicht ab. Du
hast Bott im Boots- haus nicht vorgefunden. Aber was hast du
gesehen?«
»Absolut nichts. Es war ganz schrecklich gespenstisch«, gab sie mit
einem von der Erinnerung hervorgerufenen Schaudern zu. Dabei hätte
an diesem sonnigen Nachmittag nichts so ungespenstisch wirken
können wie die Geschäfte und Wirtshäuser der Bell Street. »Ich
konnte mir nicht sicher sein, daß er nicht ertrunken unten im
Wasser liegt, aber wäre das der Fall gewesen, dann war es ohnehin
zu spät, um ihm noch zu helfen. Du kannst dir gar nicht vorstellen,
wie froh ich war, als er zum Frühstück auftauchte.«
»Doch, kann ich. Konntest du denn etwas sehen? Gibt’s im Bootshaus
elektrisches Licht?«
»Nein, ich hab die Taschenlampe vom Treppenabsatz ge- nommen. Und
ich habe besonders darauf geachtet, die Fin- gerabdrücke nicht zu
verschmieren«, sagte Daisy gewichtig.
»Tom Tring wird stolz auf dich sein. Leider könnte mittler- weile
jeder die Taschenlampe wieder abgewischt haben, wenn das
Dienstmädchen sie nicht gar täglich poliert«, bemerkte Alec mit
fühlloser männlicher Logik. »Aber wir wissen ja ohnehin nicht
sicher, daß der Anschlag im Bootshaus passiert ist.«
»Wer vor mir dorthin gegangen ist, der hat die Taschenlampe
vielleicht gar nicht gebraucht. Draußen mußte ich sie jedenfalls
nicht anschalten – der Mond ging gerade unter –, und vorher … ach,
halt, hier ist die Hart Street. Bitte bieg hier ab, und dann müssen
wir an der Brücke rechts lang. Da muß ich aus- steigen. Du kannst
danach weiter am Fluß geradeaus fahren, am Ende biegst du rechts
ab, und da ist schon der Bahnhof.«
»Bestens. Hat das Bootshaus Fenster?«
»Ehrlich gesagt, weiß ich das gar nicht«, gab Daisy verlegen zu.
»Falls nicht, würde einem natürlich auch der hellste Mondschein da
drinnen nichts helfen.«
Alec bog nach rechts und bremste. Er konnte nicht direkt am
Bürgersteig halten, weil dort lauter Automobile standen. Daisy
sprang rasch heraus. Es kam schon ein etwas gehetzt wirkender Bobby
auf sie zu, als sie sich verabschiedete.
»Das ist übrigens ein sehr hübsches Kleid«, sagte Alec. »Muß ich
jetzt eifersüchtig auf Prince Henry sein?«
»Ist schon in Ordnung, der ist mir viel zu jung. Bis später, mein
Liebling.«
Der Austin sauste noch gerade rechtzeitig wieder los, bevor der
Constable Alec eine Strafpredigt halten konnte. Daisy ging zurück
in Richtung Brücke.
Also war Alec ihr neues Kleid doch aufgefallen. Er hatte natürlich
nur Witze gemacht wegen des Prinzen, aber seine Worte erinnerten
Daisy an Rollos mögliches Motiv. Der war, was DeLancey anging, doch
sehr reizbar gewesen.
Rollo glaubte, Tish sei wegen DeLanceys Tod so in Aufruhr geraten,
weil sie ihn besonders gern mochte. Konnte er damit recht haben?
War Tish jetzt so niedergeschlagen, weil sie sich wegen Rollo und
Cherry solche Sorgen machte oder weil sie sich, trotz ihrer
abweisenden Art, zu DeLancey hingezogen gefühlt hatte? Seine zur
Schau getragene Unernsthaftigkeit könnte der Grund dafür gewesen
sein, daß sie ihn mit ebenso offensichtlicher Gereiztheit abwies.
Aber sie hatte dabei mög- licherweise etwas ganz anderes
empfunden.
Wenn Rollo wirklich einen Grund zur Eifersucht hatte oder glaubte,
einen zu haben, dann hätte er ein viel stärkeres Motiv, gewalttätig
zu werden, als wenn er nur wegen DeLanceys per- manenter Belagerung
seiner Freundin verärgert gewesen wäre.
So ein Unsinn! sagte sich Daisy und sprang zwischen einem uralten,
zweirädrigen Wagen mit zwei sich gegenüberliegen- den Sitzen und
einem royalblauen Napier hindurch, dessen Chauffeur eine farblich
exakt dazu passende Uniform trug. Alec hatte recht – selbst der
friedfertige Rollo würde mit den Fäusten auf seinen Widersacher
losgehen, aber niemals würde er ihm mit einem Ruder von hinten eins
über den Kopf ge- ben.
Mit Horace Bott hingegen war es anders. Daisy hielt mitten auf der
Brücke inne und schaute der Betriebsamkeit der Re- gatta auf dem
Fluß und an dessen Ufern zu, wie sie es gestern mit Bott und seiner
Freundin nach seinem unfreiwilligen Bad im Fluß getan hatte. Bott
hatte in weit stärkerem Maße als Rollo oder Cherry Grund, beleidigt
zu sein. Er wußte, daß DeLancey größer und schwerer war als er, und
er wußte auch, das hatte er selbst gesagt, daß er die feinen
Antennen eines Gentleman nicht besaß. Er hätte durchaus mit
irgendeinem Gegenstand zuschlagen können, wenn ihn einer angriff
und er gerade dabei war, den Vierer zu sabotieren.
Aber falls DeLancey ihn angegriffen hatte, wie kam es dann, daß er
von hinten geschlagen worden war?
Daisy schüttelte verwirrt den Kopf und ging weiter.