30. Epilog

 

 

Josh sah durch die Windschutzscheibe seines Wagens und konnte nur Schnee erkennen. Weit und breit war alles Weiß. Wie war er nur auf die blödsinnige Idee gekommen, ausgerechnet im tiefsten Winter Richtung Norden zu fahren?

»Verdammt!« Nachdem niemand Cassandra gefunden hatte, weder tot noch lebendig, hatte die Polizei nicht mehr sehr zuversichtlich gewirkt. Sie waren der Meinung, dass durch die starke Strömung die Leiche wahrscheinlich bereits ins Meer gespült worden war und jede weitere Suche sinnlos wäre.

Also hatten sich Josh und seine Männer aufgemacht, um nach ihr zu suchen. Wäre sie an Land gekommen, hätte sie schon längst bescheid gegeben, dass alles in Ordnung war und so sank die Hoffnung mit jedem neuen Tag. Schließlich hatten alle im Rudel einsehen müssen, dass Cassandra nicht wieder kommen würde.

Nach der Beerdigung eines leeren Sarges war er auf dem Weg in die Hütte von Cassandras Pflegeeltern. Sie hatte die Hütte früher ein paarmal erwähnt und immer davon geschwärmt, welche schönen Erinnerungen an ihre Kindheit dieser alte Bau innewohnte.

Das war seine letzte Verbindung zu Cassandra. Hier konnte er sich in aller Ruhe von ihr verabschieden. Die anderen Rudelmitglieder verdrängten die Tatsache einfach und machten ganz normal weiter, aber an Joshs Gewissen nagte immer noch der Umstand, dass er sie betrogen hatte und sie deswegen ausgezogen war.

Wäre sie im Herrenhaus geblieben, wäre es nie so weit gekommen. Alexej hatte im direkt nach dem Unfall bei der Brücke gesagt, dass Derek sie schon im Hotel angegriffen und fast getötet hätte. Das wäre nie passiert, wenn sie bei ihm gewesen wäre.

Durch diese Verwundung war sie anschließend wahrscheinlich zu schwach gewesen, um sich an Land zu kämpfen, wenn sie den Aufprall auf das Wasser überhaupt überlebt hatte. Wenn sie durch den Sturz ihr Genick gebrochen hätte und anschließend ins Meer gespült worden wäre, könnte selbst eine Unsterbliche sterben, wenn ein Hai oder ein anderes Wesen sie in die Fänge bekam. Irgendwo hier muss sie doch sein.

Plötzlich kam der Wagen von der Fahrbahn ab und rutschte einen Abhang hinunter. Etwa auf der Hälfte des Abhangs krachte das Auto gegen einen Baum oder einen großen Felsen. Josh wusste es nicht mehr. Sein Kopf wurde beim Aufprall gegen das Lenkrad geschleudert und er verlor sofort das Bewusstsein.

 

Als er wieder zu sich kam, war dunkelste Nacht. Durch den Schneesturm konnte er nichts weiter ausmachen, als die Motorhaube. Laut fluchend machte er sich von seinem Gurt los und suchte nach seinem Handy. Kein Empfang! Das war nicht sein Tag.

Er sah sich noch einmal um und überlegte, was er jetzt tun könnte. Einfach im Wagen bleiben, bis der Sturm nachließ? Nein. Dank des Schneesturms wäre er im Handumdrehen eingeschneit und würde erfrieren. Im schlimmsten Fall mehrmals. Allerdings sah die zweite Möglichkeit genau so schlecht aus: Draußen erfrieren. Er seufzte resigniert und zog sich seine Jacke über, die er auf dem Beifahrersitz hatte liegen lassen. Während der Fahrt hatte er die Heizung angehabt und außerdem störte ihn das dicke Material beim Fahren, weswegen er sie schon vor Beginn der Fahrt ausgezogen hatte. Mittlerweile war sein Körper recht ausgekühlt. Wie lange war er eigentlich bewusstlos gewesen?

Er öffnete mit etwas Mühe die Wagentür und stieg aus dem Auto. Der Schneesturm hatte noch weiter zugenommen, zog und zerrte an seiner Jacke und Josh beschloss, hoch zur Straße zu laufen und zu hoffen, dass ein Wagen vorbei kam. Vielleicht konnte er auch ein Haus oder eine kleine Siedlung finden. Alles war besser, als hier zu erfrieren.

Der Weg zur Straße stellte sich als schwieriger heraus, als erwartet. Zum einen war der Sturm sehr stark, was ihm nur wenig Sicht ließ und zum anderen waren seine Hände durch die Kälte fast komplett steif, sodass er kaum noch spürte, was er anpackte und ob es ihn überhaupt hielt.

Als er ein paar Meter gekommen war, schnappte er schließlich an einem morschen Zweig ab und fiel rückwärts den Abhang hinunter. Steine, Äste und andere Gegenstände stachen und schlugen auf seinen Körper ein und er versuchte so gut es ging, seinen Kopf zu schützen. Der schmerzte noch immer vom Unfall zuvor und die Erschütterungen machten es jetzt auch nicht unbedingt besser. Ein ziemlich starker Schlag folgte und von da an war alles dunkel.

Benommen öffnete Josh die Augen und blinzelte durch den immer noch anhaltenden Schneesturm. Das war echt nicht sein Tag. Konnte es noch schlimmer kommen? Er lag am Fuße des Abhangs zwischen Tannen und Felsen. Seine Glieder waren steif, wahrscheinlich von der Kälte. Vielleicht hatte er sich auch etwas gebrochen. Das war momentan schwer zu sagen.

Was hatte ihn eigentlich geweckt? Normalerweise hätte er hier gelegen, bis der Schneesturm nachgelassen und die Massen über ihn mindestens einen Meter hoch waren. Vielleicht wäre er auch gar nicht mehr aufgewacht. In ein paar Monaten wäre er mit der Schneeschmelze wieder zu sich gekommen und würde seinem Bruder sagen müssen, dass er die Rudelführung wieder abgeben musste. Woran dachte er eigentlich? Stellte sein Hirn schon die Arbeit ein? Er musste hier weg, und zwar schnell.

Er bewegte seinen Kopf in beide Richtungen. Immerhin etwas, das noch funktionierte. Als Nächstes versuchte er seine Hände und Füße zu bewegen, was ein Ding der Unmöglichkeit war, da er diese nicht spürte. Es war ein komisches Gefühl. Als hätte man ihn betäubt. In seinem Kopf drehte sich alles und er ließ seinen Kopf zur rechten Seite fallen.

Und genau dort sah er eine Gestalt stehen. Aber das war kein Grund zur Freude. Es war ein großer Wolf, der mit gefletschten Zähnen vor ihm stand. Sein innerer Wolf wollte sich erheben, aber selbst er konnte in den tauben Körper keine Kraft erwecken. Ich bin verloren. Damit schlossen sich seine Augen wieder.

 

Vom geschäftigen Treiben und zwei lachenden Frauenstimmen wurde er langsam aus seiner Bewusstlosigkeit gerissen.

»Du hast geschummelt!«

»Ach! Das sagst du immer, wenn du verlierst.«

»Ich schau mal nach ihm.« Seine Augen hatten sich noch nicht an die Helligkeit des Raumes gewöhnt, deswegen konnte er auch die Frau nicht richtig sehen. »Oh! Er ist wach!« Er spürte, wie die Matratze zu seiner Linken nachgab, als sich die Frau an seine Seite setzte.

»Versuch ihm etwas Brühe einzuflößen. Er kann es brauchen.« Er wehrte sich nicht gegen die heiße Flüssigkeit, die stetig seine Kehle hinunter rann. Dann verlor er wieder das Bewusstsein.

 

Mit einem lauten Schrei und Cassandras Namen auf den Lippen schreckte er aus einem fürchterlichen Traum auf. Schwer atmend sah er sich im Raum um. Eine Frau mit dunklen Haaren kam auf ihn zu.

»Alles in Ordnung?« Josh nickte und die Frau reichte ihm ein Glas Wasser. »Ich bin Tamara. Sie hatten wohl einen Autounfall.« Josh griff sich an den Kopf und spürte einen Verband. Dieser würde zwar bald unnötig, aber für den Moment brachte er durch den Druck eine ungewohnte Linderung der Schmerzen. »Und sie sind etwas unglücklich gestürzt.«

»Haben sie mich hierher gebracht?« Tamara schüttelte den Kopf und erwiderte: »Nein, dass war ...«, plötzlich flog die Tür auf und eine nackte Frau stand im Türrahmen. In der Hand hatte sie ein Kaninchen.

»Heute hatte ich Glück. Ich bin eine sehr talentierte Jägerin!« Sie schloss die Tür hinter sich und legte den Hasen auf den Tisch. Dann zog sie sich ein Shirt und Jogginghosen an. Ihre feuerroten Haare flossen in lockigen Wellen über ihren schlanken Körper. Als sie sich zum Bett umdrehte, starrten smaragdgrüne Augen in seine.

»Cassandra!« Er traute seinen Augen nicht.

»Na, endlich wach? Was hast du dir nur dabei gedacht, bei diesem Wetter draußen herumzufahren. Weißt du nicht, wie gefährlich das ist?« Ihren Tadel nicht beachtend sprang er aus dem Bett und nahm sie in die Arme.

»Ich dachte, du wärst tot!« Nach der anfänglichen Überraschung strich sie liebevoll über seine Haare und sagte dann leise: »Könntest du dir etwas anziehen? Tammy ist nackte Männer nicht gewohnt.« Er drehte sich zum Bett um, wo die Frau mit großen Augen saß und errötete etwas.

»Tut mir leid.« Nachdem er sich etwas angezogen hatte, verabschiedete sich Tamara. Sie war eine Hexe und schon seit Jahren mit Cassandra und auch schon ihren Eltern befreundet gewesen. Sie hatte gerade essen gekocht, als Cassandra als Wolf vor ihr gestanden und um Hilfe gebeten hatte.

Cassandra setzte sich wieder an den Tisch, nachdem sie Tamara zur Tür gebracht hatte, und sah fragend zu Josh.

»Also, warum bist du hier?« Er sah ihr in die Augen.

»Normalerweise müsste ich dich das fragen.«

»Ich musste nachdenken.«

»Cassandra! Wir haben heute Morgen«, er unterbrach sich, da diese Aussage wahrscheinlich nicht mehr stimmte. Wie lange war er schon hier? Bewusstlos? »Wir haben einen leeren Sarg beerdigt, weil wir alle dachten, du seist tot!« Sein Gesicht war rot vor Wut. »Wir dachten, dass du im Fluss ertrunken bist! Du warst verwundet. Ich war am Boden zerstört!«

»Du weißt, dass ich eine hervorragende Schwimmerin bin. Wieso hättest du zweifeln sollen?«

»Du bist nicht wieder aufgetaucht. Du hast uns noch nicht mal eine Nachricht zukommen lassen, dass alles in Ordnung ist.«

»Ich hab Alexej angerufen.«

»Der hat uns nicht Bescheid gesagt!«

»Hm.«

»Mehr fällt dir dazu nicht ein?« Sie zuckte mit den Schultern.

»Ich glaube, das war seine Art, dir für deine Dienste um Irina zu danken.« Sie grinste ihn an. »Und du hast es verdient.« Er stieß scharf Atem aus.

»Gut. Ich habe eine Strafe verdient, aber ich dachte wirklich, du wärst tot.«

»Tut mir leid. Das nächste Mal schick ich dir ne Mail.«

»Das nächste Mal?« Sie grinste und zuckte dann lapidar mit den Schultern.

»Man weiß nie was passiert.« Er lehnte sich erschöpft an.

»Wie habt ihr mich da draußen gefunden?« Ihr Gesicht erhellte sich noch mehr.

»Och, das war gar nicht so schwer. Ich war grad auf der Jagd, als ich deinen Wagen sah. Ein paar Meter weiter weg hab ich dich gefunden. Es war ne ganz schöne Plackerei, dich herzuschleppen.« Er runzelte die Stirn.

»Auf der Jagd? Du könntest mich doch keine 50 Meter tragen.« Plötzlich kam ihm wieder das Bild von dem Wolf in den Sinn und seine Augen weiteten sich. »Der Wolf, das warst du?« Sie nickte grinsend.

»Es macht riesigen Spaß als Wolf durch die Gegend zu rennen. Das ist, als wäre man high.«

»Du kannst dich komplett verwandeln?« Sie winkte ab.

»Das ist doch nicht der Rede wert.« Resigniert atmete er aus und ließ sich wieder auf das Bett fallen.

»Du hast gesagt, du bist hier, um nachzudenken.« Er sah ihr in die Augen. »Zu welchem Schluss bist du gekommen?«

»Ich wollte noch eine Woche bleiben und wäre dann wieder heimgekommen.« Seine Mine erhellte sich.

»Wirklich?« Sie stand auf und ging zu ihm.

»Ich hatte schon vor dem kleinen Unfall mit der Brücke beschlossen, dir noch eine Chance zu geben.« Er nickte.

»Das hat Wolkow schon erwähnt.«

»Ach ja, Alex. Was ihn betrifft: Ich habe Alexej versprochen, dass wenn du mich noch einmal betrügen solltest, ich dich verlasse und ihn mal in Russland besuche. Hast du gewusst, dass er eine eigene Burg hat?« Er starrte sie fassungslos an.

»Ist das dein ernst?« Sie lächelte ihn liebenswürdig an.

»Wie heißt es doch so schön: Du hast eine Ewigkeit zeit, um deinen Fehler zu bedauern.«

»Du wirst es mir also nicht leicht machen?« Ihr Lächeln wurde immer süßer.

»Ganz und gar nicht.«


Woelfe der Macht
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