1. Prolog

 

 

Josephine sah verträumt zu ihrer Mutter Camille auf und beobachtete ihr hübsches Profil. Ihre kleine Nase und die vollen Lippen, die seidig zarte Haut. Sie hatte hellere Haare und auch hellere Augen als Josephine. Ihre Mama hatte gesagt, sie wären braun. Josi selbst konnte nur erkennen, dass sie nicht so dunkel wie ihre Eigenen waren. Denn Farben konnte sie nicht sehen. Aber sie war nicht traurig darüber. Anders kannte sie es einfach nicht. Ihr Vater konnte auch keine Farben sehen.

Wie so oft trug Camille ihre Haare in einem langen Zopf, in den sie verschiedene Wiesenblumen eingeflochten hatte. Er reichte ihr bis zur Taille und verströmte einen lieblichen Duft. Sie hatte wirklich die schönste Mutter der Welt. Kein anderes Kind aus dem Dorf konnte so stolz sein, wie Josi. Deswegen störte sie es auch nicht, dass die Dorfbewohner sie Hexenbastard oder Kind der Teufelshure nannten. Ihr Vater hatte ihr erklärt, dass die Leute nur eifersüchtig wären und er sie und ihre Mutter bald auf die Burg holen würde. Dann hätten sie immer genug zu essen und sie könnte lesen lernen.

»Hast du mir zugehört Liebes?« Josi blinzelte und sah wieder auf den Tisch, wo ein altes Buch offen da lag. Ihre Mutter war eine Heilerin und versuchte, ihr Wissen an ihre Tochter weiter zu geben. Aber da Josi erst fünf Jahre alt war, schweiften ihre Gedanken immer recht schnell ab. Vor allem nach den komischen Träumen, die sie in letzter Zeit immer wieder hatte. Viele Raben stürzten sich auf sie, und wenn sie weglaufen wollte, stellten sich ihr Wölfe entgegen. Weder ihre Mutter noch ihr Vater waren irgendwo zu sehen.

»Tut mir leid.« Camille nahm ihre Tochter auf den Schoß und legte ihre zierlichen Arme um das kleine Mädchen.

»Du bist heut schon den ganzen Tag irgendwo anders. Was ist los?« Josi zuckte mit den Schultern. Ihr Vater rügte sie immer wegen dieser Geste. Das wäre nicht angemessen für eine kleine Prinzessin. Dabei war sie ja keine richtige Prinzessin, sondern nur ein Mädchen, das einen König zum Papa hatte.

»Ich weiß es nicht. Ich hab so ein komisches Gefühl.« Wie auf das Stichwort ging die Tür auf und Josis Vater kam aufgeregt herein.

»Schnell. Packt die wichtigsten Sachen zusammen. Wir müssen uns beeilen.« Camille drückte Josi eng an sich und stand mit ihr zusammen auf. Ihr Vater kam auf die beiden zu und gab ihrer Mutter einen kurzen Kuss auf die Lippen. Sonst dauerte das immer etwas länger und ihre Mutter hatte danach immer rote Wangen. Aber dieses Mal war Camille sehr blass.

»Was ist denn los?« Sie klang ängstlich. Sonst klang sie nie ängstlich.

»Verräter haben die Burg eingenommen und wollen die Familie töten. Wir müssen sofort weg.« Camille stellte Josi auf die Beine und schob sie Richtung Bettstatt.

»Schnell Liebes. Hol deine Sachen und ...« Pferde näherten sich. Ein schwarzhaariger Mann kam hastig ins Haus und lief zu ihrem Vater. Ihn hatte sie bis jetzt nur ein Mal gesehen. Das war der Prinz. Ihr Halbbruder.

»Sie verfolgen uns. Wir müssen sofort weg.« Ihr Vater nickte und sah dann zu Camille und Josi. Wie immer war sein Blick zärtlich und liebevoll. Er war zwar streng, aber wenn er geschimpft hatte, nahm er sie danach immer in den Arm und erklärte ihr, warum er schimpfen musste. Sie hatte ihn wirklich sehr lieb. Fast so sehr, wie ihre Mutter.

»Ich bleibe hier und halte sie auf. Du nimmst die beiden mit.« Ihr Halbbruder stieß ihren Vater an der Schulter, so dass er ein Stück nach hinten taumelte. Das war nicht nett und Josi wollte schon etwas sagen, als Joel ihren Vater anzischte: »Bist du von Sinnen? Das sind über fünfzig Männer. Wir haben nur eine Handvoll treue Ritter. Das schaffst du nie. Wir gehen alle gemeinsam.«

»Joel! Du wirst tun, was ich dir sage. Ich bin dein Vater und dein Herr.« Er verließ die Hütte zusammen mit Joel und stritt sich draußen lautstark mit ihm. Plötzlich brach das Chaos aus. Ihr Vater wurde in die Hütte gestoßen und mehrere fremde Männer folgten ihm. Camille zerrte Josi in eine Ecke und kniete sich vor ihre Tochter, sodass die Kleine nicht mehr sehen konnte, was weiter passierte.

»Liebes. Du musst so schnell wie möglich weg von hier. Wenn du aus der Hütte kommst, rennst du, bis du das Dorf erreichst. Dort gehst du zu Marianne. Sag ihr, sie soll dich verstecken, bis dich jemand von uns abholen kommt.« Sie hüllte Josi in einen weiten Umhang und drückte ihr einen zärtlichen Kuss auf die Stirn. »Liebes Mädchen mein. Die Dunkelheit soll dein Gefährte sein. Dein vorgesehener Weg soll ...« Mitten in dem vertrauten Sing-Sang hielt sie inne und riss die Augen weit auf. Blut sprudelte aus ihrem Mund, als sie versuchte, weiter zu reden und schließlich sackte nach vorn.

»Ich hab die Teufelshure«, rief einer der fremden Männer. Mit letzter Kraft flüsterte sie Josi zu: »Stell dich Tod!« Dann wurde Camille von dem Mann gepackt und nach draußen gezerrt. Josi wollte ihr nach, sich an ihr festhalten, aber die Angst siegte und sie tat, wie ihre Mutter ihr befohlen hatte. Einen Moment später spürte sie die Gegenwart eines anderen Menschen.

»Hier ist noch das Kind.« Sie wurde mit einem Schuh an der Seite angestoßen und ein anderer ritzte ihr mit dem Schwert über das Bein. Es drang nicht tief in ihr Fleisch ein, brannte aber wie Feuer. Sie blieb stumm und reglos liegen. Sie hatte schon schlimmere Verletzungen ertragen müssen.

»Die ist Tod«, kam es aus einer anderen Ecke.

»Lasst sie liegen. In dem Alter sind sie noch nicht unsterblich.« Die Geräusche entfernten sich und Ruhe zog wieder in die kleine Hütte ein. Josi wollte weinen, schreien und um sich treten. Aber sie konnte nicht. Sie durfte sich nicht verraten. Nur so hatte sie die Chance, ihre Mutter wieder zu sehen.

Der Geruch nach brennendem Holz stieg ihr in die Nase und vor der Hütte wurden Jubelschreie laut. Sie schloss die Augen wieder, und als sie nach einem traumlosen Dämmerschlaf erwachte, war es draußen bereits dunkel. Nachdem sie keinerlei Geräusche vernahm, rappelte sie sich auf und verlies die kleine Holzhütte.

Vor ihr war ein großer Haufen, der noch immer brannte und eine angenehme Wärme verbreitete. Josi schluckte. Mehrere verkohlte Leichen lagen darauf und es stank furchtbar nach verbranntem Fleisch. Rechts neben der Hütte waren mannshohe Holzpfähle in die Erde geschlagen. Darauf waren abgetrennte Köpfe. Auch der ihrer Mutter. Die braunen Haare waren verfilzt und blutgetränkt, die Augen standen offen und starrten ins Nichts.

Josi begann zu weinen, drehte sich um und wollte in das Dorf laufen, um bei Marianne Schutz zu suchen. Da prallte sie gegen jemanden und wurde am Oberarm festgehalten.

»Schau her. Wen haben wir denn da?«

 

Michail sah den fahrenden Händler abschätzend an, der ihm ein kleines, schmutziges Mädchen anbot. Sie war nicht älter als fünf oder sechs und wegen ihrer schwarzen Haare konnte er ihr Gesicht nicht sehen. Aber das war ihm auch eigentlich egal.

»Wieso sollte ich ein Kind kaufen? Hier laufen schon mehr als genug Bastarde herum.« Das Mädchen, das anscheinend nicht viel von der russischen Sprache verstand, sah auf und blickte ihm tief in die Augen. Er erstarrte. Diese schwarzen Augen waren wie die tiefe, dunkle Nacht. Als würden sie ihn magisch anziehen.

»Ja, die Kleine ist eine hässliche Missgeburt, aber man kann sie ohne schlechtes Gewissen in ein paar Jahren als Bettwärmer benutzen. Und wenn sie euch nicht mehr gefällt, können sich sicher die anderen Männer der Burg an ihr erfreuen.«

»Wie viel willst du für sie?« Der Händler war über die rasche Meinungsänderung verwirrt und sah das plötzliche Interesse in den Augen seines Gegenübers. Er nannte den Preis und Michail gab ihm das Geld ohne ein weiteres Wort. Dann zog er das Mädchen auf die Beine und zerrte sie in die Burg. Diese Augen mussten etwas bedeuten. Und er spürte eine gewisse Aura um sie herum. Nur benennen konnte er es nicht.

»Tanija, wo steckst du, alte Hexe?« Er stieg die Treppen zum Kerker hinab, wo die alte ihr Lager aufgeschlagen hatte und achtete nicht darauf, dass die Kleine nicht hinterher kam. Tanija, eine kleine füllige Frau mit roten Haaren, kam aus einem Seitengang hervor und verbeugte sich tief vor Michail. Sie war zwar hässlich wie die Nacht, aber sie respektierte ihn und brachte ihm die nötige Achtung entgegen. Außerdem brauchte er eine Hexe. Sie konnten in einem Revierkampf wahre Wunder wirken.

»Wie kann ich dir helfen, Herr?« Er schubste ihr das Mädchen entgegen und die Hexe packte deren Arm. Sie versuchte es zu verbergen, aber einen kurzen Augenblick lang weiteten sich ihre Augen. Sie hatte es ebenfalls gespürt.

»Was soll ich mit dem Kind?« Michail deutete auf ihr Gesicht.

»Schau dir ihre Augen an und sag mir, was das bedeutet.« Die Hexe packte die Kleine mit der anderen Hand am Kiefer und hob deren dreckiges Gesicht empor. Dieses Mal zog sie vernehmlich Luft ein und sah ihn dann wieder an.

»Ihr habt einen guten Fang gemacht.« Sie packte das Handgelenk des Mädchens und ritzte mit ihrem Nagel die Haut ein. Das wenige Blut, das hervor quoll, bevor sich die Wunde wieder schloss, leckte sie sich vom Finger. Ihre Augen weiteten sich erneut und sie ließ die Kleine los. »Ihr habt einen sehr guten Fang gemacht. Sie ist aus der Blutlinie der Guérisseur (franz. Heiler).« Das Mädchen sah verständnislos zwischen den beiden hin und her.

»Und was bedeutet das?« Michail hatte keine Lust auf Rätsel.

»Sie ist eine Heilerin. Ihr Blut hat magische Kräfte und kann alles und jeden heilen.« Sie packte wieder das Handgelenk der Kleinen und drehte ihre Hand nach oben, sodass sie deren Handfläche sehen konnte. »Ihre Schicksalslinien sind sehr stark ausgeprägt. Sie ist für Großes bestimmt.« An Michail gewandt sagte sie: »Pass gut auf sie auf. Sie bedeutet leben.«

 

Als er mit dem Dolch immer näher kam, verkroch sich weiter unter dem Bett. Nach dem, was die Frau im Burgkeller gemacht hatte, konnte sie sich gut vorstellen, was er vorhatte. Sie hatte ihrer Mutter ein paar Mal zugesehen, wie sie für schwerkranke Kinder eine Medizin hergestellt hatte. Es waren zwar zum größten Teil Kräuter in den Mittelchen, aber auch immer mindestens fünf Tropfen von Camilles Blut. Sie hatte Josi einmal erklärt, dass sie das große Glück hatten, von einer sehr mächtigen Familie abzustammen, deren Blut ein Segen für die ganze Menschheit war. Und diesen Segen wollte jetzt der Mann mit dem Dolch haben.

»Komm sofort heraus.« Sie kroch zur anderen Seite des Bettes und versuchte zur Tür zu flüchten. Doch da packte er sie schon an den Haaren und riss sie zurück. Es war, als würde er ihr die Haare vom Kopf reißen, so sehr zerrte er daran.

Das junge Mädchen mit dem hübschen Kleid, das den Mann begleitet hatte, sah Josi gefühllos an. Wer sie wohl war? Seine Tochter? Oder eine andere Verwandte? Für eine Dienerin war sie zu hübsch angezogen. Oder war das Kleid nur ein Geschenk? Zwischenzeitlich kettete Michail Josi an den Pfosten des Betts und beugte sich zu ihr.

»Wenn du noch einmal vor mir davon läufst, werde ich dir die Kleider vom Leib reißen und dich meinen Männern überlassen.« Dann nahm er den Dolch und schnitt ihr in das Fleisch ihres Armes, sodass etwas Blut hervorquoll. Sie schrie und zerrte, aber er ließ ihren Arm nicht los. Bereits nach wenigen Sekunden schloss sich die Wunde wieder komplett und die Schmerzen ließen etwas nach.

»Verdammt! Ich brauche mehr Blut!« Geschockt sah sie zu, wie er ihr den Dolch in den Arm rammte und ihn etwas drehte. Ein wahres Rinnsal lief an ihrem Arm herab und er fing es schnell mit einem Becher auf.

Josi war fast ohnmächtig vor Schmerz und ihr Kopf füllte sich mit Watte. Es war ein merkwürdiges Gefühl. Würde ihr Kopf platzen, wenn sie jetzt schrie? Die Augen fielen ihr zu, und als sie diese wieder öffnen wollte, klappte es nicht. Starb sie?

»Herr!« Das war das erste Mal, dass das Mädchen etwas gesagt hatte.

»Halte deinen Mund.« Das Mädchen wich vor seiner Wut zurück, Josi konnte das Kratzen ihrer Pantoffeln über den steinernen Fußboden hören. Als der Becher bis zur Hälfte gefüllt war, zog er den Dolch wieder aus Josis Arm und ließ das benommene Kind liegen. Nachdem er das Blut vollständig ausgetrunken hatte, drehte er sich wieder zu dem Mädchen und musterte es.

»Leg dich hin!« Sie wurde blass.

»Herr, ich ...« Er schlug sie ins Gesicht, sodass sie auf das Bett fiel. Josi konnte das Klatschen seiner Hand auf ihrer Wange laut und deutlich hören.

»Widersprich mir nicht!« Mit einem lauten »ratsch« riss er das Oberteil des Kleides auf und schlug ihr dann die Röcke über die Beine hoch. Sie wimmerte verängstigt.

Josi nahm durch ihren eigenen Schmerz die Schreie des Mädchens wahr, das eben auf dem Bett über ihr vergewaltigt wurde. Würde es ihr in ein paar Jahren ähnlich ergehen? Würde sie ihm völlig ausgeliefert sein?

 

Ängstlich rannten Männer durch die brennende Burg und versuchten sich zu retten. Aber keiner entkam der Armee von Wölfen, die diese Burg wie ein Schwarm Heuschrecken überrannte.

»Michail! Ich finde dich!« Ein großer blonder Mann kam in das dunkle Schlafgemach des Rudelführers und sah sich um. Er war von oben bis unten mit Blut bespritzt und seine Rüstung war völlig verbeult. In der gegenüberliegenden Ecke sah er einen kleinen Schatten und lief mit gezogenem Schwert dorthin. »Michail. Du feiger Schwächling. Hinter deinem Rudel warst du mutig, aber jetzt wo wir in der Übermacht sind, verkriechst du dich in dein Schlafzimmer.« Als er vor der kleinen Gestalt am Boden stehen blieb, hielt er inne.

Das war ein kleines Mädchen. Sie war mager und blass, ihr ausgemergelter Körper nur von dreckigen Lumpen bedeckt. Das verfilzte schwarze Haar hing wie ein Vorhang vor ihrem Gesicht, sodass er ihre Züge nicht sehen konnte. Dann bemerkte er hinter sich eine Bewegung und drehte sich mit erhobenem Schwert um. Gerade noch rechtzeitig, um Michails hinterlistigen Schlag zu vereiteln.

»Du Bastard. Schleichst dich von hinten an wie ein Weichling!« Er schlug Michail den Dolch aus der Hand und dieser fiel vor ihm auf die Knie.

»Hab erbarmen!« Wut stieg in Alexej auf, als er antwortete: »Hast du meiner Tochter und meinem Rudel gegenüber erbarmen gezeigt? Du hast sie kaltblütig niedermetzeln lassen.« Mit diesen Worten hob er sein Schwert und schlug ihm den Kopf ab. Er beobachtete, wie der Kopf ausrollte und liegen blieb.

Ein Gefühl von Genugtuung durchströmte ihn. Aber sofort war der Schmerz über seinen großen Verlust zurück. Seine geliebte Tochter konnte er nicht zurückholen. Sie war für immer verloren. Er hatte sie nach seiner Rückkehr Tod aufgefunden und erst seine Söhne konnten ihn dazu bringen, ihre Leiche loszulassen, damit sie begraben werden konnte. Das war zu viel für sein eigentlich friedfertiges Wesen. Er hatte alle Wölfe in der Gegend zusammen getrommelt und in den Krieg gegen Michail geführt.

Im Dorf um die Burg stieß er auf keinen Widerstand. Sie hatten ihm und seiner Armee sogar geholfen. Der Dorfvorsteher hatte ihm erzählt, dass Michail immer jüngere Mädchen auf die Burg verschleppen ließ und keine mehr zurückgekommen war. Erst viel später fand man ihre Leichen in einem nahe gelegenen Weiher. Vergewaltigt und verstümmelt. Zum Glück hatte er das Alexejs Tochter erspart. Es ging auch das Gerücht, dass er eine Hexe in der Burg beherbergte und einen schwarzen Geist, der ihm ewiges Leben schenkte. Das Letztere war natürlich Blödsinn. Michail war ein Wolf und daher unsterblich. Aber normale Menschen konnten das nicht wissen. Sie sahen nur, dass ihr Lehnsherr nicht alterte.

Alexej drehte er sich wieder zu dem kleinen Mädchen um und sah erst jetzt, dass sie am Fuß an das Bett gekettet war. Das arme Ding. Er würde es befreien und den Dorfbewohnern übergeben. Wer weiß, wessen Familie Michail beinahe zerstört hätte. Schon, wenn er daran dachte, dass sich dieser Perverse an dem kleinen Mädchen vergangen hatte, dann drehte es ihm regelrecht den Magen um. Wie alt sie wohl war? Fünf oder sechs? Er konnte sich noch genau daran erinnern, als Jekaterina so alt gewesen war. Sie war eine unterkühlte Schönheit, wie ihre Mutter und hätte diese in wenigen Jahren vielleicht sogar in den Schatten gestellt. Aber soweit war es nie gekommen.

Drei weitere Männer kamen in den Raum. Alle sahen Alexej ähnlich, wobei man ihre jugendliche Aura spüren konnte. Auch ihre Schritte waren kraftvoller und lebendiger.

»Vater? Wir haben das Rudel überwältigt. Sie nehmen dich als Rudelführer an.« Alexej sah seine Söhne stolz an.

»Gut gemacht.« Er löste die schwere Kette von dem Fuß des Mädchens und war ob ihrer Stille beunruhigt. Es hatte sich die ganze Zeit nicht ein Mal bewegt. Beide Unterarme waren bandagiert, wobei der dreckige Verband mit Blut durchtränkt war. Was hatte Michail mit diesem Kind gemacht? Die Aussage des Dorfältesten kam ihm wieder in den Sinn: »Vergewaltigt und verstümmelt.« Er kniete sich vor sie und strich ihr sanft die Haare aus dem Gesicht, um sie nicht zu erschrecken. Er erstarrte. Das konnte doch nicht wahr sein.

»Jekaterina!« Das Mädchen öffnete blinzelnd die Lider und sah ihn mit großen, schwarzen Augen an. Ihre Haut war blass und fast durchscheinend, ihr kleiner Körper viel zu dünn. Als er ihr die Haare aus dem Gesicht gestrichen hatte, war ihm ihre heiße Stirn aufgefallen. Sie fieberte. Einer von seinen Söhnen beugte sich über seine Schulter und sah das Mädchen an.

»Sie ist es nicht. Lass sie hier. Sie stirbt sowieso.« Doch Alexej schüttelte den Kopf. Er wusste, dass sie nicht seine Tochter war. Nein, er hatte Jekaterina selbst zu Grabe getragen. Außerdem war seine Tochter blond gewesen, genau wie er. Die Kleine vor ihm hatte pechschwarze Haare. Zusammen mit diesen Augen konnte er nur einen Schluss ziehen. Sie war ein Rabe. Und Michail hatte sie gequält.

Wenn er das Mädchen an die Dorfbewohner übergab, würden sie nur den schwarzen Geist oder eine Hexe in ihr sehen. Nein, das hatte sie nicht verdient. Bestimmt hatte sie schon mehr als genug Leid in ihrem kurzen Leben erfahren.

»Sie ist ein unschuldiges Kind, das beschützt werden muss.« Er hob sie in seine Arme und verließ mit ihr den Raum. Sie wehrte sich nicht, sondern schmiegte sich an ihn. Als ob sie auf ihn gewartet hätte. Und zu seiner großen Überraschung fühlte es sich gut an.

Er war wegen einer verlorenen Tochter in den Krieg gezogen und kam mit einer neuen zurück.

 


Woelfe der Macht
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