22
Ein Schuss im Dunkeln
Der Gedanke an Brutus’ Einschläferung ist nicht die einzige dunkle Wolke am stürmischen Himmel über Talyton St. George, doch ausnahmsweise bin ich dankbar für den Regen. Es ist Ende August, und dem Chronicle zufolge ist es der nasseste Sommer seit zwanzig Jahren. Ich habe den Eindruck, das schlechte Wetter schreckt einige unserer Kunden ab, was bedeutet, dass ich alles gerade so schaffe, wenn ich ein paar Überstunden für die Büroarbeit und die täglichen telefonischen Anfragen hintendranhänge.
Emma ist wieder da, aber es ist nicht mehr so wie früher. Und ich bezweifle, dass es jemals wieder so wird.
Ich übernehme ihre Termine, wenn es ihr schlecht geht, wenn sie spontan beschließt, dass sie der Arbeit doch nicht gewachsen ist, und sich freinimmt. Ich dachte immer, dass sie dann nach Hause geht, aber mindestens drei unserer Hundehalter haben sie beim Gassigehen unten am Fluss gesehen. Ich mache mir Sorgen um ihren Geisteszustand.
Und ich mache mir Sorgen um Alex. Wie lange wird er sich noch damit abfinden, dass ich erst spätabends nach Hause komme – und manchmal überhaupt nicht?
Und ich mache mir Sorgen um mich. Wie lange werde ich noch so weitermachen können?
Eines Abends bringt jemand ein junges Kaninchen vorbei, das plötzlich angefangen hat, im Kreis zu laufen. (Genauso fühle ich mich manchmal auch, ich laufe und laufe und komme doch nirgendwohin.) Nachdem ich dem armen Tier Antibiotika verabreicht, eine vorsichtige Prognose gewagt und mit seinem Besitzer einen Termin für den nächsten Tag vereinbart habe, stelle ich das Fertiggericht, das ich heute Nachmittag als Notration im Supermarkt gekauft habe, zum zweiten Mal in die Mikrowelle. Doch noch bevor es warm ist, stehen schon wieder zwei Männer vor der Tür. Sie tragen abgewetzte Regenhüte und gewachste Jacken und erinnern mich an zwei Wilddiebe, die nichts Gutes im Schilde führen.
Es sind Alex und sein Vater. Alex hat Hal, den großen schwarzen Labrador, auf dem Arm und hält einen Infusionsbeutel zwischen den Zähnen. Im Fell des Hundes funkeln Wassertropfen.
»Nimm mir den verdammten Beutel ab, Vater«, knurrt Alex mit zusammengebissenen Zähnen.
Der alte Fox-Gifford dreht sich steif um, nimmt den Beutel, hängt ihn über seinen Stock und hält ihn hoch.
»Du fragst dich bestimmt, warum wir hier sind, vor allem bei diesem fürchterlichen Wetter«, sagt Alex.
Ich streite nicht ab, dass ich mich ein wenig wundere, immerhin haben sie selbst eine voll ausgestattete Praxis zur Verfügung.
»Habt ihr einen Termin?«, erkundige ich mich betont fröhlich, um meine wahren Gefühle zu verbergen: dass ich nämlich ganz und gar nicht erfreut darüber bin, sie zu sehen. Nein, nicht einmal Alex.
»Ich glaube kaum, dass wir einen brauchen, wir gehören ja praktisch zur Familie«, entgegnet der alte Fox-Gifford, und ich will gerade anmerken, dass er das vor Kurzem noch ganz anders gesehen hat, als Hal vor Schmerz aufstöhnt.
»Was ist passiert?« Ich lasse sie herein und knipse auf dem Weg nach hinten die Lichter wieder an.
»Ich verstehe nicht, wieso ich ihn nicht tragen sollte«, schimpft der alte Fox-Gifford vor sich hin, »dazu bin ich durchaus noch in der Lage.«
»Würdest du jetzt bitte endlich den Mund halten«, erwidert Alex. »Schließlich ist es deine Schuld, dass wir hier sind.«
»Der alte Knabe war einfach zur falschen Zeit am falschen Ort«, entgegnet der alte Fox-Gifford unterwürfig, und mir fällt auf, dass die Rollen von Vater und Sohn vertauscht sind, seit Alex gedroht hat, anderswo eine eigene Praxis zu eröffnen. Nun hat er die Kontrolle übernommen.
Ich bringe sie nach hinten. Alex legt Hal seitlich auf eine Unterlage auf dem Behandlungstisch, das verletzte Vorderbein nach oben. Keuchend blickt Hal ins Leere, seine Augen sind glasig vor Schmerz. Sein Bein ist mit einem dicken Verband umwickelt, die Binden sind schmutzig und von frischem Blut durchtränkt. Er riecht nach Feuchtigkeit, vermischt mit dem typischen Mundgeruch alter Hunde, und es ist schwer zu glauben, dass dieser Rüde Sabas Welpen gezeugt haben soll.
Alex berührt meine Hand.
»Ich weiß, wie viel du zu tun hast, Maz, und wie erschöpft du sein musst, und ich weiß auch, dass ich dir ständig sage, du sollst dir nicht so viel zumuten, und unter normalen Umständen würde ich dich auch nicht darum bitten, aber ich weiß mir einfach keinen anderen Rat«, sprudelt es aus ihm heraus.
»Schon gut, Alex«, antworte ich lächelnd, »es macht mir nichts aus. Ehrlich.«
»Machen Sie ihn wieder gesund.« Der Stock des alten Fox-Gifford knallt gegen den Behandlungstisch. »Ich will ihn so gut wie neu zurückbekommen.«
»Das wird wohl kaum möglich sein«, wende ich ein und wäge hastig Hals Chancen ab. Ich kann keine Wunder wirken.
»Ich habe dir ja gesagt, dass es zwecklos ist.« Eine schmutzige Mischung aus Dung, Schlamm und Blut tropft von seiner Jacke. »Ich habe dir gesagt, die tut nur so, als wäre sie Tierärztin. Was versteht die denn schon von Hunden?«
»Eine Menge, glauben Sie mir«, unterbreche ich ihn, fest entschlossen, mich diesmal nicht von ihm unterbuttern zu lassen. »Erinnern Sie sich noch an Hals romantisches Tête-à-Tête auf der Gemeindewiese? Ich wette, Sie haben keine Ahnung, was ein Labradoodle-Welpe wert ist.«
»Aurora, dieses verfluchte Weibsstück. Sie hat mir eine Rechnung für zusätzliches Futter, Körbchen und Käfige geschickt – nicht, dass ich vorhätte, jemals zu bezahlen.«
»Alles in allem hat sie trotzdem einen ziemlich guten Schnitt gemacht«, kontere ich und kann meine Freude darüber, ihm endlich auch einmal eins reinzuwürgen, nicht verbergen. »Sie hat zwölf Welpen verkauft, und zwar zu jeweils tausend Pfund. Sie können ja selbst ausrechnen, wie viel ihr das eingebracht hat.«
»Ein Tausender pro Stück?« Der alte Fox-Gifford wird blau um den Mund, torkelt ein paar Schritte und wankt.
»Halt dich fest, Vater«, sagt Alex und greift nach seinem Arm.
»Das ist ungeheuerlich. Die Hälfte von diesem Geld gehört mir.«
»Ruhig, ganz ruhig«, meint Alex leise, als redete er mit seinem Pferd, während der alte Fox-Gifford einen silbernen Flachmann aus der Tasche zieht, den Deckel abschraubt und ihn an die Lippen hält.
»Und das würde wahrscheinlich gerade so für Hals Operation reichen, was? Ich wette, das wird mich meine komplette Hälfte kosten. Ich wusste, wir hätten nicht herkommen sollen, Sohn.«
»Bist du wohl endlich still«, donnert Alex. Offen gestanden klingt er jetzt genau wie sein Vater. »Es wird Zeit, dass du lernst, deine Meinung für dich zu behalten.«
»Ich habe gehört, es kostet schon hundert Pfund, wenn man nur durch diese verdammte Tür kommt«, schimpft der alte Fox-Gifford weiter, ohne ihn zu beachten. »Wucherer sind das.«
»Das reicht, ich habe genug von dir«, erklärt Alex eisig. Er zieht einen Schlüsselbund aus der Tasche und wirft ihn seinem Vater zu. »Geh raus und warte im Wagen auf mich. Los, geh schon! Dieser alte Mistkerl«, schnaubt er, nachdem sein Vater hinausgehinkt ist. »Tut mir leid, Maz. Es ist ihm peinlich.«
»Klar, merkt man«, entgegne ich sarkastisch.
»Doch. Er würde es zwar niemals zugeben, aber er liebt diesen Hund.« Alex streichelt Hals Kopf. »Es war ein Unfall. Dieser dumme alte Narr hat im Haus seine Waffe gereinigt, und sie ist losgegangen.« Er erschauert. »Es hätte jeden von uns treffen können – Lucie, Seb, das Baby … Wie auch immer, ich kann das Bein nicht retten, ich habe weder die nötige Ausrüstung dafür noch die Erfahrung.«
»Es sieht dir gar nicht ähnlich, dich geschlagen zu geben.«
»Ich kenne meine Grenzen.«
Ich weiß nicht, wie es um meine Grenzen bestellt ist, allerdings hätte ich gedacht, sie seien erreicht, sobald es um den alten Fox-Gifford geht. Mir fällt kein einziger Grund ein, warum ich ihm einen Gefallen tun sollte. Aber Hals heißer Atem auf meiner Haut erinnert mich daran, dass ich, sollte ich einwilligen, ihn zu operieren, es für den Hund tue und nicht für seinen Besitzer.
»Wer hat den denn angelegt?«, frage ich, während ich die verschiedenen Lagen des Verbands abwickele.
»Ich«, antwortet Alex.
»Dafür bekommst du von mir drei Punkte von möglichen zehn. Das kriegt ja sogar Shannon besser hin.«
»Vater will nicht, dass er eingeschläfert wird. Welchen Eindruck er auch immer vorhin auf dich gemacht hat, es war reine Fassade.« Ich fühle, wie Hals zerschmetterte Knochen unter meinen Fingern knirschen, als Alex fortfährt: »Wenn es hart auf hart kommt, bringt er es nicht über sich.«
Ich untersuche Hal kurz, dann trete ich, das Stethoskop noch immer in den Ohren, einen Schritt zurück und denke nach. Ich schaue ihm in die Augen. Er schaut zurück. Er leidet am grauen Star, deswegen bin ich mir nicht sicher, ob er mich deutlich sehen kann. Die Wunde gleicht einem Schlachtfeld. Die Knochen sind zertrümmert. Wäre es fair, überhaupt noch etwas zu versuchen?
Als ich mein Stethoskop ablege, bemerke ich, dass Alex redet.
»Er ist etwas Besonderes. Bitte gib ihm eine Chance.«
Mir wird klar, dass Hal eine größere Chance hätte, wenn ich ihn an einen Spezialisten für Orthopädie überweise. Ich schlage Alex diese Möglichkeit vor, aber er schüttelt den Kopf.
»Das Wetter ist grauenvoll. Die Autobahn nach Norden wurde aufgrund einer Massenkarambolage gesperrt, und die Alte Brücke ist wegen des Hochwassers unpassierbar. Ich glaube kaum, dass er bis morgen warten kann.« Alex berührt meinen Arm. »Bitte, Maz.«
Das hat mir gerade noch gefehlt. Eine komplizierte Operation an einem alten Hund, der schon vor dem Unfall nicht mehr in allerbester gesundheitlicher Verfassung war. Auf den zusätzlichen Stress kann ich gerne verzichten, außerdem würde ich mir die ganze Zeit über Sorgen machen, dass der alte Fox-Gifford mich verklagt und mich in der ganzen Stadt schlechtmacht, wenn der Eingriff misslingt.
Ich berühre Hals weiches, mit dichtem, kurzem Fell bedecktes Ohr. Es fühlt sich an wie Maulwurfsfell. Hal schlägt zweimal mit dem Schwanz auf den Behandlungstisch. Ein bisschen Kampfgeist hat er noch in sich. Er will nicht sterben.
»Na gut«, beschließe ich, »allerdings nur unter der Bedingung, dass er mich nicht verklagt, wenn es schiefgeht.«
»Hal bestimmt nicht.« Alex grinst. »Aber für meinen Vater kann ich nicht die Hand ins Feuer legen. Glaubst du, du schaffst das?«
»Ich weiß nicht, ob ich das Bein retten kann, doch ich werde es auf jeden Fall versuchen.«
Wir machen ein paar Röntgenbilder und begutachten die Aufnahmen am Negatoskop.
»Mit deinem Metallbaukasten muss da doch was zu machen sein«, sagt Alex.
»Ich werde in beide Enden des Knochens einen Stift einsetzen und diese dann mit einem weiteren Stift außerhalb der Haut verbinden, damit die Fragmente wieder zusammenwachsen können. Dann werde ich einen Verband anlegen, ihm Schmerzmittel und Antibiotika geben, ihn in einen Zwinger legen und das Beste hoffen. Aber es wird eine Weile dauern, ehe er wieder hübschen Hündinnen nachjagen kann.«
»Soll ich dir assistieren?«
»Ja, bitte. Ich möchte Shannon lieber nicht anrufen. Sie arbeitet schon so viel, seit Izzy weg ist. Sie ist müde.«
»Du siehst auch fix und fertig aus, Maz. Ich hätte ihn nicht herbringen sollen.« Alex schüttelt den Kopf. »Ich hätte es einfach selbst versuchen sollen. Du gehörst ins Bett.«
»Mir geht’s gut.« Die Vorbereitungen für Hals Operation jagen einen Adrenalinschub durch meinen Körper. Ich bin angespannt und frage mich, ob es mir wirklich gelingen wird, Hals Bein zu retten. Unter keinen Umständen könnte ich jetzt schlafen.
Ich hole die Medikamente, die ich brauche, aus dem Schrank und mache mich daran, das zerschmetterte Bein wieder zusammenzufügen. Sofort geht es mir wieder besser. Ich arbeite gerne mit Alex zusammen. Ich mag das beruhigende, gleichmäßig seufzende Geräusch von Hals Atem. Was ich nicht mag, ist, wie mein Bauch beim Operieren gegen die Tischkante drückt, oder das Geräusch des Regens und die ständigen Warnungen auf Megadrive Radio, dass uns noch schlechteres Wetter bevorstehe. Aber bald bin ich so auf meine Arbeit konzentriert, dass ich nicht einmal bemerke, wie mir warmes Blut aus einer kleinen Arterie ins Gesicht spritzt, bevor Alex es mit einem feuchten Tupfer wegwischt.
»Du warst bestimmt wieder den ganzen Tag auf den Beinen, was?«, fragt er sanft.
Er hat recht. Das war ich, und wenn ich nicht noch meine OP-Kleidung und die blutigen Handschuhe trüge und auf der anderen Seite des Tisches stünde, würde ich in seinen Armen zusammenbrechen und einschlafen. Jawohl, einschlafen. Was ist bloß aus den leidenschaftlichen Nächten voll ungezügelter Lust geworden?
»Versprich mir, dass du dich nicht überanstrengst – sowohl deinetwegen als auch wegen des Babys.«
Ich antworte nicht. Wie soll ich ihm das Unmögliche versprechen?
»Plant Emma einen weiteren Versuch zur künstlichen Befruchtung?«, erkundigt sich Alex.
»Sie hat nichts davon gesagt.« Wie kann ich ihm erklären, dass ich sie nicht gefragt habe, weil Emma im Moment alles, was ich sage, in den falschen Hals kriegt. »Heute hat sie mir vorgeworfen, ihre Gefühle nicht ernst zu nehmen. Sie ist extrem reizbar. Ich mache mir Sorgen um sie. Sie hat sich in diese künstliche Befruchtung gestürzt, ohne sich die Zeit zu nehmen, um ihr Baby zu trauern …« Beim Gedanken an Emmas totes Kind steigt ein unerwartetes Schluchzen in meiner Kehle auf, aber ich dränge es zurück.
»Nimm es dir nicht so zu Herzen, Maz«, sagt Alex.
»Ich kann nicht anders. Ich dachte eigentlich, ich hätte es verarbeitet …«
»Emma muss furchtbar deprimiert sein«, entgegnet Alex.
»Das ist sie ganz sicher.« Shannon und Emma schleichen beide durch die Praxis, als seien sie kurz davor, sich die Pulsadern aufzuschneiden, und die Selbstmordrate bei Tierärzten gehört zu den höchsten unter Akademikern überhaupt. Liegt es an der Arbeit, die sie verrichten, an der engagierten, mitfühlenden Persönlichkeit, die man für diesen Beruf braucht, oder daran, dass die Mittel zum Suizid jederzeit greifbar sind?
»War sie schon bei einem Arzt? Ich meine, einem anderen als Ben?«
»Ich glaube nicht, und wenn er ihr etwas verschreiben würde, würde sie es nicht nehmen, aus Angst, es könnte ihrer Fruchtbarkeit schaden. Ich weiß, dass es irrational ist. Sie ist vollkommen verrückt geworden.« Ich beiße mir hinter der Maske auf die Lippen. Ich schmecke Blut, aber ich habe keine Ahnung, ob es meines ist oder das des Hundes. »Ich weiß nicht, wie lange ich noch mit ihr zusammenarbeiten kann, bis ich selbst verrückt werde.« Ständig muss ich darauf achten, dass sie keine Fehler macht, alberne Versehen wie etwa, eine Wurmkur für einen Labrador abzufüllen, deren Menge gerade einmal für einen Chihuahua ausgereicht hätte. Es hätte dem Hund nicht geschadet, aber geholfen hätte es auch nicht. Trotzdem muss ich immer daran denken, was im umgekehrten Fall passiert wäre.
»Ich weiß nicht, was ich tun soll, Alex.« Ich schaue zu ihm auf. Er runzelt die Stirn.
»Du kannst nicht mehr tun, als sie weiterhin zu unterstützen. Jede Beziehung hat ihre Höhen und Tiefen. Ich wette, irgendwann werdet ihr beide auf diese Phase zurückblicken und darüber lächeln.«
»Manchmal klingst du wirklich wie ein alter Mann«, ziehe ich ihn auf. Ich genieße seine beruhigenden Worte, auch wenn ich sie nicht ganz glauben kann. »Böhnchen wird dich für seinen Opa halten.«
»Seinen? Du hast gerade ›seinen‹ gesagt. Wieso glaubst du, Böhnchen sei ein Junge?«
»Das glaube ich doch gar nicht – es kam einfach so raus. Eigentlich ist es Frances’ Schuld. Sie behauptet die ganze Zeit, es würde ein Junge. Es hat wohl irgendwas damit zu tun, wie das Baby liegt.«
»Noch so ein Ammenmärchen.« Alex lächelt. »Hat sie es schon mit einem Faden probiert?«
»Was ist das denn schon wieder?«
»Ich zeige es dir, wenn wir hier fertig sind – wir können ein Stück Nähseide dazu nehmen.«
»Die müsste in der Schublade beim restlichen Nahtmaterial sein.«
»Ich weiß aber nicht, ob ich noch genau zusammenkriege, wie es funktioniert. Man hält den Faden über den Bauch und beobachtet, wie er sich dreht … Hast du eigentlich noch mal über das Babybett nachgedacht? Mutter hat danach gefragt …«
»Wann soll ich denn noch Zeit gehabt haben, mir Gedanken über Babybetten zu machen?«
»Im Grunde gibt es da ja auch nicht viel nachzudenken. Mutter sagt, wir können das alte aus dem Herrenhaus haben. Es war mein Bett, und später haben Lucie und Seb darin geschlafen. Es ist sehr praktisch.« Alex hält kurz inne. »Es sei denn, du willst ein neues.«
Ich drücke einen Tupfer auf das Blut, das neben einem der Stifte in den Fragmenten von Hals Oberschenkelknochen heraussickert. Sollte mir das tatsächlich wichtig sein? Alex’ Schweigen fühlt sich an wie Kritik. Ich genüge seinen Erwartungen nicht.
»Aber wir sollten vielleicht eine neue Matratze kaufen«, sagt er schließlich. »Ich nehme an, du willst das Bettzeug aussuchen. Vermutlich hast du klare Vorstellungen von den Farben und davon, ob du lieber Entchen oder Teddys als Dekoration möchtest.«
Er verstärkt den Druck.
»Die meisten Frauen …«, setzt er an, doch ich falle ihm ins Wort.
»Ich bin aber nicht die meisten Frauen. Wie kannst du es wagen, mich mit diesen hohlköpfigen Weibern zu vergleichen, bei denen die Wickeltasche zum Buggy, zum Hochstühlchen und zum ganzen Rest passen muss.« Mein Ton ist schroffer als beabsichtigt, und ich bin mir plötzlich deutlich des ziehenden Schmerzes in meinem Becken bewusst. Aber ich kann mich einfach nicht für Babybetten und den ganzen anderen Krimskrams begeistern, den ein Neugeborenes zu brauchen scheint. Ich will dieses Baby nicht. Ich will nicht, dass ihm etwas zustößt – ich will es nur einfach nicht haben. Ich weiß genau, dass ich ihm gegenüber keinerlei mütterliche Gefühle entwickeln werde. Ich werde es ansehen und denken: Da geht mein Leben dahin …
Alex seufzt. »Schon gut, tut mir leid, Maz. Ich besorge eine neue Matratze für das Bett.«
Ich mache mich an die letzte Phase der Operation. Die Fraktur sieht ganz ordentlich aus, allerdings ist Hal noch lange nicht über den Berg. Es besteht ein hohes Infektionsrisiko: Die Stahlkugel hat Fell- und Hautfetzen ins Fleisch gepresst, und obwohl ich so viele wie möglich davon entfernt habe, sind sicher mikroskopisch kleine Fragmente zurückgeblieben. Ich komme zu dem Schluss, dass ich jetzt nichts weiter für Hal tun kann, außer ihn mit einer beheizbaren Unterlage, Rettungsdecke und Tropf in einen Zwinger zu legen und das Beste zu hoffen.
»Was soll ich meinem Vater sagen?«, fragt Alex.
»Meiner Meinung nach gar nichts.« Es ist lange nach Mitternacht, und ich knie vor der Zwingertür. »Er hat es verdient, noch ein bisschen im Ungewissen zu bleiben.«
Grinsend streckt Alex eine Hand aus und hilft mir hoch, aber ich keuche, als der Schmerz erneut meinen Bauch erfasst wie eine Boa constrictor, die ihre Beute umschlingt. Ich bin so erledigt, als hätte ich nicht einen Hund operiert, sondern drei.
»Alles okay, Maz?«
»Hör schon auf, mich zu bemuttern, Alex. Mir geht’s gut.« Ich ringe mir ein Lächeln ab. »Das sind nur Braxton-Hicks-Kontraktionen, nicht der Ernstfall.«
»Bist du sicher?«
Ich nicke.
»Das zeigt doch nur, dass du zu viel arbeitest«, sagt Alex streng. »Ich meine das ernst, Maz. Du kannst nicht bis zum bitteren Ende durcharbeiten. Wenn du nicht aufpasst, kommt das Baby noch zu früh.«
»Meine Ärztin sagt, ich könne so lange arbeiten, wie ich mich wohlfühle.«
»Du siehst aber nicht aus, als würdest du dich wohlfühlen.«
»Mein Bauch ist nur etwas aufgebläht – ich habe zu viele Zwiebeln gegessen.«
Ich verstumme und versuche, in seinem Gesicht zu lesen. Vielleicht übertreibe ich es gerade mit meinen Beschwichtigungen.
»Setz dich hin und leg die Füße hoch. Ich kann dich massieren, wenn du willst.«
»Ich gehe hier nicht weg«, protestiere ich. »Ich lasse Hal nicht allein, jedenfalls noch nicht.«
Alex bleibt noch eine Stunde, dann fährt er nach Hause, woraufhin Hal beschließt, dass es für ihn nun auch Zeit wird, nach Hause zu gehen. Er schnüffelt herum, seufzt ausdauernd, und nach kurzer Zeit beginnt er zu bellen. Als der Morgen dämmert, bellt er noch immer, und ich habe die ganze Nacht kein Auge zugetan. Ich bin nicht glücklich.
»Würdest du bitte endlich die Klappe halten«, flehe ich ihn an, aber er hört mich nicht. Sabas Welpen zu zeugen muss Hals letztes Aufbäumen gewesen sein. Er ist stocktaub, senil und inkontinent, und ich beginne mich zu fragen, ob es die richtige Entscheidung war, sein Bein wieder zusammenzuflicken und ihm das Leben zu retten. Ich tröste mich mit dem Gedanken, dass man seine Großtanten und Omas wegen solcher Gebrechen ja auch nicht gleich einschläfert.
Ich bemerke, dass Hals Zwinger mit Urin überflutet ist, also wische ich hinter ihm her und wechsle seine Unterlage. Außerdem gebe ich ihm eine kleine Schüssel Futter, das er so gierig verschlingt, als hätte er nie zuvor etwas zu fressen bekommen. Dann setze ich mich wieder hin und warte mit angehaltenem Atem. Eine Minute. Zwei Minuten. Das Bellen beginnt von Neuem. Als ich es nicht mehr länger aushalte, ergreife ich die Flucht und mache mir im Personalraum ein frühes Frühstück – Frances hat die Cornflakes- und Toastbrotvorräte aufgefüllt, nachdem ihr aufgefallen ist, dass ich gelegentlich über Nacht bleibe.
Während ich Orangensaft auf meine Cornflakes und Milch in ein Glas schütte, überschlage ich grob, wie lange Hal noch hierbleiben kann, bis er uns und unsere Nachbarn in den Wahnsinn getrieben hat.
»Er vermisst sein Rudel«, erkläre ich Shannon, als Hal ununterbrochen weiterbellt, sogar als sie hinten bei ihm im Käfigbereich ist und alles für die anstehenden Operationen vorbereitet.
»Vielleicht sollten Sie die anderen auch herholen, dann können sie ihm Gesellschaft leisten«, schlägt sie vor, was im Grunde gar keine so schlechte Idee wäre. Doch wie ich die Hunde des alten Fox-Gifford kenne, würden sie einfach mitbellen.
»Ich sollte den alten Kotzbrocken langsam mal anrufen und ihm verraten, dass sein Hund noch lebt«, sage ich mit einem strengen Blick auf Hal, der meine missbilligende Miene ignoriert und unbeirrt weiterbellt. »Das hast du jetzt nicht gehört, verstanden, Shannon.« Aber so, wie Alex’ Vater mich behandelt hat, fällt es mir schwer, respektvoll über ihn zu reden.
»Er war schon da«, entgegnet Shannon.
Ich sehe mein verzerrtes, stirnrunzelndes Spiegelbild auf dem rostfreien Stahl einer Käfigrückwand.
»Der alte Fox-Gifford war hier, um Hal zu besuchen«, erklärt sie. »Er hat ihm Kekse gegeben.«
»Wer hat ihn reingelassen? Du kennst doch die Regeln, Shannon. Kein Unbefugter hat hier hinten Zutritt, es sei denn, Emma oder ich erlauben es.«
»Er ist ja nicht direkt unbefugt«, gibt Shannon zu bedenken. »Schließlich ist er auch Tierarzt. Außerdem war ich das nicht – Frances hat ihn reingelassen.«
»Das hätte sie niemals …« Doch je länger ich darüber nachdenke, desto plausibler erscheint es mir. Frances hat früher in der Praxis im Talyton Manor gearbeitet, und offensichtlich ist sie ihrem alten Chef gegenüber noch immer loyal.
»Ach, und er hat mich gebeten, Ihnen auszurichten, Sie sollen ihn anrufen. Er will mit Ihnen reden.«
Ich seufze innerlich. Ich habe keine große Lust, mit ihm zu reden. Ihm fällt nur wieder etwas Neues ein, was er kritisieren oder worüber er sich beschweren könnte. Trotzdem rufe ich ihn in seiner Praxis an.
»Guten Morgen, Maz«, begrüßt er mich, und seine Stimme klingt erstaunlich herzlich. »Schade, dass ich Sie verpasst habe, als ich bei Ihnen war, um den alten Knaben zu besuchen. Ihre junge Assistentin sagte, er hat das ganze Haus zusammengebellt.«
»Er war vielleicht ein bisschen kommunikativ«, erwidere ich ausweichend, denn ich will auf keinen Fall, dass Hal jetzt schon nach Hause geht.
»Er ist ein braver, treuer Kerl. Der beste Hund, den ich je hatte«, fährt der alte Fox-Gifford fort. »Und ich wollte Ihnen sagen, wie … hm … dankbar ich Ihnen für Ihre fachkundige Behandlung bin. Ich hatte schon befürchtet, Sie müssten sein Bein abschneiden.«
»Diese Gefahr besteht noch immer«, antworte ich. »Das Infektionsrisiko ist ziemlich hoch, vor allem rings um die Implantate.«
»O ja. Natürlich. Damit muss man rechnen«, murmelt er.
In seiner Stimme ist keine Spur des üblichen herrischen Tons zu hören, und ich verspüre einen winzigen Anflug von Mitleid. In diesem Moment klingt er nicht wie ein miesepetriger alter Tierarzt. Er hört sich an wie ein ganz gewöhnlicher Kunde, der sich schreckliche Sorgen um sein Haustier macht.
»Kann ich bei Gelegenheit noch mal vorbeischauen?«, will er wissen.
»Ja, aber nur unter der Bedingung, dass Sie vorher anrufen und fragen, ob es gerade passt«, entgegne ich, um es ihm nicht zu leicht zu machen. »Ich rufe Sie nach der Abendsprechstunde noch einmal an und sage Ihnen, wie es ihm geht.« Dann verabschiede ich mich und lege auf. Ich kann es kaum glauben. Der alte Fox-Gifford hat sich allen Ernstes bei mir bedankt. Trotzdem bessert das meine Meinung über ihn nicht – das Baby hat er mit keinem Wort erwähnt.
»Der alte Mr Fox-Gifford wollte Hal doch so gerne sehen«, rechtfertigt sich Frances, als ich sie ein paar Minuten später zur Rede stelle, weil sie ihn zu seinem Hund gelassen hat. »Er liebt ihn über alles.«
»Letzte Nacht hätte er ihn fast erschossen«, erwidere ich, »aber Sie haben recht, er scheint wirklich sehr an ihm zu hängen. Ich habe ihm gesagt, dass er ihn wieder besuchen darf, wenn er vorher hier anruft.«
»Sie glauben doch nicht, dass er Sie ausspionieren will?« Frances’ Augenbrauen erinnern an eine EKG-Kurve: Ihr muss heute Morgen der Stift ausgerutscht sein.
»Wer weiß schon, was im Kopf dieses Mannes vorgeht.«
»Maz, Sie sprechen von Ihrem zukünftigen Schwiegervater.«
»O nein, das tue ich nicht. Alex und ich haben nicht vor zu heiraten.«
»Es ist nicht gut für ein Kind, wenn seine Eltern in Sünde leben.«
»Frances! Wenigstens hat unser Kind Eltern, die zusammenleben.«
»Aber das ist nicht recht«, beharrt sie.
»Das ist Ihre Meinung«, entgegne ich. Wir sind alle verschieden. Dennoch habe ich ein seltsam hohles Gefühl im Magen, wenn ich an Ehe und Bindung denke. Ich sehe wieder Izzys Hochzeit vor mir, und wie glücklich sie war. Hör auf, Maz, du drehst langsam durch. Geraten meine strikten Ansichten über die Ehe allmählich ins Wanken? Wird es mir irgendwann leidtun, dass ich mich deswegen vor Alex so aufgeführt habe? Hoffe ich irgendwo tief in mir drin, dass er sich einfach über meine Argumente hinwegsetzt und mir doch noch einen Antrag macht?