12
Hunde und Katzen
Mittlerweile esse ich Marmite direkt aus dem Glas, und die leeren Behälter stehen auf dem Küchenfensterbrett aufgereiht, damit ich sie zum Altglascontainer bringen kann. Heute ist mir schlechter denn je, aber das hat weniger mit Morgenübelkeit zu tun, sondern mit der Tatsache, dass Donnerstag ist, der Tag der Beerdigung.
»Bitten Sie doch Drew, den Hausbesuch zu übernehmen, Maz«, sagt Frances, als ich zu ihr an den Empfang komme und dabei mein mit Pfotenaufdruck verziertes Praxisoberteil zurechtziehe.
»Nein, das mache ich lieber selbst.« Bei Sally bin ich eigen. Sie ist meine Patientin. »Ich fahre nach der Beerdigung hin.«
»Nach der Beerdigung gehen Sie alle zu Emma und Doktor Mackie nach Hause.«
»Davon hat Ben nichts gesagt.«
»Es gibt immer einen Leichenschmaus«, entgegnet Frances. »Ohne ist es keine richtige Beerdigung.«
»Es wird nur eine sehr kleine, private Zeremonie.« Ich kann mir nicht vorstellen, dass Emma die Angelegenheit unnötig in die Länge ziehen möchte.
»Alexander wird Sie doch sicher begleiten?«
»Er hat zu tun.«
»Was ist das denn für eine Ausrede? Ihre beste Freundin hat ihr Baby verloren, und Sie sind …« Sie zögert. »Schon gut, ich weiß, dass Sie mir alter Schachtel nichts sagen werden, schließlich gibt es andere, die es vor mir erfahren sollten. Aber ich finde trotzdem, dass Sie jemanden bei sich haben sollten.«
»Keine Sorge, Frances, das schaffe ich schon«, sage ich, etwas genervt von ihrem fürsorglichen Getue. Es stört mich, dass sie ständig solche Andeutungen macht. Außerdem wünschte ich, sie würde mir nicht auch noch ein schlechtes Gewissen einreden, da ich Alex nämlich gar nicht gefragt habe, ob er mich begleiten möchte. Ich habe schon genug Schuldgefühle, weil ich schwanger bin und Emma nicht.
Um halb elf beende ich meine Sprechstunde und ziehe mich um. Ich kann die Nähte beinahe ächzen hören, als ich das seidene blasstürkisfarbene Corsagenkleid über meinen Bauch ziehe. Ich schlüpfe in meine High Heels, nehme den kleinen Blumenstrauß, den ich über Shannon im Blumenladen ihrer Mutter bestellt habe, und mache mich auf den Weg. Drew kümmert sich in der Zwischenzeit um die Praxis.
»Sie kommen zu spät, Maz«, sagt Frances missbilligend. Erst als sie hinzufügt: »Grüßen Sie Emma und den lieben Doktor Mackie von uns allen«, wird mir klar, was wirklich mit ihr los ist. Sie ist gekränkt, weil sie nicht eingeladen wurde. Nun, ich würde liebend gern mit ihr tauschen.
Bei der Kirche halte ich direkt hinter dem leeren Leichenwagen. Ich schalte den Motor nicht aus und schaue durch den Regen auf den von düsteren Eiben eingerahmten Friedhof mit seinen zahllosen Grabsteinen. Wasser tropft aus den Mäulern der Wasserspeier an der Seite der eindrucksvollen mittelalterlichen Kirche mit den beiden Türmen. Durch das eiserne Gitter sehe ich eine kleine Menschentraube unter farbenfrohen Schirmen am gegenüberliegenden Ende des Friedhofs.
Ich werfe einen Blick auf den kleinen Strauß auf dem Beifahrersitz und die Arzttasche im Fußraum.
Mein Herzschlag beschleunigt sich, mein Fuß berührt das Gaspedal, und ich tue eines der schlimmsten Dinge, die ich jemals getan habe.
Ich fahre weg.
Fünfzehn Minuten später erreiche ich die Old Forge in Talyford, wo ich Sally, der Golden-Retriever-Hündin mit besonderer Vorliebe für Truthahn, ihre jährliche Auffrischungsimpfung geben soll.
Ein junger Mann Mitte zwanzig in Jeans und Linkin-Park-T-Shirt öffnet mir die Tür. Sally steht neben ihm, sie winselt und wedelt mit dem Schwanz, als sie mich erkennt.
»Hallo«, sage ich. »Ist Penny zu Hause?«
»Ja, ist sie«, ruft Penny vom anderen Ende des Flurs aus. »Kommen Sie rein, Maz.«
Der Mann tritt zur Seite, um mich vorbeizulassen. Er ist groß – sehr groß, mit knochigen Schultern, schmalen Hüften und zerzaustem hellblondem Haar. Er erinnert mich an einen unterernährten Afghanen, und wenn er tatsächlich ein Hund wäre, würde ich ihm eine kalorienhaltige Diät verschreiben, damit er etwas Fleisch auf die Rippen bekäme.
»Könnten wir einen Tee kriegen, Declan?«, bittet Penny.
Ich glaube nicht, dass er bemerkt, wie sie mir zuzwinkert und mir damit zu sagen scheint: Ist er nicht niedlich?, als er den Kopf einzieht, um nicht an einen Balken zu stoßen, und in der Küche verschwindet.
»Sind Sie beide …?«
»Um Himmels willen, nein.« Penny schüttelt den Kopf, dass die Perlen in ihrem Haar klappern. »Er ist viel zu jung … Nein, er ist der liebenswerteste, netteste Mensch, dem ich je begegnet bin – abgesehen von Ihnen natürlich. Ich werde nie vergessen, was Sie für meine Sally getan haben.«
Ich untersuche Sally und gebe ihr die Spritze. Sie bemerkt den Stich kaum, denn ihre ganze Aufmerksamkeit ist auf den Cremekeks gerichtet, den Declan ihr vor die Schnauze hält, um sie abzulenken.
»So. Das war’s«, sage ich, woraufhin Sally Declan den Keks vorsichtig aus der Hand nimmt und ihn in einem Stück hinunterschlingt.
Ich trinke meinen Tee, und als ich meine Arzttasche schließe, bemerke ich, wie Declan Penny etwas zuflüstert.
»Bitte, Pen, nur damit ich beruhigt bin.«
»Ich weiß, das ist nicht Ihr Fachgebiet, Maz«, setzt Penny an, und ich frage mich, was sie wohl von mir will. »Sally sitzt in letzter Zeit häufig neben mir und drückt ihre Nase gegen mein Bein.« Sie zieht eines ihrer Hosenbeine hoch, und darunter kommen eine flauschige rosa Socke und ein leuchtend weißes Schienbein zum Vorschein. »Sehen Sie den Fleck da?«
Ich verkneife mir die Bemerkung, dass man ihn schwerlich übersehen kann, weil ich ihr keine Angst machen will. Auf ihrem Schienbein prangt ein Muttermal, eine wahre Vulkaninsel aus braunen Pigmenten, die auf ihrer Haut ausbricht. Ich beiße mir auf die Lippen und weiß nicht, wie ich ihr meine Meinung schonend beibringen soll, denn man braucht kein Experte zu sein, um zu erkennen, dass es sich wahrscheinlich um ein Melanom handelt, und ein bösartiges noch dazu. Sally hat es auch erkannt. Ich habe keine Ahnung, wie, aber das muss der Grund sein, warum sie so hartnäckig war.
»Ich sage ihr ständig, sie soll damit zu einem Arzt gehen«, erklärt Declan.
»Ach was, Ärzte«, unterbricht ihn Penny in scharfem Ton. »Wenn sie in der Nacht des Unfalls besser aufgepasst hätten, wären sie gleich darauf gekommen, was mit Mark los war, und hätten ihn früher operiert. Vielleicht wäre er dann nicht gestorben.«
Ich sehe, wie Declan eine Hand auf ihre Schulter legt.
»Das weißt du doch gar nicht«, erwidert er leise.
»Doch, das weiß ich.« Penny legt ihre Hand auf die von Declan.
»Ich kann nicht mit Gewissheit sagen, was das für ein Fleck ist, aber Declan hat recht. Sie müssen unbedingt zum Arzt, je schneller, desto besser.«
Sally hat Penny wahrscheinlich das Leben gerettet, auch wenn sie vielleicht nicht die beste Assistenzhündin der Welt ist.
»Danke, Maz«, sagt Declan, als ich mich verabschiede. »Ich sorge dafür, dass sie so schnell wie möglich zum Arzt geht. Ohne Penny hätte ich keinen Job mehr.« Seine Lippen verziehen sich zu einem schiefen Grinsen. »Entschuldigen Sie den schwarzen Humor – Berufskrankheit. Bei Tierärzten ist das wahrscheinlich nicht anders.«
Er hat recht. In diesem Beruf muss man manchmal einfach lachen, sonst würde man zusammenbrechen und weinen, heute ist mir allerdings beim besten Willen nicht nach Lachen zumute. Ich denke an Emma und Ben, die da draußen im Regen neben einem winzigen Grab stehen, und laufe zu meinem Auto. Ich fahre die Landstraße entlang, bis ich eine passende Wieseneinfahrt finde, halte an und beginne haltlos zu schluchzen. Ich weiß nicht, wie lange ich da sitze. Heiße, salzige Tränen laufen mir übers Gesicht, während ich blicklos in das Wasser hinausstarre, das in Strömen über die Windschutzscheibe rinnt, und es bricht mir das Herz.
Endlich reiße ich mich zusammen und fahre zurück zur Kirche, aber es ist zu spät. Sie sind weg. Nur ein rechteckiges Stück Erde ist noch zu sehen – in der Größe eines Kindes, was den Anblick noch schmerzlicher macht. Darauf liegen ein durchnässter brauner Teddybär mit einer gelben Schleife um den Hals und ein lila Erikazweig. Das Gras ringsum ist niedergetreten. Rechts neben dem Grab befindet sich eine graue Steinmauer, links davon die letzte Ruhestätte von Emmas Eltern, die lediglich durch einen schlichten Granitstein gekennzeichnet ist. Ich lege meine Blumen neben den Bären und weine allein inmitten der Toten, der Generationen von Familien, die in Talyton St. George gelebt haben.
Ich war so dumm … ich habe Emma im Stich gelassen. Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als die Uhr zurückdrehen zu können und in der Stunde für Emma da zu sein, in der sie mich am nötigsten brauchte.
»Wie war die Beerdigung?«, fragt Frances, als ich in die Praxis zurückkomme.
»Was glauben Sie denn?«, entgegne ich heiser.
»Bestimmt sehr traurig«, antwortet sie. Ich weiß, sie möchte mehr Einzelheiten hören, was Emma anhatte zum Beispiel oder welche tröstenden Worte der Pfarrer gesprochen hat, doch ich kann sie ihr nicht geben. »Ich werde ja sicher am Sonntag in der Kirche alles darüber erfahren«, fügt sie hinzu, und ich zucke innerlich zusammen bei dem Gedanken daran, was sie sagen wird, wenn sie herausfindet, dass ich gar nicht da war.
Im Personalraum setze ich mich mit Ginge aufs Sofa und prüfe meine Nachrichten. Alex hat mir eine SMS geschickt.
Hoffe, es war okay. Sehen uns später. Kuss, Alex
Ich schreibe zurück.
Fühle mich schrecklich – habe es verpasst. Kuss, Maz
Kurz darauf kommt Alex’ Antwort.
Bin sicher, du hattest einen guten Grund. Em wird es verstehen. Kuss, Alex
Ginge drückt durch das Kleid hindurch die Krallen in meine Beine, und ich setze ihn auf den Boden. Er meint es nicht böse – er schnurrt dabei zufrieden vor sich hin. Ich gehe nach oben, um mich umzuziehen, ehe ich mich wieder an die Arbeit mache, bis Alex um halb acht vorbeikommt.
»Ich habe dir Marmite-Nachschub besorgt«, sagt er lächelnd und küsst mich. »Mir sind neulich die Gläser auf dem Fensterbrett aufgefallen. Soll ich dir einen Toast machen, oder darf ich dich zum Essen einladen? Wir könnten den neuen Inder ausprobieren.«
»Den kurz vor Talysands?«
»Er soll sehr gut sein, habe ich gehört.«
»Ich weiß nicht«, antworte ich zögernd. »Ich bin ziemlich müde …«
»Wir könnten um zehn wieder zurück sein.« Alex legt die Hände auf meine Schultern. »Du siehst ja völlig erledigt aus. Lass dir ein Bad ein und entspann dich in der Wanne, und ich hole uns in der Zwischenzeit etwas vom Inder. Was hältst du davon?«
»Aus Talysands? Das ist doch kalt, bis du wieder hier bist.«
»Ich schiebe es kurz in den Ofen, wenn ich zurückkomme.«
»Danke, Schatz«, sage ich, strecke mich und küsse ihn zärtlich auf die Wange.
Ich bin ihm dankbar für das Angebot. Ich würde es nicht verkraften, heute noch einmal die Wohnung zu verlassen.
Ich liege immer noch in der Wanne, als Alex zurückkommt. Die Teelichter, die ich angezündet habe, sind ausgegangen, und der Schaum ist weg, aber ich komme erst aus dem Wasser, als Alex sich auf den Wannenrand setzt, lachend meinen Protest ignoriert und den Stöpsel herauszieht.
»Es ist eiskalt«, jammere ich, doch statt einer Antwort wirft er mir lediglich ein Handtuch zu.
»Also, wie war dein Tag?«, fragt er, als wir endlich auf dem Sofa sitzen und Korma und Reis direkt aus der Schale essen. »Warum konntest du nicht zur Beerdigung?«
Ich zucke mit den Schultern. »Ich weiß auch nicht, was über mich gekommen ist. Ich war schon vor der Kirche, aber ich konnte …« Ich stocke und schlucke. »Ich konnte es einfach nicht, Alex. Ich bin wieder weggefahren.« Ich stelle mein Essen auf die Armlehne des Sofas, ich bekomme keinen Bissen mehr herunter.
»Warum denn?« Alex runzelt die Stirn. »Was ist bloß in dich gefahren? Emma ist deine beste Freundin. Seit Jahren schon.«
»Ich weiß es nicht.« Ich spüre Alex’ Missbilligung, vergrabe mein Gesicht in den Händen und fange an zu weinen. »Ich habe es einfach nicht über mich gebracht.«
»Ich fasse es nicht, dass du so egoistisch bist. Dass dir deine eigenen Gefühle wichtiger sind als die von Emma.«
»Wie kannst du es wagen, mich egoistisch zu nennen?«, fahre ich ihn an, doch er beachtet mich gar nicht.
»Du hast mir selbst erzählt, dass Emma dich immer unterstützt hat, egal, was passiert ist. Manchmal verstehe ich dich einfach nicht, Maz.« Alex’ Tonfall wird ein bisschen sanfter. »Um ehrlich zu sein, ich verstehe dich ziemlich oft nicht …«
Ich spüre, wie ich zusammenschrumpfe, wie ich in seinem Ansehen weiter sinke. Ich habe immer geglaubt, auf einer Skala von eins bis zehn sei ich mindestens eine Neuneinhalb, aber mittlerweile bin ich allerhöchstens noch eine Zwei.
»Wahrscheinlich stehst du im Moment ziemlich unter Druck«, vermutet er.
»Nichts, womit ich nicht klarkäme«, erwidere ich hastig, denn schon die Andeutung, ich könnte überfordert sein, kränkt meinen Stolz.
»Du übernimmst dich – die Verantwortung für die Praxis, die Schwangerschaft. Das ist zu viel für dich.«
»Erzähl mir nicht, was zu viel für mich ist und was nicht, Alex.« Wütend stehe ich auf. Wie kommt er dazu anzunehmen, er wüsste, was ich denke und wie ich mich fühle. Ich starre ihn an, und er schaut zurück. Sein Blick ist voller Mitgefühl, was mich nur noch wütender macht.
»Du erkennst es vielleicht nicht, aber ich sehe es«, sagt er langsam. Er steht ebenfalls auf, kommt auf mich zu, nimmt mich zärtlich in die Arme und versucht, mich an sich zu ziehen. Doch ich halte ihn auf Abstand. Mein Körper ist starr vor Zorn und Schmerz. »Maz«, sagt er leise. »Bitte …«
Ich schaue zu ihm auf, und mein Widerstand schmilzt dahin. Ich lehne mich an ihn und lasse neue Tränen in sein weiches Baumwollhemd fließen, während er mit den Fingern durch mein Haar streicht und mir ins Ohr flüstert, dass alles wieder gut wird und er immer für mich da sein wird.
»Es tut mir so leid, Alex.«
Als er am nächsten Morgen zur Arbeit fährt, geht es mir wieder ein kleines bisschen besser, auch wenn mich noch immer schreckliche Schuldgefühle quälen. Ich sehe Alex vom Fenster aus nach und lege dabei eine Hand auf meinen Bauch. Ich kann unmöglich wiedergutmachen, was ich getan habe, aber ich kann alles in meiner Macht Stehende tun, um zu verhindern, dass meinem Baby das Gleiche zustößt wie Emmas Kind. Ich bin es meinem Baby und Alex schuldig, dafür zu sorgen, dass es gesund und wohlauf ist, und so tue ich, wozu mich Alex schon lange drängt, und vereinbare einen Termin bei einer von Bens Kolleginnen in der Gemeinschaftspraxis.
Am darauffolgenden Montag lasse ich die Praxis erneut in Drews Obhut – allmählich wird das zur Gewohnheit. Frances schaut mich an, als ich am Empfang vorbeigehe, und meine Haut wird kalt. Sie weiß, dass ich wegen der Beerdigung gelogen habe, da bin ich mir ganz sicher. Im Wartezimmer der Arztpraxis treffe ich zufällig auf Ben. Ich sehe ihm an, dass er sich fragt, warum ich da bin, doch ich kann es ihm nicht sagen, auch wenn mir klar ist, dass er es unweigerlich irgendwann erfahren wird. Ich halte die Handtasche vor meinen Bauch, um die verräterische Wölbung zu verstecken – noch ist kaum etwas zu erkennen, aber Ben ist Fachmann. Ihm entgeht selten etwas.
»Hallo«, sage ich und weiche seinem Blick aus.
»Du warst nicht bei der Beerdigung«, meint er. »Wir haben dich vermisst.«
»Es tut mir leid. Ich hatte einen Notfall. Einen Hausbesuch. In Talyford.« Ich zögere. »Wie war es?«
»Es war das Schwerste, was ich jemals tun musste …« Bens Stimme bricht. »Aber jetzt ist es vorbei.« Er reißt sich zusammen. »Du bist doch nicht schon wieder von einem durchgeknallten Collie angefallen worden, oder?«, fragt er scherzhaft, weil ich vor einiger Zeit wegen eines schlimmen Hundebisses zu ihm in die Sprechstunde kommen musste.
Ich schüttele den Kopf. »Es ist etwas Privates, Ben.«
Offensichtlich genügt ihm diese Antwort. Zumindest weiß er jetzt, dass ich nicht seine berufliche Kompetenz infrage stelle. Es gibt nun einmal Dinge, die ich dem Mann meiner besten Freundin nicht zeigen kann.
»Emma kommt nicht besonders gut damit klar«, sagt er.
»Das tut mir leid.«
»Und ich kann nichts tun«, fährt er fort. »Ich kann ihr nicht helfen.« Bens sonst so breite, starke Schultern sacken herunter. »Ich wünschte, sie würde verstehen … dass ich auch darunter leide.« Er ringt sich ein Lächeln ab. »Mir war nicht klar, wie sehr ich mir ein Kind wünschte, bis sich herausstellte, dass es derart schwierig sein würde, eins zu bekommen.«
Beim Gedanken daran, wie einfach es für Alex und mich war, ballen sich die Schuldgefühle in meinem Bauch zusammen.
»Und zu sehen, was einige meiner Patientinnen auf sich nehmen, um eine Familie zu gründen, macht es nur noch schlimmer.«
Wenigstens wisst ihr jetzt, dass Emma tatsächlich schwanger werden kann, liegt mir auf der Zunge. Aber er würde die Bemerkung missverstehen, und mir würde sie im Nachhinein leidtun, also verkneife ich sie mir.
»Vielleicht redet sie ja mit dir«, meint Ben.
»Vielleicht.« Aber ich bezweifle es. Am Wochenende hat sie mich zweimal abgewimmelt. Als ich angerufen habe, sagte sie, es komme gerade ungelegen, und als ich mit Miff vor ihrer Tür stand, weil ich dachte, es würde sie vielleicht trösten, den Hund wieder bei sich zu haben, hat sie sie in Empfang genommen, ohne mich hereinzubitten.
»Hat sie irgendetwas davon gesagt, wann sie wieder zur Arbeit kommen will?«, frage ich. Ben neigt den Kopf ein wenig zur Seite und sieht mich ungläubig an. »Es wäre ganz hilfreich, wenn wir wenigstens eine Ahnung hätten. Ich komme mit dem Papierkram nicht hinterher, die unbezahlten Rechnungen stapeln sich, und mehrere Kunden warten, weil sie ihre Tiere nur von ihr behandeln lassen wollen.«
»Das ist wieder mal typisch für dich«, erwidert Ben scharf. »Emma macht gerade die schlimmste Zeit ihres Lebens durch, und du hast nichts anderes im Kopf als die Arbeit und eure verdammte Praxis.«
»Ben!« Ich weiche einen Schritt zurück. »So war das doch gar nicht gemeint.«
»Schon gut.« Er hält die Hände hoch. »Das weiß ich ja. Ich habe überreagiert. Entgegen dem Rat meiner Kollegen hat Emma beschlossen, ab Montag wieder zur Arbeit zu kommen – aber ihr Tierärzte glaubt ja ohnehin immer, alles besser zu wissen als wir Humanmediziner. Bis später«, verabschiedet er sich und geht an mir vorbei aus der Praxis.
Ich brauche nicht lange zu warten, bis Dr. Clark mich in ihr Behandlungszimmer ruft. Ich kannte sie vorher nicht, doch sie wirkt sympathisch. Sie ist schätzungsweise zehn Jahre älter als ich, groß, hat dunkle Haare und trägt einen schicken Hosenanzug und eine Kette aus dicken Perlen.
»Hallo, ich bin Maz«, stelle ich mich vor, als ich mich hinsetze.
»Und ich bin Marietta«, antwortet sie, während sie die Informationen auf ihrem Computerbildschirm überfliegt. »Sie sind die Tierärztin, Emmas Partnerin im Otter House. Unser Au-pair-Mädchen hat neulich unser Kaninchen zu Ihnen gebracht – Sie haben ihn kastriert.«
Ich erinnere mich. Izzy hat das ziemlich eindrucksvolle Löwenkopfkaninchen als den »Rowdy-Rammler« bezeichnet.
»Er benimmt sich jetzt viel besser als vorher«, fährt Marietta fort. »Bringt uns nicht mehr so in Verlegenheit, wenn nachmittags andere Kinder zu Besuch kommen. Wir brauchen ihnen nun nicht mehr zu erklären, warum er ständig versucht, die Katze zu bespringen.« Sie lächelt. »Was kann ich für Sie tun?«
»Eigentlich geht es mir gut.« Dann korrigiere ich mich: »Nein, eigentlich nicht – ich bin schwanger.«
»Aha«, entgegnet sie unverbindlich. »Und freuen Sie sich darüber?«
»Ich weiß nicht so recht … Sagen wir, ich gewöhne mich langsam an den Gedanken.«
»Haben Sie einen Test gemacht?«
»Ja. Wahrscheinlich hätte ich auch früher zu Ihnen kommen sollen – ich bin schon in der elften Woche.«
»Sind Sie sicher, was den Zeitpunkt angeht?«
»Absolut«, bestätige ich.
»Dann untersuche ich Sie jetzt erst einmal und melde Sie dann gleich für Ihren ersten Ultraschall an, der ungefähr in der zwölften Woche durchgeführt wird.«
Nachdem ich überall gepikt und abgetastet und eingehend zu praktisch jedem Aspekt meines Lebens befragt worden bin, danke ich Marietta und verlasse die Praxis. Es fühlt sich merkwürdig an, zur Abwechslung mal Patient zu sein.
Ben sitzt noch immer draußen in seinem Auto. Ich winke ihm zu, aber er schaut nicht hoch.
Ich gehe zu Fuß zurück ins Otter House, denn die Arztpraxis liegt gleich um die Ecke. Anschließend rufe ich Alex an. Ich rechne damit, eine Nachricht auf seiner Mailbox hinterlassen zu müssen, doch er geht gleich ran.
»Hallo, Schatz«, begrüßt er mich, als hätte er auf meinen Anruf gewartet. »Ich denke schon den ganzen Morgen an dich. Wie ist es gelaufen?«
»Alles gut bis jetzt. Ich habe nächste Woche einen Ultraschalltermin. Dienstag um elf Uhr.«
»Dann komme ich mit«, erklärt er.
»Das brauchst du nicht«, antworte ich spontan.
»Ich will aber, Maz«, erwidert er. Seine Stimme klingt unbeschwert, allerdings höre ich einen warnenden Unterton heraus: keine Widerrede, Maz. Die Entscheidung steht fest. »Ich weiß, ich sollte eigentlich nicht fragen, aber oben im Herrenhaus ist bei den Bestellungen etwas durcheinandergeraten, und uns geht langsam der Hundeimpfstoff aus. Besteht eventuell die Möglichkeit …«
»Klar, kein Problem«, sage ich lächelnd. »Bei uns ist gerade eine Lieferung angekommen, wir haben genug vorrätig.«
»Dann komme ich nachher kurz vorbei«, sagt er. »Ich bin gerade auf dem Weg zu einem Pferd, dem ich die Drähte aus dem Kiefer entfernen muss, und später muss ich noch zu ein paar Kälbern mit Durchfall. Und es sieht nach Regen aus.«
»Na, dann viel Spaß. Das ist übrigens der Grund, warum ich mich auf Kleintiere spezialisiert habe – ich kann jetzt drinnen bleiben und in aller Ruhe arbeiten, ohne durch Regen und Schlamm zu waten. Also bis nachher. Mach’s gut.«
»Du auch. Und überanstreng dich nicht, versprochen?«
»Das brauchst du mir nicht jedes Mal zu sagen, Alex«, entgegne ich, erfreut darüber, dass er den Arzttermin nicht vergessen hat und mich zum Ultraschall begleiten will. »Außerdem ist Drew wirklich hilfreich. Ich habe ihm heute die ganzen Operationen überlassen.« Mit den alltäglichen Fällen kommt er bestens zurecht, solange Izzy ihn hin und wieder daran erinnert, wer welcher Patient ist, und dafür sorgt, dass er mit seinen Operationsnotizen auf dem neuesten Stand bleibt, denn manchmal ist er ein bisschen schludrig. »Hoffentlich ist es nichts Ernstes bei den Kälbern«, füge ich hinzu, doch die Verbindung ist abgebrochen. Als ich noch einmal seine Nummer wähle, geht die Mailbox ran.
Im Laufe dieser Woche melde ich mich noch ein paar Mal bei Emma – telefonisch oder per SMS. Keine von uns erwähnt die Beerdigung. Ich schlage einen gemeinsamen Mädelsabend vor – nicht im Talymill Inn, weil ich Clive lieber nicht begegnen möchte –, aber sie lehnt ab. Einerseits sagt sie, sie sei noch nicht bereit, wieder auszugehen und Spaß zu haben. Andererseits gibt sie mir jedoch zu verstehen, dass wir sie behandeln sollen, als sei nichts geschehen, wenn sie wieder zur Arbeit kommt, und genau das tun wir. An ihrem ersten Morgen setze ich Kaffee auf und hole Donuts.
»Schön, dass du wieder da bist.« Ich nehme sie in den Arm und drücke sie, als sie zur Tür hereinkommt, und mir fällt auf, dass sie abgenommen hat. Außerdem hat sie eine neue Frisur, einen kürzeren Bob mit asymmetrischem Pony.
»Das finde ich auch. Ich musste endlich wieder raus. Ben ist mir wirklich eine große Hilfe, aber manchmal wünschte ich, er würde mir ein bisschen Luft zum Atmen lassen.« Ich öffne den Mund, um etwas zu sagen, doch sie bringt mich mit einem Blick zum Schweigen. »Frag mich nicht, wie es mir geht. Ich habe die Nase voll von Leuten, die sich bei mir erkundigen, wie ich das alles verkrafte.«
»Ich wollte gerade sagen, dass mir deine neue Frisur gefällt«, schwindle ich. Sie steht ihr gut, Emma wirkt dadurch jünger und weniger – das Wort drängt sich ungefragt in meinen Kopf – muttihaft. »Was hältst du von einer kleinen Kaffeepause?« Das ist natürlich ein Witz.
»Wir haben doch noch gar nicht angefangen.« Emma lächelt, und ich denke: So ist es besser. Das passt eher zu der Emma, die ich kenne und liebe. Ich erzähle ihr nichts von dem Baby, weil ich die Stimmung nicht verderben will, und Frances ruft mich ohnehin nach vorn an den Empfang, ehe wir die Tür des Personalraums erreichen.
»Maz«, sagt sie, »haben Sie kurz Zeit?«
»Natürlich.« Ich berühre Emma kurz an der Schulter. »Das holen wir später nach.«
»Ich war mir nicht sicher, ob ich Sie ansprechen oder gleich zu Drew gehen sollte.« Frances reicht mir einen Behandlungsbogen. »Ich wollte gerade die Mikrochip-Daten fertigstellen, um sie wegzuschicken, als mir aufgefallen ist, dass er Eleanor Tarbarrels neugeborene Kätzchen gegen Staupe geimpft hat.«
»Gegen Staupe? Wie sollen wir ihr das denn erklären?«
»Wir?«, entgegnet Frances. »Ich finde, das sollten Sie übernehmen. Es ist besser, wenn einer der Partner mit Eleanor redet, und ich denke nicht, dass Emma das an ihrem ersten Tag in der Praxis tun sollte.«
»Danke, Frances. Ich kümmere mich darum.« Beim Klang eines Räusperns hinter mir drehe ich mich um. Es ist Emma.
»Worum kümmerst du dich?«, fragt sie.
»Ach, nichts«, antworte ich und trete einen Schritt zur Seite, damit sie mich nicht im Profil sieht.
»Ich hoffe, du lässt mich nicht absichtlich außen vor. Ich will wieder arbeiten – je mehr, desto besser.«
»Drew hat allen Ernstes Eleanor Tarbarrels Kätzchen eine Welpenimpfung gespritzt«, erkläre ich. »Manchmal ist er wirklich eine Katastrophe.«
»Sie hat aber noch nicht angerufen, um sich darüber zu beschweren, dass sie jetzt bellen, oder?« Ich hätte gedacht, dass Emma ausrastet, doch sie nimmt den Vorfall auf die leichte Schulter. Es scheint, als sei sie mit dem festen Vorsatz zurückgekommen, sich nicht die gute Laune verderben zu lassen. »Keine Sorge, Maz. Ich kenne Eleanor gut – sie war eine Freundin meiner Mutter.«
»Aber ich mache mir Sorgen, Em«, erwidere ich störrisch. »Manchmal ist Drew furchtbar unkonzentriert.«
»Ach, komm schon, Maz, er macht ab und zu einen Fehler. Wer tut das nicht? Es ist doch nichts passiert. Ich rufe Eleanor an und bitte sie, einen neuen Termin zu vereinbaren. Und zum Ausgleich für die Unannehmlichkeiten erlasse ich ihr das Honorar.«
Ich höre zu, während Emma mit Eleanor telefoniert. Es ärgert mich ein bisschen, dass sie mir einfach so das Heft aus der Hand nimmt, obwohl ich sehr gut zurechtgekommen bin, als sie nicht da war. Außerdem höre ich pikiert, dass Eleanor Tarbarrel bereitwillig einen weiteren Termin bei Drew ausmacht und sogar noch ein paar Tage länger wartet, bis er Zeit für sie hat. Offenbar sind die Frauen von Talyton bereit, Drew alles zu verzeihen.
Kichernd legt Emma das Telefon zurück.
»Eines der Kätzchen hält sich tatsächlich für einen Hund, aber es hat schon lange vor der Impfung angefangen, Tischtennisbälle zu apportieren, damit ist Drew aus dem Schneider.« Sie hält kurz inne. »Ich bin überhaupt nicht mehr auf dem Laufenden. Was steht denn für heute an?«
»Drew operiert. Und ich bin für die Sprechstunde eingeteilt.«
»Was hältst du davon, wenn ich heute Morgen den Papierkram erledige und am Nachmittag die Sprechstunde übernehme? Jetzt bist du mal an der Reihe, dich auszuruhen, Maz. Du siehst völlig erledigt aus. Du hast in letzter Zeit zu viel gearbeitet.«
»Ja, daran wird’s wohl liegen.« Ich weiß nicht, ob ich tatsächlich freinehmen will, abgesehen von den paar Stunden für meinen Ultraschall morgen. Genau wie Emma möchte ich lieber arbeiten, um nicht zu viel Zeit zum Nachdenken zu haben. Instinktiv lege ich eine Hand auf meinen Bauch. Hastig ziehe ich sie wieder weg und hoffe, dass sie nichts bemerkt hat. Trotzdem werde ich nicht darum herumkommen, ihr irgendwie von meinem Termin und dem Baby zu erzählen. Und zwar bald.
»Du hast noch was gut bei mir. Du hast dich so lieb um Miff gekümmert, und um alles andere.« Emma legt einen Arm um meine Schultern und drückt mich, und eine Woge von Schuldgefühlen schlägt über mir zusammen, weil ich ihr nicht die Wahrheit sage. »Sieht so aus, als wäre deine erste Patientin da«, fügt sie hinzu. »Hallo, Bev.«
Ich frage mich, woher Emma Mrs King kennt, die gerade mit einer Katzenbox in der Hand hereinkommt, doch dann fällt mir ein, dass sie den Geburtsvorbereitungskurs leitet.
»Hallo«, sage ich, nehme ihr die Transportbox ab und gehe damit voraus ins Behandlungszimmer, während Bev noch ein wenig mit Emma plaudert. Ich höre ihren entsetzten Ausruf und dann ein Flüstern, ehe laut und deutlich Emmas Stimme erklingt.
»Mir geht es gut, danke. Ja, es ist toll, wieder in der Praxis zu sein.«
»Beim nächsten Mal klappt’s bestimmt. Sie versuchen es doch weiter, oder?«
»Mal sehen.«
»Ich hatte drei Fehlgeburten, bevor Thea endlich zur Welt kam«, fährt Bev fort, und ich zucke zusammen. Glaubt sie wirklich, es würde Emma helfen zu hören, dass auch sie diese furchtbare Erfahrung gemacht hat? Ich beschließe, Bev gegenüber nicht zu erwähnen, dass ich möglicherweise ihren Geburtsvorbereitungskurs besuchen werde, schließlich hatte ich noch keine Gelegenheit, Emma von meinem Baby zu erzählen. Außerdem sehe ich nicht so recht, weshalb ein solcher Kurs notwendig wäre – unsere Hunde und Katzen schaffen es doch auch, ihre Jungen zur Welt zu bringen und sie großzuziehen, ohne das vorher zu üben.
Ich wende mich wieder Cleo zu – ein merkwürdiger Geruch steigt aus ihrer Box auf.
»Das ist Lavendelöl«, erklärt Bev, als sie zu mir ins Behandlungszimmer kommt. »Das empfehle ich auch immer meinen werdenden Müttern. Es soll beruhigend wirken«, fügt sie hinzu, während Cleo in ihrer Box faucht und spuckt. »Wir sind wegen ihrer Auffrischungsimpfung hier. Ach, und nennen Sie mich doch einfach Bev.«
»Ich hole Izzy, damit sie uns hilft«, beschließe ich, aber Izzy ist mit Brutus beschäftigt, den Mrs Dyer zu seinem regelmäßigen Wiegen vorbeigebracht hat.
»Mrs Dyer hätte gern ein Mittel gegen Flöhe«, sagt sie, und ich gebe ihr eine Schachtel mit einem speziellen Präparat für sehr große Hunde vom Regal über dem Bildschirm. »Sie behauptet, dass er diese Woche zugenommen hat, liege nur an den blinden Passagieren, die er mit sich herumschleppt«, fügt sie grinsend hinzu. Doch sobald sie die Tür zum Empfang öffnet, wird ihre Miene wieder ernst, und ich denke bei mir, dass Mrs Dyer sicher nicht so verständnisvoll reagiert hätte, wenn Drew Brutus einen Katzenimpfstoff gespritzt hätte.
»Izzy hat mich geschickt«, verkündet Emma, die in diesem Moment den Kopf durch die andere Tür steckt.
»Würdest du mir kurz assistieren?«
»Cleo ist gerade ein bisschen schwierig«, informiert mich Bev – und das ist die Untertreibung des Jahrhunderts, denn nur mit Hilfe von roher Gewalt, Lederhandschuhen und einem dicken Handtuch gelingt es uns, Cleo ihre Impfung zu verpassen, ehe sie fauchend zurück in ihre Box saust.
»Danke, Em.« Ich fange an, die Behandlungsnotizen in den Computer einzugeben, während Bev hinausgeht, um vorne am Empfang zu bezahlen.
»Gern geschehen.« Sie wendet sich zum Gehen.
Meine Terminliste erscheint auf dem Bildschirm. Ich habe gerade eine Lücke.
»Emma.« Ich muss es ihr sagen. Mein Herzschlag dröhnt in meinem Kopf, als ich den Mund öffne und die Worte einfach heraussprudeln. »Es geht um mich und Alex.«
Emma zögert. »Will er endlich eine ehrbare Frau aus dir machen?«
Kläglich schüttele ich den Kopf.
»Ihr habt euch getrennt.«
Mir gefällt die Art nicht, wie sie das sagt. Sie formuliert es nicht als Frage, sondern als Feststellung, als sei es das, was sie im Stillen die ganze Zeit gehofft hat, seit wir zusammengekommen sind. Es liegt sicher nicht daran, dass sie mich unglücklich sehen will, sondern eher, dass es ihr gefallen würde, wenn Alex leidet.
»Nein, eher das Gegenteil. Wir – ich bin schwanger.«
Es folgt ein unbehagliches Schweigen, und ich sehe, wie die Verständnislosigkeit in Emmas Miene nach und nach schmerzlicher Erkenntnis weicht.
»Ich dachte – ich wollte, dass du es weißt, bevor es sich überall herumspricht. Es tut mir leid.«
»Das muss es nicht, Maz.« Emma hebt beide Hände. »Das ist eine wunderbare Neuigkeit. Wirklich. Ich freue mich für dich. Es kommt nur so unerwartet, das ist alles. Du hast doch immer gesagt …« Ihre Stimme verklingt.
Es war ein Unfall, will ich ihr sagen, ein dummer Unfall.
»Ich hatte es fast geahnt. Frances hat so eine merkwürdige Bemerkung gemacht. Wie lange weißt du es schon?«
»Ich konnte es dir nicht früher sagen.« Ich sehe, wie eine Träne über Emmas Wange rollt, und ein Knoten bildet sich in meiner Kehle. »Ich hatte Angst, du könntest mich dafür hassen«, füge ich leise hinzu.
»Dich hassen? Das kann ich doch gar nicht.« Ihre Züge fallen in sich zusammen. »Oh, du dachtest …«
»Ich wusste, dass es dir wehtun würde …«
»Das tut es nicht.« Emmas Körper versteift sich. Sie steht unnatürlich gerade, den Rücken durchgedrückt, die Hände gefaltet. »Ich freue mich für dich. Wirklich.« Sie beißt sich auf die Lippen und ringt eine Weile um Fassung, bis vorne am Empfang Lärm losbricht. Kinderstimmen, Hundegekläff und schließlich das alles übertönende schrille Weinen eines Babys – das genügt, um Emmas Schultern heruntersacken zu lassen. Sie gibt einen erstickten Laut von sich, dreht sich um und rennt durch den Flur davon.
»Emma. Emma!« Ich folge ihr, aber sie läuft hinaus in den Garten und schlägt mir die Tür vor der Nase zu.
»Lassen Sie sie ein paar Minuten allein«, meint Frances hinter mir.
»Ich hätte es ihr nicht sagen sollen.«
»Doch, das mussten Sie«, antwortet sie sanft. »Sie musste es von Ihnen erfahren, von niemandem sonst.«
»Von Ihnen zum Beispiel.«
»Ich muss zugeben, es ist mir schwergefallen, nichts zu verraten.« Frances lächelt. »Dann hatte ich also recht? Ich wusste es schon die ganze Zeit.«
»Ich kann sie doch nicht da draußen lassen.« Ich schaue durch die Glasscheibe. Emma sitzt mit gesenktem Kopf auf der alten Schaukel hinten im Garten. Die ersten Regentropfen fallen aus den immer dunkler werdenden Wolken.
»Sehen Sie erst noch nach Raffles«, rät mir Frances. »Lynsey hat drei ihrer Jungs und das Baby dabei.«
Ich bin ihr dankbar für ihre Umsicht und ihr gutes Gedächtnis. Beim letzten Mal, als Lynsey Pitt mit ihren Jungs hier war, haben sie die halbe Praxis zerlegt, Diätfutterpackungen aufgerissen und mit einem Lippenstift, den sie aus Frances’ Handtasche hinter dem Tresen geklaut hatten, unanständige Wörter an die Wände geschmiert. Lynsey hat sie absolut nicht im Griff. Während sich Frances um das Baby kümmert, überrede ich die drei Jungen, mir bei der Untersuchung von Raffles zu assistieren, der eine Entzündung an der Pfote hat. Ich gebe jedem von ihnen etwas in die Hand: eine Pinzette, einen Kochsalztupfer und ein Leckerli. Es funktioniert perfekt – bis auf die Tatsache, dass das Leckerli auf wundersame Weise verschwindet, bevor ich fertig bin. Wer hat es gegessen? Ich weiß es nicht genau, und ich frage auch nicht nach. Ich gebe Raffles einfach ein anderes, falls er das erste nicht bekommen haben sollte.
Ich sehe Emma mittags im Personalraum wieder, wo sie auf dem Sofa sitzt und lustlos an einem Donut herumknabbert. Ich setze mich neben sie, und das Sofa ächzt unter dem zusätzlichen Gewicht.
»Tut mir leid, dass ich vorhin einfach rausgerannt bin«, sagt sie langsam.
»Kein Problem. Das verstehe ich.«
»Nein. Nein, das verstehst du nicht. Niemand versteht das.«
»Dann lass es mich wenigstens versuchen«, bitte ich. »Sprich mit mir, Em.«
Sie schüttelt den Kopf, reißt ein Stück von der Kruste des Donuts ab und zerdrückt es zwischen Daumen und Zeigefinger.
»Bitte …«
»Nein«, entgegnet Emma, und ihre Stimme klingt dünn und zerbrechlich vor Kummer. »Ich kann das nicht. Ben hat recht. Ich brauche mehr Zeit.«
»Nimm dir so viel Zeit, wie du brauchst«, sage ich. Natürlich bin ich enttäuscht, weil sie jetzt doch nicht zurückkommt, andererseits bin ich erleichtert darüber, dass sie stark genug ist zuzugeben, der Arbeit und dem ganzen Stress und den Belastungen, die damit verbunden sind, nicht gewachsen zu sein. Offensichtlich ist sie noch sehr labil.
»Danke.« Sie steht auf und lässt den zerfledderten Donut zurück in die Schachtel fallen. Wenn sie so etwas tut, muss sie wirklich leiden, und ich leide mit ihr, denn wie auch immer man die Sache dreht und wendet, in dieser Praxis ist die falsche Tierärztin schwanger.
»Hast du etwas von Emma gehört?«, fragt Alex, als wir am nächsten Morgen zu meiner ersten Ultraschalluntersuchung ins Krankenhaus fahren. »Hat sie sich bei dir gemeldet?«
»Noch nicht.« An Emma zu denken deprimiert mich. »Ich wünschte, ich hätte es ihr nicht gesagt.«
»Du hattest keine andere Wahl, Maz. Irgendwann musste sie es erfahren.« Alex lächelt beim Fahren. »Wie hättest du ihr denn deine plötzliche Gewichtszunahme erklärt? Wolltest du es auf die Donuts schieben? Jedes Mal, wenn ich im Otter House vorbeischaue, esst ihr beiden Donuts.«
»Wir haben Donuts gegessen«, korrigiere ich ihn. »Ich weiß nicht, ob ich Emma jemals wiedersehen werde.«
»Das meinst du nicht ernst«, entgegnet Alex.
»Ich weiß, aber so fühlt es sich an.«
»Sie hat eine schlimme Zeit hinter sich.«
Ja, denke ich und starre aus dem Fenster, und ich habe es noch zehnmal schlimmer gemacht, weil ich ihr unbedingt unter die Nase reiben musste, dass ich schwanger bin.
Im Krankenhaus brauchen wir nicht lange zu warten. Nach nicht einmal zehn Minuten ruft uns die Ultraschalldiagnostikerin herein, und bevor ich weiß, wie mir geschieht, liege ich mit entblößtem Bauch auf dem Rücken. Ich schiele an mir herunter, um meine neue Figur zu betrachten. Ob es mir gefällt oder nicht, mein Körper verändert sich. Meine Brüste sind gewachsen, und mein Bauch wölbt sich bereits ein bisschen vor.
Die Diagnostikerin erklärt mir, warum in der zwölften Woche eine Ultraschalluntersuchung notwendig ist und welche Messungen sie durchführen wird, um sicherzustellen, dass sich das Baby normal entwickelt. Dabei spritzt sie mir Gel auf den Bauch. Emma hatte recht – es ist so kalt, dass mir die Haare zu Berge stehen.
Die Diagnostikerin nennt mich »Mum«, was mir lächerlich vorkommt, denn ich empfinde nicht wie eine Mutter. Ich habe nicht das Gefühl, dass dieses Wesen, das da auf dem Bildschirm auftaucht, irgendwie zu mir gehört, und ich verspüre ihm gegenüber auch keine besondere Zuneigung. Das ist genau die Reaktion, die ich erwartet hatte, und sie bestätigt meine Überzeugung, dass ich keine gute Mutter sein kann. Alex hingegen scheint ganz anders zu reagieren. Er kann den Blick kaum vom Monitor abwenden.
»Im Moment sieht alles vollkommen normal aus«, sagt die Diagnostikerin schließlich. »Aber natürlich wird Mum in der zwanzigsten Woche noch einmal untersucht. Reine Routine.« Sie hält mir die Bilder hin, doch ich tue so, als sei ich vollauf damit beschäftigt, meinen Hosengürtel zu schließen, deshalb nimmt Alex sie ihr ab.
»Wir können sie Lucie und Seb zeigen«, schlägt er auf dem Rückweg zum Otter House vor. »Sie kommen übers Wochenende.«
»Aber sie waren doch erst letztes Wochenende bei dir«, wende ich ein.
»Ich weiß, Maz, aber sie wollen unbedingt zum Entenrennen. Das ist einer der Höhepunkte des Jahres.«
»Verstehe.«
»Und du kommst mit«, sagt Alex. »Du hast doch am Wochenende frei?«
»Ja«, seufze ich, dann wird mir allerdings klar, wie kleinlich ich mich anhöre.
»Ich dachte, ich nutze die Gelegenheit, um ihnen von dem Baby zu erzählen. Nach dem Entenrennen, wenn meine Eltern weg sind. Nur du, ich und die Kinder. Es ist wichtig, dass sie genug Zeit haben, ihre Fragen zu stellen, ohne dass uns jemand dabei stört, findest du nicht auch?«
»Vermutlich …«
»Ich wette, sie werden ganz aus dem Häuschen sein.«
»Sobald Lucie Bescheid weiß, wird sie es deinen Eltern verraten.«
»Denen will ich es am Sonntag sagen. Wir laden sie zum Mittagessen ein. Keine Sorge.« Alex hebt die Hände. »Ich koche. Du brauchst dich um nichts zu kümmern.«
»Aber ich mache mir Sorgen. Ich will mir gar nicht vorstellen, wie deine Eltern die Nachricht aufnehmen. Sie werden mich noch weniger mögen als vorher – falls das überhaupt möglich ist.«
»Nimm es nicht persönlich«, meint Alex. »Sie sind nie richtig über meine Trennung von Astra hinweggekommen. Meine Mutter hat sie vergöttert, und mein Vater ließ sich von ihr um den kleinen Finger wickeln. Sie konnte reiten und jagen und war eine ausgesprochen charmante Gastgeberin.«
»Superwoman also«, entgegne ich missmutig, doch Alex scheint es nicht zu bemerken. »Wahrscheinlich wünschst du dir mittlerweile, du wärst ihr nie begegnet.«
»Nein, das tue ich nicht«, erwidert Alex und schüttelt den Kopf. »Ohne Astra hätte ich auch Lucie und Seb nicht, und sie machen Astras schamlose Indiskretionen und die Art und Weise, wie sie mich für diesen … diesen Kerl verlassen hat, mehr als wett.« Astra ist mit einem Fußballspieler durchgebrannt, der mehrere Jahre jünger war als sie selbst. Mittlerweile ist sie aber auch mit ihm nicht mehr zusammen, sondern hat sich den Banker Hugo geangelt. »Es bringt nichts, der Vergangenheit nachzutrauern«, fährt Alex fort. »Was passiert ist, ist passiert. Wir sollten uns lieber um die Zukunft kümmern. Und die Zukunft, das sind du, ich und das Baby.«