9
Nur keine Panik!
Die Aussicht, auf einem Pferderücken zu sitzen, erscheint mir plötzlich ungemein verlockend, verglichen mit der Perspektive, Alex von meinem Zustand zu erzählen. Und davon, was ich dagegen zu unternehmen gedenke. Ich spiele kurz mit dem Gedanken, ihm gar nichts zu sagen, doch das lässt mein Gewissen nicht zu.
Ich möchte mit jemandem darüber reden. Aber nicht mit Emma. Wie soll ich ihr erklären, dass ich schwanger bin, dass ich einfach so schwanger geworden bin, ohne es überhaupt zu wollen, während es bei ihr selbst Jahre gedauert hat, bis es funktionierte? Wie soll ich ihr, die sich nichts sehnsüchtiger wünscht, als ein Kind, erklären, dass ich das Baby nicht bekommen werde? Allerdings kann ich mich auch nicht dazu durchringen, zum Telefon zu greifen und Alex anzurufen, weil ich nicht weiß, wie er die Neuigkeit aufnehmen wird.
Ich schiebe mein Geständnis immer weiter hinaus, bis Alex mich am Samstagnachmittag schließlich abholt. Er ist aufgeregt und glücklich, da die Kinder übers Wochenende bei ihm sind.
»Wer hat bei euch Notdienst?«, fragt er, als ich zu ihm in den Geländewagen steige.
»Drew.«
Alex beugt sich zu mir herüber und küsst mich auf den Mund, dann verzieht er das Gesicht. »Du hast Marmite gegessen.«
»Tut mir leid.« Früher war das mein kleines, geheimes Laster, aber in letzter Zeit hat es sich zu einer regelrechten Sucht entwickelt.
»Ich mag Marmite«, sagt ein leises Stimmchen hinter mir.
Ich drehe mich um und schaue über die Schulter. Lucie trägt bereits ihre Reitkleidung: lila Reithosen und ein dazu passendes Oberteil von Cuddly Ponies. Sebastian hat eine beigefarbene Reithose und ein Sweatshirt mit einem aufgedruckten Traktor an. Und was Alex angeht – den wage ich kaum anzusehen. Sein langärmliges Shirt ist absolut in Ordnung, doch seine Reithose sitzt so eng, dass es definitiv unanständig wirkt. Er sieht umwerfend aus, und ich liebe ihn, und ich bin verwirrt, und meine Gefühle sind in Aufruhr. Ich weiß, es klingt gemein gegenüber Lucie und Seb, aber ich wünschte, ich hätte Alex ganz für mich allein, ohne dass irgendetwas – ich werfe einen kurzen Blick auf meinen Bauch – zwischen uns stünde.
»Hallo, Lucie. Hallo, Seb. Wie geht es euch?«
»Sehr gut, danke«, antwortet Lucie förmlich für beide, während Seb mir unabsichtlich einen Tritt in die Nieren verpasst. Wenigstens nehme ich zu seinen Gunsten an, dass es unabsichtlich war.
»Ich will zu meiner Mami«, jammert Seb, als wir in Richtung Talymouth fahren.
»Du siehst sie ja morgen Abend wieder«, erwidert Alex geduldig. »Aber vorher gehen wir mit Maz einkaufen. Was braucht sie denn, wenn sie reiten lernen will?«
»Zwei Beine und ein Hirn«, meldet sich Lucie zu Wort. »Das sagt Oma immer. Warum nennt Oma sie eigentlich Madge? Sie heißt doch Maz.«
»Das musst du deine Oma schon selber fragen«, entgegnet Alex. »Ich meinte, welche Kleider und welche Ausrüstung sie braucht«, und mich durchläuft ein sehnsüchtiger, mit Bedauern vermischter Schauer. Ich bemühe mich, ihn nicht anzusehen, während er nach Süden in Richtung Talysands fährt.
Die Wiesen sind voller Frühlingslämmer mit ihren Müttern. Manche von ihnen tollen fröhlich herum, andere sind noch wacklig auf den Beinen. Auf der Hügelkuppe, von wo aus man zum ersten Mal das Meer sieht, biegt Alex in eine Auffahrt ein und hält vor einem kleinen lagerhallenähnlichen Gebäude, über dessen Eingang ein Schild mit der Aufschrift Tack n Hack hängt.
»Der Laden gehört zum Reitimperium der Letheringtons«, erklärt Alex. »Wenn Not am Mann ist, übernimmt Delphi auch schon mal die eine oder andere Schicht.«
Tatsächlich ist Delphi da und verströmt ihre Aura von Pferd, Chanel und Überheblichkeit. Eigentlich sollte ich darüberstehen, aber es versetzt mir trotzdem einen Stich, als sie sich sofort auf Alex stürzt, ihm die Wange zum Kuss hinhält und sich bei ihm einhakt.
»Wie schön, dich zu sehen.« Dabei zupft sie an einer blonden, etwas fettigen Strähne, die sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst hat. Es macht nichts, dass sie ein wenig zerzaust aussieht, dass ihre Hände schmutzig sind und dass Stroh aus ihren Stiefelschäften herausschaut, ihr Look ist einfach unverschämt passend. Das mit einem Tottie-Logo verzierte Poloshirt enthüllt den Ansatz ihres Dekolletés, und die Reithose betont ihre schön geformten Beine. »Was kann ich für dich tun?«
»Maz braucht eine Reithose, Stiefel und einen Helm«, antwortet Alex und dreht sich wieder zu mir um.
Der ganze Laden ist voller Reitzubehör: glänzende Geschirre, wunderschön gestaltete Sättel, Striegel, Bürsten und Kämme, Eimer, Fellshampoos und Sprays. Ich hätte nie gedacht, dass man auch Schönheitsprodukte für Pferde kaufen kann, aber hier gibt es Fellaufheller, Spülungen und glänzendes Huffett. Es riecht nach Leder, Wachs und einem Hauch von Alex’ Aftershave.
Vielleicht bin ich auch einfach nur paranoid, denke ich, als wir zusammen durch den Laden gehen und Delphi Vorschläge macht und Kleidungsstücke heraussucht, die ich in einer winzigen Umkleidekabine, in der lediglich ein Vorhang für etwas Privatsphäre sorgt, anprobieren soll. Ich bin heute eindeutig nicht ich selbst. Mir ist übel, und ich bin müde. Ich bin Gefangene dieses Außerirdischen, der meinen Körper überfallen und mich als Geisel genommen hat.
»Soll ich Ihnen eine größere Größe holen?«, fragt Delphi auf der anderen Seite des Vorhangs.
»Ja, bitte«, gebe ich zurück, etwas gedemütigt, weil ich nicht in die Sechsunddreißig passe. Ich trage immer Größe sechsunddreißig. Die nächste Reithose, die sie mir bringt, ziehe ich hastig wieder aus – sie ist lila mit einem schwarzen Hosenboden, und mein Hintern sieht darin nicht riesig, sondern regelrecht gewaltig aus. Während ich sie zur Seite lege, höre ich von draußen einige Gesprächsfetzen.
»Lady ist wieder ganz die Alte«, sagt Delphi.
»Hast du meine SMS bekommen? Mit dem Ergebnis der Blutanalyse?«, fragt Alex.
»Ach, Alex«, erwidert Delphi flirtend, »ich dachte, du wüsstest, dass ich keine SMS-Beziehung will.« Dann lacht sie, und es klingt wie ein Wiehern. (Warum werde ich in ihrer Gegenwart jedes Mal zum gehässigen Biest?)
Ich schlüpfe in eine schlichte dunkelblaue Reithose und ziehe den Vorhang zurück.
»Was hältst du davon, Alex?«
»Die ist perfekt«, meint er mit einem zustimmenden Lächeln.
»Langweilig«, entgegnet Lucie. »Die in Lila war viel schöner.«
Nachdem ich schließlich fertig eingekleidet bin, finde ich mich ziemlich sexy. Reitkleidung hat durchaus etwas für sich: Die Lycra-Reithose hält alles schön fest, kniehohe Stiefel lassen meine Beine noch länger wirken, und der grüne Reithelm passt fantastisch zu meinem blonden Haar.
Ich lehne dankend ab, als Lucie mir noch ein Haarnetz aufdrängen will. Was hat sie vor? Will sie mich wie Ena Sharples ausstaffieren, damit ihr Vater mich nicht mehr attraktiv findet?
»Die Reithose sieht toll aus.« Alex berührt meinen Hintern. »Und der Helm auch.«
»Es fühlt sich irgendwie an, als hätte man Kopfschmerzen über dem Kopf«, antworte ich und versuche ihn abzunehmen, doch er ist fest auf meinem Schädel verkeilt.
»Du brauchst einen Helm – Reiten ist ein gefährlicher Sport. Na ja, so gefährlich nun auch wieder nicht«, korrigiert er sich schnell, aber es ist zu spät – ich habe es gehört. Er grinst. »Sonst wären die Fox-Giffords längst ausgestorben.«
»Wenn ich ehrlich sein soll, würde ich heute lieber noch aussetzen, Alex. Kann ich nicht einfach nur dir und den Kindern beim Reiten zusehen …?«
»Du bist ja ganz blass um die Nase.« Er tippt gegen den Knopf oben auf meinem Helm. »Komm schon, Maz, die frische Luft wird dir guttun. So, haben wir alles? Dann gehe ich jetzt zur Kasse.«
»Ich zahle«, erwidere ich hastig.
»Nein, du bist eingeladen – außerdem braucht Lucie noch einen neuen Striegel.«
»Der ist dann nur für Tinky, mein Pony«, erklärt Lucie, während Sebastian verkündet: »Ich will auch einen Striegel.«
»Also gut«, seufzt Alex. »Geh und such dir einen aus.« Ist er immer so nachgiebig? Verlegen sieht er mich an. »Seb entwickelt sich zu einem echten Shopaholic – das hat er von seiner Mutter.«
»Maz, du brauchst noch eine Peitsche.« Lucie zieht einen glänzenden lilafarbenen Stab aus einer Auslage, in der Reitgerten in allen möglichen Größen und Farben versammelt sind, und ich frage mich, was für ein Mensch man sein muss, um ein Geschäft aus dem Schlagen von Pferden zu machen. »Wenn dein Pferd böse ist, dann haust du es damit. Siehst du, so.« Sie schlägt sich gegen das Bein. »Autsch.«
»Das ist aber ziemlich gemein, findest du nicht?«, sage ich und verbeiße mir ein Lachen über Lucies selbstverschuldeten Schmerz, doch sie lässt sich nicht beirren. Sie stemmt die Hände in die Hüften und blinzelt durch ein paar lose Haarsträhnen hindurch. »Du musst ihnen zeigen, wer der Herr ist.«
»Lucie hat recht«, wirft Alex ein.
»Daddy hat ganz viele Peitschen zu Hause«, verkündet Lucie.
»Ich wusste gar nicht, dass du auf SM stehst«, scherze ich, ehe ich erschrocken eine Hand vor den Mund halte. Die Kinder! Nicht vor den Kindern!
»Was ist SM, Daddy?«, fragt Lucie.
»So etwas Ähnliches wie M&Ms, aber nur für Erwachsene.«
Alex bezahlt bei Delphi an der Kasse. Ich lasse die beiden nicht aus den Augen, entdecke allerdings keinen Hinweis darauf, dass zwischen ihnen etwas läuft. Schließlich verdränge ich den Gedanken daran, denn mein in die enge Reithose gequetschter Bauch erinnert mich daran, dass ich ein anderes, sehr viel dringenderes Problem habe, um das ich mir Sorgen machen muss.
Das Herrenhaus ist ein eleganter Regency-Bau mit einem von schlanken Säulen getragenen Portal, der aussieht, als sei er geradewegs einer Jane-Austen-Verfilmung entsprungen. Bei näherem Hinsehen jedoch bemerkt man, dass er durchaus ein paar Streicheleinheiten vertragen könnte. Im weißen Putz zeigen sich erste Risse, am Dach fehlen einige Schieferplatten, und die Fensterrahmen im Erdgeschoss sind verwittert.
Man gewinnt unweigerlich den Eindruck, dass die Fox-Giffords ihr Geld lieber für ihre Pferde ausgeben als für ihr Zuhause.
Das Haus liegt in einem französischen Garten mit Rasenflächen, einer ausladenden Zeder und traditionellen Rabatten und ist von grünen Wiesen umgeben. Die Fox-Gifford’sche Herde roter Süddevon-Rinder steht auf der Weide westlich des Herrenhauses. Östlich davon liegen die durch Elektrozäune abgetrennten Pferdekoppeln, die sich bis auf die Rückseite des Hauses hinziehen.
»Ich hoffe, du hast nicht vor, mich auch noch über die Dinger da zu hetzen«, sage ich, als wir an den Hindernissen vorbeifahren, die auf dem Reitplatz aufgebaut sind.
»Was meinst du, Lucie?«, fragt Alex.
»Du musst erst richtig Schritt, Trab und Galopp lernen«, antwortet Lucie.
»Und ich will auch kein großes Pferd«, setze ich hinzu. »Je kleiner, desto besser.«
»Keine Angst, Maz.« Alex lacht. »Wir passen schon auf, dass dir nichts passiert.«
»Ich mach sie tot.« Ich drehe mich nach hinten um und sehe meinen potenziellen Mörder in seinem Kindersitz. Er hat die Arme verschränkt, die Unterlippe vorgeschoben und Tränen in den Augen. »Ich will mit Mami reiten gehen. Ich will zu meiner Mami.«
»Halt endlich die Klappe, Seb«, schimpft Lucie, während Alex den Wagen im Hof hinter dem Herrenhaus parkt – neben einem zerbeulten Range Rover, einem Pferdetransporter mit aufgemaltem Springpferd und einem alten Bentley. Zwei Pferde und zwei Ponys sind draußen vor dem Stall angebunden. Lisa, die Pferdepflegerin der Fox-Giffords, hat sie bereits für uns gesattelt.
»Du kriegst Jumbo.« Lucie führt mich zu einem riesigen, stämmigen grauen Pferd, das mit den Augen rollt, die Nüstern bläht und mir seinen warmen Atem über die Hände bläst, als ich mich ihm vorstelle. Ich bin mir nicht sicher, ob er mich mag. Ich küsse ihn jedenfalls nicht.
»Kann ich nicht ein kleineres haben?«, will ich wissen und trete ein paar Schritte zurück.
»Keine Angst – der ist so sicher wie ein Schaukelpferd«, entgegnet Alex. »Setz deinen Helm auf, Seb.« Ich beobachte, wie er den Gurt unter Sebs Kinn festzieht. Er ist ein guter Vater. Er ist nicht distanziert oder steif im Umgang mit seinen Kindern. Er hebt Seb hoch, trägt ihn eine Runde über den Hof und setzt den kichernden Jungen dann auf ein kleines graues Pony, das ungefähr doppelt so breit wie hoch ist.
»Halt dich fest.« Alex kontrolliert den Sattelgurt, ehe er Lucie in die Luft schwingt und sie auf das zweite Pony, einen hübschen Braunen, setzt. »Jetzt bist du dran, Maz.«
Alex bindet Jumbo los und führt ihn in die Mitte des Hofs zu Lucies Pony. Er hilft mir in den Sattel und passt die Länge meiner Steigbügel an. Unter anderen Umständen könnte ich dem Reiten vielleicht sogar etwas Positives abgewinnen, denke ich, als er eine Hand zwischen den Sattel und meinen Schenkel schiebt, um die Schnalle zu erreichen.
»Und los.« Gerade als Alex meinen Fuß in den Steigbügel schiebt, kommt Sophia in Mantel, Rock und Gummistiefeln auf uns zumarschiert. Mir rutscht das Herz in die Hose. Ich weiß nicht, ob ich in der Verfassung bin, mir ihre Gehässigkeiten anzuhören, ohne zurückzugiften.
»Oma!«, schreit Lucie. »Was machst du hier?«
»Das würde ich mir um nichts in der Welt entgehen lassen.« Sie bleibt stehen und fixiert mich.
»Entspann dich, Maz«, flüstert Alex. Er zeigt mir, wie ich die Zügel halten soll, die Daumen nach oben. »Du brauchst dich nicht mit den Knien festzuklammern.«
»Ich klammere nicht mit den Knien. Ich klammere mit allem, was ich habe.«
»Wenn du vorwärts willst, musst du mit den Unterschenkeln drücken, aber nicht zu fest. Jumbo reagiert ziemlich schnell«, fährt er fort.
»Und was mache ich, wenn ich anhalten will?« Das erscheint mir doch um einiges wichtiger.
»Mach dir darüber erst mal keine Gedanken.« Alex lässt mich stehen und holt einen Führstrick, den er am Zaumzeug von Sebs Pony befestigt, ehe er auf Liberty steigt. »Los geht’s!«, ruft er, doch statt der Attacke der Leichten Brigade, die ich erwartet hatte, setzen wir uns recht gemächlich in Bewegung. Sebs Pony, Mr Pickles, trabt neben Liberty her, Lucie folgt auf ihrem braunen Pony, das auf den Namen Tinky Winky hört, und ich bilde mit Jumbo das Schlusslicht.
»Zehen hoch, Fersen runter, Madge. Sie hängen da oben wie ein Sack Kartoffeln. Aus Ihnen wird nie eine passable Reiterin – Sie haben dafür einfach nicht die passende Statur.« Sophia trottet bis zum Ende der Auffahrt hinter uns her. »Die Fox-Giffords lernen reiten, bevor sie überhaupt laufen können, und mein Mann wurde gewissermaßen im Sattel geboren. Seine Mutter war auf der Jagd mit der Cotley-Meute, als die Wehen kamen. Sie saß ab und brachte ihn unter einer Hecke zur Welt.«
Ich weiß nicht, ob ich ihr das glauben soll.
Ich klammere mich am Sattel fest, als Jumbo größere Schritte macht, um die anderen einzuholen. Ich wünschte, ich könnte mit meiner Schwangerschaft auch so ungezwungen umgehen, dass ich das Baby einfach irgendwo unter einer Hecke zur Welt bringen würde. Und da würde ich es dann liegen lassen, bis ein liebevoller Zeitgenosse, der zufällig des Weges kommt, es adoptiert. Und dann sehe ich vor meinem geistigen Auge ein Baby, das nackt im Schlamm liegt und sich die Seele aus dem Leib schreit, während jede Menge Leute auf ihren piekfeinen Jagdpferden darum herumwuseln und die Hunde in Schach halten. Wahrscheinlich ist es kein Wunder, dass der alte Fox-Gifford so geworden ist, wie er ist.
Wir reiten einen von Wiesen gesäumten Weg entlang und dann über den Kamm des East Hill in Richtung Talyford. Als wir an der Old Forge vorbeikommen, frage ich mich, wie es Penny und Sally wohl geht. Wenn ich mir nicht so viele Gedanken darüber machen würde, wie ich Alex beibringen soll, dass ich schwanger bin, könnte mir der Ausritt sogar Spaß machen.
Schließlich reiten wir durch das Tal zurück, überqueren den Hochwasserschutzkanal und erreichen den in zahlreichen Windungen dahinfließenden Taly, wo das Wasser in der Sonne glitzert und die Hügel lange Schatten auf unseren Weg werfen. Auf dem Heimweg ist Jumbo sehr viel motivierter und läuft mit großen Schritten vorneweg, aber als wir die alte Bahntrasse erreichen, wo ich Alex zum ersten Mal begegnet bin, holt Alex, der Sebs Pony neben sich herzieht, mich ein.
»Jetzt lassen wir die Pferde mal richtig los. Halt dich gut fest, Maz.«
»Nein!«, kreische ich, als Jumbo unter lautem Hufgeklapper mit den anderen zusammen losrast, dass die alte Schlacke vom Boden hochspritzt. Ich weiß nicht, was berauschender ist, die Angst, der absolute Kontrollverlust oder die Geschwindigkeit … Jumbo trottet nicht mehr behäbig vor sich hin, Jumbo ist ein Rennpferd.
Über den Wind hinweg, der in meinen Ohren pfeift, höre ich Alex’ Stimme.
»Sitzen bleiben! Sitzen bleiben!«
Ich zerre an den Zügeln und stelle fest, dass es hier keine Bremse gibt. Ich ziehe, doch Jumbo hält dagegen. Pfeilschnell jagt er weiter. Mir bleibt nichts anderes übrig, als mich festzuklammern, bis er irgendwann beschließt, dass er nun genug hat. Mitten im Lauf stemmt er die Vorderhufe in den Boden, hält an und hängt den Kopf ins Gebüsch am Rand der Bahnlinie, um zu fressen.
»Lass die Zügel locker!«, ruft Lucie, aber darauf bin ich schon selbst gekommen.
Wenn nicht, wäre ich in hohem Bogen über Jumbos Kopf geflogen.
»Hat es dir gefallen, Maz?«, ruft Alex.
»Ich hätte sterben können«, entgegne ich schwach.
»Nein, hättest du nicht«, sagt Alex. »Die Pferde wissen ganz genau, wo sie anhalten müssen.«
Ich wünschte, ich hätte in jener verhängnisvollen Nacht auch gewusst, wo ich anhalten musste, dann wäre mir das ganze Drama erspart geblieben.
Heil und gesund kehren wir zum Herrenhaus zurück. Wenigstens sind wir noch heil und gesund, als wir den Hof erreichen, wo Mr Pickles, vielleicht aus Freude darüber, endlich wieder zu Hause zu sein, ganz kurz bockt, woraufhin Seb durch die Seitentür fliegt, wie Lucie es beschönigend nennt, und auf dem Hosenboden landet.
Zu meiner Überraschung weint er nicht.
»Ich bin runtergefallt.« Er strahlt über das ganze Gesicht. »Ich bin runtergefallt, aber ich bin nicht tot.«
»Oma sagt, man muss siebenmal runterfallen, ehe man ein richtiger Reiter ist«, sagt Lucie. »Ich bin schon neunmal runtergefallen, also bin ich eine sehr gute Reiterin. Das sagt Oma. Jetzt hau ihn auf den Hintern, Maz. Fester.«
»Okay, das reicht, ihr kleinen Tyrannen«, schreitet Alex ein. Er springt von Libertys Rücken und bindet sie und das Pony vor dem Stall an, bevor er zu mir kommt und mir beim Absteigen hilft.
»War es für dich auch so schön?«, flüstert er, während ich in seine Arme gleite. Ich stemme die Hände gegen seine Brust und versuche, ihn wegzuschieben, doch er lässt mich erst los, als unsere Reithelme aneinanderstoßen und er mir einen langen, sehnsüchtigen Kuss gegeben hat.
»Die küssen sich doch nur, Sebby«, höre ich Lucies Stimme, »die machen keinen Sex.«
»Kinder … Manchmal sind sie die reinste Plage«, schimpft Alex leise und lässt mich wieder los.
Mein Magen verkrampft sich. Er hat ja keine Ahnung …
Nachdem wir die Pferde abgezäumt und sie auf die Koppel gelassen haben, wo sie sich erst einmal ausgiebig wälzen können, gehen wir zusammen in die Scheune und Alex bereitet den Afternoon Tea zu: Gurkensandwiches, Kuchen mit Trockenobst, Wackelpudding und Eis. Nach dem Essen steckt Alex die Kinder in die Badewanne und macht sie bettfertig, aber genau wie beim letzten Mal kommen sie einfach nicht zur Ruhe, und ich frage mich, wie viele Wochenenden wir wohl noch auf diese Weise verbringen werden.
Was das Ganze heute Abend umso frustrierender macht, ist die Tatsache, dass ich unbedingt unter vier Augen mit Alex reden muss. Das Letzte, was ich gebrauchen kann, ist, dass Lucie uns belauscht und anschließend die Neuigkeit in die Welt hinausposaunt. Das geht nur Alex und mich etwas an.
»Ich verstehe das nicht«, sagt Alex erschöpft, als sie um neun Uhr noch immer auf den Beinen sind. »Ich wäre heilfroh, wenn ich um acht ins Bett dürfte.«
Seb rennt mit freiem Oberkörper und Schlafanzughose herum, und Lucie sitzt in ihrem lilafarbenen Nachthemd rittlings auf der Armlehne des Sofas. Sie sieht jünger und verletzlicher aus als vorhin auf ihrem Pony. Sie lutscht am Daumen, reibt sich die Nase und hält sich einen schmuddeligen Deckenzipfel vors Gesicht.
»Ich habe Du-urst«, jammert Seb.
»Er will noch so einen Milkshake, den wir bei Mami nie bekommen«, erklärt Lucie in seinem Namen. »Den mit Erdbeergeschmack.«
»Sie gibt sie ihnen nicht wegen des Zuckers darin«, erläutert Alex, an mich gewandt. »Davon können sie nicht schlafen.«
Was mir ein sehr guter Grund dafür zu sein scheint, ihnen das Zeug nicht zu geben. Ich lehne mich in einem der Sessel zurück und höre zu, wie Alex mit seinen Kindern verhandelt. Ich wette, bei seinen Kunden ist er nicht so kompromissbereit, denke ich, als Lucie und Seb ein paar Minuten später mit je einem Becher Milkshake auf dem Sofa sitzen.
»Gott sei Dank. Das wäre geschafft«, sagt Alex, nachdem ich mich durch sämtliche Fernsehkanäle gezappt und die Zuchthengst-Sonderausgabe von Horse & Hound von Anfang bis Ende durchgelesen habe. Ehrlich gesagt habe ich das Heft nur durchgeblättert und mir die Fotos der schimmernden Vollblüter, diese Bildnisse vollkommener Männlichkeit, angesehen und mich gefragt, wie um Himmels willen ich unseren eigenen Fortpflanzungsunfall zur Sprache bringen soll. Soll ich ihm die Neuigkeit schonend beibringen oder lieber gleich auf den Punkt kommen? Mit zitternden Händen klappe ich die Zeitschrift zu.
»Sie sind endlich eingeschlafen«, fährt Alex fort.
»Du bist zu nachgiebig mit ihnen«, entgegne ich und frage mich, ob das eine Reaktion darauf ist, wie seine eigenen Eltern ihn erzogen haben.
»Ach ja, findest du, Supernanny?« Alex nimmt ein Kissen vom Sofa und klopft mir damit sanft auf den Kopf. Ich ziehe die Knie unters Kinn. Er lässt das Kissen fallen und beugt sich lachend über den Sessel. Sein Gesicht ist nun dicht vor meinem. Ich packe den Kragen seines Polo-Shirts, ziehe ihn näher heran und küsse ihn.
»Wir müssen reden«, sage ich leise.
»Aber nicht jetzt«, flüstert Alex mit rauer, verführerischer Stimme.
»Alex …« Als ich beide Handflächen gegen seine Brust drücke, weicht er ein kleines Stück zurück.
»Das klingt ernst.« Fragend zieht er die Augenbrauen hoch. »Ist es ernst?«
Ich nicke. Alex sinkt auf die Knie und nimmt meine Hände.
»Dann raus damit.«
Ich schaue ihm ins Gesicht. Vor Nervosität krampft sich mein Herz zusammen, und meine Finger zittern. Es wäre so einfach, alles zu verdrängen, abzuwinken und zu sagen: Ach, nichts, lass uns ins Bett gehen. Aber das kann ich nicht. Es wird nicht einfach von selbst verschwinden. Ich atme tief ein.
»Ich bin schwanger«, platze ich heraus und bleibe danach reglos sitzen und warte auf seine Reaktion.
»Du bekommst ein Baby von mir?«, hakt Alex schließlich nah.
»Natürlich von dir. Es war nicht die unbefleckte Empfängnis.« Dann dämmert mir allerdings, dass er womöglich das Schlimmste denkt. »Du glaubst doch wohl nicht etwa, dass ich in der Gegend rumgeschlafen hätte? Klar, ich hatte ja auch so wahnsinnig viele Gelegenheiten dazu«, füge ich hinzu, und meine Stimme klingt kalt und sarkastisch, obwohl es in meinem Inneren ganz anders aussieht, nämlich heiß, verletzt und voller Trauer.
»Schon gut. Ich wollte damit nicht andeuten … Ich bin nur, na ja, überrascht. Ich dachte …« Alex runzelt die Stirn. »Du hast doch gesagt, du nimmst die Pille.«
»Ich nehme ja auch die Pille.«
Er hebt meine kraftlosen Hände vor sein Gesicht.
»Na ja, so was passiert.« Er seufzt, dann ringt er sich ein winziges Lächeln ab. »Trotzdem ist es ein kleiner Schock – normalerweise passieren Kinder mir nicht einfach.«
»Es war am Neujahrstag«, erkläre ich schuldbewusst. »Ich habe vergessen, sie zu nehmen. Ich dachte, das wäre schon nicht so schlimm.«
»Du dachtest, du würdest ungeschoren davonkommen?«
Glaubt er mir? Oder glaubt er, ich hätte es mit Absicht getan, um ihn in die Falle zu locken? Mein Herz schlägt dumpf in der Ferne, irgendwo außerhalb meines Körpers, während ich darauf warte, dass er weiterspricht.
»Aber ehrlich gesagt bin ich ziemlich erleichtert«, erwidert er schließlich.
»Erleichtert?«, rufe ich. »Das ist eine Katastrophe.«
»Na ja, so schlimm ist es auch wieder nicht, Maz. Ich dachte schon, du wolltest mit mir Schluss machen. Jetzt verstehe ich, warum du in letzter Zeit so müde und unausstehlich warst.« Ich will widersprechen, doch er bringt mich mit einem eindringlichen Blick zum Schweigen. Dann lächelt er.
»Du hast ja recht.« Ich lächle schwach zurück. »Ich war in letzter Zeit nicht gerade bester Laune. Das liegt vermutlich an den Hormonen«, füge ich leise hinzu.
»Das schaffen wir schon, Maz. Irgendwann hätten wir wahrscheinlich sowieso Kinder bekommen …« Alex redet und redet, und ich versuche, ihn zu unterbrechen, um ihm klarzumachen, dass er mich missverstanden hat.
»Alex, hör mir zu«, sage ich verzweifelt, »das ist alles meine Schuld.«
»Halbe-halbe. So funktioniert das meistens.« Mittlerweile sieht er ziemlich selbstzufrieden aus. Der Superhengst. »Ich kann es kaum erwarten, allen davon zu erzählen: Lucie, Sebastian, meinen Eltern. O Maz, das ist die beste Neuigkeit, die ich je bekommen habe.«
»Alex, es tut mir so leid …«, stammele ich, doch er hört mir nicht zu.
»Wir werden ein paar Sachen ändern müssen«, fährt er aufgeregt fort. »Wir brauchen ein Kinderzimmer, eine Nanny.«
Ich löse meine Finger aus seinem Griff und ziehe die Hände weg.
»Nein, Alex«, unterbreche ich seinen Redeschwall.
»Wir brauchen aber eine Nanny, wenn du weiter arbeiten willst.«
»Nein, Alex. So läuft das nicht …« Ich halte kurz inne und ringe nach Atem. »Ich werde es nicht bekommen.«
Er starrt mich verständnislos an, und es fühlt sich an, als fiele ich ohne Fallschirm vom Himmel. Ich weiß nicht, was schlimmer ist, der Schmerz darüber, mein Vorhaben in Worte fassen zu müssen und es laut ausgesprochen zu hören, oder die Enttäuschung darüber, dass Alex keine Ahnung zu haben scheint, wieso ich diese Entscheidung treffen musste. Ich dachte, wir wären Seelenverwandte.
»Ich lasse es wegmachen«, erkläre ich unumwunden.
Endlich versteht er mich. Seine Augen werden wässrig vor Schmerz, wie die eines Hirschs, der am Straßenrand stirbt. Ich kann ihm nicht länger ins Gesicht sehen, denn zu wissen, dass ich ihm wehgetan habe, tut mir selbst weh. Unglücklich starre ich auf einen losen Faden am Ärmel meines Pullovers, heiße Tränen laufen mir über die Wangen, und ich schmecke Salz auf meinen Lippen. Ich packe den Faden mit zwei Fingern, reiße ihn ab und flüstere: »Ich will es nicht. Ich will kein Baby.« Der Faden rollt sich zusammen. Ich werfe ihn weg, aber meine Verzweiflung werde ich nicht so einfach los. Was habe ich getan?
Ein von ungestellten Fragen erfülltes Schweigen hängt zwischen uns. Alex wendet das Gesicht ab. Ich glaube, er weint auch.
»Alex, schau mich an. Bitte«, flehe ich.
»Ich glaube nicht, dass ich es ertragen könnte, dich anzuschauen«, sagt er dumpf.
Ich werde wütend. Verbitterung steigt in mir auf, weil er nicht einmal versuchen kann – oder will –, die Lage von meinem Standpunkt aus zu betrachten. Meine Stimme wird lauter.
»Alex, ich lasse mich von dir nicht dazu erpressen, dieses Baby zu behalten.«
»Wovon redest du da?«, fährt er mich an, und eines der Kinder beginnt zu weinen. »Jetzt sieh nur, was du angerichtet hast – du hast die Kinder aufgeweckt.«
Abrupt steht Alex auf und geht nach oben. Der Inbegriff eines fürsorglichen Vaters. Und nun verstehe ich, warum er meine Beweggründe nicht nachvollziehen kann. Was habe ich denn erwartet? Dass er sagt: Klar, ist mir recht, lass uns einfach weitermachen so wie bisher …?
Ich höre seine leise Stimme, als er beruhigend auf eines der Kinder – Lucie, glaube ich – einspricht, bis es wieder einschläft. Ich warte darauf, dass er zurückkommt, horche auf seine leisen Schritte auf der Treppe, doch als er schließlich wieder nach unten kommt, geht er schleppend. Er ist nicht mehr der gleiche Mann wie vorhin, seine Augen sind dunkel und grüblerisch, seine Seele ist verschlossen. Er setzt sich so weit wie möglich von mir entfernt auf die Sofakante und starrt unverwandt in den leeren Kamin. Ich rücke näher an ihn heran und lege eine Hand auf seinen Arm, aber er streift mich ab wie eine lästige Bremse.
»Soll ich dir etwas zu trinken holen?«, frage ich. »Ich kann Teewasser heiß machen.«
»Ich will nichts.«
Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Seine Reaktion verrät mir, dass ich schon zu viel gesagt habe, aber was hätte ich denn tun sollen? Ihm etwas vormachen? Das Kind abtreiben lassen und es ihm anschließend sagen, oder das Kind abtreiben lassen und ihm überhaupt nichts davon erzählen? Männer! Ich verstehe sie nicht. Warum muss Alex alles noch komplizierter machen? Mich betrifft das doch genauso. Es ist auch für mich nicht leicht, und ich will ja nur, dass er mich in den Arm nimmt und mir sagt, dass alles gut wird. Langsam stehe ich auf und reibe mit den Handflächen über meine Schenkel.
»Ich gehe dann mal nach Hause«, verkünde ich und erwarte, dass er sagt: Nein, sei nicht albern, Maz, lass uns in Ruhe über alles reden. Aber dann passiert das Allerschlimmste, etwas, womit ich niemals gerechnet hätte. Ein Schluchzen steigt in meiner Kehle auf. Er macht keine Anstalten, mich aufzuhalten.