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Im Hinterhof klangen noch die Trommeln, als Daniel durch das Tor zum Wagen stürmte und die Schlüssel aus der Tasche holte.

»Ich weiß gar nicht, worüber du dich so aufregst«, sagte Trinity, der ihm folgte. »Das war doch kein Gift und sie hat’s auch in ihren eigenen Becher getan.«

Daniel blieb mitten im Vorgarten abrupt stehen und wirbelte herum. »Du hast es gewusst?«

»He, hast du vergessen, mit wem du’s zu tun hast, Sohn? Ich kenne mich mit so was aus.« Trinity lächelte. »Im Fernsehen spiele ich vielleicht den Bauerntölpel, aber mir macht niemand so leicht was vor.«

»Und du wolltest das Zeug trinken?«

»Warum nicht?«

»Weil das Ganze Betrug ist, darum. Weil diese Frau da auch nur eine Gaunerin ist.«

Angelica Ory tauchte hinter Trinity auf. »Passen Sie auf, was Sie sagen, Junge. Gaunerin? Habe ich etwa Geld von Ihnen verlangt? Habe ich überhaupt irgendwas von Geld erwähnt?«

»Mama Anne, ich muss mich für meinen Neffen entschuldigen«, sagte Trinity.

»Für mich entschuldigen?«, sagte Daniel. »Ich habe niemandem Drogen in sein Getränk getan. Da gibt’s nichts zu entschuldigen.«

»Bevor Sie sich noch mehr zum Narren machen …«, sagte die Priesterin und reichte ihm ein kleines Medizinfläschchen. »Extrakt aus Passionsblumen, Beifuß, Kava und Wermut. Alles natürliche Zutaten, die die Medizinmänner der Urbevölkerung schon seit Tausenden von Jahren anwenden.«

»Und alles Halluzinogene«, erwiderte Daniel.

»Klar, wenn man ein ganzes Glas von dem Zeug trinkt. Aber wir benutzen nur zwanzig Tropfen. Bestenfalls fühlen Sie sich dadurch stärker mit der Welt verbunden. Es bringt Ihnen die Bilder in Ihrem Kopf zu Bewusstsein und führt zu einer leichten Lähmung der Zunge.«

»Ein Loa aus der Flasche«, sagte Daniel und gab ihr das Fläschchen zurück. »Sehr clever.«

»Es ist nur ein Hilfsmittel zur spirituellen Erkenntnis. Die Erkenntnis wird dadurch nicht falsch.« Sie seufzte schwer. »Wir waren uns doch einig, dass Tim durch mich etwas empfangen soll. Und dazu diente diese Zeremonie, auch wenn sie Ihnen nicht zusagt.«

»Genau«, sagte Trinity. »Du kannst ja im Auto warten. Ich gehe wieder zurück, denn ich habe eine Verabredung mit Mr Shango.«

Angelica schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, Tim. Sie sind mitten in der Zeremonie davongelaufen. Sie haben Papa Legba vor den Kopf gestoßen. Die Wegkreuzung steht Ihnen heute nicht mehr offen … und ich glaube nicht, dass er sie so bald wieder für Sie öffnen wird, nach so einer Respektlosigkeit.«

Jetzt kam sie Daniel vollkommen aufrichtig vor. Er wusste nicht mehr, was er glauben sollte. Deshalb fragte er: »Sie glauben also tatsächlich, dass der alte Mann da im Hof von Legba besessen ist?«

»Welchen Unterschied macht das schon? Er glaubt es. Und ich glaube, dass es für ihn eine wertvolle Erfahrung ist. Daniel, Sie versuchen, absolutes Wissen über das Universum zu erlangen. Dieses Wissen besitze ich nicht. Das besitzt niemand. Ich habe nur meinen Glauben. Jedem Menschen wurde das Bedürfnis, an eine spirituelle Kraft zu glauben, mit in die Wiege gelegt. Unsere Rituale unterstützen diesen Glauben, und sie sind das, was ich Tim geben kann.«

Daniel zeigte in Richtung der Trommeln. »Das Ganze ist also nur ein Ritual, das den Glauben an etwas unterstützen soll, das wir nicht verstehen. Das hört sich für mich aber ziemlich hohl an.«

»Das ist überhaupt nicht hohl«, sagte die Priesterin. »Es hat Heilkraft und ist zutiefst menschlich. Hören Sie, ich bin nicht mit Voodoo groß geworden. Ich bin als brave Katholikin erzogen worden, aber ich wollte schon immer Heilerin werden. Ich bin den konventionellen Weg gegangen, habe an der Loyola University meinen Doktor in klinischer Psychologie gemacht und fünfzehn Jahre als Therapeutin gearbeitet. Fünfzehn Jahre voller Frustration … Erfolge waren selten und meist nur von kurzer Dauer. Dann habe ich Voodoo für mich entdeckt und es hat mich einfach angesprochen. Und eins kann ich Ihnen sagen, ich habe mehr Leuten damit geholfen, einen Hühnerfuß über ihrem Kopf zu schwenken, als mit endlosen Diskussionen darüber, dass ihr Daddy böse zu ihnen war. Ich streite ja gar nicht ab, dass unsere Rituale etwas Theatralisches haben, ebenso wie ein Priester, der die Kommunion erteilt … genau wie jedes andere Ritual auch. Welche Sachverhalte sich auch immer dahinter verbergen mögen, ausschlaggebend ist doch, dass es funktioniert.« Die Trommler im Hof änderten ihr Tempo und das Singen verstummte. Angelica sah zum Tor hinüber. »Ich muss zurück zu meinem Ounfo.« Sie drehte sich um und ging.

Trinity nahm Daniel die Autoschlüssel aus der Hand und sagte: »Gehen wir ein bisschen spazieren.« Dann marschierte er los, mitten auf der Straße.

Daniel lief hinterher und holte ihn ein. Trinity lief schweigend weiter, bis Daniel schließlich sagte: »Ich weiß, du bist sauer, aber mitten in der Nacht in diesem Viertel herumzulaufen, ist keine so gute Idee. Nehmen wir lieber das Auto.«

»Ich bin nicht sauer, ich denke nach. Und bei einem strammen Spaziergang kann ich am besten nachdenken. Sei mal einen Moment still, damit ich meine Gedanken hören kann.«

Am Horizont zeichnete sich leuchtend die Skyline der Innenstadt ab, und während der Klang der Trommeln langsam leiser wurde, liefen sie durch die verlassenen Straßen, Trinity seinen Gedanken lauschend, während Daniel ihren Schritten lauschte und die Augen offen hielt, ob zwischen den Ruinen Ärger lauerte.

Als sie an eine Kreuzung kamen, wollte Trinity rechts abbiegen, aber Daniel hielt ihn an.

»Nicht da lang, da sind keine Straßenlaternen.« Also bogen sie links ab.

Ein paar Blocks weiter blieb Trinity stehen: »Weißt du noch, wo wir geparkt haben?«, fragte er.

»Ich glaube schon.« Daniel deutete zum nächsten Häuserblock.

»Gehen wir zum Wagen.«

Unterwegs teilte ihm Trinity seine Gedanken mit: »Ich bin nicht böse auf dich … Ich glaube sogar, dass heute Nacht alles so gelaufen ist, wie es sollte. Überleg doch mal: Wie wir reagieren, hängt ganz von unserem Charakter ab. Gott kennt dich genau und hat dich in die Sache einbezogen, weil er wusste, wie du reagieren würdest. Ich bin gar nicht hier, um mit Shango zu kommunizieren, sondern ich sollte diese Nacht genauso erleben, wie sie war.« Er ließ seine Hand über die Szenerie der Zerstörung um sie herum schweifen. »Ich sollte das hier alles zu Gesicht bekommen.« Selbst in dem schwachen Licht konnte Daniel Trinitys Lächeln ausmachen. »Nichts, was heute Nacht geschehen ist, war Zufall. Und ich verstehe langsam, was das alles zu bedeuten hat.« Er blieb an der Kreuzung stehen und sah sich um. »Mann, ich wünschte, es gäbe hier Straßenschilder. Wo lang?«

Der Morgen dämmerte, und in dem fahlblauen Licht sah alles anders aus. »Also ich glaube … nein, Moment.« Daniel suchte nach Anhaltspunkten, aber vergeblich. »Verdammt, ich weiß es nicht mehr.«

Trinity holte einen Vierteldollar aus der Hosentasche. »Kopf rechts, Zahl links.« Er warf die Münze, fing sie auf und klatschte sie auf seinen Handrücken. »Zahl.« Er wandte sich nach links und lief weiter. Irgendwo in der Ferne klagte ein Nebelhorn.

Nach hundert Metern blieb Trinity abrupt stehen und die Kinnlade fiel ihm herunter.

Daniel griff nach seiner Waffe. »Was ist?«

»Mein Gott … schau dir das mal an!« Trinity rannte auf die Ruine eines eingeschossigen Gewerbebaus zu. Der Betonziegelbau an sich stand noch, aber die Glastüren und alle Fenster waren verschwunden und das Schild war zerschmettert. »Siehst du?«, sagte er. »Das ist der Beweis.«

Daniels Blick folgte Trinitys Finger zu dem zertrümmerten Schild über dem Eingang.

ERNÄHRU____ZENTR_M T__ TRIN__YS WORTGOTTESKI____

Das Schild kam ihm bekannt vor. Natürlich, er hatte es auf einem Foto auf Trinitys Website gesehen. Dies war die alte Suppenküche seines Onkels.

Nichts, was heute Nacht geschehen ist, war Zufall …

Trinity setzte sich auf die Bordsteinkante. »Jetzt sehe ich klar.«

Daniel setzte sich neben ihn. »Dann erzähl.«

»In Ordnung … Mein ganzes Leben lang war ich ein Gauner. Religion war für mich nur ein Schwindel und ich glaubte nicht an Gott. Aber ich habe in Afrika Schulen und Trinkwasserbrunnen bauen lassen und in Haiti ein medizinisches Versorgungszentrum, und ich habe die größte Suppenküche in Louisiana gegründet. Natürlich habe ich das nur getan, um mir das Finanzamt vom Hals zu halten, aber das spielt keine Rolle, ebenso wenig wie meine Ungläubigkeit. Wichtig war, dass ich Gutes tat, egal aus welchem Grund. Aber nach Katrina habe ich die Leute, die mich reich gemacht haben, im Stich gelassen. Als diese Stadt einen Wohltäter bitter nötig hatte, da bin ich nach Atlanta abgehauen und habe die Geldmaschine von Neuem angekurbelt. Und da fing ich an, Stimmen zu hören und in Zungen zu reden.« Trinity sah zu dem Schild auf. »Erinnerst du dich noch an meine letzte Predigt, bevor die Bombe hochging? Ich dachte, Gott lässt mich da oben auf der Bühne wie einen Trottel aussehen, der nichts zu sagen hat, aber ich habe mich geirrt. Er hat alles gesagt. Das war das einzige Mal, dass er ganz klar durch mich gesprochen hat. Nicht rückwärts, einfach gerade heraus. Und er hat gesagt: ›Glaube ohne Werke ist tot.‹«

»Aber du gehst noch weiter. Du sagst, Glaube sei irrelevant.«

»Natürlich ist der Glaube irrelevant. Gott hat einen katholischen Geistlichen, eine Voodoo-Priesterin und einen Ungläubigen zusammengebracht. Ich glaube, ihm ist völlig egal, was wir glauben – oder ob wir überhaupt glauben –, solange wir nach seinem Wort leben. In meinem Traum hat Mama Anne gesagt: ›Es gibt nur einen Gott. Alles andere ist nur eine Metapher.‹ Wenn man nun all die Metaphern weglässt, was ist dann das eine Gebot, das alle anständigen Religionen gemeinsam haben?«

»Behandle andere so, wie du behandelt werden willst.«

»Genau, in jeder Religion gibt es eine Variante dieses Spruchs, aber warum halten sich so wenige Leute daran? Weil der ganze andere Mist sie blendet, all die Metaphern. Juden und Muslime, Christen, Hindus und Voodoo-Anhänger … alle wollen nur die eine grundlegende Wahrheit leben, aber sie sind verwirrt, weil sie all die Metaphern wörtlich nehmen. Sie alle haben ihre Checklisten: Du sollst nicht am Sabbat arbeiten … du sollst den Namen des Herrn nicht missbrauchen … du sollst kein Schweinefleisch essen … du sollst keinen Alkohol trinken … du sollst nicht töten … und so weiter. Aber dabei behandeln sie sich gegenseitig wie den letzten Dreck. Sie nehmen die Metaphern wörtlich und meinen, sich um die wirklich schwierigen Aufgaben drücken zu können. Sieh dich doch mal um, verdammt!« Trinity zeigte auf die Straße. »Ich meine nicht nur das hier. Ich meine den Zustand, in dem sich die ganze Welt befindet. Die Leute halten sich an die einfachen Regeln, rennen herum und erzählen, wie fromm sie sind und wie sehr sie ihre Mitmenschen lieben … aber das ist nur Gerede. Liebe ist ein Wort der Tat. Sie bringt Verantwortung mit sich.«

Liebe ist ein Wort der Tat. Die Bedeutung dieser Aussage traf Daniel mit fast körperlicher Wucht. Darauf beruhte die Botschaft Jesu. Ein neues Gebot gebe ich euch: Liebt einander! Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben. Das war auch ein katholisches Gebet zum Fronleichnamsfest … das in zwei Tagen stattfand.

Daniel stand auf und betrachtete die alte Suppenküche. »Ich habe die letzten vierzehn Jahre damit zugebracht, nach einem Wunder zu suchen«, sagte er, »nach einem Beweis für die Existenz Gottes. Aber weißt du, ich glaube, ich habe eigentlich nur dieses Gefühl gesucht, dass ich als Kind hatte … als du noch Gottes Bote warst und ich der Gefährte seines Boten. Das Gefühl, dass ich in einem Zustand der Gnade lebte.«

»Dieses Gefühl kam daher, dass du geglaubt hast, wir würden Menschen helfen«, sagte sein Onkel. »Du hast die letzten vierzehn Jahre an den falschen Orten gesucht, Sohn. Es geht nicht um Wunder oder Beweise oder einen direkten Draht zu Gott. Du willst Gott nah sein? Dann strecke die Hand aus und hilf deinem Nächsten. Glaube ohne Werke ist tot … und vielleicht kommt es letztlich auch nur auf die Werke, die Taten an.« Trinity stand auf und legte Daniel die Hand auf die Schulter. »Das ist Gottes einziges Gebot.«