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Lower Ninth Ward, New Orleans

Tim Trinity spähte hinaus in die Dunkelheit. »Weißt du, wo wir sind?«

»Nicht genau«, sagte Daniel. »Wenn wir irgendwo ein Straßenschild sehen, halte ich an.« In diesem Teil des Ninth Ward gab es immer noch keinen Strom, und Daniel konnte außerhalb der Lichtkegel seiner Scheinwerfer überhaupt nichts sehen.

Aber was er sah, machte ihn stinkwütend. Überall gesplittertes Holz und zerbrochene Fenster; verbogenes Metall und verstreute Dachplatten; zertrümmerte Möbel und verrottete Matratzen. Reihenweise kleine Wohnhäuser, nur noch Ruinen … Die Leben einfacher Leute, nur noch Ruinen … Ein Block nach dem anderen. Und kein Anzeichen von Wiederaufbau. Eine Schande war das.

Als hätte er seine Gedanken gelesen, sagte Trinity: »Sieht aus wie nach einer Riesenparty in der Hölle.«

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Angelicas Schwester wohnte in einem Viertel, das wiederaufgebaut wurde, wenn auch langsam. Etwa vier von zehn Häusern waren instand gesetzt, drei mitten in der Renovierung begriffen, die anderen noch immer Ruinen. In diesem Block gab’s auch Strom, und jede dritte Straßenlaterne funktionierte sogar.

Angelica begrüßte sie am Straßenrand. In ihrem Laden war sie sehr farbenfroh gekleidet gewesen, aber nun trug sie ein schlichtes weißes Kleid, hatte ein weißes Tuch um den Kopf gewickelt und war barfuß. Durch ein Tor neben dem Haus führte sie sie in den mit einem Sichtschutzzaun umgebenen Hinterhof.

»Willkommen in unserem Säulenhof«, sagte sie.

Der Hof hatte ein Wellblechdach, das auf Pfosten ruhte. Der Zaun war von innen grün gestrichen, hatte einen rotgelben Rand und war mit Zeichnungen in schwarzer Farbe dekoriert: »Veve«, die die verschiedenen Loa symbolisierten, daneben Schlangen und Hähne, Kreuze und Särge und ein großes Porträt von Marie Laveau, der Voodoo-Queen des neunzehnten Jahrhunderts. Circa ein Dutzend Petroleumfackeln und doppelt so viele flackernde rotweiße Kerzen waren über den Hof verteilt.

In der Mitte stand ein gestreifter Pfahl, um den herum ein Altar aufgebaut war, gegen den der in Angelicas Laden geradezu armselig wirkte: eine imposante Anhäufung von Fetischen und Opfergaben, Flaschen mit Rum und Stechwindenextrakt, Parfumflakons und Schüsseln und Teller, die überquollen vor Jamswurzeln und Kochbananen, Äpfeln und Paprikaschoten, Nüssen, Feigen und Bonbons. Zwei gerahmte Heiligenbilder – von Petrus und Barbara – lehnten hinter den Opfergaben am Altar.

Angelica brachte zwei Becher für Daniel und Trinity. »Legba und Shango lieben beide den Rum. Wir trinken zu ihren Ehren.«

Trinity zwinkerte ihr zu, sagte »L’Chaim« und trank seinen Becher in einem Zug leer.

»Oj wej«, sagte Daniel trocken.

Angelica lachte vergnügt, nahm dann Daniels Hand und wurde ernst. »Sie sind skeptisch und ich respektiere das«, sagte sie. »Ich verlange gar nicht, dass Sie irgendetwas glauben. Ich möchte nur, dass Sie sich von allen Vorurteilen befreien und Ihre Gefühle nicht unterdrücken. Sie glauben vielleicht nicht an die Loa, aber bitte zeigen Sie Respekt.« Sie lächelte und drückte seine Hand. »Sie können ziemlich böse werden, wenn sie sich verhöhnt fühlen.«

Daniel lief ein gespenstischer Schauer über den Rücken. »Ich werde mich benehmen, versprochen.« Darauf trank er seinen Rum.

»Danke«, sagte sie. »Dies ist eine Rada-Zusammenkunft, das heißt, die Unsichtbaren, die wir heute Nacht herbeirufen, sind gutmütig und nicht aggressiv. Sie ergreifen nur Besitz von einem, wenn man es ihnen erlaubt. Also geben Sie ihnen auf keinen Fall die Erlaubnis, es sei denn, Sie sind bereit, sich von einem Loa reiten zu lassen. Bleiben Sie einfach hier stehen und entspannen Sie sich. Und falls Sie den Drang verspüren, mit uns zu singen und zu tanzen, tun Sie sich keinen Zwang an.«

»Twist müsste ich noch mal üben«, sagte Trinity, »aber beim Watusi bin ich einsame Spitze.«

»Er ist nur nervös«, sagte Daniel.

»Ich weiß«, sagte die Priesterin. Sie drehte sich zur Hintertür des Hauses um und rief: »Tambours!«

Die Fliegengittertür ging auf und drei Männer, ein weißer und zwei schwarze, kamen heraus. Alle drei hatten einen nackten Oberkörper, trugen weiße Hosen und waren barfuß. Jeder von ihnen trug eine afrikanische Trommel. Sie stellten die Trommeln an der Ostseite des Hofs auf und setzten sich dahinter auf Hocker.

Dann begannen sie, mit den Händen einen fesselnden Rhythmus zu trommeln. Die Tür ging erneut auf und ein älterer Schwarzer mit einem Weidenkorb kam heraus, gefolgt von fünf schwarzen und zwei weißen Frauen, alle wie Angelica gekleidet, die jüngste vielleicht fünfundzwanzig, die älteste über sechzig. Drei der Frauen trugen bunte, mit Pailletten bestickte Banner bei sich.

Das Trommeln wurde immer lauter und der Rhythmus komplizierter. Der alte Mann stellte den Korb ab, nahm das Gehäuse einer Tritonschnecke vom Altar, führte es zu den Lippen und blies einen lang anhaltenden Ton.

Dann rief Angelica: »Annonce, annonce, annonce!«, und die Gruppe skandierte den gleichen Spruch zurück. Angelica sprenkelte in einer dünnen Spur Florida-Water-Parfum von der Hintertür zum Pfahl in der Mitte, dann von einer Seite zur anderen und schuf so eine Kreuzung. Angelica und der alte Mann stellten sich gegenüber auf und tanzten drei Pirouetten, dann schüttelten sie sich mit gekreuzten Armen beide Hände. Die anderen Frauen taten es ihnen nach und wiegten sich dann im Rhythmus der Trommeln, während der alte Mann zwei Handvoll Maismehl vom Altar nahm, um damit ein Veve, ein Loa-Symbol, auf den Boden zu zeichnen. Dann beugte er sich hinunter und küsste das Veve dreimal.

Die Gruppe sang: »Damballah Wedo, Damballah Wedo, Damballah Wedo …«, und Angelica griff in den Korb, holte eine junge, gut einen Meter lange Boa constrictor heraus, hielt sie über ihren Kopf und tanzte rückwärts um den Pfahl. Bei jedem Teilnehmer machte sie Halt, damit der die Schlange berühren konnte. Die Priesterin sang: »Damballah Wedo … nous sommes les sevites … Ti Ginen.« Sachte legte sie die Schlange wieder in den Korb, schloss den Deckel und tanzte mit einer perlenbesetzten Kalebasse in der Hand, während das Trommeln immer intensiver wurde und zu einem hypnotischen Mischrhythmus anwuchs.

Angelica skandierte:

Odu Legba, Papa Legba,

Öffne die Tür, deine Kinder warten.

Papa Legba, öffne die Tür,

Deine Kinder warten.

Ago! Legba! Ago-e!

Und die Gemeinde antwortete:

Ayibobo!

Der alte Mann zündete eine Maiskolbenpfeife an und malte mit dem Rauch das Zeichen des Kreuzwegs in die Luft. Dann nahm er die Platten mit den Opferspeisen, schwenkte sie durch den Rauch und beschwor Papa Legba, von den anwesenden Gläubigen Besitz zu ergreifen: »Legba, qui garde la porte. Mystère des carrefours, source de communication entre le visible et l’invisible. Acceptez nos offrandes. Entrez dans nos bras, dans nos jambes, dans nos cœurs. Entrez ici.«

Angelica nahm einen Schluck Rum direkt aus der Flasche und sprühte ihn mit dem Mund auf Legbas Maismehl-Symbol. Dann wirbelte sie im Kreis um den Pfahl herum, wobei sie über jedem der Eingeweihten den Flaschenkürbis schüttelte. Die anderen schlossen sich ihr an und wirbelten ebenfalls im Kreis herum, wobei sie absichtlich das Maismehl-Veve mit den Füßen zerstoben. Angelica nahm eine Handvoll von dem rumgetränkten Maismehl und strich davon jedem etwas auf die Stirn, bis auf den alten Mann, den sie stattdessen im Nacken berührte.

Der Alte schloss die Augen und stand ein paar Sekunden lang stocksteif da, begann dann krampfartig zu zucken, warf den Kopf in den Nacken und lachte laut auf. Er griff sich eine Flasche vom Altar, nahm einen kräftigen Schluck und kippte sich dann den Rest des Rums über den Kopf, ins Gesicht und sogar in die offenen Augen, was ihm überhaupt nichts auszumachen schien. Daraufhin nahm er einen geschnitzten Spazierstock und die glimmende Pfeife und tanzte um den Pfahl, wobei er den Spazierstock herumwirbelte und heftig an der Pfeife zog, von der nach Kirschen duftende Rauchwolken aufstiegen. Das Trommeln wurde immer schneller und der Alte tanzte immer hektischer, während die Eingeweihten mit ihren Gesängen Papa Legba lobpreisten.

Angelica nahm Daniel und Trinity ihre Trinkbecher ab. »Papa Legba hat die Wegkreuzung für uns geöffnet«, erklärte sie. »Wir trinken noch einmal, um ihn zu ehren, und dann zeichne ich Shangos Veve auf den Boden und fordere ihn auf, von meinem Körper Besitz zu ergreifen. Sie müssen nicht erschrecken, falls er Sie direkt anspricht. Entweder spricht er durch meinen Mund oder Sie hören seine Stimme in Ihrem Kopf, also lauschen Sie.«

Aber irgendetwas an der Art, wie sie es sagte, machte Daniel stutzig. Er war im Laufe der Jahre schon vielen religiösen Scharlatanen begegnet – und war bei einem der besten aufgewachsen –, und nur eine Minute zuvor hatte die Priesterin noch vollkommen ehrlich gewirkt. Aber dieser Spruch, dass Shango vielleicht direkt mit Trinity sprechen würde … das hörte sich für ihn nach Augenwischerei an.

Als die Priesterin ihre leeren Becher zum Altar brachte, sah er verstohlen seinen Onkel an. Trinity bewegte sich im Trommelrhythmus und hatte ein heiteres Lächeln im Gesicht, so als wäre alles in Ordnung in der Welt.

Außerdem gefiel Daniel nicht, wie Angelica am Altar ihre Becher auffüllte. Sie kehrte ihnen den Rücken zu … so, als versperrte sie ihnen absichtlich die Sicht.

Daniel machte einen Schritt nach links, um besser sehen zu können.

Sie hielt die Rumflasche in der rechten Hand … und die linke hielt sie über Trinitys Becher. Irgendetwas war in ihrer Hand verborgen.

Eine Pipette.

Daniels war entsetzt. Hatte er das wirklich gesehen? Versetzte sie Trinitys Rum tatsächlich mit irgendeiner Droge?

Verdammt! Es war eindeutig.

Die Priesterin kam zurück und reichte ihnen die Becher. Dann hob sie ihren eigenen. »Auf Legba!« Sie trank.

Trinity hatte seinen Becher halb zum Mund geführt, da schlug Daniel ihn ihm aus der Hand.