Rom
Daniel schwang sich auf dem Langzeitparkplatz des Flughafens Leonardo da Vinci auf seine Honda Shadow und fuhr über die Autostrada auf die Lichter Roms zu. Er beachtete die Straße kaum, denn er dachte an Nigeria zurück.
Der unterwürfige Priester, der das Wunder in seiner Gemeinde für eine Beförderung mit Versetzung in die Großstadt ausnutzen wollte. Eltern und Großeltern stolzerfüllt, denn »unsere kleine Abassi wurde auserwählt, die Wundmale Christi zu tragen«. Und das junge Mädchen mit den riesigen, braunen Augen, der manischen Energie und der Handvoll Dachnägel unter der Matratze.
Daniel wusste, dass sie sich die Verletzungen selbst beibrachte. Er hatte sie auf frischer Tat ertappt. Aber ein paar Tage lang stellte er sich dumm und stellte dem Mädchen und seiner Familie nur ganz harmlose Fragen, um sie in Sicherheit zu wiegen. Alle paar Stunden ließ die Familie das Mädchen unter einem Vorwand allein. Irgendjemand sagte: »Sie muss sich ausruhen. Es ist alles nicht so einfach für sie.« Dann nickten alle mitleidig, rangen ihre rauen Bauernhände und gingen in die Küche, um Tee aus angeschlagenen Porzellantassen zu trinken. Und wenn sie eine Stunde später dem Mädchen eine Tasse Tee brachten, traten sie bei jedem Schritt fest auf, klopften an und zögerten ein wenig zu lange, bevor sie eintraten.
Sie schauten bewusst weg, und er gab sich alle Mühe, sie deswegen nicht zu hassen.
Am dritten Tag, während einer der »Ruhepausen« des Mädchens, entschuldigte sich Daniel und stand vom Küchentisch auf, angeblich, um wie an den Tagen zuvor das Badezimmer aufzusuchen. Aber diesmal ging er direkt zum Zimmer des Mädchens und stieß die Tür auf.
Sie saß lächelnd auf dem Bett und sang leise Jesus Loves Me, während sie sich einen Nagel durch die linke Handfläche trieb. Dann drehte sie den Nagel, um das Loch zu vergrößern, und Blut tropfte in ihren Schoß.
Conrad hatte recht, dass viel auf dem Spiel stand. Der befremdliche islamische Fundamentalismus, den Boko Haram in Nigeria propagierte, war nicht nur rückschrittlich – er war gewalttätig, frauenverachtend und apokalyptisch. Der Name bedeutete »Westliche Erziehung ist Sünde«. Die Anhänger schworen, alle in ihrem Gebiet lebenden Christen umzubringen, und machten es auch wahr. Sie hatten bereits über tausend Menschen getötet und mehr als dreihundert Kirchen niedergebrannt. Während des letzten Weihnachtsfests hatten sie zweiundvierzig Katholiken abgeschlachtet. Die gemäßigten Muslime, die sich abmühten, das Land gemeinsam mit der christlichen Minderheit zu regieren, verloren immer mehr Einfluss an die radikalen Islamisten, und nachdem man schon jahrelang mit der akuten Gefahr eines Bürgerkriegs lebte, wollte niemand zugeben, dass der Krieg im Grunde schon ausgebrochen war. Die Politiker benutzten nach wie vor den Begriff Aufstand, was aber eher auf Wunschdenken beruhte.
Natürlich stimmte er mit Conrads Zielen überein und, ja, mit einem fingierten Wunder würden sie die Schlacht vielleicht gewinnen, aber den Krieg wahrscheinlich verlieren. Sein Amt hatte den Auftrag, stets langfristige Entwicklungen zu berücksichtigen und angebliche Wunder ehrlich zu prüfen.
Und dann war da noch das Mädchen mit den Löchern in den Händen; das Mädchen, das Hilfe von einem Psychologen brauchte, nicht Anerkennung durch den Vatikan. Die Wundmale ihres neurotischen Verhaltens zu einem Wunder zu erklären, hätte ihr Leben unweigerlich vollends zerstört.
Conrad war bereit, das Mädchen zu opfern, es für »das übergeordnete Wohl« zu einem Leben mit einer psychischen Krankheit zu verdammen, und dies als Kollateralschaden abzutun. Sie, das Mädchen, bezeichnete er als Kollateralschaden. Aber nach Daniels Ansicht mähte jeder, der diese Grenze überschritt, das Gras Gottes. Nach Gottes Willen zu handeln, war eine Sache, aber ihm seine Entscheidungen abzunehmen, war etwas ganz anderes. Vielleicht war Daniel wirklich hochmütig, aber im Vergleich war Hochmut eine lässliche Sünde.
Daniel betete lange für das Mädchen, bekreuzigte sich und wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Fahrbahn zu.
»Ich kann einfach nicht glauben, dass Sie das zulassen.«
Pater Nick, der dem Amt des Advocatus Diaboli vorstand, zuckte mit seinen breiten Schultern und lehnte sich zurück. »Das liegt nicht in meiner Hand. Seine Eminenz ist für beide Abteilungen zuständig. Wenn er möchte, dass Sie zur Weltmission gehen …«
»Ich bin Ermittler. Ich habe bei der Weltmission nichts verloren, das wissen Sie doch.«
»Immer langsam, Dan. Ihr Talent als Ermittler steht außer Frage.« Nick deutete auf einen Stuhl vor seinem Schreibtisch. »Setzen Sie sich.«
Daniel setzte sich. »Es geht um Politik, oder? Conrad ist stinksauer, weil ich ihm kein fingiertes Wunder liefere, und hat Kardinal Allodi um den Finger gewickelt.«
»Es sieht ganz danach aus«, sagte Nick. »Seine Eminenz hat mir seine Erwägungen allerdings nicht mitgeteilt. Ich habe mich für Sie eingesetzt, aber …« Er stand auf, ging an die antike Mahagonibar und schenkte goldenen Armagnac in zwei Kristallschwenker. »Ich habe Ihre E-Mails zu dem Fall überflogen. Sie sagen, es gibt kein Wunder.«
»Nein, kein Wunder, nur eine verkorkste Heranwachsende, die sich, wenn gerade alle wegschauten, Nägel durch Hände und Füße trieb.« Er nahm das Glas, das Pater Nick ihm hinhielt. »Und die Leute haben ziemlich oft weggeschaut. Alle haben sich gewünscht, es wäre wahr.«
Nick setzte sich wieder. »Okay. Ich weiß, es ist manchmal ziemlich hart.«
»Das Mädchen verletzt sich seit ihrem zwölften Lebensjahr selbst. Drei Jahre lang hat der ganze Ort sie behandelt wie ein Geschenk des Himmels – Familie, Freunde und sogar der Priester. Ich habe drei Tage in diesem Irrenhaus verbracht und ich kann Ihnen sagen, das Mädchen ist total kaputt.« Er nahm einen großen Schluck Weinbrand. »Und von uns lernen sie erst, dass es so was wie Stigmata gibt.«
Pater Nick sah den jüngeren Geistlichen streng an. »Dass Sie noch nie welche gesehen haben, heißt nicht, dass es sie nicht gibt.«
Aber Daniel untersuchte schon seit zehn Jahren Wundermeldungen für den Vatikan und hatte noch gar nichts gesehen. Zehn Jahre voller Selbstverstümmler mit Stigmata, Stimmen hörenden Schizophrenen und Schwindlern, die Salzwasser durch ausgehöhlte Statuen der Heiligen Jungfrau pumpten. Zehn Jahre voller Ölfässer mit Rostflecken, die »irgendwie fast ein bisschen« wie Jesus aussahen, wenn man die Augen zusammenkniff, den Kopf neigte und unbedingt in einem Rostfleck Jesus erkennen wollte.
Zehn Jahre.
Siebenhunderteinundzwanzig Fälle.
Und nicht ein einziges Wunder.
Auch Daniel selbst hoffte auf ein Wunder. Aber selbst wenn er alle Prinzipien außer Acht ließ – selbst wenn er sich auf den schlüpfrigen Pfad des Ziels, das die Mittel »heiligte«, begäbe –, würde dieser Fall einer genauen Prüfung niemals standhalten. Das Mädchen würde als Betrügerin entlarvt. Und ein vom Vatikan abgesegneter Schwindel würde der Kirche die Art von Publicity bescheren, die sie im »Krieg um die Seelen« so gar nicht gebrauchen konnte. »Sie wollen mir doch nicht etwa nahelegen, mein Urteil in diesem Fall zu ändern, oder, Pater Nick?«
»Nein, gewisse Leute würden sich das wünschen, aber zu denen gehöre ich nicht und das habe ich auch allen Beteiligten gesagt.
Aber leider müssen Sie sich damit abfinden: Folge dieser Entscheidung ist, dass wir Sie für eine Weile an Conrad ausleihen müssen. Ich werde mich weiterhin bei Seiner Eminenz für Sie einsetzen, und hoffentlich wird Ihr Exil nur von kurzer Dauer sein.« Er nippte an seinem Weinbrand und zwang sich zu einem Lächeln. »Na ja … wenn Gott in Nigeria ein Wunder will, dann muss er es wohl selbst vollbringen.«
»Ach, kommen Sie, Nick, irgendwas müssen Sie doch tun können. Conrad ist ein Riesenarschloch. Ich werde wahnsinnig, wenn ich für den arbeiten muss.«
»Versetzen Sie sich doch mal in seine Lage«, sagte Pater Nick. »Sie wissen gar nicht, mit was für Abscheulichkeiten er sich ständig auseinandersetzen muss … aber Sie haben recht, er ist wirklich ein Arschloch.« Nick blickte lange in seinen Schwenker und nahm dann bedächtig einen Schluck. »Genau genommen gibt es da einen Fall, dessentwegen ich Sie zurückholen könnte. Ich müsste mich auf besondere Umstände berufen, aber …«
»Besondere Umstände?«
»Genau das ist das Problem. Der Grund, warum ich Ihnen diesen Fall eigentlich nicht übertragen sollte.«
»Ich mache alles, was Sie wollen.«
»Sie könnten Schaden davontragen, mein Junge. Ich habe selbst miterlebt, wie sehr Sie sich persönlich in Fälle …«
»In einen Fall.« Daniel gab sich alle Mühe, sich seinen Ärger nicht anmerken zu lassen. Er hatte seine Buße für Honduras getan, aber im Vatikan vergisst man so schnell nichts. Man vergibt, aber man vergisst nicht. »Vor vier Jahren. Ach, kommen Sie, Nick! Es geht mir gut und ich komme schon damit klar.«
»Ich weiß nicht.« Nick schaute ihm immer noch in die Augen. »Wie gefestigt ist Ihr Glaube?«
»Ich arbeite dran … wie immer.« Nick antwortete nicht darauf, also zitierte Daniel eine Floskel, die die älteren Priester gern zum Besten gaben: »Glauben ist eine Entscheidung, kein Zustand.« Dann lächelte er. »Und ich entscheide mich immer wieder dafür. Nur darauf kommt’s doch an, oder?«
»Sie arbeiten nicht dran, sondern Sie laufen in der Gegend rum und suchen nach Beweisen. Meinen Sie, das wüsste ich nicht? Glauben Sie mir, ich weiß Bescheid. Sie haben vor langer Zeit eine Abmachung mit Gott gemacht: Sie geben vor zu glauben, und sollte er sein Angesicht zeigen, dann werden Sie auch wirklich an ihn glauben. Und wissen Sie, woher ich das weiß? Weil ich als junger Mann genauso war. Aber Ihre Uhr tickt. Sie werden nicht jünger.« Schließlich schenkte ihm Nick ein ehrliches Lächeln. »Sehen Sie, Sie sind mein ungläubiger Thomas und deshalb mag ich Sie. Eines Tages, wenn ich alt und senil bin, sitzen Sie hoffentlich hier auf meinem Stuhl. Aber Sie wissen doch, Sie müssen an Ihrem Glauben arbeiten.«
Daniel schüttelte den Kopf. »Was soll ich sagen? Ich entscheide mich immer wieder für den Glauben, auch wenn ich diese Entscheidung mehrmals täglich treffen muss. Eigentlich geht es mir gut. Ich will diesen Fall, egal, worum es geht. Und dass wir immer noch darüber reden, beweist nur, dass Sie mich auch wollen.«
Der Ältere nickte zustimmend. Nach längerem Schweigen sagte er: »Also gut, wir sind auf eine … nun ja, eine Anomalie gestoßen. Nennen wir es mal so. Und es hat was mit Ihrem Onkel zu tun.«