TEIL SECHS
Oktober 1788 bis Mai 1791
003
Die Frauen wurden angewiesen, unten zu bleiben, die Männer brachten ihre Habseligkeiten schon vor Tagesanbruch an Deck und warteten nun darauf, im ersten Morgenlicht die Insel Norfolk auftauchen zu sehen. Der Sonnenaufgang war ein überwältigendes Schauspiel. Das Wolkengebirge am Himmel verfärbte sich von einem purpurn gesprenkelten Pflaumenblau zu einem glühenden Scharlachrot und glänzte schließlich wie pures Gold.
In der Nacht hatte das Schiff einige Meilen von der Küste entfernt vor Anker gelegen, erst jetzt ging es wieder unter Segel. Captain Sharp war noch nie auf der Insel gewesen und wollte kein Risiko eingehen. Harry Ball von der Supply hatte ihm den Navigationsoffizier der Supply, Leutnant David Blackburn, ausgeliehen, der die Riffe, Felsen und Untiefen vor der Küste kannte wie seine Westentasche.
Geblendet von der tief am Himmel stehenden Sonne, sah Richard nur einen dunklen Strich - das musste die Insel sein, die laut Donovan drei auf fünf Meilen groß war. Wie Teneriffa sah sie jedenfalls nicht aus. Dann leuchtete sie plötzlich schwärzlich-grün in der Sonne auf, gesäumt von 300 Fuß hohen, rostfarbenen und schwarzen Klippen. Trotzdem wirkte die Insel nicht düster und unheimlich, denn das tiefblaue Wasser hellte sich zur Küste hin zu einem strahlenden Aquamarin auf.
Sie segelten in einer schwachen Brise, die zuerst von Südwesten, dann von Nordosten kam, nach Osten. Der großen Insel vorgelagert waren zwei weitere Inseln: ein kleines, mit Tannenwald bedecktes Eiland in Küstennähe und rund vier Meilen weiter südlich eine größere, bergige Insel, die abgesehen von ein paar in Gruppen zusammenstehenden dunklen Tannen saftig grün war. Weiße Wellen brachen sich am Fuß der vielen Klippen und brandeten gegen eine Art Barre, auf die sie zufuhren, doch das Meer war ganz ruhig.
In einiger Entfernung von dem gischtgesäumten Riff warf die Golden Grove Anker. Jenseits des Riffs glitzerte eine blau-grüne Lagune mit zwei Stränden, einem halbkreisförmigen im Osten und einem lang gestreckten im Westen. Der Sand war aprikosengelb und ging in einen Tannenwald über, der von Menschen gelichtet worden war. Dort standen die größten Bäume, die Richard je gesehen hatte. Zwischen ihnen duckten sich ein paar Holzhütten.
Eine große blaue Fahne mit einem gelben Kreuz hing an einer Fahnenstange in der Nähe des lang gestreckten Strandes, an dem in diesem Augenblick Menschen in zwei kleine Boote kletterten. Die Jolle der Golden Grove wurde zu Wasser gelassen. Inzwischen war Flut, sodass die Jolle das Riff überqueren konnte. Weiter durften die großen Beiboote nicht fahren, erklärte Leutnant Blackburn. Hinter dem Korallenriff würde die Fracht auf kleine Flachboote umgeladen, die sie dann zum Strand brächten.
Eines der beiden kleinen Boote näherte sich dem Schiff. In seinem Bug stand ein Mann, der eine blau-weiße Uniform mit Goldtressen, eine gepuderte Perücke und an der Seite einen Säbel trug. Er kam an Bord und schüttelte Captain Shairp die Hand. Dann begrüßte er Blackburn, Donovan und Livingstone ebenso herzlich. Das musste der Kommandant der Insel sein, Leutnant Philip Gidley King, den Richard noch nie zu Gesicht bekommen hatte. King war ein gut gebauter Mann mittlerer Größe. Sein gebräuntes Gesicht mit den funkelnden, haselnussbraunen Augen, dem festen, freundlichen Mund und der großen, aber nicht unförmigen Nase war weder schön noch hässlich.
Nach dem Austausch der Höflichkeiten wandte King sich an die Sträflinge. »Wer von Ihnen kann mit einer Säge umgehen?«
Richard und Bill Blackall hoben zögernd die Hand.
King machte ein langes Gesicht. »Mehr nicht?« Er schritt die Reihe der einundzwanzig Männer ab und blieb vor dem großen und kräftigen Henry Humphreys stehen. »Vortreten«, forderte er ihn auf. Dann ging er weiter, bis er zu Will Marriner kam, der ebenfalls stark aussah. »Sie auch.«
Nun waren sie zu viert.
»Hat einer von Ihnen schon als Säger gearbeitet?«
Keiner antwortete. Richard unterdrückte einen Seufzer, weil wieder einmal er sprechen musste, um zu verhindern, dass die Gruppe sich durch ihr Schweigen den Zorn des Offiziers zuzog.
»Nein, Sir. Blackall und ich wissen zwar, wie es geht, aber keiner von uns hat je als Säger gearbeitet. Ich bin eigentlich Sägenschleifer.«
»Und Büchsenmacher, Herr Leutnant«, warf Donovan schnell ein.
»Aha! Für einen Büchsenmacher habe ich nicht genug Arbeit, aber für einen Sägenschleifer umso mehr. Wie heißen Sie?«
Sie nannten ihre Namen und Häftlingsnummern.
»Nummern sind an einem Ort mit so wenigen Menschen unnötig. Morgan und Blackall, Sie weisen Humphreys und Marriner in der Sägegrube ein. Sie fahren sofort zum Strand und machen sich an die Arbeit. Wir müssen die Golden Grove mit Holz für Port Jackson beladen, und da ich meinen einzigen Säger bei einem Bootsunfall verloren habe, muss noch viel Holz zugeschnitten werden. Die Sägen sind stumpf, sie müssen sofort geschliffen werden, Morgan. Haben Sie Werkzeuge? Wir haben nur zwei Feilen.«
»Ich habe alle nötigen Werkzeuge, Sir«, sagte Richard. Dann stellte er gleich noch eine Bitte, um zu verhindern, dass er Mitarbeiter zugeteilt bekam, die er nicht kannte oder denen er nicht vertraute. »Sir, könnte ich wohl Joseph Long mitnehmen? Er ist zwar weder besonders stark noch besonders helle, aber er tut, was man ihm sagt, und kann uns helfen.«
Der Kommandant sah Joey an und dann den Hund auf seinem Arm. »Was für ein schöner Hund!«, rief er. »Ein Männchen, Long?«
Joey nickte wortlos. Er war bisher immer nur angeschnauzt und herumkommandiert worden. Noch nie hatte ein Offizier mit ihm gesprochen wie mit einem Menschen.
»Großartig! Wir haben nur einen Hund hier, ein Spanielweibchen. Jagt Ihrer Ratten?«
Joey nickte wieder.
»Dann haben wir ja verdammtes Glück! Delphinia jagt auch Ratten. Wir werden also Welpen bekommen, die Ratten jagen - und die brauchen wir hier dringend!« King merkte, dass die fünf immer noch wie gebannt dastanden und ihn anstarrten. »Worauf wartet ihr? Steigt in das Boot!«
Sie stiegen in das von zwei Ruderern bemannte Boot.
»Wir freuen uns, ein paar neue Gesichter zu sehen«, sagte einer der Ruderer, ein Mann in den Fünfzigern, im schleppenden Dialekt von Devon. »John Mortimer von der Charlotte.« Er deutete mit dem Kopf auf den anderen. »Mein Sohn Noah.«
Die beiden sahen überhaupt nicht wie Vater und Sohn aus. John Mortimer war groß und blond und wirkte gutmütig, Noah Mortimer war klein und dunkelhaarig und - seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen - ziemlich von sich eingenommen.
Das Flachboot, klinkergebaut wie ein schottisches Fischerboot, glitt über das Riff, ohne es auch nur zu streifen, und dann über die Lagune zu dem nur knapp hundertundvierzig Meter entfernten Strand, wo einige der noch lebenden Inselbewohner sie schon erwarteten: sechs Frauen, von denen die älteste hochschwanger war, und fünf Männer verschiedenen Alters - wenn sie wirklich so jung oder alt waren, wie sie aussahen.
»Nathaniel Lucas, Schreiner«, stellte ein Mann in den Dreißigern sich vor. »Das ist meine Frau Olivia.«
Ein schönes, intelligent wirkendes Paar.
»Ich bin Eddy Garth und das ist meine Frau Susan«, sagte ein anderer.
»Ich heiße Ann Innet und bin die Haushälterin von Leutnant King«, sagte die älteste der Frauen und hielt eine Hand ein wenig trotzig vor ihren dicken Bauch.
»Elisabeth Colley, Haushälterin von Doktor Jamison.«
»Eliza Hipsley, Landarbeiterin«, sagte ein hübsches dralles Mädchen, das den Arm um ein anderes Mädchen gleichen Alters gelegt hatte. »Das ist meine beste Freundin Liz Lee. Sie ist auch Landarbeiterin.«
Bei diesem Paar weiß ich zumindest, woran ich bin, dachte Richard. Nur ein Blinder würde dieser Eliza Hipsley nicht ansehen, dass die Ankunft so vieler neuer Männer ihr Angst macht. Bestimmt werden die beiden von Männern wie Len Dyer und Tom Jones belästigt. Er gab den Mädchen mit einem freundlichen Lächeln zu verstehen, dass er ein Verbündeter war.
Der einzige anwesende Seesoldat hatte es wie einige Männer nicht für nötig befunden, sich vorzustellen. »Leutnant King hat uns befohlen, gleich mit der Arbeit zu beginnen«, sagte Richard zu ihm. »Darf ich Sie bitten, uns die Sägegrube zu zeigen?«
 
Das Haus von Leutnant King war etwas größer als die anderen und lag auf einem kleinen Hügel direkt hinter der blau-gelben Signalflagge. An einer zweiten Fahnenstange näher am Haus hing schlaff ein Union Jack. Das Haus hatte wahrscheinlich drei kleine Zimmer und eine Dachstube. Die Hütte dahinter war offenbar die Küche. Daneben gab es noch eine gemeinschaftliche Kochstelle mit einem Backofen und eine Schmiede. Ein paar kleinere Schuppen dienten offenbar als Vorratslager; sie waren höchstens zehn auf acht Fuß groß. Auf einer weiteren Anhöhe im Osten erstreckten sich einige Felder, zu denen die Frauen einschließlich der schwangeren Ann Innet nun zurückeilten. Zwischen den beiden Hügeln standen im Schutz der Tannen vierzehn Holzhütten, fachmännisch gedeckt mit den fasrigen Stängeln einer Pflanze. Die dem Meer zugewandten Wände hatten weder Fenster noch Türen. Die Eingänge der Hütten mussten auf der Rückseite liegen.
Die Sägegrube lag nicht weit vom Strand entfernt am Ende eines in den Tannenwald führenden Weges. Um die Grube war ein Streifen gerodet worden, auf dem dutzende zwölf Fuß langer Baumstämme lagen. Der schmalste hatte einen Durchmesser von fünf Fuß. Richard wäre zu gerne stehen geblieben, um die gewaltigen Stämme, die er zu Balken und Brettern zersägen sollte, näher zu betrachten, doch er wagte es nicht. King hatte befohlen, sofort mit der Arbeit anzufangen, und der Seesoldat, der sich inzwischen widerwillig als Heritage vorgestellt hatte, schien Sträflinge nicht zu mögen.
Zwei Mastbäume und eine Spiere waren schon zugeschnitten und beiseite gelegt worden, neben einen Stapel fertiger Planken. Sie und die Masten waren wahrscheinlich für eines der Schiffe bestimmt, die noch in Port Jackson lagen.
Die Sägegrube war sieben Fuß tief, acht Fuß breit und fünfzehn Fuß lang. Ihre Wände waren mit Brettern abgestützt. Zwei Balken lagen quer über der Grube, fünf Fuß vom Rand und voneinander entfernt. Ein entrindeter Baumstamm war bereits auf die Balken gerollt worden und lag, auf ihnen verkeilt, der Länge nach über der Grube. In der Grube fand Richard unter einem alten Segel fünf Zugsägen von acht bis vierzehn Fuß Länge.
In diesem Augenblick traf Nathaniel Lucas ein.
»Werkzeuge aus Eisen und Stahl haben in diesem Klima keine Chance«, sagte er zu Richard. »Wir können tun, was wir wollen, die verflixten Dinger rosten immer weiter.«
»Sie sind auch völlig stumpf«, stellte Richard fest. Er fuhr mit dem Daumen über einen großen Sägezahn mit einer tiefen Kerbe und verzog das Gesicht. »Wer an dieser Säge herumgefeilt hat, hat noch nie etwas von geschränkten Sägezähnen gehört. Herrgott! Es wird Stunden dauern, das wieder zu richten, vom Schärfen ganz zu schweigen. Kann hier jemand Blackall, Humphreys und Marriner beibringen, wie man sägt?«
»Erklären kann ich es ihnen«, sagte Lucas, der klein und schmächtig war, »ich bin nur nicht kräftig genug, um ihnen zu helfen.«
Richard hob eine zehn Fuß lange Säge an, die einigermaßen scharf war.
»Das ist noch die Beste - Nat oder Nathaniel?«
»Nat. Und du? Richard oder Dick?«
»Richard.« Richard sah zur Sonne hinauf. »Wir brauchen so bald wie möglich ein Dach über der Grube. Die Sonne ist hier viel stärker als in Port Jackson.«
»Sie steht auch um vier Breitengrade höher.«
»Aber das Dach wird wohl warten müssen, bis die Golden Grove weg ist.« Richard seufzte. »Das heißt, wir brauchen Hüte und viel Wasser zum Trinken. Wo kann Joey unsere Sachen hinbringen, bevor wir loslegen? Ich bleibe am besten hier und fange gleich mit dem Schärfen an.« Er hockte sich im Schneidersitz auf den Boden der Grube, in die westliche, noch schattige Ecke, und zog eine zwölf Fuß lange Säge auf seinen Schoß. »Joey, sei so gut und reich mir meine Werkzeugkiste herunter und dann geh bitte mit Nat mit. Ihr anderen bringt ebenfalls eure Sachen weg und kommt gleich wieder.«
Jetzt war er schon wieder der Anführer, dachte Richard, nur weil man den anderen ständig sagen musste, was sie tun sollten.
Er arbeitete an diesem ersten Tag bis zum Einbruch der Dunkelheit. Dann kam Joey und sagte, dass das Abendessen fertig sei. Sie saßen um ein großes Feuer, denn sobald die Sonne unterging, wurde es auf der Insel kälter als in Port Jackson. Es gab Pökelfleisch und relativ frisches, da nur sechs Tage altes Brot und - welch ein Wunder! - rohe grüne Bohnen und Salat. Richard langte heißhungrig zu und stellte fest, dass die Brotlaibe und Fleischportionen größer waren als in Port Jackson.
»Der Kommandant ist ein anständiger Mensch, deshalb bekommen wir volle Verpflegungsrationen«, erklärte Eddy Garth. »In Port Jackson kürzen die Seesoldaten den Sträflingen die Rationen, um selbst mehr zu essen zu haben. Wie auf der Scarborough
»Und der Alexander.« Richard seufzte glücklich. »Aber ich denke, es gibt hier kein Gemüse, weil die Raupen alles fressen.«
Garth legte den Arm um seine Frau, und seine Frau lehnte sich zufrieden an ihn. »Es stimmt, dass die Raupen eine Menge wegfressen, aber nicht alles. Die Frauen müssen auf den Feldern den ganzen Tag lang Raupen einsammeln. Die Ratten vergiftet der Kommandant mit dem zermahlenen Glas von Portweinflaschen, vermischt mit Hafermehl. Das wirkt übrigens auch gut gegen Papageien.« Er legte den Zeigefinger an die Nase und grinste. »Tja, Portwein ist das Lieblingsgetränk unseres Kommandanten, er trinkt davon mehrere Flaschen am Tag, deshalb geht uns das Glas nie aus. Und die Raupen kommen und gehen. Sie sind vier bis sechs Wochen da und dann vier bis sechs Wochen weg. Es gibt zwei Arten von Raupen. Die eine mag es feucht, die andere trocken. Deshalb haben wir die gefräßigen Biester bei jedem Wetter.« Er räusperte sich. »Du hast nicht zufällig Bücher dabei?«
»Doch, ich habe welche«, sagte Richard. »Du kannst sie gerne ausleihen, wenn du auf sie aufpasst und sie wieder zurückgibst. Ob mein Magen das grüne Gemüse nach so langer Zeit wohl verträgt? Wo sind denn die Aborte?«
»Ziemlich weit weg. Du musst also rechtzeitig losrennen. Mr King bestand darauf, dass die Jauchegruben an einer Stelle ausgehoben werden, wo sie das Grundwasser nicht verseuchen können. Unser Trinkwasser kommt aus einem Bach weiter oben im Tal, es ist also einwandfrei. Oberhalb der Stelle, an der wir das Wasser holen, darf niemand sich waschen, und wer in den Bach pinkelt, wird mit einem Dutzend Peitschenhieben bestraft.«
»Warum sollte jemand in den Bach pinkeln? Es sind doch genug Bäume da.«
Joey Long, der schon früher gegessen hatte, weil er MacGregor Delphinia vorstellen musste, zeigte Richard den Weg zu den Aborten und führte ihn anschließend zu ihrer Hütte. Ein kurzer Tannenast, der sich an einem Ende zu einem Knoten verdickte, diente ihm als Fackel.
In der Hütte sah Richard sich erstaunt um.
»Wir beide haben das ganze Haus für uns allein«, sagte Joey zufrieden. »Es hat auf jeder Seite ein Fenster, das man mit einem Laden zumachen kann. Siehst du, so. Aber wir machen die Läden nur zu, wenn es zieht. Nat sagt, es kommt selten vor, dass der Regen von Osten oder Westen gegen das Haus schlägt. Meistens kommt er von Norden.«
Auf dem Boden lag ein seltsamer Teppich aus - Zweigen? Blättern? Sie sahen aus wie schuppige, zwölf bis fünfzehn Zoll lange Schwänze und fühlten sich fest an, gaben aber unter den Füßen etwas nach und stammten, wie Richard später erfuhr, von der Norfolktanne. Unter dem Pflanzenteppich kam eine dünne Schicht Sand, darunter Fels. An der fensterlosen Wand zum Strand hin standen zwei niedrige Doppelbetten aus Holz mit dicken Matratzen und Kissen.
»Ein Doppelbett ganz für mich allein, Joey?« Richard hob die dicke Matratze an und sah, dass sie auf einem Netz aus Seilen lag. Dann stellte er fest, dass die Matratze und die Kissen mit Federn gefüllt waren. »Federn!«, rief er und lachte. »Ich muss gestorben sein, und jetzt bin ich im Himmel.«
»Das ist das Haus des Sägers«, erklärte Joey, begeistert, so viel mehr zu wissen als Richard. »Er war ein Matrose von der Sirius, hat Nat gesagt, und er teilte sich das Haus mit einem anderen Matrosen, ebenfalls von der Sirius. Beide ertranken vor knapp drei Monaten bei einem Unfall auf dem Riff. Als freie Männer hatten sie Zeit, zu der kleinen Insel rauszufahren und dort Vögel zu schießen. Mit den Federn füllten sie ihr Bettzeug - für eine Matratze und zwei Kissen braucht man tausend Vögel, hat Nat gesagt. Und jetzt haben wir das Haus und die Betten bekommen.« Joeys Miene verdüsterte sich. »Allerdings hat Nat auch gesagt, dass wir das Bettzeug Mr Donovan und Mr Livingstone überlassen müssen, wenn nach der Abfahrt der Golden Grove ein Haus für die beiden gebaut wird. Zurzeit wohnen sie noch bei Mr King. Das Haus hier ist nur zehn mal acht Fuß groß, aber das von Mr Donovan soll zehn mal fünfzehn Fuß groß werden. Bisher war Nat Oberschreiner, aber er ist ein Sträfling, deshalb ist ab jetzt Mr Livingstone der Oberschreiner.«
»Auch wenn ich nur eine Nacht auf dieser Matratze und mit diesen Kissen schlafe, ich werde darin schlafen wie ein König«, sagte Richard. »Aber zuerst gehe ich noch zum Strand, um mich zu waschen. Komm mit, Joey, das tut dir auch gut.«
Doch Joey wehrte sich mit Händen und Füßen dagegen, Richard zu begleiten. Die Vorstellung, bis zu den Knien in einem Gewässer voller unsichtbarer Ungeheuer zu stehen, die nur darauf warteten, ihn und MacGregor zu verschlingen, jagte ihm kalte Schauer über den Rücken. Also ging Richard allein.
Der Himmel war sternenklar. Richard zog sich aus, lief in das überraschend kalte Wasser und blieb wie verzaubert stehen. Um ihn schimmerte und blitzte das Wasser, als würde er in flüssigem Silber baden. Was für ein Meer! Wie viele Wunder barg es? Es leuchtete wie von innen. Richard beobachtete, wie das Wasser in glänzenden Rinnsalen seine Arme entlanglief und glitzernde Tropfen aus seinen Haaren fielen. Schön! Herrlich! Er fühlte sich wie von Kraft durchströmt, als würde die Kraft des lebendigen Meeres wie durch ein Wunder der Natur auf seinen Körper übertragen.
Er drehte sich zum Strand um und sah, dass die Insel gar nicht so flach war, wie sie vom Ankerplatz der Golden Grove aus gewirkt hatte. Jetzt, da er direkt vor ihr stand, ragten hinter dem flachen Uferstreifen steile Hügel auf, besetzt mit Wäldern von Tannen, deren stachlige Kronen sich schwarz vom Sternenhimmel abhoben.
Richard trocknete sich ab, rieb sich den Sand von den Füßen und kehrte zu seinem Haus zurück. Dort sank er genüsslich auf das große Bett aus Federn. Es war so bequem, dass er noch stundenlang wach lag. Kein Lüftchen regte sich, und die einzigen Laute, die er hörte, waren ein leises Rauschen, das ferne Donnern der gegen das Riff brandenden Wellen und ab und zu der Schrei einer Möwe. Joey und MacGregor schnarchten nicht. Vor vier Jahren um diese Zeit war er ins Bristol Newgate eingeliefert worden. Von jenem Tag an bis heute hatte er jede Nacht ein Schnarchkonzert gehört - sogar als er und Lizzie Lock ein eigenes Zimmer hatten, drang das Schnarchen der Männer nebenan durch die dünnen Wände. Jetzt genoss er die Ruhe so sehr, dass er nicht schlafen konnte.
 
Ned Westlake, der zusammen mit King nach Norfolk Island gekommen war, hatte früher mit dem ertrunkenen Westbrook in der Sägegrube gearbeitet. Nun wurde Harry Humphreys sein neuer Partner. Blackall und Marriner bildeten ein zweites Team, das sich mit dem ersten abwechseln sollte. Das bisherig beste Ergebnis waren laut Westlake 898 Quadratfuß Holz in fünf Tagen, allerdings mit nur einem Team. Richard war zum Anführer der Säger ernannt worden, obwohl er ein Sträfling war - hauptsächlich weil er im Haus Westbrooks wohnte, das für dessen Nachfolger freigehalten worden war. King war davon ausgegangen, dass dieser ebenfalls ein freier Mann sein würde. Richards erste Entscheidung behagte den anderen nicht, sie wurde aber akzeptiert. Er erlaubte den beiden Mannschaften nicht, in Tagesschichten zu arbeiten.
»Wenn ihr den ganzen Tag lang sägt, verspannen sich eure Muskeln und schmerzen noch mehr«, sagte er. »Bill Blackall und Will Marriner sägen morgens, Ned Westlake und Harry Humphreys nachmittags. Fünf Stunden am Tag in der Sägegrube reichen. Wer nicht sägt, hilft mir beim Schärfen. Wer gerade nichts zu tun hat, nimmt eine Axt und hilft Joey beim Entrinden der Stämme. Je besser und schneller wir sind, desto mehr Privilegien bekommen wir. Und wer für ein bestimmtes Handwerk qualifiziert ist, braucht nicht jede Arbeit zu machen, die gerade anfällt. Wenn ich Leutnant King richtig verstanden habe, dürft ihr an euren freien Tagen Holz sägen, um euch Hütten daraus zu bauen. Stellt euch vor, was das bedeutet! Die eigenen vier Wände!«
Nach drei Tagen waren die Säger eingearbeitet. Am Ende der ersten Woche schaffte die Kolonne bereits 500 Quadratfuß Holz am Tag, am Ende der zweiten Woche sogar 750. Joey Long entrindete die Stämme.
»Ihr leistet gute Arbeit!«, sagte Leutnant King anerkennend, nachdem die Golden Grove am 28. Oktober abgefahren war. »Weiter so! Als Nächstes brauchen wir Holz für neue Häuser, denn mir wurde angekündigt, dass bald noch mehr Leute hier eintreffen. Zurzeit sind wir sechzig - Ende nächsten Jahres sollen wir schon zweihundert sein und im Jahr darauf noch mehr. Seine Exzellenz wünscht, dass die Insel bald ebenso viele Einwohner hat wie Port Jackson.«
King ging von einem Ende der Sägegrube zum anderen. »Ich schulde euch ein paar freie Tage«, fuhr er fort. »Auf der Insel Norfolk arbeiten wir von Montag bis Freitag für den Staat. Samstags arbeitet ihr für euch selbst, sonntags habt ihr frei - allerdings erst nach dem Gottesdienst, den ich selbst abhalte und der für jeden hier Pflicht ist. Während die Golden Grove beladen wurde, habt ihr zwei Samstage und zwei Sonntage für den Staat gearbeitet. Heute ist Dienstag, das heißt, ihr braucht erst am Montag wieder für den Staat zu arbeiten. Ich rate euch, einen Teil der Zeit dazu zu nutzen, Holz für eure eigenen Häuser zuzusägen. Verlängert die Häuserreihe nach Osten. Das Land hinter den Häusern bis hinunter zum Sumpf steht euch als privater Gemüsegarten zur Verfügung. Auf feuchtem Boden wächst Kresse sehr gut und unbelästigt von Ungeziefer. Sät also Kresse aus und dazu, was ihr sonst noch anbauen wollt oder bekommen könnt.«
King wandte sich an Richard. »Morgan, von Ihnen brauche ich einen Bericht. Begleiten Sie mich bitte ein Stück.«
Der Kommandant hat wirklich tadellose Manieren, dachte Richard, während er neben dem Kommandanten den Weg entlangging, der von der Sägegrube zu Kings Haus und den Lagerschuppen führte. Er sah, dass in einem der Schuppen das Flachboot lag und daneben ein noch kleineres Boot, das King offenbar aus den Überresten jenes Flachbootes hatte machen lassen, das über dem Riff gesunken war und vier Männer in den Tod gerissen hatte - junge, kräftige Seeleute namens Willy Dring, Joe Robinson, Neddy Smith und Tom Watson, die draußen fischen sollten, wann immer das Wetter es zuließ.
»Man sollte meinen, den Leuten wäre frischer Fisch lieber als immer nur Pökelfleisch, doch die meisten murren, wenn es statt. Pökelfleisch Fisch oder Schildkröte gibt. Ich verstehe das nicht.« King zuckte die Achseln. »Wer zu aufsässig wird, den lasse ich auspeitschen. Bei Ihnen scheint das nicht nötig zu sein, Morgan.«
Richard grinste. »Fisch ist mir lieber als die neunschwänzige Katze, Sir. Ich wurde seit meiner Verurteilung noch nie ausgepeitscht.«
»Ja, und mir ist aufgefallen, dass das für viele von euch gilt. Sie haben die Arbeit gut aufgeteilt. Ein Team war nicht genug. Was meinen Sie, wie groß darf der Durchmesser der Stämme sein, damit wir sie mit unseren Werkzeugen noch verarbeiten können?«
»Solange wir keine längeren Zugsägen haben, höchstens sechs Fuß, Sir. Wir bräuchten auch eine große Ablängsäge, die von zwei Männern bedient wird. Ich mache gerade aus unserer einzigen acht Fuß langen Spaltsäge eine Säge, mit der sich die Stämme leichter durchsägen lassen als mit den Zugsägen.« Richard fühlte sich in Gesellschaft dieses Mannes sehr wohl.
Leutnant King und Major Ross sind so verschieden wie Tag und Nacht, dachte er. King ist sehr väterlich und betrachtet uns als seine Familie. Solche Gefühle sind dem Major fremd, trotzdem bin ich auch mit ihm gut zurechtgekommen. Auf Norfolk Island ist mir außerdem klar geworden, wie viel die Seesoldaten in Port Jackson von unseren Verpflegungsrationen für sich abgezweigt haben. Ich kann es ihnen nicht einmal verdenken. Auch sie haben Hunger. Weder Gouverneur Phillip noch Major Ross haben das gemerkt. Je größer die Behörden sind, desto weniger wissen sie, was am unteren Ende der Hierarchie los ist.
Leutnant King ist sehr gewissenhaft. Er bewahrt die Gewichte zum Abwiegen der Essensrationen in seinem Haus auf und überprüft sie mithilfe eines Satzes geeichter Gewichte. Einmal gab es bisher frische Schildkröte und schon mehrmals den köstlichsten Fisch, den ich je gegessen habe. Nach der ersten Mahlzeit mit frischem Fleisch fühlten wir uns wie neu geboren. Außerdem essen wir viel Gemüse. Es gibt auf der Insel trotz der Raupen und Ratten keinen Skorbut. Ich kann den Widerwillen einiger Leute gegen Fisch allerdings verstehen - sie haben früher nie Fisch gegessen und kennen und mögen eben nur Fleisch. Wir brauchen auch viel Salz. Vetter James, der Apotheker, sagte einmal, je mehr man schwitzt, desto mehr Salz braucht man.
Ja, ich bin froh, dass ich hier bin. Es ist hier angenehmer als in Port Jackson. Und man braucht keine Eingeborenen zu fürchten, wenn man den Weg verlässt, auch wenn am Lagerfeuer erzählt wird, der Wald sei so dicht, dass selbst Leutnant King sich einmal völlig verirrt hätte.
»Was gibt es noch zu berichten, Morgan?«, fragte King. Sie überquerten auf einer wackligen Brücke den Sumpf. Die Brückenpfeiler standen auf Lagern aus Tannenstämmen, die man in dem offenbar nicht sehr tiefen Sumpf versenkt hatte.
»Die Sägegrube braucht ein Dach, das die Säger vor Sonne und Regen schützt, Mr King. Außerdem müssten Sie für Balken, die über zwölf Fuß lang sind, eine zweite, längere Sägegrube ausheben lassen.«
»Die Sägegrube hatte früher ein Dach, aber ein Sturm hat es heruntergerissen. Es gibt hier heftige Stürme. Mit den Überresten des Dachs habe ich den Keller unter meinem Haus abgestützt. Aber ich sehe ein, dass wir ein neues bauen müssen, und zwar bald. Die Sonne wird täglich stärker.«
Die Brücke endete am Ufer eines kleinen Bachs, der in den Sumpf zu münden schien. King bog nach links ab und stieg ein langes, gewundenes Tal hinauf. Das Tal war breiter als die anderen Täler zwischen den Hügeln um das Hüttendorf, dem King den Namen Sydney Town gegeben hatte.
Vor einem steilen Hang, der sich von Norden ins Tal schob, blieb er stehen. »Ich habe dieses Tal Arthur’s Vale getauft, zu Ehren Seiner Exzellenz, die mit Vornamen Arthur heißt. Die große Insel im Süden trägt seinen Nachnamen - Phillip Island. Wir verlegen unsere Felder allmählich von Sydney Town hierher, weil sie hier besser vor den Winden aus dem Süden und dem Westen geschützt sind - und auf der anderen Seite des Bergrückens hoffentlich auch vor dem Ostwind. Der Berg dort im Süden zwischen Arthur’s Vale und dem Meer ist der Mount George. Wir haben begonnen, ihn und die Berge im Norden zu roden, um an den Hängen Getreide anzubauen. Wir haben bereits Weizen und Mais ausgesät und weiter unten Gerste. Die neue Sägegrube soll ebenfalls hier oben angelegt werden. Die jetzige ist zu weit weg, aber dort können ja weiterhin zwölf Fuß lange Stämme aus dem Wald um Sydney Town verarbeitet werden.«
Sie hatten den Bergrücken umrundet und blickten nun nach Westen. Hier stieg die Talsohle abrupt ungefähr zwanzig Fuß an, und der Bach stürzte den Steilhang als dünner Wasserfall hinunter. Der Kommandant zeigte hangaufwärts. »Dort oben will ich den Bach aufstauen, Morgan. Das Wasser leiten wir dann durch einen Abflusskanal auf die Felder der Regierung, die etwas weiter unten angelegt werden. Eines Tages werde ich an dem Damm auch noch ein Wasserrad bauen. Zurzeit müssen wir das Getreide noch mit Handmühlen mahlen. Wir besitzen zwar einen großen Mühlstein, aber es erfordert viel Kraft, ihn zu drehen. Da wir weder Ochsen noch Maultiere und auch nicht genügend Männer haben, bräuchten wir ein Wasserrad. Eines Tages wird es so weit sein!« Er lachte. »Der Getreidespeicher ist fast fertig, aber ich will hier am Südufer des Bachs noch eine große Scheune und ein Gehege für die Tiere bauen. Das Problem sind die salzigen Winde, Morgan! Sie lassen alles verkümmern außer Flachs, Tannen und einigen anderen einheimischen Bäumen, die im Windschatten der Tannen wachsen. Ja, ich habe hier Flachs gefunden - die Dummköpfe in Port Jackson haben die Pflanze nur nicht richtig beschrieben. Flachs eignet sich hervorragend zum Dachdecken. Es ist uns allerdings noch nicht gelungen, Leinwand daraus herzustellen.«
King verabschiedete sich abrupt und ging, offenbar um etwas Wichtiges zu erledigen, das ihm gerade eingefallen war. Richard folgte dem Weg weiter hinauf. Als er über dem Steilhang stand, sah er, warum der Kommandant an dieser Stelle einen Staudamm bauen wollte. Das Tal bildete eine große Mulde, dahinter wurde es wieder breiter.
Das Gelände war bereits gerodet. Als Richard die Bananenstauden erblickte, wusste er auf Grund der Zeichnungen in seinen Büchern sofort, um was es sich handelte. Er staunte, wie groß und weit entwickelt die Stauden waren - konnten sie in acht Monaten dermaßen gewachsen sein? Nein, unmöglich. King war erst vor kurzem bis hierher vorgedrungen. Das bedeutete, dass die Bananen hier wild wuchsen, ein Geschenk Gottes. Die langen Bündel kleiner grüner Bananen waren bereits ausgebildet. In den kommenden Monaten würde es also Obst geben - und obendrein sättigendes Obst.
Weiter oben wurde das Tal wieder schmäler. Es war nicht mehr gerodet, doch ein Pfad führte am Bach entlang in den Wald. Das Wasser war hier stellenweise einige Fuß tief und so klar, dass Richard kleine, fast durchsichtige Garnelen darin herumschwimmen sah. Am Lagerfeuer war von großen Aalen die Rede gewesen, doch sie entdeckte er nicht.
Leuchtend grüne Papageien flogen über seinen Kopf, und eine kleine Pfautaube flatterte zwitschernd vor seinem Gesicht hin und her, als wollte sie ihm etwas mitteilen. Sie begleitete ihn hundert Meter weit. Richard meinte eine Wachtel zu sehen, und dann erblickte er die schönste Taube der Welt. Ihr Gefieder war zart rosabraun getönt, ihre Brust schillerte smaragdgrün, und sie war überhaupt nicht scheu! Sie beäugte ihn nur kurz, dann trippelte sie mit auf und ab ruckendem Kopf seelenruhig weiter. Richard entdeckte noch mehr Vögel. Einer sah aus wie eine Amsel, nur dass sein Kopf grau war. Die Luft war erfüllt von einem melodischen Gesang, wie Richard ihn in Port Jackson nie gehört hatte, unterbrochen nur vom Kreischen der Papageien.
Die Wildnis zu beiden Seiten des Pfades wirkte undurchdringlich und wenig einladend. Trotzdem war der Wald kein Dschungel, wie er in Richards Büchern beschrieben wurde. Es wuchsen keine kleinen Pflanzen. Zwischen den sehr dicht stehenden Tannen, die teilweise einen Durchmesser von mehr als fünfzehn Fuß hatten, wuchsen keine anderen Pflanzen. Junge Tannen gab es kaum. Die dicke, rissige Rinde der Stämme war rötlich braun, die ersten Äste zweigten erst sehr weit oben ab. Zwischen den Tannen standen vereinzelt grüne Laubbäume, doch den meisten Platz nahm eine Schlingpflanze ein, die Richard noch nie gesehen hatte.
An einer Stelle, an der das Tal etwas breiter war, standen weitere Bananenstauden mit grünen Früchten und ein seltsamer Baum, der wie die Bananen am Wasser wuchs. Sein runder Stamm glich dem einer Palme - Palmen gab es auch, ihre Blätter waren allerdings nicht elegant geschwungen, sondern ragten steif in die Höhe -, doch war er mit spitz zulaufenden Höckern gepanzert. Über dem Stamm wölbte sich ein Blätterdach aus - Farnwedeln! Es handelte sich um einen vierzig Fuß hohen Riesenfarn!
Richard sah noch mehr Vögel, darunter einen kleinen Eisvogel mit einem cremefarbenen, braunen und leuchtend meergrünen Gefieder. Den imposantesten Vogel bemerkte er zuerst gar nicht, denn der Vogel sah aus wie ein Stück des moosbewachsenen Baumstumpfs, auf dem er saß. Als er sich plötzlich bewegte, machte Richard vor Schreck einen Satz. Es handelte sich um einen riesigen Papagei.
»Guten Tag«, sagte Richard. »Wie geht’s?«
Der Vogel legte den Kopf schief und stakste auf ihn zu. Richard war klug genug, nicht die Hand nach ihm auszustrecken. Der Papagei hätte ihm mit seinem gewaltigen schwarzen Schnabel leicht einen Finger abbeißen können. Der Vogel beachtete ihn nicht weiter und verschwand bald zwischen den Farnen und anderen breitblättrigen Pflanzen am Ufer des Baches.
Die Sonne stand bereits im Westen, als Richard auf demselben Weg zum Hüttendorf zurückkehrte. Es gab bald Abendessen. Die Insel war einzigartig und mit Neusüdwales überhaupt nicht zu vergleichen - alles war hier anders, Bäume, Berge, Gestein und Erde. Gras gab es überhaupt keines. War die Insel vielleicht Gottes erster Versuch, aus dem Meer Land zu schaffen? Oder sein letzter? Wenn sie sein letzter Versuch war, warum hatte er sie dann nicht mit Menschen bevölkert? Jem Thistlethwaite hätte daraus geschlossen, dass Gott die Anwesenheit des Menschen in seiner Schöpfung nicht mehr für wünschenswert hielt.
»Gibt es hier Schlangen?«, fragte Richard Nat Lucas, den er ebenso gut leiden konnte wie den alten Dick Widdicombe, der schon siebzig war. Warum um alles in der Welt hatte London eigentlich hochbetagte Männer losgeschickt, um neues Land urbar zu machen?
»Wenn es welche gibt, dann verstecken sie sich gut«, erwiderte Nat. »Bisher hat noch niemand eine Schlange, eine Eidechse, einen Frosch oder einen Blutegel gesehen. Außer Ratten scheint es hier keine größeren Tiere zu geben. Die Ratten sehen allerdings anders aus als bei uns. Sie sind hellgrau mit weißem Bauch und nicht besonders groß.«
»Aber sie fressen alles«, warf Ned Westlake ein. »Ratten sind Ratten.«
Am frühen Morgen des folgenden Tages wanderte Richard am Strand von Turtle Bay entlang nach Osten. Dort beobachtete er, wie zwei Männer eine riesige Schildkröte auf den Rücken drehten. Hilflos lag sie da und wedelte mit den Flossen.
Die beiden Männer mussten Brüder sein und sie sahen nicht wie Sträflinge aus. Beide waren jung, schlank und braun gebrannt. Sie hatten braune Haare und braune Augen und wirkten vertrauenswürdig. Richard trat auf sie zu.
»Ah! Du musst Morgan sein«, sagte der eine. »Ich bin Robert Webb und das ist mein Bruder Thomas. Hilf uns, dieses Prachtexemplar anzuleinen. Morgen Mittag gibt es Schildkröte.«
Richard half ihnen, ein Seil so um den Körper der Schildkröte zu schlingen, dass es nicht herunterrutschen konnte.
»Wir sind die Gärtner«, sagte Robert. Es war schwer zu sagen, ob er der ältere war, doch war er jedenfalls der Wortführer. »Vielen Dank übrigens für die Frauen. Thomas legt zwar keinen Wert auf weibliche Gesellschaft, aber ich war schon ganz ausgehungert.«
»Haben Sie eine für sich gefunden?«, fragte Richard, der nicht verstand, warum Robert sich bei ihm bedankte.
»Ja, Beth Henderson, eine wunderbare Frau. Das heißt allerdings, dass die Wege von Thomas und mir sich nun trennen.« Roberts Bruder verzog das Gesicht. »Thomas ist bereits zu Mr Altree in Arthur’s Vale gezogen, wo gerade viel gepflanzt wird.«
Die Männer zerrten die Schildkröte ins Wasser und wateten mit ihr im Schlepptau um die Landspitze der Turtle Bay. Richard half den Brüdern, die Schildkröte in der Nähe der Anlegestelle an Land zu ziehen, dann kehrte er in seine Hütte zurück.
 
»Leutnant King hat dich gesucht«, sagte Joey.
Also machte Richard sich gleich wieder auf den Weg, um nach dem Kommandanten Ausschau zu halten. Er fand ihn auf dem Gelände der zweiten Sägegrube, die bereits ausgehoben worden war und nun noch mit Brettern abgestützt werden musste.
»Morgen gibt es Schildkröte, Sir«, begrüßte ihn Richard.
»Oh, ausgezeichnet! Sehr gut!« King kam um die Grube auf ihn zu. »Ich erlaube nicht, dass viele Schildkröten geschlachtet werden, sonst gibt es am Ende gar keine mehr. Ich habe auch verboten, die Eier auszugraben. Es gibt hier lange nicht so viele Schildkröten wie auf Lord Howe Island. Und es wäre dumm, sie auszurotten.«
»Sehr wohl, Sir.«
Doch dann lernte Richard Leutnant King von einer weniger einnehmenden Seite kennen: King hatte vollkommen vergessen, dass er seinen Sägern zwei Tage zuvor bis Montag freigegeben hatte. »Morgen fangt ihr wieder an zu sägen«, befahl er. »Ich will weiter oben im Tal eine dritte Sägegrube ausheben lassen, unterhalb der Stelle des künftigen Damms. Das bedeutet, wir brauchen mehr Sägen. Ich weiß zwar, dass nur kräftige Männer für diese schwere Arbeit in Frage kommen, aber ich überlasse es Ihnen, Morgan, die Männer auszusuchen. Sie können jeden haben, den Sie wollen, nur keinen Schreiner. Die alte Sägegrube hat jetzt wieder ein Dach, dort werden Sie morgen Holz für das Dach des Getreidespeichers zusägen. Sie müssen auch am Samstag arbeiten. Der Getreidespeicher muss fertig werden. Einige Felder stehen kurz vor der Ernte.« Er wandte sich zum Gehen. »Überlegen Sie sich, wen Sie haben wollen, Morgan, und lassen Sie es mich am Montag wissen.«
»Sehr wohl, Sir«, sagte Richard steif.
Für zwei Sägegruben brauchte er vier Teams, für drei Sägegruben sechs. Herrje, da würde er selbst nur noch mit dem Schärfen der Sägen beschäftigt sein, denn die Sägen mussten nach jeweils zehn bis zwölf Fuß Schnittlänge nachgeschärft werden! Ned Westlake, Bill Blackall und Harry Humphreys schienen nicht begreifen zu können, wie man mit einer Feile umging. Will Marriner bewies als Einziger ein gewisses Geschick, er würde deshalb in der alten Sägegrube das Schärfen übernehmen müssen. Aber wen sollte er als Säger rekrutieren? Die Männer hassten diese Arbeit und verrichteten sie nur widerwillig. Schläger wie Len Dyer, Tom Jones, Josh Peck und Sam Pickett kamen nicht in Frage. John Rice, der zu den ersten Siedlern gehörte, war zwar kräftig genug, aber als Seiler unentbehrlich. John Mortimer und Dick Widdicombe waren zu alt, Noah Mortimer trödelte zu viel und hatte deshalb dauernd Ärger. Dasselbe galt für den blutjungen Charlie McClellan, der ebenfalls zur Gruppe der ersten Siedler gehörte.
Und welche Männer von der Golden Grove kamen in Frage? John Anderson? Ja. Sam Hussey? Ja. Jim Richardson? Ja. Willy Thompson? Ja. Aber das waren auch schon alle. Richardson, der inzwischen mit Susannah Trippett ein Paar bildete, würde die Arbeit bereitwillig, vielleicht sogar einigermaßen gern verrichten. Hussey und Thompson waren Eigenbrötler, die bereits eifrig an eigenen Hütten bauten, weil sie die Gesellschaft der anderen nicht ertrugen. Sie erinnerten Richard an Taffy Edmunds. Anderson konnte er schlecht einschätzen. Beim Gottesdienst am Sonntagmorgen um elf dankte Richard Gott dafür, dass er als Sträfling nie in die Verlegenheit kommen würde, einen Mann auspeitschen lassen zu müssen. Er musste auf andere Weise dafür sorgen, dass seine Säger arbeiteten, hauptsächlich, indem er nie zwei unzuverlässige Männer zusammen arbeiten ließ, sondern jedem, dem er nicht traute, einen tüchtigen Partner zuwies.
»Mehr als vier Mannschaften bekomme ich nicht zusammen«, sagte Richard zu Stephen Donovan, als sie sich am Sonntagabend in der Turtle Bay trafen, um eine Runde zu schwimmen. »Und ich bin offenbar für alle Zeiten dazu verdammt, Sägen zu schärfen, Mr Donovan. Im Grunde ist das eine einfache Arbeit, aber die meisten begreifen nicht, worauf es dabei ankommt. Ihnen fehlt das nötige Fingerspitzengefühl. Wenn doch Taffy Edmunds hier wäre! Er ist ein genauso guter Sägenschleifer wie ich, und es würde ihm hier auch gefallen.«
»So viel ich weiß, sollen noch mehr Leute kommen, die Supply kann nur nicht alle auf einmal bringen«, sagte Donovan. »Und da es in Port Jackson auch einige Bäume gibt, die zu Balken verarbeitet werden müssen, wird man Taffy wohl nicht so schnell ziehen lassen. Richardson ist ein tüchtiger Kerl. Wer weiß, vielleicht wird aus einem der Neuen ein guter Sägenschleifer. Ich verstehe allerdings nicht, warum Sie unbedingt selber sägen wollen, Richard.«
»Weil die Männer, die sägen, meine Arbeit für kinderleicht halten. Ich sitze ja nur da und tue scheinbar nichts. Deshalb sollen alle das Schärfen üben. Wer es lernt, hat damit eine bequemere Arbeit, wer es nicht lernt, weiß wenigstens, dass man zum Sägenschleifen sehr viel Geduld und Geschick braucht.«
 
Richard nahm zur neuen Sägegrube im Arthur’s Vale Ned Westlake, Harry Humphreys, Jim Richardson und John Anderson mit. Natürlich verlangsamte sich das Arbeitstempo beträchtlich, sehr zum Verdruss von Leutnant King.
»Sie haben in fünf Tagen nur 791 Quadratfuß Holz zugesägt!«, sagte er verärgert zu Richard.
»Ich weiß, Sir, aber die alten Teams müssen die beiden neuen erst einlernen«, erklärte Richard in respektvollem, aber bestimmtem Ton. »Deshalb werden wir eine Zeit lang weniger Holz produzieren.« Er holte tief Luft. »Außerdem sind wir nicht in der Lage, die Stämme auch noch zu entrinden, Sir. In der alten Sägegrube macht das Joseph Long zusammen mit einem Gehilfen, aber hier in der neuen Sägegrube haben wir niemanden. Ich muss unsere Sägen schleifen und außerdem noch die großen Sägen von Marriner, daher habe ich für nichts anderes Zeit. Könnten die Holzfäller die Stämme nicht gleich entrinden? Je länger die Rinde dranbleibt, desto größer ist die Gefahr, dass Käfer sich in das Holz fressen. Außerdem sollten die Holzfäller vor dem Fällen die Qualität der Bäume prüfen. Die Hälfte der Stämme, die wir erhalten, ist unbrauchbar, aber bis wir dazu kommen, sie uns anzusehen, sind die Männer, die sie gebracht haben, schon wieder weg und wir müssen unsere kostbare Zeit damit vergeuden, sie auszusortieren.«
Solche offenen Worte gefielen dem Leutnant gar nicht! Schon nach den ersten Worten runzelte er missbilligend die Stirn. Seine braunen Augen funkelten wütend, doch Richard hielt seinem Blick stand, ohne mit der Wimper zu zucken. Er riskierte damit, dass King ihn wegen Aufsässigkeit auspeitschen ließ, aber besser jetzt als später, denn wenn erst die dritte Sägegrube in Betrieb war, wurde alles nur noch schlimmer. Dann hatten sie nur noch eine Ersatzsäge, weil Richard aus der acht Fuß langen Spaltsäge eine Ablängsäge gemacht hatte.
»Wir werden sehen«, sagte King schließlich und marschierte aufgebracht zu dem neuen Getreidespeicher und den dort arbeitenden Schreinern hinüber.
 
»Was halten Sie vom Aufseher der Säger?«, fragte King Stephen Donovan beim Mittagessen in seinem Amtssitz.
Die hochschwangere Ann Innet brachte das Essen und verschwand. Die Karaffe mit dem Portwein war schon halb leer und würde ganz leer sein, noch bevor das Mittagessen beendet war. Nachmittags war der Kommandant deshalb stets milder gestimmt als morgens. Der Portwein war ein altes Laster. Es verging kein Tag, an dem King nicht mindestens zwei Flaschen davon leerte - Portwein aus dem Fass war ihm nicht gut genug! Die Flaschen wurden mindestens einen Monat lang sorgfältig gelagert, bevor er sie persönlich dekantierte.
»Sie meinen Richard Morgan?«
»Ja, den. Major Ross sagte, er sei ein guter Mann, aber ich bin mir da nicht so sicher. Heute Morgen sagte er mir doch ganz unverfroren ins Gesicht, ich würde Verschiedenes falsch machen!«
»Ja, Morgan sagt, was er denkt - aber ich kann mir nicht vorstellen, dass er es auf eine unverschämte Art tat. Er erwies sich auf der Alexander als eine große Hilfe, als wir Probleme mit den Bilgenpumpen hatten. Sie erinnern sich bestimmt noch daran, dass Sie kurz an Bord kamen, bevor wir Rio erreichten. Morgan erklärte, dass wir das Problem nur mit Kettenpumpen lösen könnten.«
King runzelte die Stirn. »Unsinn!«, sagte er unwirsch. »Ich habe die Kettenpumpen vorgeschlagen!«
»Richtig, Sir, aber Morgan tat es schon vor Ihnen. Hätte er Major Ross und Marineadmiralarzt White nicht von der Notwendigkeit der Maßnahme überzeugt, wären Sie gar nicht an Bord der Alexander gerufen worden.«
»Ach so, verstehe. Aber das ändert nichts daran, dass er heute Morgen zu weit gegangen ist«, sagte King trotzig. »Es steht ihm nicht zu, meine Anordnungen zu kritisieren. Ich hätte ihn auspeitschen lassen sollen.«
»Warum einen tüchtigen Mann bestrafen, nur weil er einen Kopf auf den Schultern hat?«, fragte Donovan und lehnte dankend ab, als King sein Glas nachfüllen wollte. »Sie wissen, dass Morgan intelligent ist, Mr King. Er wollte nicht unverschämt sein, er nimmt nur seine Arbeit ernst. Er will mehr produzieren.«
Der Kommandant schien nicht überzeugt.
»Seien Sie gerecht, Sir! Wenn ich diese Vorschläge gemacht hätte - was genau hat Morgan denn vorgeschlagen, wenn ich fragen darf?«
»Dass sich jemand die Bäume ansieht, bevor sie zu den Sägegruben geschleppt werden, dass die Holzfäller die Stämme nach dem Fällen gleich entrinden, und so weiter.«
Trinken Sie erst mal einen Schluck, Herr Leutnant, dachte Stephen. Er schwieg, bis sein Vorgesetzter das Glas geleert hatte. Dann hob er beschwörend die Hände. »Mr King, wenn ich das vorgeschlagen hätte, hätten Sie dann nicht auf mich gehört?«
»Sie haben es aber nicht vorgeschlagen, Mr Donovan.«
»Weil ich anderswo zu tun habe und weil die Säger bereits einen Aufseher haben - Morgan! Seine Vorschläge klingen vernünftig und haben zum Ziel, dass mehr Holz zugesägt wird. Warum ihn also dafür bestrafen, Sir? Sie haben eine ausgezeichnete Mannschaft von Holzfällern, Sägern und Schreinern, und mir fiel auf, dass Sie sich stets bereitwillig anhören, was Nat Lucas zu sagen hat. In Richard Morgan haben Sie einen zweiten Nat Lucas. Ich an Ihrer Stelle würde das ausnützen. In zwei Jahren hat er seine Strafe verbüßt. Wenn es ihm dann auf der Insel so gut gefällt, dass er bleibt, haben Sie außer Lucas noch jemanden, auf den Sie sich verlassen können.«
Und damit hatte er genug zu diesem Thema gesagt, fand Stephen Donovan. Der empörte Ausdruck auf Kings Gesicht war verschwunden. King hatte so viele gute Eigenschaften. Schade nur, dass es ihm so schwer fiel, Ratschläge von einem Sträfling anzunehmen.
 
Ende November wurde es so schwül, dass die Arbeitszeiten geändert werden mussten. Die Arbeit begann nun schon im Morgengrauen und wurde nach einer halbstündigen Frühstückspause um halb acht bis elf fortgesetzt. Dann ruhte sie bis nachmittags um drei, sie endete dafür jedoch erst bei Sonnenuntergang. Außerdem wurde die erste Ernte eingebracht. Sie fiel dort, wo Raupen und Ratten etwas übrig gelassen hatten, reichlich aus. Ohne die gefräßigen Biester wäre auf dem fruchtbaren Boden alles gewachsen.
Um Weihnachten schickte Leutnant King den Sanitätsoffizier John Turnpenny Altree, Thomas Webb und John Anderson zur Ball Bay, einem steinigen Strand an der Ostküste der Insel, vor dem die Supply bei sehr schlechtem Wetter ankern musste. Die Männer sollten sich dort niederlassen und eine Fahrrinne durch die runden, kochkesselgroßen Steine anlegen und freihalten, damit Beiboote zum Strand fahren konnten. Kings Entscheidung wurde von den anderen mit heimlicher Belustigung aufgenommen. Altree, ein seltsam untüchtiger Eigenbrötler, mied Frauen wie die Pest. Thomas Webb hatte bei ihm Zuflucht gesucht, als Beth Henderson ihn aus dem Leben seines Bruders gedrängt hatte, und folgte ihm nun auf Schritt und Tritt. Der Sträfling John Anderson schließlich war froh, seine Frau und die Arbeit als Säger loszuwerden.
Jim Richardson brach sich eines Sonntags auf der Suche nach Bananen das Bein so schlimm, dass der Heilungsprozess Monate dauern konnte. Er würde nie mehr sägen. Richard hatte nun zwei Säger weniger und konnte vor der Rückkehr der Supply keine neue Mannschaft zusammenstellen - falls die Supply je zurückkehrte. In anderen Worten, er musste von nun an selbst sägen und in der dreieinhalbstündigen Mittagspause und jeder anderen freien Minute Sägen schärfen. Doch zum Sägen brauchte er einen Partner.
»Dann muss ich wohl den Gefreiten Wigfall fragen, ob er sich als Säger etwas hinzuverdienen will«, sagte King, der seinen Groll gegen Richard längst überwunden hatte. »Wigfall hat die Statur und die Kraft eines Boxers.«
»Eine gute Wahl, Sir«, sagte Richard. »Aber was ist, wenn der Gefreite Wigfall nicht gerade sägen kann und deshalb der untere Mann sein muss? Es gehört sich nicht für einen Sträfling, einem freien Mann von der Marine Sägemehl ins Gesicht rieseln zu lassen.«
»Er kann ja einen Hut aufsetzen«, sagte King unbekümmert und eilte davon.
Zum Glück war der Gefreite Wigfall wie die meisten Männer seiner Statur gutmütig und nicht aus der Ruhe zu bringen. Er kam aus Sheffield und hatte auf der Insel keine Freunde.
»Meine Freunde sind alle noch in Port Jackson«, sagte er zu Richard. »Ich bin ehrlich gesagt ganz froh über neue Gesellschaft. Außerdem ist mein Lohn als Säger höher als mein Sold. Dann kann ich früher meinen Abschied nehmen. Ich habe nämlich vor, irgendwo in der Nähe von Sheffield etwas Land mit einem hübschen Häuschen darauf zu kaufen. Und wenn ich mir die Heimreise als Matrose verdiene, kann ich noch mehr Geld sparen.«
»Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mich zuerst als oberer Mann versuche?«, fragte Richard. »Ich wüsste gern, ob ich beim Sägen ein so scharfes Auge habe wie beim Schleifen. Außerdem ist die Arbeit des unteren Mannes etwas leichter. Leider können Sie keinen Hut tragen, dazu stehen Sie zu nahe an der Säge. Aber ich sage Ihnen, wann ich anfange zu ziehen, dann können Sie nach unten sehen.«
Richard bewies auch beim Sägen ein gutes Auge; Wigfall leider nicht, doch war er dennoch ein guter Partner, der die Säge kraftvoll nach unten ziehen konnte. Das Sägen war anstrengend. In Port Jackson wäre er zu dieser Arbeit nicht fähig gewesen, dachte Richard. Dort war das Essen viel zu knapp und zu schlecht, aber hier, wo es außer Pökelfleisch noch Fisch, ab und zu Schildkröte und jede Menge Gemüse gab, von dem besseren Brot ganz zu schweigen, hier konnte er sägen, ohne dabei über die Maßen abzunehmen. Er war mit seinen vierzig Jahren in einer besseren körperlichen Verfassung als der erst dreißigjährige Leutnant King.
An Weihnachten, einem dunklen, windigen Tag, schlachtete der Kommandant für seine Sträflingsfamilie ein großes Mastschwein. Es wurde am Spieß über einem Feuer aus glühenden Kohlen gebraten, bis seine Haut knusprige Blasen warf. Jede Frau und jeder Mann erhielt eine doppelte Portion Fleisch und dazu einige Kartoffeln und ein halbes Pint Rum. Es war Richards erster Braten seit seiner Verhaftung, und er schmeckte köstlich! Lieber Gott, ich bin dir ja so dankbar, betete er in jener Nacht, als er in sein Bett aus Federn sank. Man weiß die einfachen Genüsse des Lebens erst dann wirklich zu schätzen, wenn man sie lange genug entbehrt hat.
 
Am Neujahrsmorgen 1789 ging die Sonne strahlend an einem wolkenlosen Himmel auf. Die Sträflinge bekamen ein Viertelpint Rum und hatten den halben Tag frei. Zur Freude Kings nahmen die Arbeiten dank der Umsicht seiner Aufseher wie von allein ihren Gang, sodass er sich auf Routinekontrollen beschränken konnte.
King war überglücklich, als Ann Innet ihm am 8. Januar 1789 einen gesunden Sohn gebar. Da er als Einziger auf der Insel Gottesdienste abhielt, taufte er seinen Sohn selbst - auf den Namen »Norfolk«.
»Ein schöner Name, Norfolk King«, sagte Stephen am Strand der Turtle Bay zu Richard. »Ich freue mich für den Leutnant. Jemand wie er braucht eine Familie. Es wird seiner Karriere bei der Marine zwar nicht gerade förderlich sein, wenn er Ann Innet heiratet, aber er liebt seinen Sohn abgöttisch. Er wird es schwer haben, wenn er nach England zurück muss. Was soll er dort mit einem unehelichen Sohn, ganz zu schweigen von dessen Mutter, die er auch sehr gern hat?«
»Er wird eine Lösung finden«, erwiderte Richard ruhig. »Er ist zwar ein launischer Kommandant, aber auch ein Ehrenmann mit Verantwortungsgefühl. Gewisse Dinge liegen ihm einfach nicht und er hat ein hitziges Temperament. Mary Gamble hat es zu spüren bekommen.«
Mary Gamble hatte eine Axt nach einem Eber geworfen und ihn schwer verletzt. King hatte sich dermaßen darüber aufgeregt, dass sie das wertvolle Tier beinahe getötet hätte, dass er ihr nicht zuhören wollte, als sie ihm aufgeregt zu erklären versuchte, das Tier habe sie angegriffen und sie habe aus Notwehr gehandelt. In seinem Zorn wollte er sie mit zwölf Dutzend Peitschenhieben auf den nackten Hintern bestrafen. Als er sich wieder beruhigt hatte, war er freilich bestürzt - diese wackere Frau sollte vor Männern wie Dyer den Unterkörper entblößen und volle 144 Hiebe erhalten, wenn auch mit der harmlosesten Peitsche aus seinem Sortiment? Großer Gott! Unmöglich! Womöglich hatte der Eber sie tatsächlich angegriffen. Kein männlicher Sträfling hatte bisher auch nur halb so viele Peitschenhiebe erhalten! Also bestellte er Mary Gamble zu sich und verkündete, dass er ihr großmütig vergebe.
Einige Sträflinge hielten ihn deswegen für dumm, weichherzig und schwach und beschlossen, bereits bestehende Pläne für eine Revolte nun endlich in die Tat umzusetzen.
Robert Webb, der Gärtner, eilte zum Kommandanten, um ihn zu warnen. »Sir, gegen Sie ist eine Verschwörung in Gang.«
»Eine Verschwörung?«, fragte King verblüfft.
»Ja, Sir. Eine Gruppe von Sträflingen will Sie, Mr Donovan, die anderen Freien und alle Seesoldaten gefangen nehmen. Dann wollen sie das nächste Schiff, das kommt, in ihre Gewalt bringen und damit nach Tahiti fahren.«
Das gebräunte Gesicht des Kommandanten wurde weiß und er starrte Webb ungläubig an. »Du lieber Himmel! Wer sind die Verschwörer denn, Robert?«
»Nach dem, was ich gehört habe, sämtliche Sträflinge von der Golden Grove bis auf drei« - Webb schluckte aufgeregt - »und ein paar Leute aus der ursprünglichen Gruppe.«
»Wie schnell das geht«, sagte King langsam. »Wenn bereits eine neue Schiffsladung Sträflinge solche Folgen hat, was soll dann erst werden, wenn Seine Exzellenz noch weitere Ladungen schickt?« Er fuhr sich mit der Hand über die Augen. »Das ist wirklich ungeheuerlich! Sogar ein paar von denen, die von Anfang an mit dabei waren…Wie können sie so dumm sein? Wahrscheinlich handelt es sich um Noah Mortimer und diesen Grünschnabel Charlie MacClellan.« Er straffte die Schultern. »Wie hast du es erfahren, Robert?«
»Meine Frau erzählte es mir, Sir - Beth Henderson. William Francis sprach sie an, als sie allein war, und bat sie, herauszufinden, ob ich mitmachen würde. Sie versprach ihm, mich zum Mitmachen zu überreden, und dann erzählte sie mir alles.«
Der Schweiß lief King in die Augen. Es war eine Qual, in diesen Breiten im Hochsommer die Uniform eines Leutnants der Marine tragen zu müssen, doch als Kommandant war er dazu verdammt. »Welche drei von der Golden Grove sind nicht an der Verschwörung beteiligt?«, fragte er leise.
»John Bryant, der Katholik, und der Säger Richard Morgan und sein einfältiger Hausgenosse Joseph Long«, erwiderte Webb.
»Morgan ist als Aufseher der Säger zu beschäftigt und Long ist tatsächlich ein Einfaltspinsel. Also frage ich am besten den Katholiken Bryant aus; er arbeitet mit ihnen zusammen. Geh sofort zu seiner Hütte, Robert, und bring ihn unauffällig hierher. Heute ist Samstag, und kaum jemand ist in Sydney Town - die meinen alle, ich würde nicht merken, dass sie ins Arthur’s Vale verschwunden sind. Bitte auch Mr Donovan, sich sofort bei mir zu melden.«
Leutnant King bewies großes Geschick im Umgang mit der Gefahr. Er machte den Verschwörern einen Strich durch die Rechnung, bevor sie begriffen, dass ihr Plan aufgedeckt worden war.
Mit rostigen Musketen bewaffnet verhafteten die Marinesoldaten die Anstifter der Verschwörung, William Francis, Samuel Pickett, Joshua Peck, Thomas Watson, Leonard Dyer, James Davis, Noah Mortimer und Charles MacClellan. Nach langen Verhören standen schließlich die Schuldigen fest. Nur eine Hand voll Männer hatte die Verschwörung aktiv geplant, auch wenn die anderen Sträflinge bereit gewesen waren, sich den Verschwörern anzuschließen. Francis und Pickett wurden in doppelte Eisen gelegt und in einen Schuppen gesperrt. Watson und Mortimer bekamen Fußfesseln, durften sich aber bis zu der für Montag angesetzten gründlichen Untersuchung frei bewegen.
King schickte einen überraschten Richard Morgan zur Ball Bay, um die drei dort wohnenden Männer nach Sydney Town zu holen. In der Zwischenzeit versammelte er seine wenigen Freien und Seesoldaten auf dem Strand. Den Sträflingen befahl er, in ihren Hütten zu bleiben. Wer den Befehl missachtete, sollte erschossen werden.
»Thompson wurde auch noch dabei erwischt, wie er im Tal Mais stahl!«, sagte King entrüstet zu Donovan. »Er muss geglaubt haben, Francis würde die Insel übernehmen, bevor ich ihn wegen Diebstahls auspeitschen lassen könnte. Aber da irrt er sich gewaltig.«
»Die Verschwörer hätten auf die Supply warten müssen. Dann hätte unsere ganze Aufmerksamkeit dem Schiff gegolten«, sagte Stephen. Er war zu taktvoll, um hinzuzufügen, dass Kings Milde gegenüber Mary Gamble die Verschwörer darin bestärkt hatte, ihren Plan in die Tat umzusetzen. »Was haben Sie mit den Frauen vor, Sir?«
King zuckte die Achseln. »Frauen sind Frauen. Sie sind weder der Grund noch das Problem.«
»Wen wollen Sie bestrafen?‹,
»Möglichst wenige«, erwiderte King. Er sah Stephen besorgt an. »Sonst kann ich mich nicht gegen die Sträflinge behaupten, das ist Ihnen sicher klar, Mr Donovan. Kaum eine Muskete schießt noch und sie sind in der Überzahl. Aber die meisten von ihnen sind Schafe, die einen Anführer brauchen. Das ist unsere Rettung, wenn ich darauf verzichte, die Schafe zu bestrafen. Wenn die Supply kommt, werde ich über sie Port Jackson benachrichtigen, und dann muss ich warten, bis sie zurückkehrt und die Rädelsführer abholt, damit sie in Port Jackson vor Gericht gestellt werden können.«
»Ich habe das Gefühl, dass Sie die Probleme auf der Insel nicht dadurch lösen werden, dass Sie die Männer nach Port Jackson bringen«, sagte Stephen nachdenklich.
Kings Augen funkelten wütend. »Ich weiß auch, warum«, sagte er grimmig. »Man hat die meisten Sträflinge ja hergeschickt, um sie loszuwerden. Der Gouverneur wird sie nicht zurückhaben wollen, und Meuterer schon gleich gar nicht. Er müsste sie hängen lassen, und das tut er nicht gern. Es fällt ihm schon bei den Verbrechern, die ihre Verbrechen in Port Jackson verübt haben, schwer genug. Außerdem präsentiert er die Insel gern als Beispiel einer erfolgreichen Politik. Norfolk ist zu abgelegen, um unter einem System zu gedeihen, in dem Männer befehlen, die ihren Amtssitz nicht hier auf der Insel, sondern im tausend Meilen entfernten Port Jackson haben. Die Behörden von Norfolk Island müssten in Angelegenheiten, die die Insel betreffen, selbst entscheiden können.«
»So ist es«, seufzte Stephen. »Eine verzwickte Situation.« Er beugte sich vor. »Doch Sie haben einen gelernten Büchsenmacher auf der Insel, Sir, der nicht in die Verschwörung verwickelt war - Morgan, den Säger. Darf ich Sie ergebenst bitten, ihn sofort mit der Reparatur unserer Schusswaffen zu betrauen? Dann könnten Freie und Seesoldaten immer am Samstagmorgen zwei Stunden lang schießen üben. Ich könnte östlich von Sydney Town einen Schießstand errichten und die Schießübungen überwachen, wenn Morgan mir dabei hilft.«
»Eine ausgezeichnete Idee! Kümmern Sie sich darum, Mr Donovan.« Der Kommandant grunzte. »Wenn Seine Exzellenz unsere Meuterer nicht in Port Jackson haben will, wie ich fürchte, dann muss er mir eine größere Abteilung Seesoldaten unter dem Kommando eines Offiziers schicken. Außerdem brauche ich ein paar Kanonen und jede Menge Schießpulver, Kugeln und Patronen für die Musketen. Ich werde gleich einen Brief aufsetzen.« King wirkte ernst und entschlossen. »Und von jetzt an, Mr Donovan, werden Sie als Oberaufseher der Sträflinge für mehr Disziplin sorgen. Wenn die Burschen es darauf anlegen, ausgepeitscht zu werden, dann bekommen sie die Peitsche. Ich bin zutiefst enttäuscht und verletzt!«
 
Nach den Vernehmungen richtete sich der ganze Groll der Verschwörer gegen John Bryant, einen geradezu fanatisch frommen Katholiken. Er hatte die Verschwörer besonders schwer belastet, denn er hatte ausgesagt, sie hätten schon an Bord der Golden Grove geplant, das Schiff in ihre Gewalt zu bringen, doch dieser erste Plan sei geplatzt, weil er, Bryant, ihn Captain Shairp verraten habe. William Francis und Samuel Pickett wurden schließlich als Anstifter der Revolte ausgemacht und sollten mit doppelten Eisen gefesselt in Haft bleiben. Noah Mortimer und Thomas Watson sollten leichte Fußfesseln tragen, solange der Kommandant es für nötig hielt. Die Übrigen gingen straffrei aus.
Eine traurige Folge der Verschwörung war, dass das kleine Sydney Town nicht mehr idyllisch zwischen hohen Tannen und »weißen Eichen« lag, denn Leutnant King ließ alle Bäume fällen und sogar das Unterholz zwischen ihnen roden. An den beiden Enden der Siedlung wurde je ein Seesoldat postiert, der sogar nach Einbruch der Dunkelheit das Kommen und Gehen zwischen den Hütten beobachtete. Tom Jones, ein Kumpan von Len Dyer, erhielt 36 Peitschenhiebe, weil er Stephen Donovan und Sanitätsoffizier Thomas Jamison durch verächtliche sexuelle Anspielungen beleidigt hatte.
»Das Klima hat sich verändert«, sagte Richard zu Stephen, als sie vor der ersten Schießübung die Musketen noch einmal überprüften. »Schade. Mir gefällt die kleine Insel, und ich könnte hier glücklich sein, wenn die anderen Männer nicht da wären. Ich möchte nicht länger im Hüttendorf wohnen. Die Bäume sind weg und man hat kein Privatleben mehr - selbst beim Pinkeln schauen einem Leute zu. Am liebsten würde ich mich irgendwohin zurückziehen, wo ich meine Ruhe habe, und meine Kontakte zu anderen Sträflingen auf die Sägegruben beschränken.«
Stephen sah ihn verwundert an. »Sind sie Ihnen so zuwider, Richard?«
»Einige mag ich. Es sind die Schurken, die immer alles verderben - und warum? Lernen sie nie dazu? Denken Sie nur an den armen Bryant. Sie wissen, dass die Kerle sich geschworen haben, ihn fertig zu machen, und das werden sie.«
»Als Oberaufseher der Sträflinge werde ich alles tun, um das zu verhindern. Bryant hat eine nette Frau, und die beiden lieben sich innig. Wenn ihm etwas zustoßen sollte, würde es ihr das Herz brechen.«
 
Das Jahr 1789 begann mit heftigen Regenfällen und Stürmen. Sie vernichteten den Rest der Gerste, verdarben einige Fässer mit Mehl und machten das Fischen an den meisten Tagen unmöglich und das Leben im nun baumlosen Hüttendorf ausgesprochen ungemütlich. Kleider und Bettzeug waren feucht, kostbare Bücher und ebenso kostbare Schuhe setzten Schimmel an, und viele Inselbewohner klagten über Erkältungen und Kopf- und Gliederschmerzen. Mitte Februar ließ der Kommandant Francis und Pickett aus dem Schuppen holen und ohne Handschellen, aber mit schweren Eisen an den Füßen in ihre Hütten zurückbringen. Die Supply ließ sich nicht blicken. Als letztes Schiff hatte die Golden Grove vor der Insel Anker geworfen, und das war nun schon vier Monate her. Würden sie nie mehr ein Schiff zu Gesicht bekommen? War der Supply etwas zugestoßen? Was ging in Port Jackson vor?
Das schlechte Wetter setzte allen zu, besonders dem Kommandanten. Er wusste, dass es bei so heftigen Regenfällen zu riskant war, mit dem Bau eines Damms zu beginnen; außerdem hatte er einen schreienden Säugling im Haus. Die meisten Arbeiten mussten verschoben werden, und die Männer saßen zu viel herum und murrten. Nur den drei Männern in der Ball Bay ging es besser. Sie wohnten mit genügend Nahrungsmitteln versehen in einem festen Haus im Schutze der Pinien und konnten auch beim stärksten Regen noch Fische fangen.
Der 26. Februar sollte allen als schrecklicher Tag in Erinnerung bleiben. Der Tag begann mit heftigen Winden aus Ostsüdost und einer so hohen Flut, dass die Brandung bis zu den Stränden der Lagune reichte. Stephen und Richard wollten zum Point Hunter hinauslaufen. Auf halber Strecke drehten sie sich um. Die Küstenlinie im Westen bot einen Furcht erregenden Anblick. Gewaltige Brecher krachten mit solcher Wucht gegen die Klippen, dass die Gischt über 300 Fuß hoch aufspritzte und bis zu dem vier Meilen landeinwärts gelegenen höchsten Berg der Insel geweht wurde.
»Du lieber Gott, da braut sich der schlimmste Sturm aller Zeiten zusammen!«, schrie Stephen.
Als sie sich um die Turtle Bay gekämpft hatten und zurückblickten, war nicht nur Phillip Island mit seinen hohen Bergen in den schäumenden Fluten verschwunden, sondern auch das nähere Nepean Island. Der Wind, der inzwischen aus Südosten kam, wurde immer stärker. Die ganze Gewalt der Elemente richtete sich auf die Siedlung.
Geduckt, um dem Sturm weniger Angriffsfläche zu bieten, scheuchten die Leute Schweine und Federvieh in die Schuppen und Hütten, dann verbarrikadierten sie die Türen mit Baumstämmen und kletterten durch die Fenster in ihre Hütten.
So laut war das Getöse des heulenden Sturms und der herandonnernden Wassermassen, dass Richard und Stephen nicht einmal das laute Ächzen einer 180 Fuß hohen Tanne hörten, die hinter der Turtle Bay aus der Erde gerissen wurde. Sie sahen den Baum nur wegfliegen. Mit seiner spitz zulaufenden Krone und den mächtigen Wurzeln sah er aus wie ein Pfeil, der 30 Fuß über der Erde auf die Hügel landeinwärts zuraste. Weitere Bäume folgten. Es war, als hätte eine Armee von Riesen die Insel überfallen; die Sturmböen waren ihre Bögen, die Tannen ihre Pfeile und die weißen Eichen ihre Enterhaken.
Stephen kämpfte sich an den Hütten entlang, um sich zu vergewissern, dass alle Öffnungen dichtgemacht waren. Als Richard seine Hütte erreichte, sah er, dass die Tür bereits mit einem Baumstamm verrammelt war. Er war froh, dass Joey und MacGregor in Sicherheit waren, doch er selbst blieb lieber draußen. In der Hütte blind seinem Schicksal ausgeliefert zu sein, war für ihn ein schrecklicher Gedanke! Stattdessen setzte er sich vor die im Windschatten liegende Rückwand und betrachtete die Naturkatastrophe, die sich vor ihm abspielte.
Dann kam der Regen. Der Wind peitschte ihn fast waagerecht vom Meer herein, sodass Richard trotz der Sintflut trocken blieb. Weiter hinten hoben sich Dächer von den Hütten und schwebten wie Regenschirme davon. Am heftigsten schien der Sturm freilich dreißig Fuß über dem Boden zu toben - dieser Umstand und das Fehlen von Bäumen in unmittelbarer Nähe der Hütten retteten die Siedlung. Hätte Leutnant King nicht angeordnet, das ganze Gelände zu roden, wären Schuppen, Häuser und Hütten samt der Menschen darin unter umgestürzten Bäumen begraben worden.
Um acht Uhr morgens hatte der Sturm begonnen, gegen vier Uhr nachmittags flaute er allmählich wieder ab. Nur die Hütten im mittleren Abschnitt, wo Richard und Joey wohnten, und die größeren Häuser, die nicht mit Flachs, sondern mit Schindeln gedeckt waren, hatten ihre Dächer behalten.
Doch erst am nächsten Tag, der mild und windstill war, als sei nichts gewesen, sahen die 64 Bewohner von Norfolk Island das ganze Ausmaß der Verwüstungen, die der Orkan angerichtet hatte. Wo der Sumpf gewesen war, wälzte sich nun ein Fluss; alle gerodeten Flächen waren fast kniehoch mit Tannenzweigen, Buschwerk, Sand, Korallenbrocken und Blättern bedeckt, und vor den dem Sturm zugewandten Hauswänden türmten sich Trümmer, die teilweise so fest im Holz der Wände steckten, dass man sie gewaltsam herausziehen musste. In den Wäldern der Umgebung hatte der Sturm große Flächen bis auf den letzten Baum niedergemäht. An den riesigen Wurzelballen der gefällten Tannen und ihren langen Pfahlwurzeln konnte man ermessen, wie stark die Böen gewesen sein mussten, die sie aus der Erde gerissen hatten. Wo die Bäume gestanden hatten, klafften nun tiefe Krater. Die Verluste an Tannen waren hoch. Allein in Sichtweite von Sydney Town waren hunderte von Bäumen entwurzelt worden. Das unlängst gerodete, anderthalb Hektar große Gebiet hinter dem Sumpf war dicht mit umgestürzten Tannen bedeckt. Selbst fünfzig Holzfäller hätten in einem ganzen Monat nicht so viele Bäume umhauen können.
»Die Natur hat verrückt gespielt, normal ist das nicht«, sagte Leutnant King aufmunternd zu den versammelten Sträflingen. Selbst die aufsässigsten Gemüter unter ihnen wirkten eingeschüchtert. »Nirgendwo auf der Insel habe ich Anzeichen dafür entdeckt, dass hier je ein so schwerer Orkan gewütet hat, zumindest nicht in den Jahrhunderten, die die Pinien brauchten, um zweihundert Fuß hoch zu werden. Einen solchen Sturm hat es schlicht noch nicht gegeben.« Er wurde ernst, und sein Gesicht erinnerte jetzt an einen methodistischen Pfarrer, der von Hölle und Verdammnis predigte. »Warum passiert so etwas ausgerechnet in diesem Jahr? Wer von euch gesündigt hat, der prüfe sein Gewissen. Denn dieser Sturm ist das Werk Gottes! Wir müssen uns also fragen, warum Gott den ersten Menschen, die sich auf dieser paradiesischen Insel niedergelassen haben, diese Prüfung sandte. Bittet um Vergebung und sündigt nie wieder! Das nächste Mal könnte sich die Erde auftun und euch mit Haut und Haaren verschlingen!«
Kings Strafpredigt zeigte tatsächlich Wirkung, zumindest ein paar Wochen lang. Dann vergaßen die Menschen ihre guten Vorsätze wieder.
Der Kommandant musste sich allerdings selbst fragen, ob er mit seinem hitzigen Temperament Gott nicht ebenfalls erzürnt hatte, denn ein Baum hatte eine Sau, die ihm gehörte, und einen ganzen Wurf Ferkel erschlagen.
Männer und Frauen waren tagelang mit Aufräumarbeiten beschäftigt. Und das Wasser der Lagune, das die weggespülte Erde rostrot gefärbt hatte, leuchtete erst nach einem Monat wieder blau.
Als am 2. März die Supply auf der Reede eintraf, machten Richard und seine Säger sich wieder an die Arbeit. Die Siedlung in Neusüdwales brauchte wieder Balken, Bretter und Planken und für die Schiffe Rundhölzer. Wenigstens mussten keine Bäume mehr gefällt werden, auch wenn viele der überall herumliegenden Stämme alt und morsch waren.
Unter den neuen Sträflingen, die mit der Supply kamen, war auch ein erfahrener Säger namens William Holmes - noch ein William! Da Richard wusste, dass der Kommandant eine dritte Sägegrube ausheben lassen wollte, wies er dem neuen Säger die Sägegrube am Strand zu und forderte ihn auf, sich unter den anderen Neuankömmlingen drei Gehilfen zu suchen. Holmes war ein tüchtiger Mann. Er hatte seine Frau Rebecca mitgebracht, und das Paar gliederte sich schnell in die Gemeinschaft ein. Die Sägegrube in Arthur’s Vale überließ Richard Bill Blackall und Will Marriner, er selbst wollte sich mit dem Gefreiten Wigfall, Sam Hussey und Harry Humphreys in die neue Sägegrube weiter oben im Tal zurückziehen.
Dort wird es friedlicher zugehen, dachte er. Ich frage Leutnant King, ob ich mir in der Nähe ein Haus bauen darf. Joey Long muss dann eben alleine zurechtkommen. Mein Bett und mein Bettzeug, die Hälfte der Decken, meine Bücher und meine übrigen Sachen nehme ich mit - und einen der Welpen von MacGregor und Delphinia. Mr King hat Joey schließlich erlaubt, zwei zu behalten. Ein guter Rattenfänger wird droben im Tal ein Segen sein.
 
Richard konnte seine Pläne alle verwirklichen. Stephen Donovan war der Einzige, der das bedauerte. Er sah Richard jetzt nicht mehr so oft wie früher, als er auf dem Weg zum Schwimmen in der Turtle Bay an Richards Hütte vorbeigekommen war.
Im Winter trafen vierzehn neue Seesoldaten unter dem Kommando von Leutnant John Creswell ein. Dank der zusätzlichen Arbeitskräfte und der strengeren Beaufsichtigung konnte der Kommandant die meisten seiner Vorhaben in die Tat umsetzen. Auch der Damm wurde gebaut. Einige hundert Meter oberhalb des Dammes stand einsam am Waldrand Richards neues Haus.
Als Nächstes nahm Leutnant King Wege in Angriff. Ein drei Meilen langer Weg wurde quer durch die Insel zur Cascade Bay angelegt. Die Bucht hatte diesen Namen erhalten, weil dort der imposanteste der vielen kleinen Wasserfälle der Insel von einer Klippe ins Meer stürzte. Vor dem Ufer bildete ein vorspringender Felsen eine Art Terrasse, an der Boote anlegen konnten, wenn das stürmische Wetter eine Landung an der Sydney Bay unmöglich machte. Außerdem wuchs in der Umgebung der Cascade Bay besonders viel guter Flachs. Leutnant King beschloss deshalb, oberhalb des Landungsplatzes eine neue Siedlung namens Phillipburgh zu errichten, in der Flachs zu Leinwand verarbeitet werden sollte.
In Sydney Town schossen entlang der Straße immer mehr Hütten und Häuser wie Pilze aus dem Boden. Richard besuchte den Ort nur noch, um am Gottesdienst teilzunehmen und seine Verpflegungsrationen abzuholen. Sein Hund MacTavish, der sich als ebenso guter Wächter erwies wie sein Vater MacGregor, war die einzige Gesellschaft, die er wünschte - von Stephen Donovan abgesehen, der in seinen Gedanken längst nicht mehr Mr Donovan, sondern nur noch »Stephen« war.
Richards Haus maß zehn auf fünfzehn Fuß und hatte mehrere große Fensteröffnungen, die viel Licht hereinließen. Johnny Livingstone hatte ihm einen Tisch und zwei Stühle angefertigt. Das Dach war mit Flachs gedeckt, doch King hatte ihm bis zum Jahresende Schindeln versprochen. Der Boden bestand aus Holzdielen. Das Fundament des Hauses bildeten Tannenstämme. Das Holz verrottete in der Erde zwar, aber Richard konnte faulende Stämme wenigstens leicht herausziehen und ersetzen, ohne das Haus abreißen zu müssen. Innen war das Haus mit dünnen, schön gemaserten Tannenbrettern verkleidet. Die geriffelte Maserung erinnerte Richard an Sonnenstrahlen auf ruhigem Wasser.
Die Zahl der Inselbewohner war auf hundert gestiegen, und auch die Zahl der Einbrüche hatte zugenommen. Von Richard Morgan hielten die Diebe sich freilich fern. Wer einmal die Muskeln seines nackten Oberkörpers unter der gebräunten Haut hatte arbeiten sehen, wenn Richard die vierzehn Fuß lange Säge durch einen dicken Stamm zog, vermied es, sich mit ihm anzulegen. Außerdem war Richard ein Einzelgänger, und Einzelgänger waren den meisten Inselbewohnern unheimlich. Ein Mann, der lieber allein war, der keine Gesellschaft suchte und sich nicht nach Anerkennung durch andere sehnte, konnte nicht ganz richtig im Kopf sein. Doch Richard genoss sein Einsiedlerdasein. Er fand es erstaunlich, dass nicht mehr Leute, die jahrelang so dicht mit anderen zusammengesperrt gewesen waren, das Bedürfnis nach Einsamkeit hatten.
Im Winter rächte der harte Kern der Meuterer sich schließlich doch noch an John Bryant. Francis, Pickett, Watson, Peck und andere Sträflinge von der Golden Grove schlugen Holz auf dem Mount George, als Bryant - keiner wusste, wie oder warum - unter eine umfallende Tanne geriet. Der Baum zerschmetterte Bryant den Kopf. Er starb zwei Stunden später und wurde noch am selben Tag beerdigt. Weinend lief seine vor Kummer halb wahnsinnige Witwe durch Sydney Town.
»Die Stimmung ist angespannt«, sagte Stephen nach der Beerdigung auf dem Weg zu Richards Haus.
»Es musste so kommen«, erwiderte Richard nur.
»Die arme Frau! Und es war kein Priester da, um ihren Mann zu beerdigen.«
»Gott ist das egal.«
»Gott ist alles egal!«, sagte Stephen heftig. Er betrat Richards Haus, und ihm fiel auf, wie sauber und aufgeräumt es war. »Herrgott«, seufzte er und sank auf einen Stuhl. »Heute ist einer der seltenen Tage, an denen ich einen Schluck Rum gebrauchen könnte. Ich fühle mich am Tod Bryants mitschuldig.«
»Es musste so kommen«, wiederholte Richard.
MacTavish sprang auf Richards Schoß und legte sich ruhig hin. Er hat ihn gut erzogen, dachte Stephen. Wie schafft er es nur, immer noch genauso auszusehen wie bei unserer ersten Begegnung? Wir anderen werden alt und bitter, doch er bleibt so, wie er immer war.
»Bringen Sie mir ein paar der Zuckerrohrstauden, die hier überall wachsen«, sagte Richard. »Dann bekommen Sie in zwei Jahren mehr Rum, als Sie trinken können.«
»Wie bitte?«
»Ach, natürlich brauche ich auch noch zwei Kupferkessel, etwas Kupferblech, ein paar Kupferrohre und einige in der Mitte durchgesägte Fässer«, fuhr Richard lächelnd fort. »Ich kann unter anderem auch Schnaps brennen, Mr Donovan.«
»Donnerwetter, Sie sind wirklich der Traum jedes Kommandanten, Richard! Und nennen Sie mich doch bitte endlich Stephen! Ich rede Sie doch auch mit dem Vornamen an. Nach all den Jahren wird es wirklich Zeit, dass Sie Ihre Förmlichkeit ablegen, auch wenn Sie immer noch ein Sträfling sind. Ich hasse diese Bristoler Manieren!«
»Tut mir Leid, Stephen«, sagte Richard augenzwinkernd.
»Na also! Geschafft!« Stephen war überglücklich, endlich seinen Namen aus Richards Mund zu hören, doch er verbarg seine Gefühle hinter einem Stirnrunzeln. »Die Seesoldaten murren, weil nie genug Rum da ist, um ihnen volle Rationen zu geben, und Leutnant Creswell ist mit seiner Weisheit am Ende. Ihm geht es ja auch nicht besser. King kümmert das natürlich nicht, solange er seinen Portwein hat, aber Creswell würde lieber Rum trinken. In Port Jackson gibt es auch kaum welchen. Ich wette, eine Rumbrennerei auf Norfolk Island würde die volle Zustimmung Seiner Exzellenz finden. Es wäre viel billiger, selbst Rum herzustellen, als ihn per Schiff herzuschaffen, und selbst der idealistischste Beamte weiß, dass Rum ebenso wichtig ist wie Brot und Pökelfleisch.«
»Ich kann ja schon mal ein Zuckerrohrfeld anlegen. Dagegen dürfte niemand etwas haben. Zuckerrohr gedeiht auf diesem Boden prächtig, und die Raupen mögen es nicht. Und Weizen und Mais werden wir diesen Sommer trotz der Ratten und Raupen ernten können, da bin ich sicher.«
»Ich hoffe es für uns alle. Harry Ball von der Supply sagt, dass bald noch mehr Leute hierher gebracht werden.« Stephen schauderte. »Ich glaube, nie in meinem Leben, nicht einmal während des Orkans, graute mir so wie damals, als das ganze Tal eine einzige wimmelnde Masse von Raupen war. Die Hunnen waren nichts dagegen. Ich dachte wirklich schon, der Teufel hätte sie uns geschickt. Brr!« Wieder überlief ihn ein Schauer. Er wechselte das Thema. »Wer vergreift sich eigentlich an unseren Schweinen, Richard? Eins wurde getötet, ein anderes verstümmelt.«
Mit einer an Liebe grenzenden Zuneigung studierte Richard Stephens Gesicht, nur dass Liebe seiner Meinung nach nicht der richtige Ausdruck für das war, was er für den Freund empfand. Nicht weil das sexuelle Element fehlte, sondern weil Liebe ein Gefühl war, das er mit William Henry, der kleinen Mary und Peg verband.
Jahrelang hatte er die Erinnerung an diese drei Menschen verdrängt, doch nun war sie plötzlich wieder da, so klar wie der Bach, der weiter oben aus dem Fels sprudelte, so weit weg wie die Sterne und zugleich so nah wie MacTavish auf seinem Schoß. Weder die Zeit noch all das, was er inzwischen erlebt hatte, hatten sie trüben oder gar auslöschen können. Ich bin wie ein Gefäß, das mit ihrem Licht gefüllt ist, dachte Richard, und irgendwann, irgendwo werde ich diese Liebe wieder erfahren. Nicht in einem jenseitigen Leben, sondern hier, auf dieser Insel. Ich bin wieder erwacht und lebendig. Ich berste vor Leben! Und ich will diese Lebenskraft nicht verschwenden, ich will nicht zu den Leuten gehören, die überall nur mutwillig Schaden anrichten. Peg, die kleine Mary und William Henry sind hier. Sie warten auf mich. Sie werden bei mir sein.
Stephen entging die Veränderung in Richard nicht. Als hätte Richard eine alte Haut abgestreift, dachte er. Was habe ich denn gesagt? Was hat diese erstaunliche Verwandlung bewirkt? Und warum darf ausgerechnet ich ihr Zeuge werden?
»Wer das Schwein getötet hat?«, nahm Richard Stephens Frage auf. »Das ist doch klar. Len Dyer.«
»Warum Len Dyer?«
»Er ist scharf auf Mary Gamble, die aber keinen an sich heranlässt. Er hat sie angesprochen wie ein Rüpel, ohne Respekt oder Interesse für sie als Mensch. Du weißt schon, was ich meine. ›He, Gamble, lass uns ficken.‹ Da hat sie ihn vor seinen Kumpanen beschimpft.« Richard machte ein grimmiges Gesicht. »Dyer ist hinterhältig und rachsüchtig. Mary hat schon einmal eine Axt nach einem Eber geworfen und wäre dafür beinahe ausgepeitscht worden. Warum nicht ein paar Schweine abstechen? Man wird dann natürlich sofort Mary verdächtigen.«
»Jetzt nicht mehr, mit solchen Burschen werde ich fertig.« Stephen stand auf und warf Richard übermütig eine Kusshand zu. »Nenn mich doch bitte noch einmal Stephen.«
»Stephen«, sagte Richard lachend. »Aber jetzt geh. Ich muss an die Arbeit.«
 
Leutnant King hatte in dem Gebiet zwischen den alten Gemüsebeeten und Point Hunter am Ende der Turtle Bay unter der Erde ein leicht abbaubares Gestein entdeckt. Zunächst wollte er den Stein für Kamine und Öfen verwenden, doch dann stellte er fest, dass er gebrannt einen hervorragenden Kalk ergab.
Im Dezember brachte die Supply weitere Sträflinge, die die Einwohnerzahl von Norfolk Island auf 132 erhöhten, und außerdem ein Schreiben von Gouverneur Phillip mit der Anweisung, die Verpflegungsrationen um ein Drittel zu kürzen. In Port Jackson hatte er dasselbe angeordnet.
Seit zwei Jahren war kein Schiff aus England mehr eingetroffen. Das sehnlichst erwartete Versorgungsschiff Guardian, das neben privaten Gütern von Angehörigen der Marine Tonnen von Mehl, Pökelfleisch und anderen Lebensmitteln sowie Tiere nach Port Jackson bringen sollte, war nicht gekommen, und niemand wusste, warum. Seit einem Jahr hielten die Wachposten auf der südlichen Landspitze vor der Hafeneinfahrt von Port Jackson nun schon vergeblich nach der Guardian Ausschau. Jedes Segel, das sie am Horizont zu erkennen glaubten, entpuppte sich zu ihrer Enttäuschung als Fontäne eines Wals, Schaumkrone oder ein niedriges weißes Wölkchen. Die Lebensmittel, die die Sirius im Mai 1789 vom Kap der Guten Hoffnung mitgebracht hatte, gingen allmählich zur Neige, ohne dass Nachschub in Sicht gewesen wäre. Die einzige Hoffnung von Gouverneur Phillip war Norfolk Island, auf dessen Feldern zumindest einige Dinge wuchsen und wo es keine plündernden Eingeborenen gab.
Die im Dezember mit der Supply eingetroffenen Neuankömmlinge schilderten die Zustände in Port Jackson als katastrophal. Die Menschen dort waren inzwischen bis auf die Knochen abgemagert und buchstäblich vom Hungertod bedroht. Auf dem Rose Hill und in einigen Gebieten nördlich und südlich von Port Jackson wuchs inzwischen zwar etwas Gemüse, doch mit einer nennenswerten Getreideernte war in den nächsten Jahren nicht zu rechnen.
Gouverneur Phillip beschloss, die Sirius nach China zu schicken, wo es Reis und Rauchfleisch im Überfluss gab und außerdem Tee und Zucker, mit denen man den Sträflingen das entbehrungsreiche Leben etwas versüßen konnte. Außerdem hoffte er, in den europäischen Handelsniederlassungen in Wampoa Rum kaufen zu können. Dass die Lage Anfang 1790 noch schlimmer sein würde als Anfang 1789, hatte er nicht erwartet.
Während die Sirius für die lange Reise gerüstet wurde, fuhr die Supply noch einmal mit Sträflingen an Bord nach Norfolk. Später sollte die Sirius auf dem Weg in den Orient zusammen mit der Supply weitere 183 Sträflinge - 116 Männer und 67 Frauen - sowie 28 Kinder, 8 Offiziere und 56 Seesoldaten nach Norfolk bringen. Danach hatte die Insel 424 Einwohner.
Der Gouverneur kannte seine Untergebenen, insbesondere Leutnant Phillip Gidley King, der mit ihm auf der Ariadne und der Europa gedient hatte. Die Berichte Kings, die die Supply von ihren Fahrten nach Norfolk Island mitbrachte, ließen Seine Exzellenz daran zweifeln, ob King seinen Aufgaben als Inselkommandant noch gewachsen sein würde, wenn die kleine Inselgemeinde plötzlich so groß war, dass er die Menschen nicht mehr persönlich kannte. King hatte seinen Sohn auf den Namen der Insel getauft! Schon das zeigte, was für ein Romantiker er war. Und ein Romantiker war nicht geeignet, eine große Sträflingskolonie zu regieren.
Gouverneur Phillip überlegte sich noch aus anderen Gründen, King abzuberufen. Erstens wäre er gern den nörgeligen Schotten Major Ross losgeworden, zweitens musste er so schnell wie möglich einen Mann, dem er voll vertrauen konnte, nach England schicken. Der Gesandte sollte in Erfahrung bringen, warum kein Nachschub kam, und die derzeitigen Machthaber davon überzeugen, dass Neusüdwales zwar alle Voraussetzungen erfüllte, eine blühende Kolonie zu werden, dazu jedoch mehr Entwicklungshilfe brauchte. Die bewilligten 50 000 Pfund waren lächerlich wenig, wenn man bedachte, dass die Ostindische Kompanie jährlich allein für Bestechungsgelder mehr ausgab! Philip vertraute King, Ross dagegen nicht. Er hätte auch Captain Hunter von der Sirius schicken können, doch dem traute er ebenfalls nicht, weil Hunter wie Ross ein typischer schottischer Schwarzseher war. Für Ross und Hunter war Neusüdwales nur ein trostloser Vorposten ohne Entwicklungsmöglichkeiten. Wahrscheinlich hätten sie der Krone empfohlen, das Experiment sofort zu beenden. Der Gouverneur seinerseits glaubte fest an die Zukunft von Neusüdwales. Es war nur eine Frage der Zeit und des Geldes.
Er schickte deshalb mit der Supply nicht nur weitere Sträflinge nach Norfolk Island, sondern auch einen Brief an Leutnant King, in dem er ihm befahl, mit Ann Innet und seinem Sohn nach Port Jackson zurückzukehren, wo er mit den Einzelheiten einer höchst wichtigen Mission vertraut gemacht werden würde. Seinen Platz in Norfolk sollte Vizegouverneur Ross einnehmen. So schlug Gouverneur Phillip mehrere Fliegen mit einer Klappe: Er wurde nicht nur Major Ross los, sondern auch Captain Hunter, der mit der Sirius von Norfolk Island aus nach China weitersegeln sollte. Und wenn die Insel erst 424 Einwohner hatte, hatte Port Jackson nur noch 591.
 
Am Samstag, dem 13. März 1790, trafen die Sirius und die Supply zusammen vor Norfolk Island ein. Sie mussten zunächst vor der Cascade Bay auf der Leeseite der Insel Anker werfen, da nach einem nassen, windigen Sommer die Äquinoktialstürme mit voller Macht eingesetzt hatten. Der Weg quer durch die Insel war schon beschwerlich genug, ihn zu erreichen freilich noch schwieriger, da die Küste von Cascade Bay steil ins Meer abfiel. Der einzige Pfad zur Kuppe führte vom Landungsfelsen durch eine Schlucht so steil nach oben, dass die Frauen ohne fremde Hilfe nicht hinaufsteigen konnten, zumal das Wasser den Boden aufgeweicht und schlüpfrig gemacht hatte.
King schickte alle Sträflinge mit Ausnahme der Säger und Schreiner zum anderen Ende der Insel, um mitzuhelfen, die von Major Ross angeführten Neuankömmlinge und ihr Gepäck zur Kuppe hinauf und dann über die Insel nach Sydney Town zu bringen.
»Der arme Teufel tat mir schrecklich Leid«, sagte Stephen zu Richard. Die beiden saßen in Richards Haus vor einem selbst gekochten Mittagessen, das aus kaltem, ungesüßtem Reisauflauf, einem kleinen Stück Pökelfleisch und einer Hand voll Petersilie bestand, und sahen durch das offene Fenster in den prasselnden Regen. Stephen hatte das Mehl und das Pökelfleisch beigesteuert, Richard den Reis und die Petersilie.
»Du meinst Major Ross?«
»Ja. Er und Hunter hassen einander wie die Pest, und Hunter schickte Ross mit einem Beiboot der Sirius an Land, das bis zu den Dollborden mit Hühnern, Puten, Kisten und Fässern beladen war. Ross bekam so schlimme Wadenkrämpfe, dass er es kaum noch schaffte, vom Boot auf den Landungsfelsen zu springen. Von Hunters Männern half ihm keiner. Ich glaube, sie hätten den Major zu gern um sein Leben schwimmen sehen. Doch Major Ross wäre nicht Major Ross, wenn er ihnen diesen Spaß gegönnt hätte. Er gelangte so trocken ans Ufer, wie es bei dem Regen möglich war. Seine Sachen sind immer noch auf der Sirius und werden sicher zuletzt ausgeladen. Ich habe ihn abgeholt und wollte ihm den gefährlichen Hang hinaufhelfen, doch glaubst du, er hätte das zugelassen? Er doch nicht! Nass bis auf die Haut, hoch erhobenen Hauptes und mit verkniffenem Mund stieg er zur Kuppe hinauf und rannte dann so schnell über die Insel, dass ich kaum hinterherkam. Er mag aussehen wie ein Pferd, aber er ist wirklich ein Prachtkerl!«
Richard grinste breit, sagte aber nichts. Er stand auf, stellte die Teller in den Regen hinaus und wischte den Tisch ab. Natürlich hatte es sich nach dem letzten Besuch der Supply schnell herumgesprochen, dass Leutnant King gehen und durch Major Ross ersetzt werden sollte. Fast alle Inselbewohner stöhnten, als sie das hörten, besonders Männer wie Dyer und Francis. Richard Morgan dagegen fand die Aussicht gar nicht so schlecht. Leutnant King war ein guter Kommandant gewesen, aber für seinen familiären Stil waren im Grunde schon 149 Leute zu viel. Die Insel war zwar nicht groß, doch war Sydney Town nicht der einzige Ort, an dem Menschen angesiedelt werden konnten. Trotzdem hatte King nur eine andere Siedlung gegründet: Phillipburgh, wo der Flachs verarbeitet werden sollte. King wollte alle Mitglieder seiner inzwischen gewachsenen Familie in der kleinen Ebene um Sydney Town um sich wissen. Er war ganz aus dem Häuschen gewesen, als Robert Webb mit Beth Henderson nach Cascade ausgewandert war, und als Richard Phillimore von der Scarborough in ein idyllisches kleines Tal hinter der Landspitze am östlichen Ende des Strandes hatte ziehen wollen, um dort weitere Felder anzulegen, hatte King ihn nicht gehen lassen.
Richard hielt es dagegen für das Vernünftigste, die Insel Norfolk zu erschließen und die Leute überall wohnen zu lassen, wo es ihnen gefiel. Ihm graute bei dem Gedanken, das schnell wachsende Sydney Town könnte sich schließlich bis ins Arthur’s Vale hinauf ausbreiten, denn er genoss es, dort droben keine Nachbarn zu haben. Am Hang hatte er eine Grube ausgehoben, die ihm als Abtritt diente, weiter oben hatte er inmitten von Baumfarnen ein Bad angelegt. Er wusch sich in einem kleinen Seitenkanal, den er vom Bach aus in den Wald geleitet hatte, sodass er den Bach selbst nicht verunreinigte. Unter Kings Regiment hatte er den Tag kommen sehen, an dem Sydney Town ihn erreichte. Nicht dass er Major Ross für klüger gehalten hätte als Leutnant King. Ross war nur ganz anders als sein Vorgänger und würde das Problem des großen und plötzlichen Bevölkerungszuwachses vielleicht anders lösen als King.
»Dann trocknet der Major seinen Mantel jetzt wohl bereits in seinem neuen Amtssitz?«, fragte Richard.
»Sicher. Der arme Mr King! Einerseits ist er begeistert von der wichtigen Mission, mit der der Gouverneur ihn betraut, andererseits treibt ihn die Vorstellung, was Major Ross aus der Insel machen wird, fast zur Verzweiflung.«
 
Innerhalb von vier Tagen war die Einwohnerzahl Norfolks von 149 auf 424 gestiegen. Mit der Sirius und der Supply waren mehr Leute eingetroffen, als bis zum März 1790 überhaupt auf der Insel gelebt hatten. Die beiden Schiffe hatten auch zusätzliche Lebensmittelvorräte an Bord.
»Aber bei weitem nicht genug!«, klagte Leutnant King. »Von was soll ich all diese Leute denn ernähren?«
»Das wird nicht Ihre Sorge sein«, entgegnete der Major ruppig. »Sie sind nur noch bis zur Abfahrt der Supply Kommandant, also nicht mehr lange. Wir müssen nur noch warten, bis die See ruhiger wird, damit das Schiff seine Fracht auf dieser Seite der Insel ausladen kann. Bis zu Ihrer Abreise werde ich mich Ihren Entscheidungen unterwerfen. Doch die Verpflegung dieser Leute ist meine Sache. Ihre Unterbringung ebenfalls.« Er legte den Arm um seinen zehnjährigen Sohn Alexander John, der zum Leutnant der Seesoldaten ernannt worden war. Nach dem Tod von Captain John Shea waren die anderen Offiziere in der Hierarchie aufgerückt, sodass am unteren Ende ein Offiziersposten frei wurde. Der kleine John, wie alle ihn nannten, war ein stilles Kind, das sich hütete, das Leben seines Vater schwieriger zu machen, als es bereits war. Er wusste sehr wohl, dass die unübliche Beförderung ihn bei den anderen Offizieren nicht beliebt machte, doch er fügte sich in sein Schicksal.
Major Ross blickte von der Anhöhe, auf der sein bescheidener Amtssitz stand, über die Ebene von Sydney Town. Dort herrschte dasselbe Chaos wie seinerzeit nach der Landung in Port Jackson. Menschen wanderten ziellos umher, darunter die 56 neuen Seesoldaten, die noch kein Quartier hatten. Ihre Offiziere hatten acht mal zehn Fuß große Hütten alteingesessener Sträflinge beschlagnahmt, die sich nun unter die neu eingetroffenen Obdachlosen mischten und dadurch für noch mehr Verwirrung sorgten.
»Ich hoffe, Sie haben tüchtige Säger, Mr King«, sage Ross grimmig.
»Ja, einige schon.« King war so aufgeregt, dass er Mühe hatte, sich zu beherrschen. Ihm wurde plötzlich ganz bang bei dem Gedanken, Norfolk Island verlassen zu müssen. »Es gibt hier drei Sägegruben, aber wir brauchen noch mehr Säger. Wie Sie ja selbst wissen, Major Ross, ist es nicht leicht, geeignete Männer zu finden.«
»Unter den neuen Sträflingen sind ein paar Säger aus Port Jackson.«
»Hoffentlich auch weitere Sägen.«
»Seine Exzellenz hat alle Zugsägen bis auf drei sowie hundert Handsägen mitgeschickt.« Ross nahm den Arm von der Schulter seines Sohnes. »Sägt Richard Morgan auch?«
Über Kings unglückliches Gesicht glitt ein Lächeln. »Ich wüsste nicht, was ich ohne ihn anfangen sollte«, erwiderte er. »Er ist so unersetzlich wie mein Schreiner Nat Lucas oder mein Sekretär Tom Crowder.«
»Ich sagte Ihnen ja, dass Morgan ein guter Mann ist. Wo ist er?«
»Er sägt den ganzen Tag.«
»Und wer schärft die Sägen?«
King grinste. »Er lässt inzwischen Frauen die Sägen schärfen, was hervorragend klappt. Sein Partner an der Säge ist der Gefreite Wigfall, weil es unter den Sträflingen keine geeigneten Männer mehr gab. Keiner reißt sich um die anstrengende Arbeit, aber sie kann Wigfall, Morgan und ein paar anderen offenbar nichts anhaben. Sie erfreuen sich bester Gesundheit, wahrscheinlich weil sie hart arbeiten und gutes Essen bekommen.«
»Das werden sie auch weiterhin bekommen, selbst wenn andere vielleicht hungern müssen«, sagte Ross. »Zuerst müssen Unterkünfte für die Soldaten gebaut werden. In Zelten zu leben ist die Hölle - falls Hunter sich irgendwann dazu aufrafft, die Zelte ausladen zu lassen. Wo wäre Ihrer Meinung nach der beste Platz für neue Unterkünfte?«
»Dort drüben, hinter dem Sumpf. Das Land am Fuße der Hügel hinter Sydney Town ist trocken. Leider verrotten die Norfolktannen in der Erde schnell, deshalb wären Fundamente aus Stein besser geeignet. Sind auch Steinmetze mitgekommen?«
»Ja, mehrere, und ein paar Meißel haben wir auch dabei. Seine Exzellenz weiß, dass sie hier dringender gebraucht werden als in Port Jackson, wo im Augenblick keine neuen Häuser gebaut werden müssen. Der Gouverneur war übrigens hocherfreut über den Kalk, den Sie ihm geschickt haben. Wir haben auf unseren Reisen durch Cumberland County keinen einzigen Brocken Kalkstein gefunden.«
»Dann kann ich dem Gouverneur ja mitteilen, dass es hier genug Kalk gibt. Wir könnten notfalls hundert Scheffel am Tag produzieren.« King sehnte sich nach einem Glas Portwein, wusste aber, dass der Major es nicht guthieß, am Tag mehr als ein halbes Pint eines alkoholischen Getränks zu sich zu nehmen. Er sah Ann an der Haustür stehen und beschloss, den Major sich selbst zu überlassen. Ann war wieder schwanger und brauchte vielleicht seine Hilfe. »Ich muss gehen!«, sagte er und verschwand.
In diesem Augenblick trat der schmächtige Leutnant Ralph Clark ein. Ross hatte nichts von ihm gehalten, bis er merkte, dass der unreife, sentimentale Clark zwar nicht zum Seesoldaten taugte, aber ein großartiges Kindermädchen war. Es schien ihm tatsächlich Spaß zu machen, sich um den kleinen John zu kümmern.
»Ich sehne mich nach einem frischen Hemd, Sir«, sagte Clark höflich und lächelte den kleinen John an. »Sie sicher auch. Vielleicht wurde unser Gepäck inzwischen an Land gebracht.«
»Ich frage mich langsam, ob die Leute von der Sirius es überhaupt je schaffen werden, die Ladung zu löschen«, sagte Ross mürrisch. »Bei der Supply klappt es reibungslos.«
»Die Supply hat Ball und Blackburn, Sir. Die kennen sich hier aus.«
Und Hunter von der Sirius ist ein launischer Idiot, dachte Ross. Laut sagte er zu Clark: »Kümmern Sie sich um den kleinen John, Leutnant. Ich sehe mir die Insel an.«
Ross wanderte durch Sydney Town und Umgebung, dann marschierte er nach Westen ins Arthur’s Vale. Was Oberleutnant King in nur zwei Jahren und mit so wenigen Männern aufgebaut hatte, nötigte dem Major Respekt ab, auch wenn er sich das nur ungern eingestand. Die Holzfundamente des Getreidespeichers und der Scheune waren inzwischen fast vollständig durch Fundamente aus dem Stein ersetzt worden, den King in der Umgebung des Friedhofs entdeckt hatte. Neben der Scheune befand sich ein großer Viehhof. Ross kam an der zweiten Sägegrube vorbei, in der unter einem Sonnenschutz eifrig gesägt wurde. Er blickte skeptisch zu den Frauen hinüber, die unter einem Dach Sägen schärften und sich dabei unterhielten. Dann ging er weiter talaufwärts. Oberhalb des Damms wurden die Hänge gerodet, um Platz für weitere Weizen- und Maisfelder zu schaffen. Dort entdeckte er die dritte Sägegrube und Richard Morgan und einen Mitarbeiter. Die beiden Männer sägten gerade dicke Balken aus dem Kernholz eines gewaltigen Stammes. Da der Major wusste, dass es gefährlich sein konnte, Säger abzulenken, während ihr scharfes Werkzeug sich durch das Holz fraß, blieb er ruhig stehen und sah zu.
Als die beiden fertig waren, sprach er Richard an. »Wie ich sehe, sind Sie beschäftigt, Morgan.«
Richard gab sich keine Mühe, seine Freude zu verbergen. Er sprang von dem Stamm herunter und trat auf Ross zu. Er wollte schon die Hand ausstrecken, besann sich aber noch rechtzeitig und hob sie stattdessen grüßend. »Willkommen auf der Insel, Major Ross«, sagte er lächelnd.
»Sind Sie auch aus Ihrer Hütte vertrieben worden?«
»Noch nicht, Sir, aber das wird wohl noch kommen.«
»Wo wohnen Sie denn, dass es noch nicht geschehen ist?«
»Weiter oben, am Ende des Tals.«
»Zeigen Sie es mir.«
Das Haus, das inzwischen ein steinernes Fundament und ein Schindeldach hatte - eine Hütte konnte man es nicht mehr nennen -, lag am Waldrand. Es hatte sogar einen steinernen Kamin, wie einige der Sträflingshütten und Häuser an der Küste. Offenbar hatte King Richard Morgan damit auszeichnen wollen. Etwas unterhalb des Hauses befand sich ein Abort. Das Haus war von einem üppigen Gemüsegarten umgeben, durch den ein Weg aus Basaltsteinen zum Eingang führte. An den Garten schloss ein Feld mit Zuckerrohr- und Bananenstauden an. Der Hang um den Abort war mit buschigen kleinen Bäumen bepflanzt, die rötliche Beeren trugen.
Major Ross betrat das Haus und staunte über die fachmännische Inneneinrichtung. Ein Schreiner hätte es nicht besser machen können! Die Wände und die Decke waren holzgetäfelt und wie der Fußboden glatt geschmirgelt. Natürlich! Büchsenmacher arbeiteten auch mit Holz. An einer Wand stand ein Regal mit einer beeindruckenden Büchersammlung. Auf einem anderen Regal stand etwas, das verdächtig nach einem Filterstein aussah, auf dem Bett lagen Decken von der Alexander. In der Mitte des Raums standen ein hübscher Tisch und zwei Stühle. Die Fenster waren mit richtigen Läden versehen.
»Schön haben Sie es hier«, sagte Ross und ließ sich auf einem Stuhl nieder. »Nehmen Sie doch Platz, Morgan, sonst fühle ich mich unwohl.«
Richard setzte sich kerzengerade auf den anderen Stuhl. »Ich freue mich, Sie zu sehen, Sir.«
»Das habe ich gemerkt. Viele haben sich nicht gefreut.«
»Die Menschen haben Angst vor Veränderungen.«
»Besonders wenn die Veränderung Robert Ross heißt. Nein, nein, Morgan, Sie haben keinen Grund zur Besorgnis! Sie sind ein Sträfling, aber kein Verbrecher. Das ist ein Unterschied.«
Der Major stand auf. »Ich gratuliere Ihnen zu diesem Haus. Im Sommer ist es sicher angenehm kühl, weil es im Schatten der Bäume liegt, und im Winter warm, weil es einen Kamin hat.«
»Es steht zu Ihrer Verfügung, Sir«, sagte Richard pflichtbewusst.
»Wenn es nicht so abgelegen wäre, würde ich es sofort nehmen, Morgan, damit wir uns nicht falsch verstehen. Und irgendwann werden Sie es mit jemandem teilen müssen.« Der Major ging zur Tür.
Richard begleitete Ross zur Sägegrube zurück, wo Sam Hussey und Harry Humphreys gerade einen neuen Stamm in Angriff nahmen.
»Ich bin der Aufseher der Säger, Sir, daher würde ich gerne mit Ihnen über unsere Arbeit sprechen, sobald Sie Zeit haben«, sagte er.
»Jetzt ist die beste Gelegenheit dazu. Reden Sie.«
Richard zeigte Ross alle drei Sägegruben und legte ihm dar, welche Vorteile es hatte, zum Schärfen der Sägen und zum Entrinden der Stämme Frauen einzusetzen. Er erklärte, wo weitere Sägegruben ausgehoben werden könnten, was für Männer er zum Sägen brauchte, dass es sich bewährt habe, die Säger in ihrer Freizeit Holz für ihre eigenen Häuser sägen zu lassen, und warum es nötig gewesen sei, aus einigen der Zugsägen Ablängsägen zu machen.
»Diese Arbeit muss ich allerdings selbst machen«, beendete er seine Ausführungen. »Es sei denn, Sie haben William Edmunds mitgebracht.«
»Er ist dabei. Sie können ihn haben.«
Für mich ist die Umstellung nicht schwer, dachte Richard zufrieden. Wie einsam muss Major Ross sein, wenn er sich mit einem Sträfling unterhält wie mit einem Mann aus seinem Stab. Hat er mich deshalb hierher vorausgeschickt?
 
Am Freitag, dem 19. März, einem schönen Tag mit ruhiger See, steuerte die Sirius die Sydney Bay an, um ihre Fracht zu löschen. Im Windschatten von Nepean Island drehte das Schiff bei. Schon sollten die Boote ausgesetzt werden, doch da bemerkten die Offiziere, dass das Schiff zu nahe an die Felsen von Point Hunter herantrieb und gingen wieder unter Segel, um weiter hinauszufahren. Doch das Schiff verfehlte das Wenden und bewegte sich nicht. Navigator Keltie beschloss, das Schiff vor den Wind zu drehen. In diesem Augenblick frischte der Wind böig auf. Wieder verfehlte die Sirius das Wenden. In Sydney Town läutete gerade die Mittagsglocke, als eine Welle das Schiff hob und breitseitig auf das Riff warf. Die Besatzung griff sofort zu den Äxten und hackte die Masten auf Deckhöhe ab. Die umstürzenden Masten zerschlugen die Boote und begruben die Decks unter einem Wirrwarr von Spieren und Segeltuch. Sofort versuchten Helfer, das gestrandete Schiff vom Strand und von der auf der Reede ankernden Supply aus mit Booten zu erreichen, doch vergeblich. Die tückische Brandung war inzwischen so hoch, dass sie bereits über den eichenen Klüverbaum schlug. Während die Seeleute hektisch die Decks vom herabgestürzten Takelwerk befreiten, wurde eine sieben Zoll starke Trosse zum Ufer geschleppt und dort hoch an einer Tanne befestigt. Wer an Bord nicht gebraucht wurde, klammerte sich an das dicke Tau und wurde durch die steigende Nachmittagsflut an Land gezogen. Da das Tau in der Mitte durchhing, zog sich Captain Hunter, der als Erster ans Ufer gewinscht wurde, unterwegs etliche blaue Flecken, Beulen und Schnittwunden zu. Ross bemerkte es voller Schadenfreude. Außerdem würde der Kapitän sich in England vor Gericht für den Verlust seines Schiffes verantworten müssen.
Die Nachricht erreichte die Sägegruben so schnell wie alle schlechten Nachrichten. Richard ließ die Säger mit der Arbeit weitermachen, solange sie an der Unglücksstelle nicht gebraucht wurden. Die vielen Neuankömmlinge benötigten dringend Unterkünfte; außerdem saßen nun auch noch die rund hundert Männer von der Sirius auf der Insel fest. Wenn die Sirius nicht nach China fahren konnte, dachte Richard, musste der Gouverneur wohl die Supply schicken, und das bedeutete für die Menschen auf der Insel mehrere Monate ohne Nachschub. Richard sollte Recht behalten.
Am Samstagmorgen war die Sirius trotz des stark beschädigten Rumpfes noch nicht gesunken oder auseinander gebrochen. Mit dem Heck nach oben hing sie auf dem Riff. Inzwischen wehte ein stürmischer Wind und dunkle Wolken verhießen Regen, doch trotz des schlechten Wetters wurden den ganzen Tag lang Vorräte von Bord geholt. Um vier Uhr nachmittags kamen die letzten Männer der Sirius an Land, nachdem sie die ganze Fracht zum Abtransport auf die freigeräumten Decks geschleppt hatten.
Am selben Morgen um neun Uhr berief King auf Drängen von Major Ross eine Versammlung aller Offiziere der Sirius und des Korps der Seesoldaten ein. Ross führte den Vorsitz.
»Angesichts der Notlage hat Leutnant King mir als Vizegouverneur das Kommando übertragen«, begann Ross. Seine hellen Augen glänzten stählern wie ein See im schottischen Hochland. »Es müssen Entscheidungen getroffen werden, die Ruhe und Ordnung auf der Insel sichern. Die Supply kann ungefähr zwanzig Mitglieder der Besatzung der Sirius sowie Mr King, seine Lebensgefährtin und seinen Sohn nach Port Jackson mitnehmen. Sie muss so schnell wie möglich aufbrechen. Seine Exzellenz muss unverzüglich von der Katastrophe unterrichtet werden.«
»Es war nicht meine Schuld!«, stieß Hunter hervor. Er hatte eine Schnittwunde im Gesicht und war so bleich, als würde er gleich in Ohnmacht fallen. »Wir konnten das Schiff nicht wenden! Es war unmöglich, weil der Wind plötzlich drehte - es ging alles so wahnsinnig schnell!«
»Ich habe diese Versammlung nicht einberufen, um die Schuldfrage zu klären, Captain Hunter«, sagte Ross barsch. »Unser Problem ist, dass in einer Kolonie, die vor sechs Tagen noch 149 Einwohner hatte, nun mehr als 500 Leute leben, darunter 300 Sträflinge und über 80 Männer von der Sirius. Letztere werden als Seeleute weder bei der Beaufsichtigung der Sträflinge noch bei der Feldarbeit eine große Hilfe sein. Mr King, glauben Sie, dass Gouverneur Phillip die Supply von Port Jackson wieder hierher schickt?«
King sah ihn erschreckt und verwirrt an, dann schüttelte er heftig den Kopf. »Nein, Major Ross, mit der Rückkehr der Supply können Sie nicht rechnen. So weit ich unterrichtet bin, sind die Leute in Port Jackson am Verhungern, und niemand weiß, warum kein Nachschub eintrifft. Seine Exzellenz hegt die Befürchtung, dass man uns in England vergessen hat. Nach der Havarie der Sirius ist die Supply die einzige Verbindung zur Außenwelt. Der Gouverneur wird sie nach Kapstadt oder Batavia schicken, um Nahrungsmittel zu besorgen. Ich schätze, er wird sich für Batavia entscheiden, weil die Reise dorthin für ein altes Schönwetterschiff wie die Supply weniger beschwerlich ist. Vor allem aber muss er jemanden nach England schicken, der die dort zuständigen Herren daran erinnert, dass die Zustände in beiden Kolonien katastrophal sind - falls nicht doch noch ein Versorgungsschiff eintrifft. Aber das wird leider immer unwahrscheinlicher.«
»Wir können also nicht auf ein Versorgungsschiff hoffen, sondern werden uns auf das Schlimmste vorbereiten, Mr King. Es sind noch Weizen und Mais im Speicher, doch mit der Aussaat müssen wir noch mindestens zwei Monate warten, sodass es noch acht oder neun Monate bis zur nächsten Ernte sind. Wenn wir es schaffen, allen Proviant von der Sirius zu holen, bevor sie sinkt« - er ignorierte Hunters verzweifelten Blick - »dann reichen unsere Vorräte schätzungsweise knapp drei Monate. Wir müssen also ständig fischen und jeden essbaren Vogel fangen, den wir hier finden.«
Kings Miene hellte sich auf. »Es gibt hier einen schmackhaften Seevogel, der im April eintrifft und bis August bleibt«, sagte er lebhaft. »Wenn die Situation kritisch wird, ist er eine Nahrungsquelle. Sie müssen nur Wege zu seinen Nistplätzen auf dem Mount Pitt anlegen.«
»Ich danke Ihnen für diese Information, Mr King.« Ross räusperte sich. »Wie dem auch sei, die größte Gefahr sehe ich in einer Meuterei.« Er funkelte seine Offiziere drohend an. »Und zwar nicht nur in einer Meuterei der Sträflinge. Unter meinen Unteroffizieren und Mannschaften sind viele Raufbolde, die ständig mit Rum versorgt werden müssen. Und wenn ich sagte, dass unsere Lebensmittelvorräte höchstens drei Monate reichen, dann meinte ich damit auch den Rum. Da ich genug Rum für meine Offiziere reservieren muss, bin ich gezwungen, die Rationen der Unteroffiziere und Mannschaften weiter zu kürzen. Und natürlich erwarten Captain Hunters Leute ebenfalls, dass sie mit Rum versorgt werden - so ist es doch, Captain, oder?«
Hunter schluckte. »Ich fürchte ja, Major Ross.«
»Dann sehe ich nur eine Lösung: das Kriegsrecht! Jeder Diebstahl, ganz gleich, ob ein Freier oder ein Sträfling ihn begeht, wird ohne vorherige Gerichtsverhandlung mit dem Tode bestraft. Und glauben Sie mir, meine Herren, ich meine es ernst.«
Nach dieser Ankündigung herrschte tiefes Schweigen. Nur die Geräusche der Männer, die sich draußen abmühten, die Vorräte der Sirius zu bergen, drangen schwach durch die Wände der Gouverneursresidenz.
»Am Montagmorgen um acht versammelt sich die gesamte Bevölkerung der Insel am Fahnenmasten mit dem Union Jack«, sagte Ross. »Dort werde ich sie über die neue Lage unterrichten. Bis dahin, meine Herren, erbitte ich mir strengstes Stillschweigen. Wer jetzt schon verrät, dass das Kriegsrecht über die Insel verhängt werden soll, den lasse ich auspeitschen, egal wie hoch sein Rang ist. Sie können gehen.«
 
Am Montagmorgen um acht wurden alle Inselbewohner zum Fahnenmasten mit dem Union Jack abkommandiert. Seesoldaten und Matrosen mussten sich auf der rechten Seite aufstellen, die Sträflinge auf der linken. Die Offiziere standen in der Mitte, direkt unter der Fahne.
»Als Kommandant dieser englischen Kolonie erkläre ich hiermit, dass ab sofort das Kriegsrecht gilt!«, brüllte Major Ross. »Bis Gott und Seine Majestät der König uns Hilfe schicken, sind wir auf uns selbst angewiesen. Wenn wir überleben wollen, müssen wir uns zwei Ziele fest vornehmen: wetterfeste Unterkünfte zu bauen und Nahrung zu produzieren. Nach meiner Rechnung werden nach Abfahrt der Supply noch 504 Menschen hier sein - über dreimal so viele wie vor einer Woche! Wir sind vom Hunger bedroht, aber eins versichere ich euch: Keiner wird bevorzugt, keiner bekommt mehr zu essen als der andere. Gott prüft uns, wie er das Volk Israel in der Wüste geprüft hat, auch wenn wir nicht von uns behaupten können, so tugendhaft zu sein wie dieses alte und bewundernswerte Volk. Unser Schicksal hängt allein von uns ab - von unserem Einfallsreichtum, von unserer Bereitschaft, hart zu arbeiten, und von unserem Willen, allen Widrigkeiten zum Trotz zu überleben!«
Er hielt inne, und wer in seiner Nähe stand, sah, wie sein Gesicht einen verbitterten Ausdruck annahm. »Ich sage es noch einmal, ihr seid nicht das Volk Israel! Unter euch ist der Abschaum der Menschheit, daher werde ich, wenn es sein muss, hart durchgreifen. Wer sein Los mit Anstand erträgt und sich selbstlos in den Dienst der Gemeinschaft stellt, wird belohnt. Wer anderen das Essen vom Mund wegstiehlt, wird mit dem Tode bestraft! Wer stiehlt, um das Diebesgut gegen andere Dinge zu tauschen, um ein bequemeres Leben zu haben, um sich zu betrinken oder aus irgendeinem anderen Grund, wird ausgepeitscht, bis die Haut ihm in Fetzen von den Knochen hängt! Das gilt für Männer und Frauen, und auch Kinder werden streng bestraft. Es herrscht Kriegsrecht, und das bedeutet, dass ich Richter, Jury und Henker in einer Person bin. Mir ist egal, wenn ihr Unzucht treibt. Ich habe auch nichts dagegen, wenn ihr in eurer Freizeit zusätzliches Gemüse anbaut oder euch eine Unterkunft zimmert. Aber ich werde nicht den geringsten Verstoß gegen die Interessen der Gemeinschaft dulden! Ich erwarte, dass alle Männer und Frauen sofort mit dem Anbau von Gemüse und Obst beginnen, um die Vorräte aufzustocken. In den ersten sechs Wochen muss alles Gemüse und Obst abgeliefert werden, danach darf jeder mit einem ertragreichen Garten ein Drittel der Ernte behalten. Ertrag durch Arbeit, lautet mein Motto, und das gilt für die Freien genauso wie für die Sträflinge.«
Der Major bleckte die Zähne. »Ich bin Vizegouverneur dieser Insel, und was ich sage, ist ebenso Gesetz, als hätte der König persönlich es verkündet! Nun will ich ein dreifaches Hoch auf Seine Majestät König Georg hören, aber bitte laut! Hipp, hipp!«
»Hurra!«, schrien alle, dreimal hintereinander.
»Und ein dreifaches Hoch auf Leutnant King, der hier Wunder vollbracht hat! Mr King, ich wünsche Ihnen eine gute Reise. Hipp, hipp!«
Die Hurras für King waren noch lauter als die für den König. King stand ganz benommen da und strahlte vor Freude. In diesem Augenblick liebte er Major Ross geradezu.
»Und jetzt laufen alle am Union Jack vorbei und neigen zum Zeichen ihrer Treue den Kopf!«
Eingeschüchtert und ernst defilierte die Menge vorüber.
Richard hatte unter den neu eingetroffenen Sträflingen zu seiner Freude bereits viele bekannte Gesichter entdeckt, darunter Will Connelly, Neddy Perrott und Taffy Edmunds, Tommy Kidner, Aaron Davis, Mikey Dennison, Steve Martin, George Guest, George Whitacre und den lustigen Ed Risby. Unter den neuen Seesoldaten erblickte er seinen Büchsenmacherlehrling Daniel Stanfield und zwei Männer von der Alexander - Elias Bishop und Joe McCaldren. Bestimmt würden seine alten Freunde ihn gleich begrüßen wollen. Wie sollte er ihnen erklären, dass Major Ross es dem Aufseher der Säger übel nehmen würde, wenn er untätig herumstand und mit ihnen plauderte? Doch noch bevor Richard in eine Zwickmühle geraten konnte, rief Major Ross seinen Namen.
»Ja, Sir?«, fragte Richard. Die Menge um ihn zerstreute sich.
»Ich werde den Gefreiten Stanfield beauftragen, Edmunds zu holen. Werden Sie in der dritten Sägegrube sein?«
»Ja, Sir.«
»Ich schicke Ihnen John Lawrell. Er wird bei Ihnen wohnen und alles tun, was Sie anordnen. Er ist zwar etwas einfältig, aber ein guter Kerl. Lassen Sie ihn in Ihrem Garten arbeiten. In den ersten sechs Wochen wird Tom Crowder alles einsammeln, was reif ist, danach wird er nur noch zwei Drittel mitnehmen.«
»Jawohl, Sir.« Richard salutierte und eilte davon. Er kannte John Lawrell nur flüchtig. Lawrell war ein gutmütiger, recht langsamer Mann aus Cornwall, der zuerst auf dem Gefangenenschiff Dunkirk und später auf der Scarborough gewesen war und seit seiner Ankunft vor einem Jahr zu Stephens Hilfsarbeitern gehörte. Was hatte Major Ross vor? Er hatte ihm soeben einen Dienstboten zugewiesen, der seinen Garten für ihn versorgen sollte.
Als Richard die dritte Sägegrube erreichte, wo Sam Hussey mit Harry Humphreys sägte, hatte er den Zweck der Maßnahme begriffen. Auf Grund der vielen Neuankömmlinge stieg für die alteingesessenen Inselbewohner, die ertragreiche Gemüsegärten besaßen, die Gefahr, dass Diebe sie um ihre Ernte brachten - Kriegsrecht hin oder her. Ross wollte verhindern, dass sein Garten geplündert wurde. Bestimmt wies er auch den anderen Inselbewohnern mit ertragreichen Gärten Wächter zu. Richard unterdrückte einen Seufzer. Er nahm sich vor, in seiner Freizeit Holz zu sägen und Lawrell eine eigene Hütte zu bauen. Der Gedanke, sein Haus teilen zu müssen, flößte ihm weit mehr Unbehagen ein als die Vorstellung, nicht mehr genug zu essen zu haben.
»Ich muss weg und mich um die neuen Sägegruben kümmern, Billy«, sagte er zum Gefreiten Wigfall, den er inzwischen als einen guten Freund betrachtete. Er lachte. »Sorg dafür, dass wir nicht noch mehr Williams als Säger bekommen!« Dann fiel ihm noch etwas anderes ein. »Wenn ein Waliser namens Taffy Edmunds hier aufkreuzt, setz ihn in den Schatten - aber nicht zu den Frauen! - und sag ihm, er soll warten, bis ich zurückkomme. Er wird in Zukunft das Schleifen der Sägen beaufsichtigen. Schade, dass er keine Frauen mag. Er wird lernen müssen, mit ihnen auszukommen.«
Drei der neuen Sägegruben lagen östlich von Sydney Town am Fuß der Hügel, deren Hänge noch dicht bewaldet waren.
Ross hatte angeordnet, zwischen der Turtle Bay und der Ball Bay eine zwanzig Fuß breite Schneise durch den Wald zu schlagen, die später zu einer richtigen Straße ausgebaut werden sollte. Die Stämme, die an den Hängen oberhalb der Turtle Bay gefällt wurden, sollten zur Bucht hinuntergerollt werden. Wenn die Holzfäller sich bis zur Kuppe vorgearbeitet hatten, sollte an der Ball Bay eine weitere Sägegrube ausgehoben werden, sodass das Holz, das an den ihr zugewandten Hängen geschlagen wurde, dort verarbeitet werden konnte. Da Richard selbst unmöglich so viele so weit auseinander liegende Sägegruben im Auge behalten konnte, musste er für jede Grube einen Stellvertreter finden, der dafür sorgte, dass das Arbeitstempo sich nicht verlangsamte, wenn er selbst gerade woanders war.
Und die Zahl der Sägegruben sollte noch weiterwachsen, denn Ross plante weitere Straßen. Der Weg nach Cascade sollte auf zwanzig Fuß verbreitert werden, die dritte und längste Straße sollte nach Westen zur Anson Bay führen. Sägegruben und noch mehr Sägegruben, so lauteten die Befehle des Majors.
 
Nach der Arbeit machte Richard sich auf den Weg nach Sydney Town, um seine alten Freunde zu besuchen. Er nahm einen Tannenast mit einem dicken Astknoten am Ende mit, der ihm auf dem Heimweg als Fackel dienen sollte. Ab acht Uhr herrschte Ausgangssperre. Hinter der Häuserreihe am Strand waren Zelte aufgeschlagen worden, doch viele Sträflinge mussten unter freiem Himmel schlafen, da die Besatzung der Sirius mehrere Zelte für sich beanspruchte. Morgen, so hoffte Richard, würden sie Schutzdächer aus den Segeln der Sirius bekommen.
Dort, wo die obdachlosen Sträflinge übernachten sollten, brannte ein großes Feuer aus Holzabfällen. An die hundert Menschen drängten sich um das Feuer. Ihre Habseligkeiten lagen um sie verstreut. Anders als Seesoldaten und Offiziere waren die Sträflinge mit ihrer gesamten Habe an Land gebracht worden, sodass sie wenigstens Decken hatten. Alle waren barfuß. Es gab schon seit Monaten keine Schuhe mehr, auch auf Norfolk Island nicht.
Richard sah Will Connelly und Neddy Perrott neben Frauen sitzen, die offenbar ihre waren - ein gutes Zeichen! Er bahnte sich einen Weg durch die Menge.
»Richard! Richard, Schätzchen!«
Lizzie Lock stürzte sich auf ihn, schlang die Arme um seinen Hals und bedeckte sein Gesicht mit Küssen. Sie weinte vor Freude. Richards Reaktion war instinktiv. Alles war vorbei, bevor er etwas unterdrücken oder Lizzie unter vier Augen sagen konnte, dass er nicht mehr mit ihr zusammenleben wollte, auch wenn sie offiziell seine Frau war. Seit jenem denkwürdigen Tag, an dem William Henry, die kleine Mary und Peg in seiner Seele wieder zu Leben erwacht waren, hatte er nicht mehr an Lizzie Lock gedacht. Bevor er einen klaren Gedanken fassen konnte, hatte er sich schon aus ihren Armen befreit.
Mit weißem Gesicht starrte er sie an, als wäre sie eine Teufelserscheinung. »Rühr mich nicht an!«, schrie er. »Rühr mich nicht an!«
Lizzie ließ ihn erschrocken los. Ihre übergroße Freude schlug in Bestürzung und einen so großen Schmerz um, dass sie sich an die magere Brust fasste und Richard aus tränenblinden Augen anstarrte, die nichts mehr wahrnahmen außer seiner Abscheu vor ihr. Ihr Mund ging auf und zu, doch bekam sie kein Wort heraus. Hilflos sank sie auf die Knie.
Die Umstehenden, die Richard kannten und das Wiedersehen mit Spannung erwartet hatten, hielten die Luft an und tauschten entgeisterte Blicke.
»Richard!«, schluchzte Lizzie. »Ich bin doch deine Frau!«
Richard kam wieder zur Besinnung. Er betrachtete die vor ihm kniende Lizzie, sah die zornigen und empörten Gesichter seiner Freunde und die neugierigen Blicke unbeteiligter Zuschauer, die gespannt auf die Fortsetzung des Dramas warteten. Was sollte er tun? Was sagen? Instinktiv trat er einen Schritt zurück.
Die Würfel waren gefallen. Am besten brachte er die Sache jetzt gleich zu Ende, hier, im grellen Schein des Feuers und inmitten von Leuten, die ihn zu Recht als einen herzlosen Schuft verdammen würden, der die Peitsche verdiente.
»Tut mir Leid, Lizzie«, sagte er mühsam, »aber ich kann nicht mehr mit dir zusammenleben. Ich kann es einfach nicht.« Er hob die Hände und ließ sie wieder sinken. »Ich will keine Frau, ich …«
Er verstummte hilflos, und schließlich drehte er sich um und ging.
 
Am nächsten Tag traf er sich wie immer nach der Arbeit mit Stephen am Point Hunter. Gemeinsam betrachteten sie von der Landspitze aus den Sonnenuntergang. Es war einer dieser wolkenlosen Abende, an denen Richard immer dachte, die große, rot glühende Scheibe müsste mit einem Zischen ins Meer eintauchen. Der Himmel wurde dunkel und verfärbte sich tiefblau, während das Meer wie von den Strahlen der untergegangenen Sonne durchleuchtet milchig blau erglühte.
»Diese Insel ist ein wunderbares Fleckchen Erde«, sagte Stephen. Die Szene mit Lizzie Lock erwähnte er nicht, obwohl er davon gehört haben musste. »Hier muss einst der Garten Eden gewesen sein. Die Insel bezaubert mich. Sie zieht mich in ihren Bann wie eine Sirene, ich weiß gar nicht, warum. Doch jetzt sind Menschen da, und sie werden sie zerstören. Der Mensch hat auch den Garten Eden zerstört.«
»Vielleicht werden sie es versuchen, aber es wird ihnen nicht gelingen. Gott liebt diese Insel.«
»Es gibt übrigens Gespenster hier, wusstest du das?«, bemerkte Stephen beiläufig. »Ich habe eines gesehen, ganz deutlich und am helllichten Tag, einen Riesen mit gewaltigen Wadenmuskeln und goldener Haut und nackt bis auf einen dünnen Lendenschurz. Sein Gesicht war von einer strengen Schönheit, ein geradezu aristokratisches Gesicht, und seine Schenkel waren mit einem Muster aus verschnörkelten Linien tätowiert. Ich habe so jemanden noch nie gesehen, nicht in meinen wildesten Träumen. Er kam mir am Strand entgegen, doch als er so nahe war, dass ich ihn fast hätte berühren können, bog er ab und ging mitten durch die Wand von Nat Lucas’ Haus. Olivia begann zu schreien wie am Spieß.«
»Dann kann ich ja froh sein, dass ich oben im Tal wohne. Obwohl Billy Wigfall mir neulich erzählte, er hätte John Bryant an der Stelle stehen sehen, wo der Baum ihn erschlug. Nur einen Augenblick lang, dann war er wieder verschwunden. Wie erschrocken über seine Entdeckung, sagte Billy.«
Die Brandung donnerte gegen das Riff. Die Supply hatte die Reede verlassen und fuhr um die Insel nach Cascade. Dort würden King und seine schwangere Lebensgefährtin sich einschiffen, keine leichte Sache, da sie von einem rutschigen Felsen in ein schwankendes Beiboot springen mussten.
Stephen musterte Richard mit Augen, die im Abendlicht fast schwarz schienen. Richard saß zusammengekauert und angespannt wie eine Stahlfeder neben ihm.
»Ich habe gehört, du hattest heute Morgen Besuch vom Major.«
Richard lächelte gequält. »Major Ross hat Fledermausohren. Ich habe keine Ahnung, wie er erfuhr, was gestern Abend am Lagerfeuer geschah. Aber du kennst ihn ja. Er wartete, bis ich zum Frühstücken nach Hause zurückkehrte, platzte herein, setzte sich hin und sagte: ›Wie ich hörte, haben Sie Ihre Frau öffentlich verstoßen. ‹ Ich nickte und er grunzte. Dann sagte er: ›Das hätte ich nicht von Ihnen erwartet, Morgan, aber ich nehme an, Sie haben Ihre Gründe, wie sonst ja auch.‹«
Stephen kicherte. »Eine diplomatische Formulierung.«
»Dann fragte er mich, ob Lizzie meiner Meinung nach eine gute Haushälterin für einen Offizier abgäbe! Ich sagte, sie sei reinlich und ordentlich, könne gut nähen, stopfen und kochen und sei meines Wissens noch Jungfrau. Er klatschte sich auf die Knie und stand auf. ›Mag sie Kinder?‹, fragte er. ›Ich glaube schon‹, sagte ich. ›Zu den Kindern im Gefängnis von Gloucester war sie jedenfalls immer sehr nett.‹ Dann fragte er noch, ob ich sicher sei, dass sie aufrichtig und ehrlich sei. ›Absolut‹, versicherte ich ihm. ›Dann entspricht sie genau meinen Vorstellungen‹, sagte er und marschierte so zufrieden hinaus wie eine Katze, die einen Topf voll Rahm entdeckt hat.«
Stephen bog sich vor Lachen. »Ich sage dir, Richard, bei Major Ross kannst du nichts falsch machen. Aus irgendeinem Grund, den ich nicht kenne, hast du bei ihm einen dicken Stein im Brett.«
»Er mag mich, weil ich keine Angst vor ihm habe«, sagte Richard. »Und weil ich ihm die Wahrheit sage, statt ihm zu schmeicheln. Deshalb wird er Tommy Crowder auch nie so schätzen wie King. Als ich King einmal sagte, was meiner Meinung nach getan werden müsste, hatte er nicht übel Lust, mich auspeitschen zu lassen. Bei Major Ross bestand diese Gefahr nie.«
»King ist Engländer durch und durch«, sagte Stephen. »Er ist reizbar und launisch. Außerdem ist er jeder Zoll Mitglied der Königlichen Marine. Ross dagegen ist der klassische Schotte, immer gleich gelaunt - nämlich schlecht. Er kommt aus einem kalten Land, das nur Sieger oder Verlierer hervorbringt.« Stephen stand auf und streckte Richard die Hand hin, um ihm hoch zu helfen. »Ich bin jedenfalls froh, dass er das Problem gelöst hat, was mit deiner verstoßenen Frau geschehen soll.«
»Du hast mir damals davon abgeraten, sie zu heiraten«, sagte Richard mit einem Seufzer. »Hätte ich gewusst, dass sie hier ist, wäre ich darauf vorbereitet gewesen, doch so war es wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Ich hatte gerade Will Connelly entdeckt, da hing sie plötzlich an meinem Hals und küsste mich. Ich - ich roch sie und spürte sie, Stephen. Sehen konnte ich sie nicht; dazu war sie viel zu nahe. Solange ich mit ihr zusammen war, lagen immer noch andere Gerüche in der Luft, keiner davon angenehm. In Port Jackson stank es und in Gloucester auch. Jetzt dagegen hatte ich plötzlich nur noch den strengen Geruch einer Frau in der Nase - nicht dass Lizzie stinken würde, das tut sie wirklich nicht, ich konnte nur nicht ertragen, wie sie roch. Ich weiß selbst nicht, warum. Und ich bin weiß Gott nicht stolz auf das, was ich getan habe. Aber ich empfand in diesem Augenblick nichts als Ekel - als wäre ich im Dunkeln in ein Spinnennetz gelaufen. Ich stieß sie instinktiv von mir weg. Und dann war es zu spät für eine Umkehr, also versuchte ich es erst gar nicht.«
Sie hatten Stephens Haus erreicht. Stephen ging hinein und sah Richard durch das Fenster nach, bis seine Fackel im Tal verschwand. Es war spät geworden. Stephen sah auf die Uhr, presste die Lippen zusammen und überlegte, wie groß sein Hunger war. Sollte er eine Suppe warm machen oder sich mit Brot begnügen? Captain Hunter wohnte inzwischen in der Gouverneursresidenz und Johnny mehr bei ihm als bei Stephen - ach ja. Wärm dir die Suppe, Stephen, es ist kalt genug für ein Feuer.
Stephen war gerade beim Feuermachen, als auf einmal Richard zurückkehrte und ins Zimmer stürmte. »Ich will einfach nur meine Ruhe haben und allein sein - mit meinen Büchern und meinem Hund!«, sagte er heftig.
»Was willst du dann hier bei mir?«, fragte Stephen verdutzt. »Im Tal droben hast du doch deine Ruhe.«
»Schon, aber … aber …«, stotterte Richard.
»Dann gib doch einfach zu, dass du dich schuldig fühlst, weil du so grob zu Lizzie Lock warst - auch wenn du nicht anders konntest. Ich kenne keinen einzigen Menschen, der so hohe moralische Ansprüche an sich stellt wie du - du bist ein richtiger protestantischer Märtyrer!«
»Hör auf zu predigen!«, fuhr Richard ihn an. »Dein Problem ist, dass du dich nie entscheiden kannst, ob du nun Katholik oder Protestant sein willst oder gar Märtyrer! Warum gestehst du dir nicht einfach ein, dass du Johnny für dich allein willst und Hunter am liebsten verdreschen würdest?«
Eine volle Minute lang funkelten die beiden Männer sich wütend an. Keiner der beiden rührte sich. Dann begannen ihre Lippen gleichzeitig zu zucken, und sie lachten, bis ihnen die Tränen kamen.
»Das reinigt die Luft«, sagte Stephen und wischte sich mit einem Tuch das Gesicht ab.
»Da hast du Recht«, sagte Richard, immer noch lachend, und lieh sich das Tuch.
 
John Lawrell zog bei Richard ein und so schnell wieder aus, dass dem armen Kerl der nicht besonders helle Kopf schwirrte. Innerhalb eines Monats hatte Richard ihm am hinteren Ende seines kleinen Grundstücks eine komfortable Hütte gebaut, deren vordere Wand weder eine Tür noch eine Fensteröffnung hatte. Wenn Lawrell nun schnarchte, hörte Richard es nicht. Lawrell erwies sich als ein hervorragender Gärtner, doch er hatte eine Schwäche: Er spielte für sein Leben gern Karten und musste davon abgehalten werden, seine knappen Essensrationen zu verspielen.
Sydney Town entwickelte sich immer mehr zu einer großen Siedlung mit richtigen Straßen und langen Reihen kleiner Holzhütten, die Nat Lucas und seine Schreiner so schnell zusammenzimmerten, wie Richards Säger sie mit Brettern und Balken versorgen konnten. Eine der Sägegruben produzierte nun Holz für Schindeln. Die Hütten sollten Schindeldächer bekommen, doch da das Holz erst sechs Wochen in Salzwasser gelegt werden musste, bevor es gespalten werden konnte, mussten sie vorübergehend mit Flachs gedeckt werden. Ross wies die Matrosen von der Sirius an, auf der ganzen Insel nach Flachs zu suchen. Es kam für ihn nicht in Frage, dass sie nichts taten.
Da es vorerst nicht möglich war, Port Jackson mit Kalk zu versorgen, wurden die Kalksteinvorräte zum Bau von Fundamenten und Kaminen verwendet. Unter den Neuankömmlingen waren vier Böttcher. Sie hatten ein für Fässer geeignetes einheimisches Hartholz entdeckt, das in der Sägegrube zurechtgesägt wurde, die auch die Schindeln produzierte, sodass die Böttcher mit der Herstellung von Fässern beginnen konnten. Ross hatte Frauen dazu eingeteilt, Kings Weizenernte mit Handmühlen zu mahlen, denn er war der Ansicht, Mehl in Fässern sei vor den Ratten sicherer als ungemahlenes Getreide im Speicher. Aaron Davis, der in Port Jackson zuletzt als Bäcker gearbeitet hatte, wurde zum Bäcker der Insel ernannt. Nicht dass deren Bewohner jeden Tag in den Genuss von Brot gekommen wären. Sonntags und mittwochs gab es Brot, montags und donnerstags Reis, dienstags und freitags einen Brei aus Mais- und Hafermehl und samstags Erbsen.
Als Ross sah, wie schnell die Schweine sich vermehrten, hängte er einen Kessel über eine kleine Feuerstelle und begann Salz zu gewinnen. Damit pökelte er das Schweinefleisch. Die Teile des Schweins, die sich nicht pökeln ließen, wurden klein gehackt und zu Würsten verarbeitet.
»Das Beste an einem Schwein ist, dass man nur das Grunzen nicht essen kann«, hörte man Ross sagen. Da der Major als ein Mann ohne jeden Sinn für Humor galt, wurde allgemein angenommen, dass diese Bemerkung völlig ernst gemeint sei.
In praktischen Dingen bewies Ross viel Geschick und Einfallsreichtum. Nachdem die Produktion von Salz, Würsten und einem Raupenvernichtungsmittel aus Tabak angelaufen war, kam er auf die Idee, einen Teil des Sägemehls, das bisher untergegraben wurde, in Räucherhäusern als Brennmaterial zu verwenden. Was sich nicht pökeln ließ, konnte vielleicht geräuchert werden, unter anderem auch Fisch. Das erste Ziel war, so viel Nahrung wie möglich zu produzieren, das zweite, möglichst viele seiner Schützlinge dazu zu bringen, dass sie sich selbst versorgten. Denn nur so hatte das Experiment mit den Sträflingen einen Sinn - warum sollte man tausende von Sträflingen und Aufsichtspersonen ans andere Ende der Welt verfrachten, wenn der Staat sie dort bis in alle Ewigkeit mit Lebensmitteln versorgen musste?
 
Robert Ross empfand es wie Arthur Phillip als seine Pflicht, zu verhindern, dass die Moral der ihm anvertrauten Menschen unter das Niveau anderer englischer Kolonien sank. Die christlichen Vorstellungen von Sitte und Anstand, die kulturellen und technischen Errungenschaften und die organisatorischen Strukturen, die eine zivilisierte europäische Gesellschaft auszeichneten, mussten unter allen Umständen aufrechterhalten werden. Was Phillip von Ross unterschied, war sein Optimismus. Phillip glaubte an das Experiment in der Botany Bay und war fest entschlossen, ihm zum Erfolg zu verhelfen. Ross dagegen betrachtete es als eine sinnlose Verschwendung von Zeit, Geld, Material und Kraft. Er war davon überzeugt, dass es kläglich scheitern würde, ohne Spuren zu hinterlassen. Trotzdem bemühte er sich nach Kräften, alle die Schwierigkeiten zu meistern, die die Wichtigtuer in London nicht bedacht hatten, als sie den Ausführungen von Sir Joseph Banks und Mr James Matra lauschten. Wie leicht war es doch, menschliche Schachfiguren auf dem großen Schachbrett der Welt umherzuschieben, wenn der Sessel bequem, der Magen voll, das Feuer warm und die Portweinkaraffe gefüllt war.
 
»Herein«, rief Stephen, als Richard klopfte.
Richard trat ein und setzte sich.
»Iss mit mir zu Abend«, sagte Stephen. »Es gibt frischen Fisch, und Johnny scharwenzelt um Captain Hunter herum, deshalb ist seine Ration übrig.«
»Ich könnte jeden Tag Fisch essen«, sagte Richard und langte zu. »Morgen grabe ich eine Hand voll Kartoffeln für dich aus, um mich für die freundliche Einladung zu revanchieren. Meine Kartoffeln gedeihen prächtig.«
»Sprechen die Leute inzwischen wieder mit dir?«, fragte Stephen, als sie gegessen, die Teller abgespült und das Schachspiel aufgebaut hatten.
»Ja, nur die nicht, die sich auf die Seite meiner Frau geschlagen haben - Connelly, Perrott und ein paar andere, die ich von der Ceres und der Alexander kenne. Die Gruppe, die Lizzie schon vor meiner Zeit in Gloucester kannte, hat seltsamerweise für mich Partei ergriffen.« Er sah verärgert aus. »Als ob es nötig wäre, sich zwischen uns zu entscheiden. Lächerlich! Lizzie fühlt sich droben beim Major pudelwohl. Sie bemuttert den kleinen John wie eine Glucke. Beim Major versucht sie es allerdings nicht.«
»Sie liebt dich, Richard«, sagte Stephen.
Richard sah ihn verblüfft an. »Unsinn! Es war nie Liebe zwischen uns. Ich weiß, du hast gehofft, nach unserer Heirat würde sich vielleicht Liebe zwischen uns entwickeln, aber dem war nicht so.«
»Sie liebt dich.«
Richard war so betroffen, dass er eine Zeit lang gar nichts sagte. Er machte einen Zug mit einem Bauern, verlor den Bauern und versuchte es mit einem Springer. Wenn Lizzie ihn tatsächlich liebte, dann hatte er sie viel tiefer verletzt, als er gedacht hatte. Er wusste noch, was sie ihm über die entwürdigende Behandlung der Frauen auf der Lady Penrhyn erzählt hatte, und hatte geglaubt, das Schlimmste an seiner Zurückweisung sei die öffentliche Demütigung gewesen. Sie hatte ihm nie gesagt, dass sie ihn liebte, ihm mit keinem Wort oder Blick zu verstehen gegeben, was sie wirklich für ihn empfand … Er verlor auch den Springer.
»Wie ist das Verhältnis zwischen Seesoldaten und Marine?«, fragte er.
»Gespannt. Hunter konnte Major Ross noch nie leiden, und dass er jetzt hier festsitzt, macht seinen Hass nur noch größer. Bisher konnten die beiden einen handfesten Streit vermeiden, aber irgendwann geraten sie bestimmt aneinander. Hunter hat nur noch das Beiboot der Sirius, mit dem er keine langen Fahrten machen kann. Er rudert fast den ganzen Tag um Nepean Island herum - wahrscheinlich sucht er nach Beweisen zu seiner Verteidigung, wenn er sich in England vor dem Kriegsgericht verantworten muss.«
»Warum kehrt Johnny eigentlich immer wieder zu ihm zurück - wenn das keine zu indiskrete Frage ist?«
Stephen zuckte die Achseln und zog die Mundwinkel nach unten. »Nein, ich beantworte sie. Ein einfacher Angehöriger der Königlichen Marine kann sich der Autorität des Kapitäns schwer entziehen; es sei denn, er ist von Natur aus aufsässig, und das ist Johnny nicht. Für ihn kommt Hunter gleich nach Gott.«
Richard hatte die Partie verloren. Er stand auf und zündete an Stephens Feuer eine Tannenfackel an. »Die Revanche müssen wir verschieben, denn wenn ich jetzt nicht gehe, werde ich nach der Ausgangssperre erwischt.«
 
Der Winter begann kälter und trockener als im Vorjahr. Weizen und Mais wurden ausgesät, aber die Saat wollte nicht aufgehen. Erst ein stürmischer Regentag, auf den ein sonniger Tag folgte, zauberte zur allgemeinen Freude einen grünen Schleier über die blutrote Erde der Felder im Tal und an den Hängen. Auf der Insel herrschte immer noch das Kriegsrecht. Ross hatte schon viele Leute auspeitschen lassen. Verabreicht wurden die Peitschenhiebe von Jim Richardson, der zu Richards Sägern gehört hatte, bis er sich ein Bein brach. Es waren auch schon welche gehängt worden, allerdings keine Sträflinge. Captain Hunters Diener hatten mithilfe eines Dieners von Major Ross die knappen Rumvorräte des Majors geplündert, einen Teil davon selbst getrunken und den Rest verkauft. In seiner Funktion als Richter, Jury und Henker hatte Vizegouverneur Ross drei der Missetäter gehängt. Sein Diener Escott und Hunters Adjutant Elliott entgingen zwar dem Galgen, erhielten zur Strafe jedoch fünfhundert Peitschenhiebe, die ihnen das Fleisch von den Knochen rissen, wie der Major in seiner Ansprache angedroht hatte. Die fünfhundert Hiebe wurden nicht am Stück verabreicht, sondern in fünf Einheiten zu je hundert Hieben, denn hundert Hiebe galten als das Höchstmaß, das ein Mann auf einmal verkraften konnte. Der Auspeitscher begann an den Schultern und arbeitete sich langsam über Rücken, Gesäß und Schenkel zu den Waden hinunter. Die Matrosen murrten und spielten mit dem Gedanken an Meuterei, doch angesichts des schweren Verbrechens ihrer Kameraden konnte Captain Hunter nicht ihre Partei ergreifen. Die Seesoldaten ihrerseits waren mehr als bereit, das ganze Matrosenpack niederzuschießen. Ihre Musketen waren dank des Gefreiten Daniel Stanfield in einem ausgezeichneten Zustand, und die Soldaten machten weiterhin jeden Samstagmorgen unter Aufsicht von Stephen und Richard Schießübungen.
Nach dem Rumdiebstahl suchte Major Ross Richard in dessen Haus auf. Seine Miene war noch grimmiger als sonst.
Das Amt macht ihn fertig, dachte Richard und bot dem Major einen Stuhl an. Er ist seit seiner Ankunft um zehn Jahre gealtert.
»Ich habe interessante Dinge über Sie erfahren«, begann Ross. »Mr Donovan erzählte mir, dass Sie Rum brennen können.«
»Ja, Sir - mit den nötigen Gerätschaften und Zutaten. Allerdings kann ich Ihnen nicht versprechen, dass mein Rum besser sein wird als der berüchtigte Fusel aus Rio de Janeiro. Eigentlich muss Rum wie alle Spirituosen im Fass reifen, bevor er getrunken wird. Das unfertige Zeug wird scheußlich schmecken, aber wahrscheinlich wollen Sie den Rum möglichst schnell.«
»In der Not darf man nicht wählerisch sein.« Ross schnalzte mit den Fingern nach dem Hund, der sofort auf ihn zusprang, um sich streicheln zu lassen. »Und wie geht’s dir, MacTavish?«
MacTavish wedelte mit dem Schwanz.
»In Bristol war ich unter anderem Gastwirt, Sir«, sagte Richard und warf ein Holzscheit ins Feuer. »Ich weiß deshalb besser als viele andere, wie groß unser Problem ist. Männer, die es gewohnt sind, täglich Rum oder Gin zu trinken, können ohne ihn nur schlecht leben. Das gilt auch für manche Frauen. Nur weil Kriegsrecht herrscht und das nötige Zubehör fehlt, wurde hier bisher noch kein Schnaps gebrannt. Ich bin gerne bereit, eine Rumbrennerei für Sie zu bauen und zu betreiben, aber …«
Ross wärmte sich die Hände am Feuer und grunzte. »Ich weiß, was Sie denken. Sobald bekannt wird, dass es hier eine Brennerei gibt, werden einige mit einem halben Pint pro Tag nicht mehr zufrieden sein, und andere werden ein gutes Geschäft wittern.«
»Ja, Sir.«
»Zuckerrohr wächst hier gut. Sie haben hinter Ihrem Haus sogar welches angebaut.«
Richard grinste. »Ich dachte, es könnte sich als nützlich erweisen.«
»Trinken Sie jetzt auch?«
»Nein. Darauf gebe ich Ihnen mein Wort, Major Ross.«
»Leutnant Clark trinkt ebenfalls nicht. Also übertrage ich ihm die Aufsicht über dieses Projekt. Dann suche ich unter meinen Soldaten noch ein paar geeignete Männer. Bei Stanfield, Hayes und James Redman kann ich mich darauf verlassen, dass sie weder Rum trinken noch ihn verkaufen. Captain Hunter« - er verzog das Gesicht, hatte sich jedoch sofort wieder unter Kontrolle - »empfiehlt seinen Geschützführer Drummond, außerdem Mitchell und Hibbs. Das wären dann insgesamt sechs Mann und ein Offizier.«
»Im Tal ist für die Brennerei kein Platz, Sir«, sagte Richard entschieden.
»Einverstanden. Haben Sie einen Vorschlag?«
»Nein, Sir. Ich kenne nur das Gelände zwischen meinen Sägegruben.«
»Ich werde über einen geeigneten Platz nachdenken, Morgan.« Ross erhob sich zögernd. »Lassen Sie inzwischen Lawrell das Zuckerrohr schneiden.«
»Jawohl, Sir. Ich werde ihm allerdings sagen, Sie hätten mir befohlen, Zucker zu raffinieren, damit die Offiziere ihren Tee süßen können.«
Der Major nickte zufrieden und marschierte davon, um die Installation eines Mühlsteins zu überwachen. Die nächste Weizenernte würde mit Handmühlen nicht mehr zu bewältigen sein. In Ermangelung anderer Energiequellen musste er den gewaltigen Mühlstein von Männern drehen lassen. Er hielt diese Fronarbeit allerdings für eine gute Alternative zur Peitsche, deren Einsatz er insgeheim ablehnte - nicht, weil er Skrupel hatte, Leute auspeitschen zu lassen, sondern weil die Strafe nur abschreckend wirkte, wenn die Missetäter so viele Hiebe erhielten, dass sie ihr Leben lang halbe Krüppel blieben. Einen Mann eine Woche oder einen Monat lang an den Mühlstein zu ketten, war dagegen eine harte, aber gute Strafe, da sie seine Gesundheit nicht zerstörte.
Die Straßen zur Ball Bay und zur Cascade Bay waren inzwischen fertig. Anfang Juni begannen die Holzfäller, einen Weg zur Anson Bay freizuschlagen. Dabei machten sie eine überraschende und höchst erfreuliche Entdeckung: rund fünfzig Hektar der Hügellandschaft zwischen Sydney Town und der Anson Bay waren unbewaldet. Major Ross beschloss sofort, dort eine neue Siedlung zu errichten. Die Besatzung der Sirius wollte er auf ein bereits gerodetes Gelände zwischen Sydney Town und der Cascade Bay verbannen.
Die neue Siedlung an der Straße zur Anson Bay sollte nach Ihrer Majestät Königin Charlotte Charlotte Field heißen. Richard war nicht überrascht, als kein anderer als Leutnant Clark den Auftrag erhielt, Charlotte Field aufzubauen - und zwar mithilfe der Gefreiten Stanfield, Hayes und James Redman. Richard glaubte fest, dass die Rumbrennerei an einem versteckten Ort unweit der Straße zwischen Sydney Town und Charlotte Field entstehen sollte.
Er hatte Recht. Wenig später wurde er nach Charlotte Field geschickt, um sich dort nach einem geeigneten Platz für eine neue Sägegrube umzusehen. Die Gegend war schön. Auf dem unbewaldeten Gelände wucherte eine Pflanze, die Clark an die englische Juckbohne erinnerte. Sie ließ sich leicht aus dem Boden reißen und eignete sich zusammen mit einem Strauch, der zwei Zoll lange Dornen hatte, gut zum Bau von Zäunen, durch die nicht einmal Schweine kommen würden.
Der Platz, den Major Ross für die Rumbrennerei ausgesucht hatte, lag ein Stück vor Charlotte Field am Ende eines Weges, der von der Straße zur Anson Bay abging. Dort entsprang ein Bach, der sich weiter unten mit anderen Bächen zu einem kleinen Fluss vereinigte und schließlich unweit von Point Ross am westlichen Ende von Sydney Town ins Meer mündete. Für zusätzlichen Lohn gingen die drei Seesoldaten und drei Seeleute mit Feuereifer daran, Grund für einen Holzschuppen und einen großen Stapel Eichenholz zu roden. Die Steinblöcke für den Ofen ließ Ross von Sträflingen aus Sydney Town bis zur Abzweigung des Weges schaffen. Den Sträflingen wurde gesagt, die Steine seien für Charlotte Field bestimmt. Nach Einbruch der Dunkelheit holten Richard und seine sechs Männer sie persönlich von der Straße ab. Auch den Schuppen mussten sie selbst bauen. Ross besorgte Kupferkessel, Absperrhähne und Ventile, Kupferrohre und Bottiche aus in der Mitte durchgesägten Fässern. Richard schweißte und montierte die Teile zusammen. Er wunderte sich, dass es gelang, das Projekt geheim zu halten. Das geschnittene Zuckerrohr und einige Maiskolben verschwanden in den Pressen und Handmühlen der Brennerei.
Vier Wochen später konnte Richard das erste Destillat herstellen. Der Vizegouverneur nippte vorsichtig daran, verzog das Gesicht und nahm noch ein Schlückchen. Dann kippte er den Rest des Viertelpints hinunter. Er schätzte Rum ebenso wie seine Soldaten.
»Das Zeug schmeckt scheußlich, Morgan, aber es hat die richtige Wirkung«, sagte er und lächelte sogar. »Damit haben Sie uns womöglich vor Meuterei und Mord gerettet. Abgelagert wäre der Rum natürlich milder, aber das ist Zukunftsmusik. Wer weiß? Vielleicht beliefern wir Port Jackson irgendwann einmal nicht nur mit Kalk und Holz, sondern auch mit Rum.«
»Wenn es Ihnen recht ist, Sir, würde ich jetzt gern wieder zu meinen Sägegruben zurückkehren«, sagte Richard. Der Anblick der Brennerei rief in ihm keine glücklichen Erinnerungen wach.
»Dann begleiten Sie mich doch nach Sydney Town.« Ross ermahnte noch die sechs Helfer Richards. »Bewacht und pflegt den Schuppen gut, Jungs«, sagte er leutselig und immer noch lächelnd. »Jeder von euch bekommt dafür zwanzig Pfund extra im Jahr.«
Die Straße durch den Wald folgte dem Bergrücken bis zum Gipfel des Mount George, der eine herrliche Aussicht bot - über das Meer, Sydney Town, die Lagune, die Brandung, Nepean Island und Phillip Island. Major Ross blieb stehen, um sie zu genießen.
»Ich habe die Absicht, Ihnen die Freiheit wiederzugeben, Morgan«, sagte er. »Vorerst kann ich Ihnen zwar noch keinen völligen, sondern nur einen bedingten Straferlass gewähren, doch sobald die Umstände es mir erlauben, werde ich bei Seiner Exzellenz in Port Jackson Ihre volle Begnadigung beantragen. Ich finde, Sie haben sich das verdient. Damit genießen Sie einen besseren Status als einer, der nur freigelassen wurde, weil er seine Strafe abgebüßt hat - sagten Sie nicht, dass Ihre Strafe im März 1792 abläuft?«
Richards Augen füllten sich mit Tränen. Er bemühte sich krampfhaft, ein Schluchzen zu unterdrücken, und brachte kein Wort heraus. Stattdessen nickte er nur und rieb sich die Augen. Frei. Endlich!
Der Blick des Majors war immer noch auf Phillip Island gerichtet. »Ich gebe nicht nur Ihnen die Freiheit wieder, sondern auch Lucas, Phillimore, Rice, dem älteren Mortimer und noch ein paar anderen. Ihr sollt die Möglichkeit erhalten, ein Stück eigenes Land zu bewirtschaften und etwas aus euch zu machen, denn ihr habt euch, seit ich euch kenne, wie redliche Männer verhalten. Männern wie euch ist es zu verdanken, dass es diese Kolonie noch gibt und dass ich oder mein Vorgänger Leutnant King sie regieren konnte. Doch nun zu Ihnen, Morgan. Sie sind von nun an ein freier Mann. Das bedeutet, dass Sie als Aufseher der Säger einen Lohn von fünfundzwanzig Pfund im Jahr erhalten. Außerdem zahle ich Ihnen fünf Pfund für die Beaufsichtigung der Brennerei im Wechsel mit Leutnant Clark und eine einmalige Summe von zwanzig Pfund für ihren Bau. Da London uns kein Münzgeld zur Verfügung gestellt hat, erhalten Sie Ihren Lohn in Form von Schuldscheinen der Regierung. Die können Sie als Zahlungsmittel benutzen, wenn Sie in den staatlichen Vorratshäusern oder bei Privatleuten etwas kaufen. Ich wünsche, dass über die Brennerei weiterhin absolutes Stillschweigen gewahrt wird. Es ist durchaus möglich, dass ich sie eines Tages wieder schließe - sie ist ein Experiment, das ich nur durchführe, weil ich nicht will, dass Matrosen von der Sirius auf die Idee kommen, mit selbst gebranntem Rum Geschäfte zu machen. Ganz wohl ist mir dabei nicht.« Er sah Morgan düster an. »Auf Leutnant Clarks Verschwiegenheit kann ich mich verlassen. Er wird die Brennerei nicht einmal in seinem Tagebuch erwähnen. Zwar hat er nicht vor, es zu veröffentlichen, aber manchmal fallen Tagebücher in die falschen Hände.«
Die lange Rede des Majors gab Richard Zeit, sich zu fassen. »Das werde ich Ihnen nie vergessen, Major Ross!« Richard lächelte und seine Augen leuchteten blau auf. »Doch um einen Gefallen möchte ich Sie noch bitten. Darf ich Ihnen als freier Mann die Hand geben? Es wäre mir eine Ehre.«
Ross reichte ihm bereitwillig die Hand. »Ich muss nach Sydney Town zurück«, sagte er dann, »aber ich fürchte, Morgan, Sie müssen mir in der Brennerei noch etwas von diesem scheußlichen Gebräu holen, damit ich heute Abend vor dem Essen den wenigen guten Rum, den ich noch habe, damit strecken kann.« Er verzog das Gesicht. »Ich habe die Vögel vom Mount Pitt inzwischen genauso satt wie alle anderen, aber bestimmt wird keiner sich über das eintönige Essen beklagen, wenn er es mit einem Becher Schnaps hinunterspülen kann.«
Frei! Er war frei! Und obendrein durch Begnadigung! Denn das war ein großer Unterschied. Alle Sträflinge kamen frei, wenn sie ihre Strafe verbüßt hatten, aber sie waren nur entlassene Sträflinge. Ein begnadigter Sträfling war etwas ganz anderes. Er war rehabilitiert.
 
Am 4. August sichteten die Bewohner von Sydney Town ein Segel. Vor lauter Aufregung vergaßen sie ihre Beschwerden und alle Vorschriften. Leutnant Clark und Captain Johnston stiegen auf den Mount George und bestätigten, dass es sich tatsächlich um ein Segel handelte. Das Schiff fuhr allerdings seelenruhig an der Insel vorbei. Da der starke Südwind eine Landung an der Sydney Bay unmöglich machte, marschierten Captain Johnston und Captain Hunter zur Cascade Bay, wo das Meer spiegelglatt war. Sie glaubten, das Schiff würde dort anlegen. Doch es entfernte sich in Richtung Norden, und bei Einbruch der Dämmerung war es verschwunden. In der Stadt und im Tal, selbst in Charlotte Field und in Phillipburgh machte sich an diesem Abend Verzweiflung breit. Das erste Schiff seit langer Zeit war an der Insel vorbeigefahren! Was konnte schlimmer sein?
Am nächsten Morgen schickte Major Ross ein paar Männer auf den Mount Pitt, die noch einmal nach dem Schiff Ausschau halten sollten - doch vergebens, es war tatsächlich verschwunden.
Drei Tage später wurden die Bewohner von Sydney Town im Morgengrauen von Schreien geweckt, die ein Schiff am südlichen Horizont meldeten.
Da der Wind aus der entgegengesetzten Richtung wehte, war das Schiff am späten Nachmittag noch nicht viel näher gekommen, doch inzwischen waren hinter ihm die Segel eines zweiten Schiffs aufgetaucht.
Sie würden nicht zulassen, dass noch einmal ein Schiff an ihnen vorbeifuhr!
Leutnant Clark fuhr dem ersten Schiff mit einem Boot entgegen. Als es ihm nicht gelang, mit ihm Kontakt aufzunehmen, fuhr er zum zweiten. Diesmal schaffte er es, an Bord zu gelangen. Es handelte sich um die Surprize. Sie kam aus London, und ihr Kapitän war Nicholas Anstis, der auf der Lady Penrhyn Erster Offizier gewesen war. Anstis teilte Clark mit, er bringe 204 Sträflinge nach Norfolk Island, und das andere Schiff, die Justinian, habe große Mengen Nahrungsmittel an Bord. Port Jackson war bereits versorgt, und jetzt war Norfolk Island an der Reihe. Die dortigen Vorräte an Pökelfleisch und Mehl hätten keine drei Wochen mehr gereicht.
»Was war das gestern für ein Schiff, das unsere Signale einfach ignorierte?«, wollte Clark wissen.
»Die Lady Juliana«, erwiderte Anstis. »Sie brachte eine Ladung weiblicher Sträflinge nach Port Jackson, hatte jedoch ein so übles Leck, dass sie sofort leer nach Wampoa weiterfuhr. Dort soll sie eine Ladung Tee aufnehmen, doch zuerst muss sie ins Trockendock. Die Justinian und die Surprize fahren auch nach Wampoa weiter, sobald wir unsere Fracht gelöscht haben.«
Selbst Männer wie Len Dyer und William Francis halfen eifrig mit, die in Sydney Town gelandeten Beiboote der Surprize und der Justinian mit Gemüse für deren Besatzungen voll zu packen, die schon lange kein Grünzeug mehr bekommen hatten. Wegen des schlechten Wetters konnte keines der beiden Schiffe seine Fracht löschen. Nur ein paar Briefe aus England und Port Jackson und einige Schiffsoffiziere wurden an Land gebracht. Das Ausladen musste warten und notfalls in Cascade erfolgen.
Leutnant Clark erhielt zu seiner großen Freude gleich vier lange Briefe von seiner geliebten Betsy und las zu seiner Beruhigung, dass es ihr und dem Baby gut ging.
Gouverneur Phillip teilte Major Ross in einem ausführlichen Bericht mit, dass er die Supply mit Leutnant King an Bord nach Batavia geschickt habe. Dort sollte das Schiff so viel Proviant aufnehmen, wie seine kleinen Frachträume fassen konnten, und möglichst noch ein holländisches Frachtschiff anheuern, das die Supply mit weiteren Lebensmitteln beladen nach Port Jackson zurückbegleitete. Seine Exzellenz hoffte, dass King von Batavia aus mit einem holländischen Ostindienfahrer zumindest nach Kapstadt gelangen würde, vielleicht sogar direkt nach London, wo er Unterstützung für die Kolonien anfordern sollte. Die Supply sollte gleich nach ihrer Rückkehr von Batavia, mit der jedoch frühestens Anfang 1791 zu rechnen war, nach Norfolk Island weiterfahren, um Captain Hunter und die restliche Besatzung der Sirius abzuholen. Phillip schrieb auch, dass er nun, da genügend Vorräte auf Norfolk Island eingetroffen seien, keine Notwendigkeit mehr für das Kriegsrecht sehe. Es müsse deshalb unverzüglich aufgehoben werden! Der verdammte King!, dachte der Major wütend. Diese Anweisung habe ich nur ihm zu verdanken. Wie soll ich Hunters Matrosen denn dazu bringen, zu arbeiten, wenn ich sie nicht hängen kann?
Doch das war nicht die einzige schlechte Nachricht aus Port Jackson. Das Versorgungsschiff Guardian war mit Nahrungsmitteln beladen von England aufgebrochen, hatte in Kapstadt jedes dort erhältliche Nutztier aufgekauft und anschließend seine Reise zur Botany Bay fortgesetzt. An Heiligabend 1789 fuhr es 1000 Meilen vom Kap entfernt friedlich durch eine nicht allzu raue See, als vor ihm ein Sommereisberg auftauchte. Captain Riou, der unterschätzt hatte, wie viel Wasser Rinder pro Tag tranken, beschloss, die günstige Gelegenheit zu nutzen und mit Booten ein paar dicke Brocken Eis zu holen, um die Trinkwasservorräte aufzustocken. Als das geschehen war, fuhr die Guardian weiter. Der Kapitän vergewisserte sich noch, dass sie sich von dem Eisberg entfernten, dann stieg er zum Essen hinunter. Eine Viertelstunde später erschütterte ein gewaltiger Stoß die Guardian. Das Steuerruder wurde weggerissen und das Schiff schlug leck. Da es nur langsam Wasser machte, beschloss Captain Riou, trotz des Lecks nach Kapstadt zurückzukehren. Alle Tiere wurden über Bord geworfen und der größte Teil der Besatzung sowie einige besonders nützliche Handwerker aus den Reihen der Sträflinge in fünf Boote verfrachtet. Doch die Matrosen hatten ihre Angst, in dem eiskalten Wasser zu ertrinken, mit Rum zu betäuben versucht. Sie waren sturzbetrunken. Nur ein Boot erreichte Land. Die Guardian strandete nach wochenlanger Irrfahrt durch den Indischen Ozean unweit von Kapstadt. Der kleine Teil ihrer Fracht, der noch gerettet werden konnte, wurde auf die Lady Juliana umgeladen, die einige Zeit nach der Katastrophe auf dem Weg zur Botany Bay Kapstadt anlief. Tiere konnten die Viehhändler von Kapstadt der Lady Juliana allerdings keine mehr verkaufen. Sie waren alle an der Unglücksstelle ertrunken. Verloren war auch die persönliche Habe von Gouverneur Phillip, Major Ross, Captain David Collins und anderen ranghohen Marineoffizieren. Ross erholte sich nie von den finanziellen Verlusten, die er durch die Havarie der Guardian erlitt. Er hatte über einen Bevollmächtigten viele Tiere für die eigene Haltung und Zucht gekauft.
 
Im Laufe der folgenden Tage wurden einige Vorräte von der Justinian und der Surprize an Land gebracht, die Sträflinge - 47 Männer und 157 Frauen - jedoch noch nicht. Die Frauen waren alle mit der Lady Juliana gekommen. Sie war das erste von fünf Schiffen gewesen, die im Juni in Port Jackson eintrafen. Gouverneur Phillip hatte natürlich auf ein Versorgungsschiff gewartet und war hellauf entsetzt, als das erste Schiff nach so langer Zeit nur Frauen und Kleider an Bord hatte. Bald darauf traf jedoch das Versorgungsschiff Justinian ein, und gegen Ende des Monats folgten die Surprize, die Neptune und - zum zweiten Mal - die Scarborough.
»Es war furchtbar!«, berichtete Mr Murray, Schiffsarzt der Justinian, den in der Offiziersmesse versammelten Offizieren von Norfolk Island. Der Schrecken stand ihm noch ins Gesicht geschrieben. Er holte tief Luft. »Die Surprize, die Neptune und die Scarborough wurden mit 1000 Sträflingen an Bord nach Port Jackson geschickt. Davon starben 267 auf der Überfahrt, und von den verbliebenen 759 waren 500 schwer krank. Es war … Ich fürchtete schon, Seine Exzellenz würde gleich in Ohnmacht fallen, und wer hätte es ihm verdenken können? Sie können sich nicht vorstellen …« Murray versagte die Stimme. »Das Innenministerium hatte die Lieferanten gewechselt. Für die Verpflegung der drei Schiffe war eine Sklavenhandelsgesellschaft zuständig. Sie wurde im Voraus pro Sträfling bezahlt, doch im Liefervertrag war nicht davon die Rede, dass die Sträflinge lebend und gesund abzuliefern seien. Der Gewinn der Gesellschaft war größer, wenn die Sträflinge möglichst bald nach der Abfahrt starben, deshalb bekamen sie fast nichts zu essen. Außerdem waren sie die ganze Reise über unter Deck eingesperrt und gefesselt wie früher die Sklaven - mit Fußschellen, verbunden durch eine ein Fuß lange Eisenstange. Sie konnten also nicht einmal herumlaufen. Es war schon grausam genug, Schwarze für eine Reise von sechs oder acht Wochen so zu fesseln, aber stellen Sie sich den Zustand von Männern vor, die fast ein Jahr lang mit solchen Fußschellen unter Deck eingesperrt waren.«
»Sie müssen unter schrecklichen Qualen gestorben sein«, sagte Stephen Donovan mit gepresster Stimme. »Verflucht seien alle Sklavenhändler!«
Die anderen schwiegen.
»Am schlimmsten war es auf der Neptune«, fuhr Murray fort. »Doch auf der Scarborough war es auch nicht viel besser. Dort waren sechzig Männer mehr in einem kleineren Raum als beim ersten Mal eingesperrt. Am besten ging es den Sträflingen noch auf der Surprize. Auf ihr starben unterwegs nur 36 von 254 Sträflingen. Ich muss sagen, wir kämpften mit den Tränen und mussten uns übergeben, als wir die lebenden Skelette aus den Frachträumen holten, in denen es unerträglich stank. Die Menschen starben, während wir ihnen heraushalfen, auf den Decks und in den Booten, und als wir sie ans Ufer trugen. Wer dann noch lebte, den mussten wir vor der Einweisung ins Lazarett zunächst vom Ungeziefer befreien; die Sträflinge waren völlig verlaust. So war es doch, oder habe ich übertrieben, Mr Wentworth?«
»Kein bisschen«, erwiderte D’arcy Wentworth, ein stattlicher, blonder Mann, der als Arzt auf Norfolk Island Dienst tun sollte. »Die Neptune war die Hölle. Ich diente auf ihr als Schiffsarzt, doch wurde ich während der ganzen Reise kein einziges Mal aufgefordert, nach den Sträflingen zu sehen - es war mir sogar verboten, das Gefängnis zu betreten. Wir hatten die ganze Zeit über den Gestank in der Nase, und als ich in Port Jackson zu den Sträflingen hinunterstieg, um zu helfen - mein Gott! Es lässt sich nicht mit Worten beschreiben, wie es dort unten aussah. Ein Gewimmel von Maden, verwesende Leichen, Kakerlaken, Ratten, Flöhe, Fliegen, Läuse. Doch einige Männer lebten noch, können Sie sich das vorstellen? Wir Ärzte befürchten, dass die Überlebenden alle wahnsinnig sind.«
»Wer ist der Kapitän der Neptune?«, fragte Stephen, der mehr Kapitäne der Handelsmarine kannte als die Offiziere.
»Eine Bestie namens Donald Trail«, erwiderte Wentworth. »Er konnte unsere Empörung gar nicht verstehen, sodass wir uns fragten, wie viele Sklaven wohl bei seinen Fahrten nach Jamaica überleben. Trail war wie Anstis nur daran interessiert, den Leuten in Port Jackson Nahrungsmittel zu verkaufen, allerdings zu so astronomischen Preisen, dass nur sein Rum Absatz fand.«
»Ich habe schon von Trail gehört«, sagte Stephen angewidert. »Die Schwarzen muss er besser versorgen, weil er sie nur lebend verkaufen kann. Ihm einen Liefervertrag zu geben, der ihm stillschweigend erlaubt, die Sträflinge sterben zu lassen, ist Mord! Der Teufel soll das Innenministerium holen!«
»Berichten Sie weiter, was mit den armen Teufeln in Port Jackson geschah, Mr Murray«, forderte Major Ross den Arzt auf.
»Seine Exzellenz der Gouverneur ließ weit außerhalb der Siedlung eine große Grube ausheben«, fuhr Murray fort. »Dort wurden die Toten hineingelegt, und Mr Johnson sollte einen Trauergottesdienst für sie abhalten. Die Leichen wurden mit Steinen zugedeckt, damit sie vor den Hunden der Eingeborenen sicher waren - die fressen alles. Es wurden immer noch Leichen dorthin gebracht, als die Surprize hierher aufbrach. Die Männer starben weiter massenweise. Gouverneur Phillip ist außer sich vor Empörung. Er hat uns ein Schreiben an Lord Sydney mitgegeben, aber ich fürchte, das Schreiben wird das Innenministerium nicht rechtzeitig erreichen, bevor die nächste Ladung Sträflinge losgeschickt wird - mit Schiffen derselben Sklavenhändler und zu denselben Bedingungen.«
Die Offiziere tranken den auf Norfolk Island gebrannten Rum, doch damit sie das nicht merkten, hatte Robert Ross ihn klugerweise mit besserem Rum vermischt und »Rio-Rum« genannt. Einen Teil von Richards Erzeugnis ließ er mit gutem Rum aus Bristol verschneiden, den die Justinian mitgebracht hatte, und in leere Eichenfässer füllen. Diesen geheimen Rumvorrat versteckte er mit Leutnant Clark und Richard an einem trockenen Ort, wo niemand ihn finden würde. Die Brennerei sollte zunächst 2000 Gallonen Rum produzieren, dann, so schätzte Ross, würde der Vorrat an Zuckerrohr und Fässern aufgebraucht sein. Danach sollte die Anlage in ihre Einzelteile zerlegt und von Richard versteckt werden. So wollte der Major sein Gewissen besänftigen. Außerdem hatte er beschlossen, aus der Gerste, die auf der Insel wuchs, Dünnbier zu brauen. Die Justinian hatte Hopfen mitgebracht, und so würden selbst die Sträflinge ab und zu etwas Besseres zu trinken bekommen als Wasser.
Was für ein schreckliches Schicksal die Sträflinge gehabt hatten. Von den Beamten Seiner Majestät den Würmern zum Fraß vorgeworfen! Ross hatte Männer auspeitschen und sogar hängen lassen, aber er hatte auch für sie gesorgt, so gut er konnte. Ob Arthur Phillip begriffen hatte, dass die Skrupellosigkeit von Sklavenhändlern seine Kolonie zum zweiten Mal in einem Jahr vor dem Verhungern bewahrt hatte? Was wäre gewesen, wenn alle 1200 Sträflinge vom Juni in einer so guten Verfassung eingetroffen wären wie die, die mit mir kamen? Die Guardian war havariert, und die Lebensmittel der Justinian hätten nur ein paar Wochen gereicht. Gott hat Neusüdwales durch gewissenlose Sklavenhändler gerettet. Aber wen wird er für den Tod der Sträflinge zur Rechenschaft ziehen?
 
Am Morgen des 10. August, noch bevor die Sträflinge von der Surprize an Land gebracht worden waren, versammelte Major Ross die Inselbewohner unter dem Union Jack und hielt eine Ansprache.
»Unsere Lage hat sich verbessert, da inzwischen Lebensmittel eingetroffen sind, die einige Zeit reichen werden!«, brüllte er. »Deshalb erkläre ich hiermit das Kriegsrecht für aufgehoben! Was nicht bedeutet, dass ihr tun könnt, was ihr wollt! Ich kann vielleicht niemanden mehr hängen, aber ich kann euch auspeitschen lassen, bis ihr fast tot seid - und das werde ich auch, wenn es sein muss! Unsere Kolonie wird bald 718 Einwohner haben, und der starke Bevölkerungsanstieg stellt uns vor große Probleme! Außerdem handelt es sich bei den neuen Sträflingen größtenteils um Frauen, und die wenigen Männer unter ihnen sind krank. Die Neuankömmlinge können also keine schwere Arbeit verrichten, müssen aber ernährt werden. In jeder Hütte und in jedem Haus wird ein Neuankömmling einquartiert, denn ich habe nicht vor, neue Unterkünfte für die Frauen zu bauen. Alle Seesoldaten, die nicht in den Gemeinschaftsunterkünften der Marine wohnen, und alle Sträflinge, auch die begnadigten, müssen mindestens eine Frau aufnehmen. Nur die Aufseher der alten und neuen Sträflinge, Mr Donovan und Mr Wentworth, werden von dieser Verpflichtung befreit. Den Offizieren steht es frei, ebenfalls Neuankömmlinge bei sich unterzubringen. Aber ich warne euch! Ich werde nicht dulden, dass jemand eine Frau schlägt oder sonst wie drangsaliert. Ich kann euch nicht daran hindern, Unzucht zu treiben, aber ich werde nicht zulassen, dass ihr euch wie Barbaren aufführt. Wer eine Frau vergewaltigt oder auf andere Weise körperlich misshandelt, erhält 500 Hiebe mit Richardsons schlimmster Peitsche. Das gilt für die Seesoldaten ebenso wie für die Sträflinge.«
Der Vizegouverneur ließ den Blick drohend über die schweigende Menge schweifen. Er sah die selbstgefällige Miene von Captain Hunter, der genau wusste, dass die von Seiner Exzellenz befohlene Aufhebung des Kriegsrechts ihm einige Freiheiten verschaffte.
»Ich werde Sydney Town verkleinern, indem ich einen Teil der Bewohner anderswo ansiedle. Die Besatzung der Sirius wird auf die große Lichtung an der Straße nach Cascade ziehen, bis die Supply sie abholt. Sodann will ich möglichst viele von euch auf Grundstücke von einem halben Hektar Größe umsiedeln. Wer eigenes Land haben will, muss jedoch einen Neuankömmling mitversorgen. Auf die Erträge eurer Grundstücke erhebt der Staat keine Ansprüche. Das Land soll vielmehr dazu dienen, euren Bedarf an Lebensmitteln der Regierung zu verringern. Überschüsse könnt ihr an den Staat verkaufen; das gilt für Freie ebenso wie für Sträflinge. Sträflinge, die hart arbeiten, ihre Grundstücke roden und bestellen und Lebensmittel an den Staat verkaufen, erhalten die Freiheit zurück, sobald sie bewiesen haben, dass sie sie verdienen - so wie ich einigen von euch als Belohnung für gute Arbeit schon die Freiheit zurückgegeben habe. Wer ein Stück Land bestellt, bekommt vom Staat eine Zuchtsau, die er bei Bedarf von einem Eber decken lassen kann. Geflügel kann ich nicht verteilen, aber sobald wir genug Puten, Hühner und Enten haben, kann, wer genug Geld hat, welche kaufen.«
Ein Raunen ging durch die Menge. Einige strahlten vor Freude, andere machten ein finsteres Gesicht. Nicht allen gefiel die Vorstellung, hart zu arbeiten, nicht einmal, wenn es in ihrem eigenen Interesse war.
Richard kehrte mit gemischten Gefühlen in seine Sägegrube oben im Tal zurück. Einerseits war er glücklich und dankbar, dass Ross ihm das Stück Land zugeteilt hatte, auf dem sein Haus stand und das er bereits bestellte. Andererseits trauerte er seinem friedlichen Einsiedlerdasein nach, das Ross nun beenden wollte. Richard wusste, dass er eine Frau nicht wie Lawrell in eine andere Hütte verbannen und auch nicht bei Lawrell einquartieren konnte. Lawrell war zwar ein harmloser Kerl, aber er würde natürlich erwarten, dass sie mit ihm schlief, ob sie das wollte oder nicht. Nein, Richard musste sie wohl oder übel in sein Haus aufnehmen. Das warf seine Pläne für das kommende Wochenende über den Haufen. Eigentlich hatte er auf den Felsen westlich des Landeplatzes angeln und einen langen Spaziergang mit Stephen machen wollen. Stattdessen musste er nun für eine Frau ein zweites Zimmer an sein Haus anbauen. Johnny Livingstone hatte ihm einen Schlitten mit glatten Kufen gebaut, den er mithilfe eines Geschirrs aus Segeltuch wie ein Pferd ziehen konnte. Er hatte den Schlitten gebraucht, um die Zutaten für die Maische im Schutz der Nacht zur Brennerei zu befördern. Der Schlitten fasste so viel wie ein großer Handkarren und war von unschätzbarem Wert. Jetzt würde er ihn dazu benutzen müssen, Steine zur Erweiterung des Fundaments vom Steinbruch zu holen. Er verfluchte alle Frauen.
 
Da Winter war, nahmen die ranghöheren Offiziere die warme Hauptmahlzeit um ein Uhr zusammen mit Major Ross in der Offiziersmesse der Gouverneursresidenz ein. Lizzie Lock, die darauf bestand, Mrs Morgan genannt zu werden, war nun, da sie eine größere Auswahl an Zutaten hatte, eine ausgezeichnete Köchin. An diesem Tag gab es zur Feier der Ankunft der Surprize und der Justinian Schweinebraten. Die Offiziere der beiden Schiffe waren jedoch nicht eingeladen worden, ebenso wenig wie die Herren Donovan, Wentworth und Murray. So nahmen an dem Festessen nur Major Ross, Captain Hunter, Captain Johnston, Leutnant Johnstone und Leutnant William Faddy teil.
Als Aperitif schenkte der Major »Rio-Rum« aus. Die Flasche Portwein, die Captain Maitland von der Justinian mitgebracht hatte, wollte er erst nach dem Essen öffnen. Da der Braten auf sich warten ließ, ließ der Major noch einen Rum ausschenken. Die fünf Männer waren deshalb bereits besäuselt, als sie Mrs Morgans Schweinelende zusprachen. Die Kruste des Bratens war herrlich knusprig, die Soße würzig, und die in Schmalz gerösteten Kartoffeln schmeckten ebenfalls köstlich. Das Essen schwächte die Wirkung des Rums freilich nicht ab, denn die fünf tranken fleißig weiter.
»Ich habe festgestellt, dass Clark nicht mehr die staatlichen Vorratshäuser verwaltet«, sagte Hunter und verspeiste das letzte Stück Reispudding, das in Sirup schwamm.
»Leutnant Clark hat Besseres zu tun als Zahlen zusammenzuzählen«, sagte Ross, dessen Kinn vor Bratenfett glänzte. »Seine Exzellenz schickt mir freie Männer, damit ich sie sinnvoll einsetze, und genau das tue ich. Ich brauche Clark jetzt in Charlotte Field. Er überwacht die Bauarbeiten.«
Hunter runzelte die Stirn. »Da fällt mir ein, dass Sie in Ihrer Ansprache heute Morgen andeuteten, meine Männer sollten aus Sydney Town wegziehen - an die Straße nach Cascade, wenn ich Sie richtig verstanden habe.«
Ross nickte und wischte sich das Kinn mit einer Serviette ab, die die gute Mrs Morgan aus einem alten Leinentischtuch genäht hatte - die Frau war wirklich eine Perle! Der Major hatte schon oft überlegt, warum Richard Morgan sie verstoßen hatte. Vermutlich hatten die beiden sich im Bett nicht verstanden, denn eine Verführerin war Mrs Morgan gewiss nicht. Er faltete die Serviette zusammen und blickte Hunter an, der am anderen Ende des Tisches saß.
»Ja und?«, fragte er.
»Was gibt Ihnen das Recht, Entscheidungen über meine Besatzung zu treffen?«
»Ich bin immer noch Vizegouverneur und kann Leute nach meinem Ermessen umsiedeln. Hier werden bald über 150 Frauen eintreffen, deshalb will ich nicht, dass in Sydney Town Schläger herumhängen, die außer essen nichts tun.«
Hunter stieß seinen Teller so heftig zurück, dass sein leerer Becher umkippte, und beugte sich vor. »Jetzt reicht’s mir aber!«, schrie er und schlug mit der Faust auf den Tisch. »Sie sind ein Tyrann, Ross, und das werde ich dem Gouverneur sagen, wenn ich nach Port Jackson komme! Sie lassen meine Männer hängen und auspeitschen, und dafür verfluche ich Sie! Sie haben Männern der Königlichen Marine Arbeiten zugemutet, zu denen ich nicht einmal Judas Ischarioth verdammen würde.« Er sprang auf und starrte Ross zornig an.
»Das habe ich in der Tat«, sagte Ross mit trügerischer Freundlichkeit. »Es ist Balsam für meine Seele und meine Augen, die Marine ausnahmsweise einmal arbeiten zu sehen.«
»Und ich sage Ihnen, Major Ross, meine Männer bleiben, wo sie sind!«
»Mitnichten!« Ross stand ebenfalls auf. Seine Augen funkelten vor Wut. »Ich ertrage Sie und Ihren verwöhnten Haufen nun schon seit fünf Monaten und wie es aussieht, muss ich Sie noch weitere sechs Monate ertragen - aber nicht in meiner unmittelbaren Nachbarschaft! Sie halten sich für die Herren der Schöpfung, aber das sind Sie nicht! Jedenfalls nicht hier. Hier sind Sie nur ein Pack von Schmarotzern, die anderen Leuten das Blut aussaugen. Auf dieser Insel führt ein Seesoldat das Kommando, und zwar ich! Sie tun, was ich Ihnen sage, Hunter, und damit basta! Treiben Sie mit Ihren Schiffsjungen, was Sie wollen, aber nicht hier, sondern an der Straße nach Cascade!«
»Ich bringe Sie vors Kriegsgericht, Ross! Ich sorge dafür, dass Sie mit dem ersten Schiff nach Hause geschickt werden!«
»Versuchen Sie’s doch, Sie Schwuchtel! Aber denken Sie daran, dass nicht ich ein Schiff verloren habe, sondern Sie! Wenn ich wegen Ihnen nach England zurückkehren und vor dem Kriegsgericht erscheinen muss, dann sage ich aus, dass Sie Ihr Schiff deshalb verloren haben, weil Sie keinen Rat von uns annehmen wollten!« Ross brüllte jetzt. »Die Wahrheit ist doch, Hunter, dass Sie als Kapitän völlig unfähig sind!«
Hunters Gesicht war puterrot angelaufen. »Pistolen!«, stieß er hervor. »Morgen bei Tagesanbruch.«
Der Major brach in schallendes Gelächter aus. »Dass ich nicht lache! Ein Duell mit einer Schwuchtel, die schon mit einem Fuß im Grab steht! Das ist unter meiner Würde. Verschwinden Sie! Los, machen Sie, dass Sie rauskommen, und lassen Sie sich in Sydney Town nicht mehr blicken, solange ich hier Vizegouverneur bin!«
Captain Hunter stürmte empört aus dem Zimmer.
Die anderen blickten einander über den Tisch an und Ross seufzte tief. »George, schenken Sie uns bitte Portwein ein. Ich möchte zum Abschluss dieses denkwürdigen Mahls mit Ihnen auf Seine Majestät den König anstoßen und auf die Marineinfanterie, die vom König eines Tages bestimmt zur Königlichen Marineinfanterie erhoben wird. Dann ziehen wir mit der Königlichen Marine gleich.«
 
Am Freitag, dem 13., einem Tag, an dem die ganze Inselgemeinde vor abergläubischer Furcht zitterte, wurden in Cascade die weiblichen Sträflinge der Surprize an Land gebracht.
Richard hatte inzwischen zehn Sägegruben zu beaufsichtigen, und Ralph Clark wollte in Charlotte Field eine weitere Sägegrube anlegen - Ross drängte auf eine möglichst schnelle Fertigstellung der dortigen Siedlung.
Am frühen Morgen des 13. August teilte Richard Major Ross allerdings mit, dass er seine Männer nicht dazu überreden konnte, an einem Unglückstag zu arbeiten. »Natürlich könnte ich Richardson mit der Peitsche kommen lassen, Sir. Dann würden sie zwar arbeiten, aber in einer solchen Panik, dass Unfälle zu befürchten wären. Und gerade jetzt, wo wir Holz für so viele neue Hütten zusägen müssen, kann ich es nicht riskieren, dass Männer wegen Verletzungen ausfallen.«
»Es gibt Dinge, gegen die man nichts machen kann«, sagte Ross, der selbst nicht gegen Aberglauben gefeit war. »Ich gebe den Männern einen Tag frei. Dafür müssen sie morgen arbeiten. Übrigens habe ich allen Sträflingen verboten, heute nach Cascade zu marschieren, um sich die Frauen anzusehen, die dort ausgeladen werden.« Er lächelte gequält. »An einem Freitag, dem 13., würden sie sich sowieso die Falsche aussuchen. Aber irgendwer muss den Frauen natürlich beim Aussteigen helfen, und da ich auch meinen Seesoldaten befohlen habe, sich von Cascade fern zu halten, bleibt das Feld der Besatzung der Sirius überlassen. Wenigstens sind auch Mr Donovan und Mr Wentworth dabei, und Sie können die beiden begleiten, Morgan.«
Um acht brachen die drei Männer nach Cascade auf. Sie waren trotz des Datums in bester Laune. Stephen Donovan und D’arcy Wentworth verstanden sich blendend. Sie hatten einiges gemeinsam, insbesondere ihre Abenteuerlust, und waren beide sehr belesen. Stephen hatte als Seemann die Welt kennen gelernt, Wentworth war dem Ruf der Landstraße gefolgt und schon mehrfach wegen Straßenraubs verhaftet und verurteilt worden. Wenn er nicht gerade Postkutschen überfallen hatte, hatte er Medizin studiert. Nur durch die guten Beziehungen seiner einflussreichen Verwandten war er immer wieder freigekommen, doch schließlich hatte seine Familie die Geduld verloren und ihn aufgefordert, nach Neusüdwales zu verschwinden und nie mehr zurückzukommen.
In Cascade angekommen, kletterten die drei die steile Schlucht zwischen den zweihundert Fuß hohen Klippen hinunter. Die Surprize lag recht nahe am Ufer. Die See war ruhig, bald würde die Flut einsetzen. Donovan hatte Captain Anstis zwei Tage zuvor erklärt, wie er die Leute sicher an Land bringen konnte, und Anstis war so vernünftig, den Ratschlägen zu folgen.
»Aber er ist ein übler Halsabschneider«, sagte Stephen und setzte sich auf einen Felsen. »Wie ich höre, hat er in Port Jackson Papier für einen Penny den Bogen, Tinte für ein Pfund das Fläschchen und billigen, ungebleichten Baumwollstoff für zehn Schillinge die Elle verkauft. Er hat deshalb auch viel weniger verkauft als erwartet. Ich bin gespannt, was er hier verlangt.«
Richard fiel ein, dass Lizzie Lock - Mrs Morgan! - erzählt hatte, auf der Lady Penrhyn habe es keine Lappen für menstruierende Frauen gegeben, und er beschloss, für die Frau, die er aufnehmen musste, ein paar Ellen ungebleichten Baumwollstoff zu kaufen, auch wenn es ihm zutiefst widerstrebte, einem Mann Geld in den Rachen zu werfen, der aus Gewinnsucht Menschen verhungern ließ. Außerdem brauchte die Frau auf jeden Fall ein Bett und eine Matratze, ein Kopfkissen und Leintücher, vielleicht auch eine Decke und Kleider. Johnny Livingstone hatte ihm noch ein Bett und weitere Stühle versprochen, aber der unwillkommene Gast würde ihn trotzdem einiges kosten. Zum Glück hatte Richard noch die in der Kiste und in den Absätzen von Ike Rogers Stiefeln versteckten Goldmünzen. Was Nicholas Anstis wohl alles zu verkaufen hatte? Hoffentlich auch Schmirgel. Sein Vorrat war fast erschöpft. Sandpapier konnte er aus Sand von der Turtle Bay und einem Leim aus Fischresten selbst herstellen, Schmirgelpulver dagegen nicht.
Kurz nach zehn steuerte das erste Beiboot der Surprize auf das Ufer zu - unter dem Beifall von ungefähr fünfzig erwartungsvollen Matrosen der Sirius. Weitere Beiboote, die bereits zu Wasser gelassen worden waren, füllten sich mit Frauen. Die See war nicht so rau wie bei der Ankunft von Major Ross, doch als die Ruderer das Boot zum Landungsfelsen manövrierten - bereit, es sofort wieder vom Felsen abzustoßen, wenn eine größere Welle heranrollte -, schrien die Frauen aufgeregt durcheinander und weigerten sich, an Land zu springen. Ein Matrose von der Sirius lief zum Rand des Felsens und streckte die Hände aus. Das Boot glitt schwankend heran, und die beiden Matrosen auf dem Boot stießen dem Mann auf dem Felsen eine Frau entgegen. Derselbe Vorgang wiederholte sich. Keine der Frauen fiel ins Wasser, und auch ihr Gepäck landete sicher auf dem Felsen. Ein weiteres Boot traf ein, und die Prozedur begann von neuem. Bald drängten sich auf der kleinen begehbaren Fläche am Landeplatz Frauen und Matrosen. Es kam jedoch nicht zu unsittlichen Übergriffen. Die meisten Frauen fanden sofort einen Matrosen, der ihnen half, den Steilhang hinaufzuklettern.
»Wartet ab, bis die Leute in Sydney Town erfahren, dass die Matrosen von der Sirius sich schon die besten Frauen geschnappt haben«, sagte Stephen. »Die Seesoldaten werden außer sich sein, weil Ross ihnen verboten hat, herzukommen.«
»Warum hat er das getan?«, fragte Wentworth neugierig.
»Aus anderen Gründen, als Sie vielleicht denken«, erwiderte Richard. »Was ist besser? Den Seesoldaten, die dienstfrei haben, die erste Wahl zu überlassen, oder den Matrosen von der Sirius? Da es sowieso Streit gibt, ist es dem Major lieber, wenn sich die Seesoldaten mit den Matrosen streiten und nicht untereinander.«
Nach dem Abzug der Matrosen von der Sirius stiegen die drei Männer zum Landungsfelsen hinunter, um weiteren verängstigten Neuankömmlingen unter gutem Zureden an Land zu helfen. Wie Stephen Donovan und Richard Morgan war auch D’arcy Wentworth nicht darauf aus, eine Frau zu finden; allerdings aus anderen Gründen. Er hatte bereits eine Freundin auf der Surprize, ein schönes, rothaariges Mädchen namens Catherine Crowley. Man hatte ihm versprochen, sie nicht zusammen mit den anderen Frauen in Cascade an Land zu bringen. Catherine sollte mit ihrem kleinen Sohn William Charles an Bord bleiben, bis die See vor der Sydney Bay sich beruhigte. Wentworth hatte sich auf der Neptune auf den ersten Blick in sie verliebt und sie, allen Protesten der Besatzung zum Trotz, aus dem schmutzstarrenden Gang, in dem die weiblichen Sträflinge untergebracht waren, in eine frei gewordene Kabine umquartiert. Kurz vor der Ankunft der Neptune in Port Jackson hatte Catherine ein Kind zur Welt gebracht. Die Freude der Eltern war jedoch nicht ungetrübt. Der kleine Charles William, der die kupferroten Locken der Mutter und, wie es schien, die Statur des Vaters geerbt hatte, schielte extrem und würde nie gut sehen.
Als die Surprize alle männlichen Sträflinge und fast siebzig Frauen an Land gebracht hatte, signalisierte sie, dass sie auf Grund des Wasserstands nun keine mehr losschicken würde. Die Frauen sahen bemitleidenswert aus. Sie waren laut Mr Murray zwar auf der Lady Juliana gut behandelt und verpflegt worden, doch die Reise von Port Jackson nach Norfolk Island hatten sie auf dem völlig verdreckten, nach Verwesung und Exkrementen stinkenden Zwischendeck eines feuchten, undichten Schiffes verbringen müssen.
Die siebenundvierzig Männer, die an Land gebracht wurden, befanden sich jedoch in einem noch schlimmeren Zustand. Waren das die gesündesten der aus England in Port Jackson eingetroffenen Sträflinge? Wentworth musste in das Boot springen - die Seeleute von der Surprize zeigten sich wenig hilfsbereit -, den armen Teufeln hochhelfen und sie Richard und Stephen hinhalten. Selbst hätten sie nicht springen können. Sie bestanden nur noch aus Haut und Knochen. Ihre Augen waren tief in die Höhlen gesunken, ihre Nägel verfault, Zähne und Haare ausgefallen. Sie hatten Skorbut und Ruhr und waren völlig verlaust. Richard marschierte eilends nach Sydney Town, forderte Hilfe an und kehrte wieder zurück, gefolgt von Sergeant Tom Smyth und einigen Männern.
Bei Einbruch der Dunkelheit befanden sich alle Sträflinge, die an diesem Tag an Land gebracht worden waren, in Sydney Town. Die Frauen, die keinen Matrosen gefunden hatten, wurden von Soldaten oder Sträflingen aufgenommen, die ausgezehrten, schwer kranken Männer in das kleine Lazarett und einen schnell in ein Notlazarett umgewandelten Schuppen gebracht. Olivia Lucas, Eliza Anderson, John Bryants Witwe und die Haushälterin des Vizegouverneurs Mrs Morgan kümmerten sich um die Kranken, hatten aber wenig Hoffnung, dass sie je wieder gesund werden würden.
Da die Surprize am nächsten Tag immer noch vor Cascade lag, kehrten Stephen, D’arcy Wentworth und Richard dorthin zurück, um wieder zu helfen. Nach einiger Zeit frischte der Wind auf, und die Surprize signalisierte, dass keine weiteren Boote an Land geschickt werden sollten. Stephen und D’arcy nahmen die letzte Ladung Frauen in Empfang, redeten den verängstigten Geschöpfen gut zu und nahmen ihnen so viel Gepäck ab, wie sie tragen konnten. Das Leben auf Norfolk Island werde ihnen gefallen, sagten sie, dort sei alles viel besser als in Port Jackson.
Da Richard sich vergewissern sollte, dass die Besatzung der Surprize nicht doch noch ein weiteres Boot ans Ufer schickte, verließ er Cascade einige Minuten nach Stephen und D’arcy. Vom Gipfel der Klippen aus ließ er den Blick noch einmal über die Küste wandern. Die Aussicht war ihm weniger vertraut als die auf die Sydney Bay mit ihren Sandstränden, der Lagune, dem Riff und den vorgelagerten Inseln, doch war er von der Schönheit der zerklüfteten Küste mit ihren vielen Wasserfällen tief beeindruckt.
Auch heute bin ich noch einmal davongekommen, dachte er und wandte sich zum Gehen. Alle Frauen haben einen Mann gefunden, der ihnen half, und Stephen, der Teufelskerl, hat sowieso allen am besten gefallen. Mit etwas Glück brauche ich überhaupt keine Frau aufzunehmen, auch wenn ich dann keine Sau bekomme.
Plötzlich miaute es. Richard runzelte die Stirn und blieb stehen. Mit der Sirius waren zwar einige Katzen mitgekommen, doch sie waren als Haustiere und Rattenfänger hoch geschätzt und kamen nicht zur Cascade Bay. Vielleicht hatte sich eine Katze hierher verirrt und war auf einen Baum geklettert, von dem sie nicht mehr herunterkam.
Er blickte sich lauschend um.
Das nächste Miauen klang weniger nach einer Katze. Mit klopfendem Herzen verließ Richard die Straße und betrat den Wald. Mit jedem Schritt wurde es finsterer um ihn. Er blieb stehen, bis seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, dann ging er weiter. Plötzlich war er sich sicher, dass er eine menschliche Stimme gehört hatte. Schade. Er hätte Stephen zu gerne eine Katze mitgebracht - als Ersatz für seinen geliebten Rodney, der als Schiffskatze auf der Alexander geblieben war, als Stephen wegen Johnny Livingstone auf die Sirius übergewechselt war.
»Wo bist du?«, rief er. »Melde dich, damit ich dich finden kann.«
Doch es war nichts zu hören außer dem Knarren der Tannen, dem Heulen des Windes in den Wipfeln und aufflatternden Vögeln.
»Hab keine Angst, ich will dir nur helfen. Melde dich!«
Ein leises Miauen kam aus dem Dickicht vor ihm. Richard eilte auf das Geräusch zu.
»Sag mir, wo du bist«, rief er. »Hilfe!«
Die Frau kauerte in einem Loch, das Generationen von Insekten in den Stamm einer gewaltigen Tanne genagt hatten. Vielleicht hatte ein entflohener Sträfling das Loch als Unterschlupf genutzt. Auf der Insel kursierten Gerüchte, dass ab und zu ein Sträfling in die Wildnis flüchtete, freilich nur um Wochen später völlig ausgehungert wieder in Sydney Town aufzutauchen.
Ein kleines Mädchen, dachte Richard zuerst. Dann sah er, dass aus einem Riss in ihrem Kleid die Brust einer Frau heraussah. Er ging in die Hocke, lächelte sie an und streckte ihr eine Hand entgegen. »Komm raus, hab keine Angst, ich tu dir nichts. Wir müssen hier weg, bevor es so dunkel wird, dass wir nicht mehr zur Straße zurückfinden. Komm, gib mir deine Hand.«
Zitternd vor Angst und Kälte legte die Frau die Finger in seine Hand und ließ sich herausziehen.
»Wo sind deine Sachen?«, fragte er, bemüht, nicht mehr von ihr zu berühren als ihre zitternden Finger.
»Der Mann hat sie mitgenommen«, flüsterte sie.
Richard führte sie zur Straße und betrachtete sie im schwindenden Tageslicht. Sie reichte ihm nur bis zu den Schultern, war sehr dünn und schien blonde Haare zu haben - sie waren so verdreckt, dass ihre Farbe nur schwer zu bestimmen war. Ihre Augen dagegen waren…waren…Richard stockte der Atem. Nein, unmöglich! Im Sonnenlicht würde sich zeigen, dass es nicht stimmte. Niemand auf der Welt hatte Augen wie William Henry!
»Kannst du noch laufen?«, fragte er. Er hätte ihr gerne sein Hemd gegeben, wollte sie jedoch nicht erschrecken.
»Ich glaube schon.«
»Sobald ich einen Ast finde, mache ich uns eine Fackel. Dann können wir uns Zeit lassen.«
Sie zuckte zusammen.
»Keine Angst! Dir geschieht nichts. Wir brauchen das Licht für den Heimweg. Es sind noch drei Meilen.« Er nahm sie bei der Hand. »Ich bin Richard Morgan, ein freier Mann.« Es war ein großartiges Gefühl, das sagen zu können! »Ich bin der Aufseher der Säger.«
Sie sagte nichts, ging jedoch neben ihm her, bis sie das Lager der Matrosen der Sirius erreichten. Die Matrosen wohnten in Zelten, bis die Schreiner ihnen Barracken und Hütten bauen konnten. An dem großen Feuer, das in der Nähe der Straße brannte, saß niemand. Wahrscheinlich waren alle betrunken. Deshalb merkte auch niemand, wie Richard einen Ast am Feuer anzündete, und niemand sah die schmächtige, verwahrloste Gestalt, die seine Hand umklammerte, als hinge ihr Leben davon ab.
»Wie heißt du?«, fragte Richard im Weitergehen. Der Wind war stärker geworden, und die Tannen ächzten.
»Catherine Clark. Kitty.«
»Bist du mit der Lady Juliana gekommen?«
»Ja.«
Er merkte, dass sie kaum noch die Füße heben konnte, wagte es aber nicht, sie zu tragen, weil er sie nicht erschrecken wollte - wer war der Schweinehund, der sie überfallen hatte? »Wir können später reden, Kitty. Jetzt ist das Wichtigste, dich schnell nach Hause zu bringen.«
 
Nach Hause! Das schönste Wort der Welt. Er sprach es aus, als bedeute es ihm wirklich etwas, als verspreche er ihr all die Dinge, die sie schon so lange vermisste, denn seit ihrer Verurteilung waren schon Jahre vergangen. Nach einem kurzen Aufenthalt im London Newgate war sie auf die Lady Juliana gekommen, die jedoch noch monatelang auf der Themse gelegen hatte, bevor sie schließlich allein zur Botany Bay segelte. Die Zeit auf dem Schiff war nicht schlimm gewesen. Kein Matrose war hinter ihr her gewesen. Die dreißig Männer der Besatzung hatten schließlich 204 Frauen zur Auswahl, darunter dralle Mädchen mit Hüften und Brüsten und hübsch gerundeten Bäuchen. Einige Matrosen waren Schürzenjäger, die sich nicht mit einer Eroberung zufrieden gaben, aber Mr Nicol hatte dafür gesorgt, dass keine Frau vergewaltigt wurde. Die meisten Seeleute verhielten sich wie Käufer auf einem Pferdemarkt. Sie suchten sich eine Frau aus, bei der sie dann blieben. Catherine Clark zog nie die Aufmerksamkeit der Männer auf sich. In Port Jackson blieben die weiblichen Sträflinge zunächst auf der Lady Juliana, dann wurden 157 von ihnen zum Weitertransport nach Norfolk Island auf die Surprize gebracht. Catherine hatte noch nie etwas von Port Jackson oder Norfolk Island gehört.
Auf der Surprize war alles viel schlimmer gewesen als auf der Lady Juliana. Catherine hatte sich schon auf der Lady Juliana die meiste Zeit übergeben müssen, selbst als das Schiff noch auf der Themse lag, doch die Reise nach Norfolk Island mit der Surprize war ein solcher Albtraum, dass sie verrückt geworden wäre, hätte ihre Seekrankheit sich nicht so verschlimmert, dass sie vor lauter Übelkeit kaum etwas anderes wahrnahm. Die weiblichen Sträflinge waren in einem nassen, unbelüfteten Raum untergebracht, in dem es vor Ungeziefer wimmelte und unerträglich stank. Überall standen große Lachen einer widerlichen Brühe, die bei jeder Bewegung des Schiffes hin und her schwappten und über deren Zusammensetzung niemand nachzudenken wagte. Die Sträflinge durften nicht an Deck, um frische Luft zu schnappen und sich etwas Bewegung zu verschaffen.
Catherine hatte Angst, als sie in einem schwankenden Boot ans Ufer gerudert und wie eine Puppe auf den Landungsfelsen geworfen wurde, doch ein schöner Mann mit einem strahlenden Lächeln und den blauesten Augen, die sie je gesehen hatte, fing sie auf, sprach ihr Mut zu, legte ihr die Hand auf die Schulter und fragte, ob sie es schaffen würde, den schrecklichen Steilhang hinaufzuklettern. Da sie ihm gefallen wollte, nickte sie tapfer und kämpfte sich mit ihrem Gepäck mühsam die Schlucht hinauf. Oben angelangt, musste sie erst einmal eine Verschnaufpause einlegen. Dann begann sie die Straße durch den Wald entlangzugehen, ohne zu wissen, wohin sie führte und wie lang es bis dorthin war. Sie spürte bald, dass die Seekrankheit sie so geschwächt hatte, dass der Marsch über ihre Kräfte ging. Einige Männer eilten an ihr vorbei, ohne sie zu beachten.
Bald trugen ihre Beine sie nicht mehr weiter. Keuchend setzte sie sich auf ihr Bündel und ließ den Kopf auf die Knie sinken.
»Na, wen haben wir denn da?«, fragte eine Stimme.
Sie hob den Kopf und sah, dass ein strohblonder Bursche, bekleidet nur mit ausgefransten Segeltuchhosen, sie neugierig musterte. Der Bursche grinste, und sie sah, dass ihm oben und unten je zwei Schneidezähne fehlten. Sie war so müde, dass sie die Hand ergriff, die er ihr entgegenstreckte, weil sie dachte, er wolle ihr auf die Beine helfen. Stattdessen zog er sie in seine Arme und versuchte, seinen zahnlosen Mund auf ihre Lippen zu pressen. Sie wehrte sich mit letzter Kraft und spürte, wie ihr dünner Sträflingskittel zerriss, als er grob nach ihren Brüsten griff.
Plötzlich war in einiger Entfernung eine Stimme zu hören. Der Griff des Burschen lockerte sich sofort, und Catherine riss sich los und rannte in den Wald. Der Bursche schien zu überlegen, ob er ihr folgen sollte, doch dann waren noch mehr Stimmen zu hören. Achselzuckend griff er nach dem Bündel der Frau und marschierte auf der Straße weiter. Die Stimmen kamen immer näher. In ihrer Panik lief Catherine so tief in den Wald hinein, dass sie nicht mehr wusste, wo die Straße war. Etwas flog ihr ins Gesicht, aber sie schrie nicht. Sie wurde ohnmächtig und schlug mit dem Kopf auf einer Wurzel auf.
Als sie stöhnend und würgend wieder zu sich kam, war es so dunkel, dass sie nichts mehr sehen konnte. Im Unterholz raschelte und knackte es, Vögel kreischten und die hohen Tannen knarrten im Wind. Auf Händen und Füßen tastete sie sich vorwärts, kam zu dem hohlen Baum und verkroch sich darin. Erst im Morgengrauen sah sie, dass ihr Versteck sich in einem Baum befand. In der Umgebung standen weitere gewaltige Bäume, und über dem Eingang des Lochs hing eine Schlingpflanze, deren Ranken so dick waren wie ihre Taille.
Den ganzen Tag über hörte sie in der Ferne menschliche Stimmen, doch sie rief nicht um Hilfe, weil sie Angst hatte, der Mann mit den Zahnlücken könnte in der Nähe lauern. Erst als die Dämmerung hereinbrach, begann sie zu rufen, und als dann jemand antwortete, dachte sie an den schönen Mann, der sie an Land gezogen hatte.
Der Mann, der sie fand, sah dem schönen Mann vom Landeplatz zwar ähnlich, aber er war es nicht. Er hatte kurze Haare und graue Augen. Doch auch er lächelte freundlich. Seine Zähne waren weiß wie Schnee und keiner fehlte. Es war zu dämmerig, um mehr zu erkennen, aber als er ihr die Hand hinstreckte, ergriff Catherine sie und hielt sie fest, weil er sie an den schönen Mann erinnerte, der ihr so freundlich ans Ufer geholfen hatte. Auf der Straße sah sie ihn dann besser. Er war älter als ihr Held vom Landeplatz, doch seine Haut war genauso braun und seine Haare genauso dunkel. Die beiden hätten Brüder sein können. Diese Feststellung bewog sie dazu, ihm zu vertrauen und mit ihm mitzugehen.
 
»Dir ist kalt«, sagte der Mann. »Bitte nimm mein Hemd. Ich will nichts von dir, Kitty, aber ich muss dich anfassen, um es dir anzuziehen.«
Selbst wenn er etwas anderes von ihr gewollt hätte, wäre sie zu erschöpft gewesen, um sich zu wehren. So stand sie einfach nur da, während er sein Hemd auszog und ihr die Ärmel über die Arme streifte. Die Hemdzipfel ließ er sie selbst vor dem Bauch zusammenknoten.
»Ist dir jetzt wärmer?«
»Ja.«
Irgendwie schaffte Catherine es, sich auf den Beinen zu halten, bis sie den letzten Abschnitt der Straße erreichten. Nun ging es steil bergab in eine andere Dunkelheit hinein, in der flackernde Feuer und, weiter draußen, weiße Wirbel leuchteten. Catherine stolperte und stürzte schwer.
»Jetzt geht es nicht mehr anders«, sagte Richard, löschte die Fackel und warf sie weg. Dann hob er Catherine hoch, legte sie sich um die Schultern, hielt mit der einen Hand ihre Handgelenke und mit der anderen ihre Beine fest und marschierte sicheren Schrittes los, als wäre es Tag. Am Fuß des Berges stand ein Haus. Er schritt darauf zu und klopfte an die Tür.
»Stephen!«, rief er.
Der Mann vom Landeplatz öffnete. »Na so was«, sagte er mit freundlichem Spott in den Augen. »Entführst du jetzt Frauen, Richard?«
»Das arme Kind hat die letzte Nacht im Wald von Cascade verbracht. Irgendein Strolch ist über sie hergefallen und hat ihre Sachen gestohlen. Bitte begleite mich mit einer Fackel nach Hause.«
»Lass mich die Kleine tragen, Richard«, sagte Stephen. »Du bist doch vollkommen erschöpft.«
Oh ja, bitte trag mich!, flehte Catherine lautlos. Aber Richard Morgan schüttelte den Kopf.
»Nein, ich hab sie nur das letzte Stück getragen. Sie hat Läuse. Es reicht, wenn du mich heimbegleitest.«
»Was macht es schon, wenn sie Läuse hat. Bring sie rein!«, sagte Stephen energisch und hielt die Tür weit auf. »Bei dir ist kein Feuer an, und da du bei mir essen wolltest, hast du nichts zu essen vorbereitet. Bring sie rein!« Sein Herz krampfte sich zusammen, als er Richards Gesicht sah. Es schien wie verwandelt. Wer weiß schon, warum jemand sich verliebt und in wen? Richard ist seinem Schicksal begegnet wie ich auf der Alexander. »Ich habe Fischsuppe. Die wird sie vertragen.«
»Zuerst die Läuse, sonst wird sie krank. Am nötigsten hat sie ein Bad und saubere Kleider. Hast du genug warmes Wasser? Brauchst du kaltes? Ich laufe schnell zu Olivia Lucas rüber und hole, was fehlt.«
»Ich habe genug Wasser, aber keinen Badezuber und keinen Läusekamm. Sieh nach, ob Olivia uns aushelfen kann.«
Richard ging und ließ Stephen mit Catherine allein. Die Frau hatte sich schon etwas erholt und blickte Stephen voller Bewunderung an - mit den außergewöhnlichsten Augen, die dieser je gesehen hatte. Sie waren honigfarben mit dunkelbraunen Pünktchen und von dichten Wimpern umgeben, die so hell waren, dass nur ihr kristallener Schimmer im Kerzenlicht verriet, dass es sie überhaupt gab. Die Frau war viel dünner, als es Gottes Wille sein konnte, und hatte ein ovales Gesicht und wie viele Engländerinnen eine große Nase und ein vorspringendes Kinn. Ihr Gesicht war nicht schön, mit Ausnahme der Augen.
Stephen stellte einen Stuhl mitten ins Zimmer und setzte sie darauf.
»Ich heiße Stephen Donovan«, sagte er, schöpfte Fischsuppe in eine Schale und stellte sie zum Abkühlen auf die Seite.
»Catherine Clark. Kitty«, erwiderte sie und zeigte lächelnd regelmäßige, aber verfärbte Zähne. Für den erfahrenen Seemann ein untrügliches Zeichen langwieriger Seekrankheit und schlechter Ernährung.
»Sie haben mir auf den Felsen geholfen«, sagte Catherine.
»Wie fünfzig anderen auch, ja. Jetzt erzähl mir von dem Mann und deiner Nacht im Wald, Kitty.«
Sie gehorchte; und während sie erzählte, sah sie sich, mit jeder Minute ruhiger werdend, in der sauberen Wohnküche um. Ein Tisch, mehrere hübsche Stühle, eine Arbeitsbank, ein zweiter Tisch, der offensichtlich als Schreibtisch diente, geschmirgelte Wände.
»Ein blonder Mann, dem vier Schneidezähne fehlten?«
»Ja.«
»Tom Jones der Zweite, kein Zweifel.« Er reichte ihr die Schale. »Trink.«
Sie kostete vorsichtig von der Suppe, und ein Ausdruck höchster Wonne ging über ihr Gesicht. Gierig schlürfte sie weiter und hielt ihm dann die leere Schüssel hin.
»Kann ich noch etwas haben, Mr Donovan?«
»Stephen. Später bekommst du mehr, Kitty. Es soll sich erst mal setzen. Bist du häufig seekrank gewesen?«
»Fortwährend«, sagte sie nur.
»Gut, ab morgen putzt du dir jeden Tag mit Asche die Zähne. Sonst fallen sie dir aus. Wenn einem monatelang die Galle hochkommt, werden die Zähne zerfressen, bis nichts mehr von ihnen übrig ist.«
»Es tut mir Leid, wenn ich Ihnen Läuse ins Haus trage.«
»Papperlapapp, Kindchen. Richard besorgt dir neue Kleider. Die hier verbrennen wir. Du solltest dir aber die Haare abschneiden. Nicht ganz, nur stutzen.«
Sie zuckte zusammen, nickte aber gehorsam.
Richard kam zurück, unterm Arm einen kleinen Badezuber aus Zinn mit Kleidern darin. »Olivia Lucas ist ein Schatz«, sagte er, setzte den Zuber ab und nahm die Kleider heraus. »Hat Kitty dir erzählt, was ihr passiert ist?«
»Ja. Es war Tom Jones der Zweite. Irrtum ausgeschlossen.«
Die beiden Männer füllten die Kinderwanne mit heißem und kaltem Wasser, und Kitty sah ihnen verwirrt dabei zu. Sie kamen ihr wie Brüder vor.
»Badest du öfter, Kitty?«, fragte Richard. Eine taktvollere Formulierung war ihm nicht eingefallen. Nach ihrem Äußeren zu urteilen, hatte sie sich womöglich überhaupt noch nie gewaschen.
»Oh ja. Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll, Mr Morgan. Seit ich die Lady Juliana verlassen habe, konnte ich mich nicht mehr richtig waschen. An Bord haben wir uns regelmäßig gewaschen und bekamen keine Läuse. Wenn Sie mir eine Schere geben, schneide ich mir die Haare ab.«
Richard sah sie entsetzt an. »Nicht so schnell! Ich habe einen Kamm mit feinen Zähnen. Damit kämmst du dich so lange, bis du die Läuse los bist. Ich heiße übrigens Richard, nicht Mr Morgan. Woher stammst du, Kitty?«
»Aus Eltham in Kent. Später war ich im Arbeitshaus für Mädchen in Canterbury, und dann als Küchenhilfe auf dem Gut von St. Paul Deptford. In Maidstone kam ich vor Gericht und wurde zu sieben Jahren Deportation verurteilt. Ich hatte in einem Laden Musselin gestohlen.«
»Wie alt bist du?«, fragte Stephen.
»Zwanzig, seit letztem Monat.«
»Zeit zum Baden.« Richard bückte sich und hob den Zuber in die Höhe, als sei er federleicht. »Drüben im Schlafzimmer. Ich gebe dir eine Kerze. Und schrubb dich ab. Gib mir deine Schuhe und wirf deine schmutzigen Kleider aus dem Fenster. Stephen, bring ihr die frischen Sachen, Seife und eine Bürste - los, keine Müdigkeit vorschützen. Wasch dir die Haare, mein Kind, bürste dir die Kopfhaut und dann kämm dich, als hinge dein Leben davon ab.« Er kicherte. »Das Schicksal deiner Haare tut es jedenfalls.«
»Jetzt zu Tom Jones dem Zweiten«, sagte Richard, als sie Kitty sich selbst überlassen hatten. »Was machen wir mit ihm?«
»Überlass ihn mir.« Stephen zündete eine Kerze am Feuer an, dann schöpfte er Fischsuppe in zwei Schalen und brach einen Laib Brot in zwei Teile. »Ich halte es nicht für ratsam, den Major damit zu behelligen, solange Mrs Morgan seine Wirtschafterin ist. Sie erfährt noch früh genug, dass du eine streunende Katze aufgenommen hast. Ein Glück, dass Kitty mit Nachnamen Clark heißt! Ich gehe zu unserem lieben Leutnant Clark und erzähle ihm die Geschichte. Ich mache ihm klar, dass Kitty ein anständiges Mädchen ist. Da sie Clark heißt, wird er mir gerne glauben. Außerdem kann er Tom Jones den Zweiten nicht ausstehen. In dieser Hinsicht beweist er guten Geschmack. Doch ich fürchte, Kittys Habseligkeiten werden wir nicht wieder sehen - Jones hat sie bestimmt schon einer Hure als Gegenleistung für ihre Gefälligkeiten verehrt.«
Richard hob Kittys Schuhe auf und rümpfte die Nase. »Die stinken ja schlimmer als die Bilgen der Alexander.« Er warf sie ins Feuer und wusch sich auf Stephens Arbeitsbank sorgfältig die Hände. »Sieh zu, dass du Leutnant Clark ein Paar neue Schuhe für sie abschwatzt. In den Vorratslagern gibt es zurzeit welche.«
Er setzte sich und aß gierig seine Suppe. »Ich habe sie für eine Katze gehalten«, sagte er unvermittelt.
»Bitte?«
»Kitty. Sie hat im Wald miaut. Es klang nach einer Katze. Ich sah nach, weil ich hoffte, einen neuen Rodney für dich zu finden.«
Stephen sah ihn über den Tisch hinweg an. Das war wieder typisch für Richard! Dachte er eigentlich nie zuerst an sich selbst? Und jetzt dieses arme Mädchen, das ebenso wenig eine Verbrecherin war wie die Jungfrau Maria. Eine Landpomeranze aus dem Arbeitshaus. Was war nur in ihn gefahren? Wieso hatte er sich in sie verliebt? Warum gerade in sie? Er hatte dutzenden von Mädchen und Frauen an Land geholfen, einige davon bildschön, temperamentvoll, geistreich, sogar kultiviert. Nicht jeder weibliche Sträfling war eine Hure. Warum also ausgerechnet Catherine Clark? Verhärmt und reizlos, eine blonde Unschuld vom Land, eine graue Maus ohne Anmut und Witz.
»Nett von dir, dass du daran gedacht hast«, sagte Stephen, »aber Olivia hat mir eins von ihren Kätzchen versprochen, einen orangefarbenen Kater ohne den kleinsten weißen Fleck. Er hat auch schon einen Namen - Tobias.« Seine Schale war leer, und so stand er auf und ging zum Topf, um nachzusehen, ob noch genug für sie beide und Kitty da war. »Hast du jemals solche Augen gesehen?«, fragte er auf dem Weg zum Kamin.
Er hatte sich abgewandt und konnte deshalb nicht sehen, wie Richard zusammenzuckte, doch als er sich wieder umdrehte, lag so viel Leid in den Zügen des Freundes, dass er erschrak.
»Ja«, sagte Richard fest, »ich habe solche Augen schon mal gesehen. Bei meinem Sohn, William Henry.«
»Du hattest einen Sohn, Richard?«
»William Henry, ja. Seine Schwester starb an den Pocken, bevor er auf die Welt kam. Seine Mutter starb völlig unerwartet, als er acht war. Er…er verschwand kurz vor seinem zehnten Geburtstag. Die Leute glaubten, er sei im Avon ertrunken, aber ich glaubte es nicht. Vielleicht sollte ich auch sagen, ich wollte es nicht glauben. Er war mit einem Lehrer seiner Schule zusammen. Der Lehrer erschoss sich später und hinterließ einen Abschiedsbrief, in dem er sich die Schuld an William Henrys Tod gab, was die Verwirrung nur noch größer machte. Ganz Bristol suchte eine Woche lang nach William Henrys Leichnam, aber er wurde nie gefunden. Ich setzte die Suche alleine fort. Am schlimmsten war die Ungewissheit - war er tot, und wenn ja, wie war er gestorben? Der Einzige, der es mir vielleicht hätte sagen können, hatte sich das Leben genommen.«
Umso erstaunlicher, dachte Stephen, dass er mich, eine schamlose Schwuchtel, wie einen Bruder behandelt. Der Lehrer - was für ein Beruf für einen Kinderschänder! - hat sich an ihm vergangen. Da gehe ich jede Wette ein, und Richard weiß es auch. Trotzdem hat er mich mit diesem Kerl nie in einen Topf geworfen. »Erzähl weiter, Richard«, sagte er leise.
»Danach lag mir nichts mehr am Leben. Du kennst ja die Geschichte von dem Steuerbetrug und den Schwindlern, die mich in Gloucester vor Gericht gebracht haben, um mich loszuwerden.« Richard senkte den Kopf und starrte nachdenklich auf den Tisch. »Aber jetzt weiß ich, dass William Henry tot ist. Kittys Augen sind ein Zeichen des Himmels. Sie sind die Antwort auf viele Fragen.«
Stephen weinte. Aus Mitleid mit Richard, aber auch vor Kummer über seinen eigenen Verlust. Auch wenn er sich nie wirklich Hoffnungen auf Richards Liebe gemacht hatte, so hatte er sich doch stets damit trösten können, dass Richard keinem anderen gehöre. Doch das stimmte nicht. Richard gehörte seinen toten Angehörigen, vor allem seinem Sohn, den er für immer verloren glaubte. Bis Gott ihm Catherine Clark sandte, die ihn mit den Augen seines Sohnes ansah. Eine Gunst des Himmels. So schnell konnte es gehen. Ein Blick, ein Lachen, ein Wort, eine Geste, ohne Bedeutung für andere, da die Bedeutung im Einmaligen und Individuellen lag.
»Es freut mich, wenn es dir jetzt leichter ums Herz ist«, sagte Stephen.
Die Schlafzimmertür ging auf, die beiden Männer drehten sich um.
Kitty lächelte feierlich wie ein Kind beim ersten selbstständigen Botengang. In Richards Augen war sie wunderschön, frisch gewaschen vom seidigen Haar bis zu den perlenfarbigen Zehennägeln. Reizend, liebenswert, seine kleine Kitty, für die er bis zu seinem Tod sorgen würde.
Für Stephen war sie nur etwas ansehnlicher als das schmutzige Ding von vorhin - verhärmt und reizlos. Das Lächeln? Gewöhnlich, ein wenig rührselig. Wie verschlungen waren doch die Wege des Schicksals! Ausgerechnet diese graue Maus hatte das Schicksal mit dem einzigen Vorzug auf dieser Welt ausgestattet, der Richard Morgan zu betören vermochte.
»Du brauchst ein Hemd, bevor wir uns dem Augustwind in Sydney Town aussetzen«, sagte Stephen und warf Richard eins zu. »Kitty, deine Schuhe waren so schmutzig, dass wir sie verbrennen mussten. Ich besorge dir so schnell wie möglich neue, aber du musst dich von uns zu Richards Haus tragen lassen.«
»Könnte ich nicht hier bleiben?«
»In einem Haus, in dem es bloß Hängematten gibt? Außerdem erwarte ich später noch Besuch. Fertig?«
Draußen fassten sich Stephen und Richard an der Hand. Kitty hüpfte auf die so gebildete Trage, legte Richard den einen, Stephen den anderen Arm um den Hals, und die beiden Männer trugen sie, jeder eine Fackel in der freien Hand, durch das Tal bis zum Saum des Waldes, an dem Richards Haus stand.
Sie machten Feuer und stapelten Holz neben dem Kamin, dann verabschiedete sich Stephen von Richard, machte eine tiefe Verbeugung vor Kitty und überließ die beiden sich selbst. Er hatte noch zu tun, und morgen früh begann wieder die Arbeit mit den Sträflingen. Ach nein! Morgen war ja Sonntag.
Aus Sorge, Kitty könnte sich auf dem Weg die nackten Füße verletzen, trug Richard sie zum Abtritt und hinterher wieder ins Haus. »Weck mich, falls du in der Nacht noch mal raus musst«, sagte er und legte sie in sein Federbett.
»Und wo schlafen Sie?«, fragte sie.
»Auf dem Fußboden.«
Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch der Schlaf überwältigte sie, ehe ihr ein Wort über die Lippen kam. Richard wusste, dass kein Geräusch der Welt sie jetzt noch wecken konnte. Er schlüpfte aus seinen Kleidern, legte sie in einen Kübel und trug sie hinaus, dann ging er zu seinem Teich und nahm ein Bad, um sich von etwaigen Läusen zu befreien. Bibbernd vor Kälte kehrte er zum Kamin zurück, zog eine alte Hose an, baute sich aus Segeltuch von der Sirius auf dem Fußboden ein Lager und legte sich hin. Zufrieden schloss er die Augen und schlief augenblicklich ein.
John Lawrells Hahn weckte ihn vor dem Morgengrauen. Das Feuer im Kamin glomm noch unter der Asche. Richard blies in die Glut, legte Holz nach und inspizierte seinen Speiseschrank, der nicht besser bestückt war als jeder andere auf Norfolk Island. Ein Großteil der Lebensmittel war noch nicht an Land gebracht worden. Wie üblich hatte man zuerst den Teil der Fracht gelöscht, der in Richards Augen am entbehrlichsten war, Rum und Kleidung. Aber er hatte noch einen Laib Maisbrot, dem der Bäcker gerade so viel wertvolles Weizenmehl beigemischt hatte, dass es genießbar war, und der Garten lieferte Kohl, Blumenkohl, Kresse, dicke Bohnen und das ganze Jahr über Petersilie und Kopfsalat.
Der Morgen dämmerte, die Sonne ging auf. Richard trat ans Bett und sah auf Kitty hinunter. Sie lag noch genauso da wie am Vorabend, und da sie die Lider geschlossen hatte, konnte er sie ruhiger betrachten, als wenn er in William Henrys Augen geblickt hätte. Sie hatte dünne und glatte blonde Haare, hübsche Brauen und Wimpern, eine helle Haut, die nur ein schwaches Rot überglänzte, was vermuten ließ, dass sie nicht oft an Deck gegangen war, eine recht große und knubbelige Nase, einen süßen, rosigen Mund, der ihn an Mary erinnerte, ein vorspringendes Kinn über einem langen, schmalen Hals und zierliche Hände mit spitz zulaufenden Fingern.
Major Ross hielt um acht seinen Gottesdienst ab, und wie King duldete er kein unentschuldigtes Fehlen. Richard musste hingehen, aber Kitty würde niemand vermissen, da sie ja noch nicht im Inselregister eingetragen war. Hätte er sie unvorbereitet mit Lizzie Lock konfrontieren sollen? Keinesfalls! Also ging er zu seinem Bad am Bach, zog seine einzigen, sorgsam geschonten Breeches und Strümpfe an, dazu Rock, Überzieher, Dreispitz und eins seiner beiden verbliebenen Paar Schuhe. Er überlegte hin und her, ob er Kitty eine Nachricht hinterlassen sollte, dann sagte er sich, dass sie wahrscheinlich ohnehin nicht lesen konnte, und so ging er schließlich in der Hoffnung, dass sie nicht vor seiner Rückkehr aufwachte.
»Wie geht’s Kitty?«, fragte ihn Stephen anderthalb Stunden später auf dem Nachhauseweg.
»Schläft.«
»Johnny bringt dir heute Nachmittag ein zweites Bett. Ich fürchte allerdings, dass du Matratze und Kissen mit Stroh ausstopfen musst.«
»Das ist sehr nett von dir.« Richard pfiff MacTavish, der sich vor dem fremden Gast im Haus ins Freie zurückgezogen hatte.
»Ich will versuchen, noch ein paar Lebensmittel zu besorgen, aber vor morgen Mittag wird nichts zu machen sein.«
»Das reicht vollkommen. Jetzt muss ich weiter.«
Stephen klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter. »Richard, du bist eine richtige Glucke.«
»Ich habe ein Küken«, grinste Richard. »Komm, MacTavish.«
 
Inzwischen hatte sich bei dem Hund offenbar ein Sinneswandel vollzogen. Mit einem Satz war er durch die Tür, hüpfte auf Richards Bett und leckte Kittys Arm, der quer über dem Kissen lag. Kitty fuhr erschrocken hoch, erblickte die haarige Hundeschnauze und lächelte.
»Das ist MacTavish«, sagte Richard und nahm den Hut ab. »Hast du gut geschlafen, Kitty?«
»Sehr gut.« Sie setzte sich auf. »Ist es schon so spät? Sie waren schon aus.«
»Im Gottesdienst. Steh auf, dann zeige ich dir mein Bad. Du kannst barfuß gehen, der Boden ist ziemlich weich. Morgen bekommst du wahrscheinlich Schuhe.«
Kitty ging auf den Abtritt, dann folgte sie Richard zu dem kleinen Teich im Wald, an dessen Ufer er Handtuch und Seife bereitgelegt hatte.
»Das Wasser ist kalt, tut aber gut, wenn du erst mal drin bist. Wie ein römisches Bad, tief genug, um unterzutauchen, aber nicht so tief, dass man ertrinken kann. Hinterher gibt es Frühstück. Später wird Mrs Lucas vorbeischauen und fragen, was du brauchst. Aber du wirst wohl mit Sträflingskleidern und derben Schuhen ohne Absätze und Schnallen vorlieb nehmen müssen. Hattest du in deinem Bündel etwas Hübsches zum Anziehen?«
»Nur Sträflingssachen.« Kitty zögerte. »Ich habe doch erst gestern Abend gebadet. Muss ich heute Morgen schon wieder?«
Es wurde Zeit, dass er gewisse Dinge klarstellte. Er setzte eine strenge Miene auf. »Wir sind hier nicht in England. Das Klima ist anders. Du musst im Garten arbeiten und ein Schwein versorgen, Futter suchen oder Maiskolben aus dem Speicher holen. Du wirst ebenso schwitzen wie ich. Deshalb wirst du jeden Abend nach der Arbeit baden. Heute darfst du zweimal baden - einmal genügt nicht, um den Dreck von der Surprize abzuwaschen. Wenn du bei mir wohnen willst, musst du ebenso sauber sein wie ich und mein Haus. Darauf bestehe ich.«
Kitty erbleichte. »Aber hier im Freien kann mich ja jeder sehen.«
»Dieses Land gehört mir, und niemand wagt sich auf mein Land. Gegen einen Mann wie mich nimmt man sich keine Freiheiten heraus.«
Damit ließ er sie allein. Es tat ihm Leid, dass er so streng mit ihr sein musste, aber er war fest entschlossen, ihr einige Grundregeln beizubringen.
 
Kitty befand sich nun am anderen Ende der Welt, doch sie hatte keine Ahnung, wohin genau es sie verschlagen hatte. Nach ihrer Ankunft in Port Jackson war die träge Lady Juliana von Langbooten in Schlepp genommen und weit draußen vor der Küste vertäut werden. Ein eigenartiger, beklemmender Ort! Kaum hatte sie sich an Deck gewagt, kamen nackte Schwarze in einem Rindenkanu längsseits gepaddelt, schwatzten laut durcheinander, fuchtelten mit den Armen und schwangen Speere, sodass sie vor Schreck gleich wieder unter Deck flüchtete und kaum noch die Nase ins Freie steckte.
Und auch Norfolk Island begann wie ein Albtraum. Ein Albtraum, der nur enden würde, wenn sie es sich mit Richard Morgan und Stephen Donovan nicht verdarb. Die beiden erinnerten sie ein wenig an Mr Nicol, den Steward von der Lady Juliana, der ein gutes Herz hatte. Beide waren Freie, wie sie sagten, und beide waren Aufseher. Doch während Richard ihr Furcht einflößte, fühlte sie sich zu Stephen hingezogen. Kitty hatte nicht die leiseste Ahnung, was sie auf der Insel erwartete, doch irgendwie spürte sie, dass die Entscheidung über ihr künftiges Schicksal nicht bei Stephen lag, sondern bei Richard.
Die gewaltigen Tannen am Teich machten ihr Angst, sie konnte nichts Schönes an ihnen finden, und so machte sie sich mit einem tiefen Seufzer auf den Rückweg zum Haus. Im hinteren Teil des Gartens erblickte sie Richard. Nur mit einer Segeltuchhose bekleidet, verband er gerade eine Reihe von Steinen im Boden mit Mörtel. Er hatte kräftige Schultern und Arme, und die glatte Haut auf seinem Rücken wogte wie ein Fluss. Sein Anblick weckte bei Kitty keinerlei zärtliche Gefühle oder weibliches Verlangen. Im Gegenteil, er schüchterte sie ein, und sie fühlte sich in ihrem ersten Eindruck bestätigt, dass Richard eine Respektsperson war, der man Gehorsam schuldete. Außerdem war er alt. Nicht runzlig oder grämlich, nur eben alt. Obwohl er ein starker, schöner Mann war. Aber sie hatte Stephen Donovan zuerst gesehen, und weiter vermochte sie nicht zu sehen.
Stephen! Er war ein Bild von einem Mann - stark und gut gewachsen, dazu jugendlich und unbeschwert, mit leuchtenden Augen und einem strahlenden Lächeln. Und er war sich seiner Wirkung auf Frauen bewusst. Bei ihrer Landung hatte er mit einigen keckeren Frauen gescherzt, über ihre Anspielungen und Anzüglichkeiten aber hinweggesehen, ohne sie zu kränken. Kitty wäre nie in den Sinn gekommen, dass diese erfahrenen Frauen auf den ersten Blick erkannt hatten, woran sie mit ihm waren. Kitty wusste nicht, dass es Menschen gab, die eine Schwäche für das eigene Geschlecht hatten. Arbeitshäuser der anglikanischen Kirche weihten nicht in die Geheimnisse des Lebens ein. Sie bläuten den Kindern Gehorsam ein, nutzten sie nach Kräften aus, solange sie jung waren, und entließen sie dann ins Leben, damit sie als kümmerlich entlohnte Dienstboten und Analphabeten ihr Dasein fristeten, überzeugt vom eigenen Unwert und in völliger Unkenntnis dessen, was in der großen weiten Welt vorging. Natürlich hatte Kitty im Gefängnis Ausdrücke wie warmer Bruder oder Hinterlader gehört, doch sie hatten ihr nichts gesagt. Und dass es auch Frauen gab, die sich zum eigenen Geschlecht hingezogen fühlten, und solche Frauen neben ihr auf der Lady Juliana gelebt hatten, war ihr gleichfalls entgangen…
Stephen, Stephen, Stephen… Ach, warum hatte nicht er sie gefunden? Warum durfte sie nicht in seinem Haus wohnen? Und was wollte Richard von ihr?
Richard richtete sich auf und streifte ein Hemd über. »War es sehr schlimm?« Er hielt ihr augenzwinkernd die Tür auf.
»Nein, Sir, das Bad hat gut getan.«
»Richard. Nenn mich einfach nur Richard.«
»Das wäre ungehörig«, sagte Kitty. »Sie könnten mein Vater sein.«
Zum ersten Mal bemerkte sie einen Zug an ihm, der ihr später noch häufig auffallen sollte. Er blieb äußerlich völlig ungerührt, verzog keine Miene, machte keine unpassende Geste, und doch ging etwas in ihm vor, etwas Geheimnisvolles, das sich den Blicken entzog.
»Ich bin in der Tat alt genug, um dein Vater zu sein. Trotzdem bin ich für dich einfach nur Richard. Auf Förmlichkeiten legen wir hier keinen Wert, wir haben Wichtigeres zu tun. Ich bin keiner von deinen Wärtern, Kitty. Ich bin ein freier Mann, gewiss, aber bis vor kurzem war ich Sträfling wie du. Nur guter Arbeit und einem glücklichen Geschick habe ich es zu verdanken, dass ich begnadigt wurde.« Er führte sie zum Tisch und gab ihr Maisbrot, Salat, Kresse und Wasser.
»War Stephen auch Sträfling?«, fragte sie, gierig essend.
»Nein, nie. Stephen ist Schiffsmaat.«
»Sind Sie schon lange befreundet?«
»Eine kleine Ewigkeit.« Richard stopfte sich das Hemd in die Hose, nahm Platz und fuhr sich nervös durch das kurz geschnittene Haar. »Weißt du eigentlich, warum du hier bist?«
»Was gibt es da zu wissen?«, fragte sie verdutzt. »Ich bin hier, um zu arbeiten, bis ich meine Strafe abgebüßt habe. Zumindest hat das der Richter bei meiner Verhandlung gesagt.«
»Hast du dich nie gefragt, warum man dich und die zweihundert anderen Frauen auf Schiffe verfrachtet und hierher gebracht hat? Und warum ihr hier, sechzehntausend Meilen von England entfernt, eure Strafe abbüßen sollt? Findest du das nicht merkwürdig? Hier gibt es weder Arbeitshäuser noch Fabriken.«
Kittys Hand, die eben nach einem Stück Brot greifen wollte, fiel schlaff in ihren Schoß. Ihre Augen weiteten sich. »Natürlich«, sagte sie langsam. »Aber natürlich. Wie konnte ich nur so blöd sein! Am anderen Ende der Welt gibt es keine Arbeitshäuser und keine Fabriken. Und keine Herrenwesten zum Besticken…Das musste ich nämlich im Arbeitshaus in Canterbury tun. Wollen Sie sagen, dass man uns als Ehefrauen für die Sträflinge hierher geschickt hat?«
Richard kniff die Lippen zusammen. »Sagen wir, um den Sträflingen das Leben etwas annehmlicher zu gestalten. Das kommt der Sache näher. Ich behaupte nicht, die offiziellen Gründe zu kennen. Ich weiß nur, dass man sehr viele Männer hierher gebracht hat, die sonst vielleicht zu einer öffentlichen Gefahr geworden wären. In England hat es Meutereien gegeben. Männer, die nichts zu verlieren haben, sind aufs Land geflüchtet. Wenn sie hier, am anderen Ende der Welt, rebellieren oder flüchten, kann das England egal sein. Hier stellen sie keine Bedrohung dar. Die einzigen Menschen, die es zu schützen gilt, sind die Wärter und ihre Familien.« Er hielt inne und sah ihr in die Augen. »Ohne Frauen sinken Männer auf die Stufe von Tieren herab. Deshalb sind Frauen bei diesem Experiment unverzichtbar, und ich für mein Teil bin davon überzeugt, dass der Sinn dieses Experiments darin besteht, das andere Ende der Welt in ein riesiges englisches Gefängnis zu verwandeln.«
Kitty hatte ihm mit gerunzelter Stirn gelauscht und versuchte, das Gehörte zu verdauen. Wenn sie ihn richtig verstand, hatte man sie nur hierher gebracht, um die Männer zu bändigen. »Wir sind die Huren der Männer«, sagte sie. »Haben uns die Seeleute der Lady Juliana deshalb als Huren beschimpft? Und nicht weil sie glaubten, wir seien wegen Prostitution verurteilt worden? Das hätte mich auch gewundert. Die meisten von uns sind nämlich wegen Diebstahls verurteilt worden. Und Prostitution ist kein Verbrechen. Sagen jedenfalls ein paar von den Frauen. Sie wurden immer böse, wenn die Seeleute sie Huren nannten. Aber die Männer meinten es anders. Sie meinten, dass wir Huren werden, habe ich Recht?«
Richard verdrehte die Augen und seufzte. »Nun ja«, sagte er schließlich und lächelte müde, »würde meine Tochter noch leben, wäre sie ungefähr in deinem Alter. Und genauso unschuldig - als guter Vater hätte ich dafür gesorgt. Aus was für Verhältnissen kommst du, Kitty? Was waren deine Eltern?«
»Mein Vater war Gutspächter in Eltham«, sagte sie stolz mit erhobenem Kinn. »Meine Mutter starb, als ich zwei war, und mein Vater stellte eine Frau ein, die sich um mich kümmerte. Er starb, als ich fünf war. Da er keinen Erben hatte, fiel die Farm an den Gutsherrn zurück. Ich kam in die Obhut der Gemeinde, und die schickte mich nach Canterbury.«
»Warst du das einzige Kind?«
»Ja. Wäre Papa nicht gestorben, hätte ich lesen und schreiben gelernt und später wohl einen Farmer geheiratet.«
»Stattdessen bist du ins Armenhaus gekommen und hast nie lesen und schreiben gelernt«, sagte Richard sanft.
»So ist es. Ich hatte geschickte Finger und scharfe Augen, also musste ich sticken. Aber das kann man nicht ewig machen. Für Erwachsenenhände ist die Arbeit zu fein. Sie behielten mich, bis ich siebzehn war, doch dann begann ich plötzlich zu wachsen, und so schickten sie mich als Küchenhilfe nach St. Paul Deptford.«
»Wie lange warst du dort?«
»Bis zu meiner Verhaftung. Drei Monate.«
»Wie kam es zu deiner Verhaftung?«
»Das Gut hatte vier Dienstmädchen - Betty, Annie, Mary und mich. Mary und ich waren gleich alt, Annie war sechzehn, Betty fünfundzwanzig. Die Herrschaften wurden ganz plötzlich nach London gerufen, und die Köchin schloss sich in der Mansarde ein. Betty hatte Geburtstag, und so schlug sie vor, gemeinsam einen Bummel durch die Geschäfte zu machen. Ich war noch nie in einem Geschäft gewesen.«
Oh, wie schrecklich! Richard saß da wie der Aufseher im Arbeitshaus und lauschte ohne erkennbare Regung ihrer albernen Geschichte. Und albern war sie allemal - zu albern, um sie dem Gericht in Kent zu erzählen. Aber das Gericht hatte sie ohnehin nicht hören wollen.
»Bist du während deiner Zeit im Arbeitshaus nie ausgegangen?«
»Nein, nie.«
»Aber in St. Paul Deptford hattest du doch sicherlich hin und wieder einen freien Tag?«
»Einmal in der Woche einen halben Tag, aber nie mit den anderen Mädchen zusammen, deshalb ging ich allein über die Felder spazieren. Das hätte ich wohl auch an Bettys Geburtstag getan, aber sie hat mich ausgelacht und ein Bauerntrampel genannt, weil ich noch nie in einem Geschäft war, also bin ich mitgegangen.«
»Und dann? Bist du in einem Geschäft in Versuchung geraten?«
»So muss es wohl gewesen sein«, antwortete Kitty unsicher. »Betty nahm eine Flasche Gin mit, und wir tranken im Gehen. Ich erinnere mich nicht mehr an die Geschäfte, oder dass ich in einem drin war - nur an Männer, die uns anbrüllten und einsperrten.«
»Was hast du gestohlen?«
»Musselin, hieß es vor Gericht, und in einem zweiten Geschäft kariertes Leinen. Ich weiß nicht, warum wir das gestohlen haben - die Kleider, die wir anhatten, waren aus dem gleichen Stoff. Zehn Meter Musselin im Wert von vier Shilling und sechs Pennys, meinte das Gericht, obwohl der Ladenbesitzer ständig brüllte, der Stoff sei drei Guineen wert. Wegen des Leinens wurde keine Anklage erhoben.«
»Hast du öfter Gin getrunken?«
»Nein, es war das erste Mal. Für Mary und Annie auch.« Kitty schauderte. »Ich trinke nie wieder Gin, so viel steht fest.«
»Seid ihr alle verurteilt worden?«
»Ja, zu sieben Jahren Deportation. Gleich nach der Verhandlung brachte man uns auf die Lady Juliana. Ich nehme an, dass auch die anderen hier irgendwo sind. Es ist nur so, dass ich ständig seekrank war. Die anderen konnten mich nicht mehr ertragen und haben deshalb nicht auf mich gewartet. Und auf der Surprize war es dunkel.«
Richard stand abrupt auf, kam um den Tisch herum und legte Kitty die Hand auf die Schulter. »Ist schon in Ordnung, Kitty, wir sprechen nie wieder darüber. Nur die englische Gemeindefürsorge kann aus einer jungen Frau ein Kind machen, wie du es bist.«
MacTavish, der zum Frühstück zwei Ratten verspeist hatte, kam ins Zimmer gesprungen. Richard tätschelte Kitty, dann den Hund und nahm wieder Platz. »Es wird Zeit, dass du erwachsen wirst, Catherine Clark. Nicht damit du deine Unschuld verlierst, sondern damit du sie behältst. Wie du weißt, gibt es hier keine Landgüter oder Arbeitshäuser. In Port Jackson wärst du ins Frauenlager gekommen, aber Major Robert Ross, der Kommandant auf Norfolk Island, lehnt es ab, die Frauen abzusondern. Und aus gutem Grund. Das würde alles nur noch schlimmer machen. Jeder Mann, der ein Haus oder eine Hütte besitzt, soll eine Frau von der Surprize bei sich aufnehmen. Einige kommen allerdings auch zu Frauen wie Mrs Lucas, um ihnen im Haushalt zu helfen, andere sollen sich um das leibliche Wohl der Offiziere und Mannschaften kümmern, wieder andere werden den Leuten von der Sirius zugeteilt.«
Kitty erbleichte. »Und ich gehöre Ihnen.«
Richard lächelte beschwichtigend. »Ich bin kein Unhold, Kitty, und ich habe auch nicht die Absicht, dich mit Liebeswerbungen zu bedrängen. Ich will dich als Hausgehilfin behalten. Und ich werde so bald wie möglich ein Zimmer anbauen, damit jeder von uns ungestört sein kann. Dafür erwarte ich, dass du willig mitarbeitest. Ich baue gerade einen Stall für das Schwein, das ich von Major Ross bekommen werde, und es wird zu deinen Pflichten gehören, es zu versorgen. Außerdem kümmerst du dich um das Haus, die Hühner, wenn sie endlich da sind, und den Gemüsegarten. Ein Mann namens John Lawrell bestellt das Getreidefeld und nimmt dir die schweren Arbeiten ab. Die anderen Leute betrachten dich als mein Eigentum, mehr Schutz brauchst du nicht.«
»Und ich darf mir nicht aussuchen, zu wem ich will?«, fragte sie.
»Wenn du es könntest, zu wem wolltest du denn?«
»Zu Stephen«, antwortete sie einfach.
Seine Miene und sein Blick blieben unverändert, doch sie spürte, dass etwas in ihm vorging. In unverändertem Ton sagte er: »Unmöglich, Kitty. Schlag dir Stephen aus dem Kopf.«
 
Noch am selben Tag bekam Richard ein eigenes Bett, das wie das von Kitty aus einem Holzgestell mit quer gespannten Seilen bestand. Kurz nach Einbruch der Dunkelheit schickte er Kitty schlafen, dann setzte er sich mit einer Kerze an den Tisch, legte ein Buch auf das Lesepult und begann zu lesen. Welches Verbrechen er auch begangen haben mochte, dachte Kitty schläfrig, er hatte eine gute Erziehung genossen. Nicht einmal der Herr auf St. Paul Deptford hatte so feine Manieren.
 
Am Montagmittag sah sie Richard nur kurz. Er war gleich nach Tagesanbruch zur Arbeit in die Sägegruben gegangen. Später kam er mit einem Paar Schuhe für sie nach Hause, schlang hastig ein kaltes Mittagessen hinunter und arbeitete dann am Schweinestall weiter, der rasch Gestalt annahm. Der Stall war etwa zwanzig auf zwanzig Fuß groß und bestand aus Holzpfählen, die Richard auf das Steinfundament setzte.
»Schweine wühlen gern«, erklärte er ihr. »Mit einem einfachen Zaun wie bei Schafen oder Rindern ist es deshalb nicht getan. Außerdem brauchen sie Schatten, denn in der prallen Sonne gehen sie ein. Ihre Exkremente stinken, aber Schweine sind saubere Tiere und machen ihr Geschäft immer in dieselbe Ecke. Ein guter Dung, der sich leicht einsammeln lässt.«
»Muss ich den Stall ausmisten?«, fragte Kitty.
»Ja.« Er sah auf und grinste sie an. »Du wirst noch froh sein, dass du hier baden kannst.«
Am Abend kam er nicht nach Hause. Mit ihrer Lebensmittelzuteilung könne sie tun, was ihr beliebe, hatte er gesagt. Er sei es gewohnt, selbst für sich zu sorgen, und er esse hin und wieder bei Stephen, der ein eingefleischter Junggeselle sei und keine Frauen in seinem Haus wünsche. Nach dem Essen spiele er mit ihm Schach. Sie solle also nicht auf ihn warten und ins Bett gehen, wenn es dunkel werde.
Kitty mochte naiv sein, aber das fand sie doch merkwürdig. Stephen kam ihr überhaupt nicht wie ein eingefleischter Junggeselle vor. Obwohl, wenn sie es recht bedachte, hatte sie eigentlich keine Ahnung, wie sich ein eingefleischter Junggeselle benahm. Sie wusste nur, dass Männer die Gesellschaft anderer Männer genossen und sich durch die Anwesenheit von Frauen gestört fühlten.
Am Dienstag erschien ein Seesoldat und brachte sie nach Sydney Town, wo sie den Mann identifizieren sollte, der sie belästigt und ausgeraubt hatte. Richards Haus bot nur einen begrenzten Ausblick auf die Umgebung, und so staunte Kitty auf dem Weg durch Arthur’s Vale nicht wenig, als sich eine weite Landschaft vor ihnen auftat. Im Grund des Tales und an den Hängen zu beiden Seiten wogten grüne Weizen- und Maisfelder, an deren Raine sich vereinzelte Häuser, Scheunen und Schuppen schmiegten. Dann, ganz plötzlich, endete das Tal, und sie betrat eine größere Siedlung mit sauberen, von Holzhäusern und Hütten gesäumten baumlosen Straßen, begrenzt durch einen leuchtend grünen Sumpf, hinter dem, am Fuß der Hügel, einige größere Gebäude aufragten. Sie kamen auch an Stephen Donovans Haus vorbei, doch Kitty erkannte es nicht wieder.
Zwei Offiziere - Kitty konnte Seesoldaten von Landsoldaten nicht unterscheiden - erwarteten sie vor einem großen, zweistöckigen Gebäude, der Kaserne der Marineinfanterie, wie sie später erfuhr. Eine Gruppe männlicher Sträflinge stand in einer Reihe davor. Sie waren mit Hemden bekleidet, während die Offiziere vorschriftsgemäß Perücke, Säbel und Dreispitz trugen.
»Miss Clark?«, fragte der ältere Offizier und durchbohrte sie mit seinen hellgrauen Augen.
»Ja, Sir«, wisperte sie.
»Sie wurden am dreizehnten August auf der Straße von Cascade von einem Mann angesprochen?«
»Ja, Sir.«
»Er versuchte, Ihnen Gewalt anzutun, und zerriss Ihr Kleid?«
»Ja, Sir.«
»Sie flüchteten in den Wald?«
»Ja, Sir.«
»Was tat der Mann dann?«
Mit glühenden Wangen und großen Augen antwortete sie: »Zuerst hatte es den Anschein, als wollte er mich verfolgen, dann hörten wir Stimmen. Er packte mein Bündel und rannte davon.«
»Sie verbrachten die Nacht im Wald, richtig?«
»Ja, Sir.«
Major Ross wandte sich an Leutnant Ralph Clark, der, seit er die Geschichte von Stephen Donovan gehört und sich von Richard Morgan hatte bestätigen lassen, darauf brannte, seine Namensvetterin kennen zu lernen, und nun mit Erleichterung feststellte, dass sie keine Hure war. Kitty war ein ebenso unschuldiges Ding wie Miss Mary Branham, die, auf der Lady Penrhyn von einem Matrosen geschändet, in Port Jackson einen Jungen zur Welt gebracht hatte und anschließend mit der Sirius nach Norfolk Island geschickt worden war, um in der Offiziersmesse zu arbeiten. Dort war er auf sie aufmerksam geworden. Sie war anbetungswürdig schön, fast wie seine geliebte Betsy. Und nun, da er Betsy und den kleinen Ralphie wohlbehalten in England wusste und obendrein ein bequemes Haus ganz für sich allein hatte, überlegte er, ob er Mary nicht zu sich nehmen sollte. Bei ihm hätte sie gewiss weniger Arbeit als in der Offiziersmesse. Marys Sohn lernte jetzt laufen und fiel ihr ziemlich zur Last. Ja, er würde Mary einen großen Gefallen tun, wenn er sie zu sich holte. Natürlich würde er dieses Arrangement in dem Tagebuch, das er für die geliebte Betsy schrieb, nicht erwähnen. Es durfte nichts enthalten, was sie schockieren oder beunruhigen könnte. Abfällige Bemerkungen über Huren mochten noch hingehen, doch Teilnahme an einem weiblichen Sträfling war definitiv nicht erlaubt.
Gut, gut. Zu einer gemeinsamen Zukunft mit Mary Branham entschlossen, sah er den Major an.
»Leutnant Clark, würden Sie mit Miss Clark bitte die Reihe abschreiten, um festzustellen, ob der Schurke darunter ist«, sagte Ross. Er hatte alle Sträflinge, die schon einmal bestraft worden waren, antreten lassen.
Leutnant Clark führte Kitty unter beruhigenden Worten die Reihe entlang und wieder zu seinem Vorgesetzten zurück.
»Ist er dabei?«, bellte Ross.
»Ja, Sir.«
»Welcher ist es?«
Sie deutete auf den Mann mit den Zahnlücken. Beide Offiziere nickten.
»Haben Sie vielen Dank, Miss Clark. Der Seesoldat wird Sie nach Hause begleiten.«
Das war alles. Kitty eilte davon.
»Tom Jones der Zweite«, sagte der Soldat, der sie begleitete. »Das hat Mr Donovan auch gesagt.«
»Mr Donovan kennt sie alle.«
»Er ist sehr nett«, sagte Kitty traurig.
»Ja, nicht übel für einen warmen Bruder. Nicht so ein Weichling. Ich habe gesehen, wie er mit den bloßen Fäusten einen Mann auseinander genommen hat, der größer war als er. Kann ziemlich unangenehm werden, wenn man ihn reizt, unser Mr Donovan.«
»Ziemlich«, stimmte Kitty bereitwillig zu. Tom Jones hatte sie über dem Gedanken an Stephen Donovan schon bald vergessen.
Richard ging auch weiterhin abends aus, und nicht nur, um mit Stephen Schach zu spielen. Er besuchte Freunde wie die Familie Lucas, einen Mann namens George Guest oder den Seesoldaten Daniel Stanfield. Am meisten kränkte Kitty, dass diese Freunde niemals auch sie einluden. Offenbar war sie auch in ihren Augen lediglich Richards Hausgehilfin. Sie sehnte sich nach einer Freundin, doch von Netty und Mary hatte sie keine Nachricht, und Annie war tatsächlich bei der Familie Lucas untergekommen. Die erste Begegnung mit John Lawrell, Richards anderem Gehilfen, war sehr unerfreulich verlaufen. Lawrell hatte sie wütend angefunkelt und ihr befohlen, die Finger vom Geflügel und Getreide zu lassen.
So kam es, dass Kitty, als sie eine weibliche Gestalt den Weg zwischen den Gemüsebeeten herauftrippeln sah, nur allzu gern bereit war, die Besucherin mit ihrem freundlichsten Lächeln und einem Knicks zu begrüßen. Die Frau war eine höchst imposante Erscheinung, wenn auch auf eine etwas vulgäre Art. Sie trug ein rot-schwarz gestreiftes Kleid, ein rotes Umhängetuch aus Seide mit langen Fransen, hochhackige Schuhe mit funkelnden Schnallen und einen ausladenden schwarzen Samthut mit wippenden roten Straußenfedern.
»Guten Tag, Madam«, grüßte Kitty.
»Auch Ihnen einen guten Tag, Miss Clark, denn so heißen Sie doch wohl«, sagte die Besucherin, rauschte ins Haus und sah sich nicht ohne Bewunderung um. »Er hat treffliche Arbeit geleistet, was? Und mehr Bücher denn je. Lesen, lesen, lesen! Typisch Richard.«
»Aber nehmen Sie doch Platz«, sagte Kitty und deutete auf einen Stuhl.
»So wohnlich wie beim Major«, sagte die rot-schwarz gestreifte Person. »Ich staune. Richard hat das Glück gepachtet. Er ist wie eine Katze. Fällt immer auf die Füße.« Sie musterte Kitty mit kleinen dunklen Augen unverhohlen von Kopf bis Fuß und kräuselte die schwarzen Brauen. »Ich habe mir nie eingebildet, besonders gut auszusehen«, meinte sie nach der Inspektion, »aber ich verstehe mich wenigstens anzuziehen. Sie sind dürr wie ein Besenstiel, Kindchen.«
Kitty fiel die Kinnlade herunter. »Wie bitte?«
»Sie haben genau verstanden. Dürr wie ein Besenstiel.«
»Wer sind Sie?«
»Ich bin Mrs Richard Morgan. Was sagen Sie dazu?«
»Was soll ich dazu sagen?«, erwiderte Kitty, als sie wieder zu Atem gekommen war. »Ich freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Mrs Morgana.«
»Herrje!«, rief Mrs Morgan. »Was ist bloß mit Richard los!«
Kitty wusste nicht, was mit Richard los war, deshalb schwieg sie.
»Sind Sie nicht seine Geliebte?«
»Ach so!« Kitty schüttelte empört den Kopf. »Wie dumm von mir. Ich hätte nie gedacht…«
»Ja, dumm trifft den Nagel auf den Kopf. Sie sind also nicht seine Geliebte?«
Kitty reckte das Kinn. »Ich bin seine Bedienstete.«
»Oho! Auch noch stolz!«
»Wenn Sie Mrs Richard Morgan sind«, erwiderte Kitty, die sich über den Spott der Besucherin ärgerte und deshalb mutiger wurde, »warum wohnen Sie dann nicht hier? Wenn Sie im Haus wären, bräuchte er kein Mädchen.«
»Ich wohne nicht hier, weil ich es nicht will«, erwiderte Mrs. Morgan hochmütig. »Ich arbeite als Wirtschafterin bei Major Ross.«