TEIL SECHS
Oktober 1788 bis Mai 1791
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Die Frauen wurden angewiesen, unten zu
bleiben, die Männer brachten ihre Habseligkeiten schon vor
Tagesanbruch an Deck und warteten nun darauf, im ersten Morgenlicht
die Insel Norfolk auftauchen zu sehen. Der Sonnenaufgang war ein
überwältigendes Schauspiel. Das Wolkengebirge am Himmel verfärbte
sich von einem purpurn gesprenkelten Pflaumenblau zu einem
glühenden Scharlachrot und glänzte schließlich wie pures
Gold.
In der Nacht hatte das Schiff einige Meilen von der
Küste entfernt vor Anker gelegen, erst jetzt ging es wieder unter
Segel. Captain Sharp war noch nie auf der Insel gewesen und wollte
kein Risiko eingehen. Harry Ball von der Supply hatte ihm
den Navigationsoffizier der Supply, Leutnant David
Blackburn, ausgeliehen, der die Riffe, Felsen und Untiefen vor der
Küste kannte wie seine Westentasche.
Geblendet von der tief am Himmel stehenden Sonne,
sah Richard nur einen dunklen Strich - das musste die Insel sein,
die laut Donovan drei auf fünf Meilen groß war. Wie Teneriffa sah
sie jedenfalls nicht aus. Dann leuchtete sie plötzlich
schwärzlich-grün in der Sonne auf, gesäumt von 300 Fuß hohen,
rostfarbenen und schwarzen Klippen. Trotzdem wirkte die Insel nicht
düster und unheimlich, denn das tiefblaue Wasser hellte sich zur
Küste hin zu einem strahlenden Aquamarin auf.
Sie segelten in einer schwachen Brise, die zuerst
von Südwesten, dann von Nordosten kam, nach Osten. Der großen Insel
vorgelagert waren zwei weitere Inseln: ein kleines, mit Tannenwald
bedecktes Eiland in Küstennähe und rund vier Meilen weiter südlich
eine größere, bergige Insel, die abgesehen von ein paar in
Gruppen zusammenstehenden dunklen Tannen saftig grün war. Weiße
Wellen brachen sich am Fuß der vielen Klippen und brandeten gegen
eine Art Barre, auf die sie zufuhren, doch das Meer war ganz
ruhig.
In einiger Entfernung von dem gischtgesäumten Riff
warf die Golden Grove Anker. Jenseits des Riffs glitzerte
eine blau-grüne Lagune mit zwei Stränden, einem halbkreisförmigen
im Osten und einem lang gestreckten im Westen. Der Sand war
aprikosengelb und ging in einen Tannenwald über, der von Menschen
gelichtet worden war. Dort standen die größten Bäume, die Richard
je gesehen hatte. Zwischen ihnen duckten sich ein paar
Holzhütten.
Eine große blaue Fahne mit einem gelben Kreuz hing
an einer Fahnenstange in der Nähe des lang gestreckten Strandes, an
dem in diesem Augenblick Menschen in zwei kleine Boote kletterten.
Die Jolle der Golden Grove wurde zu Wasser gelassen.
Inzwischen war Flut, sodass die Jolle das Riff überqueren konnte.
Weiter durften die großen Beiboote nicht fahren, erklärte Leutnant
Blackburn. Hinter dem Korallenriff würde die Fracht auf kleine
Flachboote umgeladen, die sie dann zum Strand brächten.
Eines der beiden kleinen Boote näherte sich dem
Schiff. In seinem Bug stand ein Mann, der eine blau-weiße Uniform
mit Goldtressen, eine gepuderte Perücke und an der Seite einen
Säbel trug. Er kam an Bord und schüttelte Captain Shairp die Hand.
Dann begrüßte er Blackburn, Donovan und Livingstone ebenso
herzlich. Das musste der Kommandant der Insel sein, Leutnant Philip
Gidley King, den Richard noch nie zu Gesicht bekommen hatte. King
war ein gut gebauter Mann mittlerer Größe. Sein gebräuntes Gesicht
mit den funkelnden, haselnussbraunen Augen, dem festen,
freundlichen Mund und der großen, aber nicht unförmigen Nase war
weder schön noch hässlich.
Nach dem Austausch der Höflichkeiten wandte King
sich an die Sträflinge. »Wer von Ihnen kann mit einer Säge
umgehen?«
Richard und Bill Blackall hoben zögernd die
Hand.
King machte ein langes Gesicht. »Mehr nicht?« Er
schritt die Reihe der einundzwanzig Männer ab und blieb vor dem
großen und kräftigen Henry Humphreys stehen. »Vortreten«, forderte
er
ihn auf. Dann ging er weiter, bis er zu Will Marriner kam, der
ebenfalls stark aussah. »Sie auch.«
Nun waren sie zu viert.
»Hat einer von Ihnen schon als Säger
gearbeitet?«
Keiner antwortete. Richard unterdrückte einen
Seufzer, weil wieder einmal er sprechen musste, um zu verhindern,
dass die Gruppe sich durch ihr Schweigen den Zorn des Offiziers
zuzog.
»Nein, Sir. Blackall und ich wissen zwar, wie es
geht, aber keiner von uns hat je als Säger gearbeitet. Ich bin
eigentlich Sägenschleifer.«
»Und Büchsenmacher, Herr Leutnant«, warf Donovan
schnell ein.
»Aha! Für einen Büchsenmacher habe ich nicht genug
Arbeit, aber für einen Sägenschleifer umso mehr. Wie heißen
Sie?«
Sie nannten ihre Namen und Häftlingsnummern.
»Nummern sind an einem Ort mit so wenigen Menschen
unnötig. Morgan und Blackall, Sie weisen Humphreys und Marriner in
der Sägegrube ein. Sie fahren sofort zum Strand und machen sich an
die Arbeit. Wir müssen die Golden Grove mit Holz für Port
Jackson beladen, und da ich meinen einzigen Säger bei einem
Bootsunfall verloren habe, muss noch viel Holz zugeschnitten
werden. Die Sägen sind stumpf, sie müssen sofort geschliffen
werden, Morgan. Haben Sie Werkzeuge? Wir haben nur zwei
Feilen.«
»Ich habe alle nötigen Werkzeuge, Sir«, sagte
Richard. Dann stellte er gleich noch eine Bitte, um zu verhindern,
dass er Mitarbeiter zugeteilt bekam, die er nicht kannte oder denen
er nicht vertraute. »Sir, könnte ich wohl Joseph Long mitnehmen? Er
ist zwar weder besonders stark noch besonders helle, aber er tut,
was man ihm sagt, und kann uns helfen.«
Der Kommandant sah Joey an und dann den Hund auf
seinem Arm. »Was für ein schöner Hund!«, rief er. »Ein Männchen,
Long?«
Joey nickte wortlos. Er war bisher immer nur
angeschnauzt und herumkommandiert worden. Noch nie hatte ein
Offizier mit ihm gesprochen wie mit einem Menschen.
»Großartig! Wir haben nur einen Hund hier, ein
Spanielweibchen. Jagt Ihrer Ratten?«
Joey nickte wieder.
»Dann haben wir ja verdammtes Glück! Delphinia jagt
auch Ratten. Wir werden also Welpen bekommen, die Ratten jagen -
und die brauchen wir hier dringend!« King merkte, dass die fünf
immer noch wie gebannt dastanden und ihn anstarrten. »Worauf wartet
ihr? Steigt in das Boot!«
Sie stiegen in das von zwei Ruderern bemannte
Boot.
»Wir freuen uns, ein paar neue Gesichter zu sehen«,
sagte einer der Ruderer, ein Mann in den Fünfzigern, im
schleppenden Dialekt von Devon. »John Mortimer von der
Charlotte.« Er deutete mit dem Kopf auf den anderen. »Mein
Sohn Noah.«
Die beiden sahen überhaupt nicht wie Vater und Sohn
aus. John Mortimer war groß und blond und wirkte gutmütig, Noah
Mortimer war klein und dunkelhaarig und - seinem Gesichtsausdruck
nach zu urteilen - ziemlich von sich eingenommen.
Das Flachboot, klinkergebaut wie ein schottisches
Fischerboot, glitt über das Riff, ohne es auch nur zu streifen, und
dann über die Lagune zu dem nur knapp hundertundvierzig Meter
entfernten Strand, wo einige der noch lebenden Inselbewohner sie
schon erwarteten: sechs Frauen, von denen die älteste hochschwanger
war, und fünf Männer verschiedenen Alters - wenn sie wirklich so
jung oder alt waren, wie sie aussahen.
»Nathaniel Lucas, Schreiner«, stellte ein Mann in
den Dreißigern sich vor. »Das ist meine Frau Olivia.«
Ein schönes, intelligent wirkendes Paar.
»Ich bin Eddy Garth und das ist meine Frau Susan«,
sagte ein anderer.
»Ich heiße Ann Innet und bin die Haushälterin von
Leutnant King«, sagte die älteste der Frauen und hielt eine Hand
ein wenig trotzig vor ihren dicken Bauch.
»Elisabeth Colley, Haushälterin von Doktor
Jamison.«
»Eliza Hipsley, Landarbeiterin«, sagte ein hübsches
dralles Mädchen, das den Arm um ein anderes Mädchen gleichen Alters
gelegt hatte. »Das ist meine beste Freundin Liz Lee. Sie ist auch
Landarbeiterin.«
Bei diesem Paar weiß ich zumindest, woran ich bin,
dachte
Richard. Nur ein Blinder würde dieser Eliza Hipsley nicht ansehen,
dass die Ankunft so vieler neuer Männer ihr Angst macht. Bestimmt
werden die beiden von Männern wie Len Dyer und Tom Jones belästigt.
Er gab den Mädchen mit einem freundlichen Lächeln zu verstehen,
dass er ein Verbündeter war.
Der einzige anwesende Seesoldat hatte es wie einige
Männer nicht für nötig befunden, sich vorzustellen. »Leutnant King
hat uns befohlen, gleich mit der Arbeit zu beginnen«, sagte Richard
zu ihm. »Darf ich Sie bitten, uns die Sägegrube zu zeigen?«
Das Haus von Leutnant King war etwas größer als
die anderen und lag auf einem kleinen Hügel direkt hinter der
blau-gelben Signalflagge. An einer zweiten Fahnenstange näher am
Haus hing schlaff ein Union Jack. Das Haus hatte wahrscheinlich
drei kleine Zimmer und eine Dachstube. Die Hütte dahinter war
offenbar die Küche. Daneben gab es noch eine gemeinschaftliche
Kochstelle mit einem Backofen und eine Schmiede. Ein paar kleinere
Schuppen dienten offenbar als Vorratslager; sie waren höchstens
zehn auf acht Fuß groß. Auf einer weiteren Anhöhe im Osten
erstreckten sich einige Felder, zu denen die Frauen einschließlich
der schwangeren Ann Innet nun zurückeilten. Zwischen den beiden
Hügeln standen im Schutz der Tannen vierzehn Holzhütten,
fachmännisch gedeckt mit den fasrigen Stängeln einer Pflanze. Die
dem Meer zugewandten Wände hatten weder Fenster noch Türen. Die
Eingänge der Hütten mussten auf der Rückseite liegen.
Die Sägegrube lag nicht weit vom Strand entfernt am
Ende eines in den Tannenwald führenden Weges. Um die Grube war ein
Streifen gerodet worden, auf dem dutzende zwölf Fuß langer
Baumstämme lagen. Der schmalste hatte einen Durchmesser von fünf
Fuß. Richard wäre zu gerne stehen geblieben, um die gewaltigen
Stämme, die er zu Balken und Brettern zersägen sollte, näher zu
betrachten, doch er wagte es nicht. King hatte befohlen, sofort mit
der Arbeit anzufangen, und der Seesoldat, der sich inzwischen
widerwillig als Heritage vorgestellt hatte, schien Sträflinge nicht
zu mögen.
Zwei Mastbäume und eine Spiere waren schon
zugeschnitten
und beiseite gelegt worden, neben einen Stapel fertiger Planken.
Sie und die Masten waren wahrscheinlich für eines der Schiffe
bestimmt, die noch in Port Jackson lagen.
Die Sägegrube war sieben Fuß tief, acht Fuß breit
und fünfzehn Fuß lang. Ihre Wände waren mit Brettern abgestützt.
Zwei Balken lagen quer über der Grube, fünf Fuß vom Rand und
voneinander entfernt. Ein entrindeter Baumstamm war bereits auf die
Balken gerollt worden und lag, auf ihnen verkeilt, der Länge nach
über der Grube. In der Grube fand Richard unter einem alten Segel
fünf Zugsägen von acht bis vierzehn Fuß Länge.
In diesem Augenblick traf Nathaniel Lucas
ein.
»Werkzeuge aus Eisen und Stahl haben in diesem
Klima keine Chance«, sagte er zu Richard. »Wir können tun, was wir
wollen, die verflixten Dinger rosten immer weiter.«
»Sie sind auch völlig stumpf«, stellte Richard
fest. Er fuhr mit dem Daumen über einen großen Sägezahn mit einer
tiefen Kerbe und verzog das Gesicht. »Wer an dieser Säge
herumgefeilt hat, hat noch nie etwas von geschränkten Sägezähnen
gehört. Herrgott! Es wird Stunden dauern, das wieder zu richten,
vom Schärfen ganz zu schweigen. Kann hier jemand Blackall,
Humphreys und Marriner beibringen, wie man sägt?«
»Erklären kann ich es ihnen«, sagte Lucas, der
klein und schmächtig war, »ich bin nur nicht kräftig genug, um
ihnen zu helfen.«
Richard hob eine zehn Fuß lange Säge an, die
einigermaßen scharf war.
»Das ist noch die Beste - Nat oder
Nathaniel?«
»Nat. Und du? Richard oder Dick?«
»Richard.« Richard sah zur Sonne hinauf. »Wir
brauchen so bald wie möglich ein Dach über der Grube. Die Sonne ist
hier viel stärker als in Port Jackson.«
»Sie steht auch um vier Breitengrade höher.«
»Aber das Dach wird wohl warten müssen, bis die
Golden Grove weg ist.« Richard seufzte. »Das heißt, wir
brauchen Hüte und viel Wasser zum Trinken. Wo kann Joey unsere
Sachen hinbringen, bevor wir loslegen? Ich bleibe am besten hier
und fange
gleich mit dem Schärfen an.« Er hockte sich im Schneidersitz auf
den Boden der Grube, in die westliche, noch schattige Ecke, und zog
eine zwölf Fuß lange Säge auf seinen Schoß. »Joey, sei so gut und
reich mir meine Werkzeugkiste herunter und dann geh bitte mit Nat
mit. Ihr anderen bringt ebenfalls eure Sachen weg und kommt gleich
wieder.«
Jetzt war er schon wieder der Anführer, dachte
Richard, nur weil man den anderen ständig sagen musste, was sie tun
sollten.
Er arbeitete an diesem ersten Tag bis zum Einbruch
der Dunkelheit. Dann kam Joey und sagte, dass das Abendessen fertig
sei. Sie saßen um ein großes Feuer, denn sobald die Sonne
unterging, wurde es auf der Insel kälter als in Port Jackson. Es
gab Pökelfleisch und relativ frisches, da nur sechs Tage altes Brot
und - welch ein Wunder! - rohe grüne Bohnen und Salat. Richard
langte heißhungrig zu und stellte fest, dass die Brotlaibe und
Fleischportionen größer waren als in Port Jackson.
»Der Kommandant ist ein anständiger Mensch, deshalb
bekommen wir volle Verpflegungsrationen«, erklärte Eddy Garth. »In
Port Jackson kürzen die Seesoldaten den Sträflingen die Rationen,
um selbst mehr zu essen zu haben. Wie auf der
Scarborough.«
»Und der Alexander.« Richard seufzte
glücklich. »Aber ich denke, es gibt hier kein Gemüse, weil die
Raupen alles fressen.«
Garth legte den Arm um seine Frau, und seine Frau
lehnte sich zufrieden an ihn. »Es stimmt, dass die Raupen eine
Menge wegfressen, aber nicht alles. Die Frauen müssen auf den
Feldern den ganzen Tag lang Raupen einsammeln. Die Ratten vergiftet
der Kommandant mit dem zermahlenen Glas von Portweinflaschen,
vermischt mit Hafermehl. Das wirkt übrigens auch gut gegen
Papageien.« Er legte den Zeigefinger an die Nase und grinste. »Tja,
Portwein ist das Lieblingsgetränk unseres Kommandanten, er trinkt
davon mehrere Flaschen am Tag, deshalb geht uns das Glas nie aus.
Und die Raupen kommen und gehen. Sie sind vier bis sechs Wochen da
und dann vier bis sechs Wochen weg. Es gibt zwei Arten von Raupen.
Die eine mag es feucht, die andere trocken. Deshalb haben wir die
gefräßigen Biester bei jedem Wetter.« Er räusperte sich. »Du hast
nicht zufällig Bücher dabei?«
»Doch, ich habe welche«, sagte Richard. »Du kannst
sie gerne ausleihen, wenn du auf sie aufpasst und sie wieder
zurückgibst. Ob mein Magen das grüne Gemüse nach so langer Zeit
wohl verträgt? Wo sind denn die Aborte?«
»Ziemlich weit weg. Du musst also rechtzeitig
losrennen. Mr King bestand darauf, dass die Jauchegruben an einer
Stelle ausgehoben werden, wo sie das Grundwasser nicht verseuchen
können. Unser Trinkwasser kommt aus einem Bach weiter oben im Tal,
es ist also einwandfrei. Oberhalb der Stelle, an der wir das Wasser
holen, darf niemand sich waschen, und wer in den Bach pinkelt, wird
mit einem Dutzend Peitschenhieben bestraft.«
»Warum sollte jemand in den Bach pinkeln? Es sind
doch genug Bäume da.«
Joey Long, der schon früher gegessen hatte, weil er
MacGregor Delphinia vorstellen musste, zeigte Richard den Weg zu
den Aborten und führte ihn anschließend zu ihrer Hütte. Ein kurzer
Tannenast, der sich an einem Ende zu einem Knoten verdickte, diente
ihm als Fackel.
In der Hütte sah Richard sich erstaunt um.
»Wir beide haben das ganze Haus für uns allein«,
sagte Joey zufrieden. »Es hat auf jeder Seite ein Fenster, das man
mit einem Laden zumachen kann. Siehst du, so. Aber wir machen die
Läden nur zu, wenn es zieht. Nat sagt, es kommt selten vor, dass
der Regen von Osten oder Westen gegen das Haus schlägt. Meistens
kommt er von Norden.«
Auf dem Boden lag ein seltsamer Teppich aus -
Zweigen? Blättern? Sie sahen aus wie schuppige, zwölf bis fünfzehn
Zoll lange Schwänze und fühlten sich fest an, gaben aber unter den
Füßen etwas nach und stammten, wie Richard später erfuhr, von der
Norfolktanne. Unter dem Pflanzenteppich kam eine dünne Schicht
Sand, darunter Fels. An der fensterlosen Wand zum Strand hin
standen zwei niedrige Doppelbetten aus Holz mit dicken Matratzen
und Kissen.
»Ein Doppelbett ganz für mich allein, Joey?«
Richard hob die dicke Matratze an und sah, dass sie auf einem Netz
aus Seilen lag. Dann stellte er fest, dass die Matratze und die
Kissen mit Federn
gefüllt waren. »Federn!«, rief er und lachte. »Ich muss gestorben
sein, und jetzt bin ich im Himmel.«
»Das ist das Haus des Sägers«, erklärte Joey,
begeistert, so viel mehr zu wissen als Richard. »Er war ein Matrose
von der Sirius, hat Nat gesagt, und er teilte sich das Haus
mit einem anderen Matrosen, ebenfalls von der Sirius. Beide
ertranken vor knapp drei Monaten bei einem Unfall auf dem Riff. Als
freie Männer hatten sie Zeit, zu der kleinen Insel rauszufahren und
dort Vögel zu schießen. Mit den Federn füllten sie ihr Bettzeug -
für eine Matratze und zwei Kissen braucht man tausend Vögel, hat
Nat gesagt. Und jetzt haben wir das Haus und die Betten
bekommen.« Joeys Miene verdüsterte sich. »Allerdings hat Nat auch
gesagt, dass wir das Bettzeug Mr Donovan und Mr Livingstone
überlassen müssen, wenn nach der Abfahrt der Golden Grove
ein Haus für die beiden gebaut wird. Zurzeit wohnen sie noch bei Mr
King. Das Haus hier ist nur zehn mal acht Fuß groß, aber das von Mr
Donovan soll zehn mal fünfzehn Fuß groß werden. Bisher war Nat
Oberschreiner, aber er ist ein Sträfling, deshalb ist ab jetzt Mr
Livingstone der Oberschreiner.«
»Auch wenn ich nur eine Nacht auf dieser Matratze
und mit diesen Kissen schlafe, ich werde darin schlafen wie ein
König«, sagte Richard. »Aber zuerst gehe ich noch zum Strand, um
mich zu waschen. Komm mit, Joey, das tut dir auch gut.«
Doch Joey wehrte sich mit Händen und Füßen dagegen,
Richard zu begleiten. Die Vorstellung, bis zu den Knien in einem
Gewässer voller unsichtbarer Ungeheuer zu stehen, die nur darauf
warteten, ihn und MacGregor zu verschlingen, jagte ihm kalte
Schauer über den Rücken. Also ging Richard allein.
Der Himmel war sternenklar. Richard zog sich aus,
lief in das überraschend kalte Wasser und blieb wie verzaubert
stehen. Um ihn schimmerte und blitzte das Wasser, als würde er in
flüssigem Silber baden. Was für ein Meer! Wie viele Wunder barg es?
Es leuchtete wie von innen. Richard beobachtete, wie das Wasser in
glänzenden Rinnsalen seine Arme entlanglief und glitzernde Tropfen
aus seinen Haaren fielen. Schön! Herrlich! Er fühlte sich wie von
Kraft durchströmt, als würde die Kraft des lebendigen
Meeres wie durch ein Wunder der Natur auf seinen Körper
übertragen.
Er drehte sich zum Strand um und sah, dass die
Insel gar nicht so flach war, wie sie vom Ankerplatz der Golden
Grove aus gewirkt hatte. Jetzt, da er direkt vor ihr stand,
ragten hinter dem flachen Uferstreifen steile Hügel auf, besetzt
mit Wäldern von Tannen, deren stachlige Kronen sich schwarz vom
Sternenhimmel abhoben.
Richard trocknete sich ab, rieb sich den Sand von
den Füßen und kehrte zu seinem Haus zurück. Dort sank er genüsslich
auf das große Bett aus Federn. Es war so bequem, dass er noch
stundenlang wach lag. Kein Lüftchen regte sich, und die einzigen
Laute, die er hörte, waren ein leises Rauschen, das ferne Donnern
der gegen das Riff brandenden Wellen und ab und zu der Schrei einer
Möwe. Joey und MacGregor schnarchten nicht. Vor vier Jahren um
diese Zeit war er ins Bristol Newgate eingeliefert worden. Von
jenem Tag an bis heute hatte er jede Nacht ein Schnarchkonzert
gehört - sogar als er und Lizzie Lock ein eigenes Zimmer hatten,
drang das Schnarchen der Männer nebenan durch die dünnen Wände.
Jetzt genoss er die Ruhe so sehr, dass er nicht schlafen
konnte.
Ned Westlake, der zusammen mit King nach Norfolk
Island gekommen war, hatte früher mit dem ertrunkenen Westbrook in
der Sägegrube gearbeitet. Nun wurde Harry Humphreys sein neuer
Partner. Blackall und Marriner bildeten ein zweites Team, das sich
mit dem ersten abwechseln sollte. Das bisherig beste Ergebnis waren
laut Westlake 898 Quadratfuß Holz in fünf Tagen, allerdings mit nur
einem Team. Richard war zum Anführer der Säger ernannt worden,
obwohl er ein Sträfling war - hauptsächlich weil er im Haus
Westbrooks wohnte, das für dessen Nachfolger freigehalten worden
war. King war davon ausgegangen, dass dieser ebenfalls ein freier
Mann sein würde. Richards erste Entscheidung behagte den anderen
nicht, sie wurde aber akzeptiert. Er erlaubte den beiden
Mannschaften nicht, in Tagesschichten zu arbeiten.
»Wenn ihr den ganzen Tag lang sägt, verspannen sich
eure Muskeln
und schmerzen noch mehr«, sagte er. »Bill Blackall und Will
Marriner sägen morgens, Ned Westlake und Harry Humphreys
nachmittags. Fünf Stunden am Tag in der Sägegrube reichen. Wer
nicht sägt, hilft mir beim Schärfen. Wer gerade nichts zu tun hat,
nimmt eine Axt und hilft Joey beim Entrinden der Stämme. Je besser
und schneller wir sind, desto mehr Privilegien bekommen wir. Und
wer für ein bestimmtes Handwerk qualifiziert ist, braucht nicht
jede Arbeit zu machen, die gerade anfällt. Wenn ich Leutnant King
richtig verstanden habe, dürft ihr an euren freien Tagen Holz
sägen, um euch Hütten daraus zu bauen. Stellt euch vor, was das
bedeutet! Die eigenen vier Wände!«
Nach drei Tagen waren die Säger eingearbeitet. Am
Ende der ersten Woche schaffte die Kolonne bereits 500 Quadratfuß
Holz am Tag, am Ende der zweiten Woche sogar 750. Joey Long
entrindete die Stämme.
»Ihr leistet gute Arbeit!«, sagte Leutnant King
anerkennend, nachdem die Golden Grove am 28. Oktober
abgefahren war. »Weiter so! Als Nächstes brauchen wir Holz für neue
Häuser, denn mir wurde angekündigt, dass bald noch mehr Leute hier
eintreffen. Zurzeit sind wir sechzig - Ende nächsten Jahres sollen
wir schon zweihundert sein und im Jahr darauf noch mehr. Seine
Exzellenz wünscht, dass die Insel bald ebenso viele Einwohner hat
wie Port Jackson.«
King ging von einem Ende der Sägegrube zum anderen.
»Ich schulde euch ein paar freie Tage«, fuhr er fort. »Auf der
Insel Norfolk arbeiten wir von Montag bis Freitag für den Staat.
Samstags arbeitet ihr für euch selbst, sonntags habt ihr frei -
allerdings erst nach dem Gottesdienst, den ich selbst abhalte und
der für jeden hier Pflicht ist. Während die Golden Grove
beladen wurde, habt ihr zwei Samstage und zwei Sonntage für den
Staat gearbeitet. Heute ist Dienstag, das heißt, ihr braucht erst
am Montag wieder für den Staat zu arbeiten. Ich rate euch, einen
Teil der Zeit dazu zu nutzen, Holz für eure eigenen Häuser
zuzusägen. Verlängert die Häuserreihe nach Osten. Das Land hinter
den Häusern bis hinunter zum Sumpf steht euch als privater
Gemüsegarten zur Verfügung. Auf feuchtem Boden wächst Kresse sehr
gut und unbelästigt
von Ungeziefer. Sät also Kresse aus und dazu, was ihr sonst noch
anbauen wollt oder bekommen könnt.«
King wandte sich an Richard. »Morgan, von Ihnen
brauche ich einen Bericht. Begleiten Sie mich bitte ein
Stück.«
Der Kommandant hat wirklich tadellose Manieren,
dachte Richard, während er neben dem Kommandanten den Weg
entlangging, der von der Sägegrube zu Kings Haus und den
Lagerschuppen führte. Er sah, dass in einem der Schuppen das
Flachboot lag und daneben ein noch kleineres Boot, das King
offenbar aus den Überresten jenes Flachbootes hatte machen lassen,
das über dem Riff gesunken war und vier Männer in den Tod gerissen
hatte - junge, kräftige Seeleute namens Willy Dring, Joe Robinson,
Neddy Smith und Tom Watson, die draußen fischen sollten, wann immer
das Wetter es zuließ.
»Man sollte meinen, den Leuten wäre frischer Fisch
lieber als immer nur Pökelfleisch, doch die meisten murren, wenn es
statt. Pökelfleisch Fisch oder Schildkröte gibt. Ich verstehe das
nicht.« King zuckte die Achseln. »Wer zu aufsässig wird, den lasse
ich auspeitschen. Bei Ihnen scheint das nicht nötig zu sein,
Morgan.«
Richard grinste. »Fisch ist mir lieber als die
neunschwänzige Katze, Sir. Ich wurde seit meiner Verurteilung noch
nie ausgepeitscht.«
»Ja, und mir ist aufgefallen, dass das für viele
von euch gilt. Sie haben die Arbeit gut aufgeteilt. Ein Team war
nicht genug. Was meinen Sie, wie groß darf der Durchmesser der
Stämme sein, damit wir sie mit unseren Werkzeugen noch verarbeiten
können?«
»Solange wir keine längeren Zugsägen haben,
höchstens sechs Fuß, Sir. Wir bräuchten auch eine große Ablängsäge,
die von zwei Männern bedient wird. Ich mache gerade aus unserer
einzigen acht Fuß langen Spaltsäge eine Säge, mit der sich die
Stämme leichter durchsägen lassen als mit den Zugsägen.« Richard
fühlte sich in Gesellschaft dieses Mannes sehr wohl.
Leutnant King und Major Ross sind so verschieden
wie Tag und Nacht, dachte er. King ist sehr väterlich und
betrachtet uns als seine Familie. Solche Gefühle sind dem Major
fremd, trotzdem bin ich auch mit ihm gut zurechtgekommen. Auf
Norfolk Island ist
mir außerdem klar geworden, wie viel die Seesoldaten in Port
Jackson von unseren Verpflegungsrationen für sich abgezweigt haben.
Ich kann es ihnen nicht einmal verdenken. Auch sie haben Hunger.
Weder Gouverneur Phillip noch Major Ross haben das gemerkt. Je
größer die Behörden sind, desto weniger wissen sie, was am unteren
Ende der Hierarchie los ist.
Leutnant King ist sehr gewissenhaft. Er bewahrt die
Gewichte zum Abwiegen der Essensrationen in seinem Haus auf und
überprüft sie mithilfe eines Satzes geeichter Gewichte. Einmal gab
es bisher frische Schildkröte und schon mehrmals den köstlichsten
Fisch, den ich je gegessen habe. Nach der ersten Mahlzeit mit
frischem Fleisch fühlten wir uns wie neu geboren. Außerdem essen
wir viel Gemüse. Es gibt auf der Insel trotz der Raupen und Ratten
keinen Skorbut. Ich kann den Widerwillen einiger Leute gegen Fisch
allerdings verstehen - sie haben früher nie Fisch gegessen und
kennen und mögen eben nur Fleisch. Wir brauchen auch viel Salz.
Vetter James, der Apotheker, sagte einmal, je mehr man schwitzt,
desto mehr Salz braucht man.
Ja, ich bin froh, dass ich hier bin. Es ist hier
angenehmer als in Port Jackson. Und man braucht keine Eingeborenen
zu fürchten, wenn man den Weg verlässt, auch wenn am Lagerfeuer
erzählt wird, der Wald sei so dicht, dass selbst Leutnant King sich
einmal völlig verirrt hätte.
»Was gibt es noch zu berichten, Morgan?«, fragte
King. Sie überquerten auf einer wackligen Brücke den Sumpf. Die
Brückenpfeiler standen auf Lagern aus Tannenstämmen, die man in dem
offenbar nicht sehr tiefen Sumpf versenkt hatte.
»Die Sägegrube braucht ein Dach, das die Säger vor
Sonne und Regen schützt, Mr King. Außerdem müssten Sie für Balken,
die über zwölf Fuß lang sind, eine zweite, längere Sägegrube
ausheben lassen.«
»Die Sägegrube hatte früher ein Dach, aber ein
Sturm hat es heruntergerissen. Es gibt hier heftige Stürme. Mit den
Überresten des Dachs habe ich den Keller unter meinem Haus
abgestützt. Aber ich sehe ein, dass wir ein neues bauen müssen, und
zwar bald. Die Sonne wird täglich stärker.«
Die Brücke endete am Ufer eines kleinen Bachs, der
in den Sumpf zu münden schien. King bog nach links ab und stieg ein
langes, gewundenes Tal hinauf. Das Tal war breiter als die anderen
Täler zwischen den Hügeln um das Hüttendorf, dem King den Namen
Sydney Town gegeben hatte.
Vor einem steilen Hang, der sich von Norden ins Tal
schob, blieb er stehen. »Ich habe dieses Tal Arthur’s Vale getauft,
zu Ehren Seiner Exzellenz, die mit Vornamen Arthur heißt. Die große
Insel im Süden trägt seinen Nachnamen - Phillip Island. Wir
verlegen unsere Felder allmählich von Sydney Town hierher, weil sie
hier besser vor den Winden aus dem Süden und dem Westen geschützt
sind - und auf der anderen Seite des Bergrückens hoffentlich auch
vor dem Ostwind. Der Berg dort im Süden zwischen Arthur’s Vale und
dem Meer ist der Mount George. Wir haben begonnen, ihn und die
Berge im Norden zu roden, um an den Hängen Getreide anzubauen. Wir
haben bereits Weizen und Mais ausgesät und weiter unten Gerste. Die
neue Sägegrube soll ebenfalls hier oben angelegt werden. Die
jetzige ist zu weit weg, aber dort können ja weiterhin zwölf Fuß
lange Stämme aus dem Wald um Sydney Town verarbeitet werden.«
Sie hatten den Bergrücken umrundet und blickten nun
nach Westen. Hier stieg die Talsohle abrupt ungefähr zwanzig Fuß
an, und der Bach stürzte den Steilhang als dünner Wasserfall
hinunter. Der Kommandant zeigte hangaufwärts. »Dort oben will ich
den Bach aufstauen, Morgan. Das Wasser leiten wir dann durch einen
Abflusskanal auf die Felder der Regierung, die etwas weiter unten
angelegt werden. Eines Tages werde ich an dem Damm auch noch ein
Wasserrad bauen. Zurzeit müssen wir das Getreide noch mit
Handmühlen mahlen. Wir besitzen zwar einen großen Mühlstein, aber
es erfordert viel Kraft, ihn zu drehen. Da wir weder Ochsen noch
Maultiere und auch nicht genügend Männer haben, bräuchten wir ein
Wasserrad. Eines Tages wird es so weit sein!« Er lachte. »Der
Getreidespeicher ist fast fertig, aber ich will hier am Südufer des
Bachs noch eine große Scheune und ein Gehege für die Tiere bauen.
Das Problem sind die salzigen Winde, Morgan! Sie lassen alles
verkümmern außer Flachs, Tannen und einigen anderen einheimischen
Bäumen, die im Windschatten der Tannen wachsen. Ja, ich habe hier
Flachs gefunden - die Dummköpfe in Port Jackson haben die Pflanze
nur nicht richtig beschrieben. Flachs eignet sich hervorragend zum
Dachdecken. Es ist uns allerdings noch nicht gelungen, Leinwand
daraus herzustellen.«
King verabschiedete sich abrupt und ging, offenbar
um etwas Wichtiges zu erledigen, das ihm gerade eingefallen war.
Richard folgte dem Weg weiter hinauf. Als er über dem Steilhang
stand, sah er, warum der Kommandant an dieser Stelle einen Staudamm
bauen wollte. Das Tal bildete eine große Mulde, dahinter wurde es
wieder breiter.
Das Gelände war bereits gerodet. Als Richard die
Bananenstauden erblickte, wusste er auf Grund der Zeichnungen in
seinen Büchern sofort, um was es sich handelte. Er staunte, wie
groß und weit entwickelt die Stauden waren - konnten sie in acht
Monaten dermaßen gewachsen sein? Nein, unmöglich. King war erst vor
kurzem bis hierher vorgedrungen. Das bedeutete, dass die Bananen
hier wild wuchsen, ein Geschenk Gottes. Die langen Bündel kleiner
grüner Bananen waren bereits ausgebildet. In den kommenden Monaten
würde es also Obst geben - und obendrein sättigendes Obst.
Weiter oben wurde das Tal wieder schmäler. Es war
nicht mehr gerodet, doch ein Pfad führte am Bach entlang in den
Wald. Das Wasser war hier stellenweise einige Fuß tief und so klar,
dass Richard kleine, fast durchsichtige Garnelen darin
herumschwimmen sah. Am Lagerfeuer war von großen Aalen die Rede
gewesen, doch sie entdeckte er nicht.
Leuchtend grüne Papageien flogen über seinen Kopf,
und eine kleine Pfautaube flatterte zwitschernd vor seinem Gesicht
hin und her, als wollte sie ihm etwas mitteilen. Sie begleitete ihn
hundert Meter weit. Richard meinte eine Wachtel zu sehen, und dann
erblickte er die schönste Taube der Welt. Ihr Gefieder war zart
rosabraun getönt, ihre Brust schillerte smaragdgrün, und sie war
überhaupt nicht scheu! Sie beäugte ihn nur kurz, dann trippelte sie
mit auf und ab ruckendem Kopf seelenruhig weiter. Richard entdeckte
noch mehr Vögel. Einer sah aus wie eine Amsel, nur dass sein Kopf
grau war. Die Luft war erfüllt von einem melodischen Gesang, wie
Richard ihn in Port Jackson nie gehört hatte, unterbrochen nur vom
Kreischen der Papageien.
Die Wildnis zu beiden Seiten des Pfades wirkte
undurchdringlich und wenig einladend. Trotzdem war der Wald kein
Dschungel, wie er in Richards Büchern beschrieben wurde. Es wuchsen
keine kleinen Pflanzen. Zwischen den sehr dicht stehenden Tannen,
die teilweise einen Durchmesser von mehr als fünfzehn Fuß hatten,
wuchsen keine anderen Pflanzen. Junge Tannen gab es kaum. Die
dicke, rissige Rinde der Stämme war rötlich braun, die ersten Äste
zweigten erst sehr weit oben ab. Zwischen den Tannen standen
vereinzelt grüne Laubbäume, doch den meisten Platz nahm eine
Schlingpflanze ein, die Richard noch nie gesehen hatte.
An einer Stelle, an der das Tal etwas breiter war,
standen weitere Bananenstauden mit grünen Früchten und ein
seltsamer Baum, der wie die Bananen am Wasser wuchs. Sein runder
Stamm glich dem einer Palme - Palmen gab es auch, ihre Blätter
waren allerdings nicht elegant geschwungen, sondern ragten steif in
die Höhe -, doch war er mit spitz zulaufenden Höckern gepanzert.
Über dem Stamm wölbte sich ein Blätterdach aus - Farnwedeln! Es
handelte sich um einen vierzig Fuß hohen Riesenfarn!
Richard sah noch mehr Vögel, darunter einen kleinen
Eisvogel mit einem cremefarbenen, braunen und leuchtend meergrünen
Gefieder. Den imposantesten Vogel bemerkte er zuerst gar nicht,
denn der Vogel sah aus wie ein Stück des moosbewachsenen
Baumstumpfs, auf dem er saß. Als er sich plötzlich bewegte, machte
Richard vor Schreck einen Satz. Es handelte sich um einen riesigen
Papagei.
»Guten Tag«, sagte Richard. »Wie geht’s?«
Der Vogel legte den Kopf schief und stakste auf ihn
zu. Richard war klug genug, nicht die Hand nach ihm auszustrecken.
Der Papagei hätte ihm mit seinem gewaltigen schwarzen Schnabel
leicht einen Finger abbeißen können. Der Vogel beachtete ihn nicht
weiter und verschwand bald zwischen den Farnen und anderen
breitblättrigen Pflanzen am Ufer des Baches.
Die Sonne stand bereits im Westen, als Richard auf
demselben
Weg zum Hüttendorf zurückkehrte. Es gab bald Abendessen. Die Insel
war einzigartig und mit Neusüdwales überhaupt nicht zu vergleichen
- alles war hier anders, Bäume, Berge, Gestein und Erde. Gras gab
es überhaupt keines. War die Insel vielleicht Gottes erster
Versuch, aus dem Meer Land zu schaffen? Oder sein letzter? Wenn sie
sein letzter Versuch war, warum hatte er sie dann nicht mit
Menschen bevölkert? Jem Thistlethwaite hätte daraus geschlossen,
dass Gott die Anwesenheit des Menschen in seiner Schöpfung nicht
mehr für wünschenswert hielt.
»Gibt es hier Schlangen?«, fragte Richard Nat
Lucas, den er ebenso gut leiden konnte wie den alten Dick
Widdicombe, der schon siebzig war. Warum um alles in der Welt hatte
London eigentlich hochbetagte Männer losgeschickt, um neues Land
urbar zu machen?
»Wenn es welche gibt, dann verstecken sie sich
gut«, erwiderte Nat. »Bisher hat noch niemand eine Schlange, eine
Eidechse, einen Frosch oder einen Blutegel gesehen. Außer Ratten
scheint es hier keine größeren Tiere zu geben. Die Ratten sehen
allerdings anders aus als bei uns. Sie sind hellgrau mit weißem
Bauch und nicht besonders groß.«
»Aber sie fressen alles«, warf Ned Westlake ein.
»Ratten sind Ratten.«
Am frühen Morgen des folgenden Tages wanderte
Richard am Strand von Turtle Bay entlang nach Osten. Dort
beobachtete er, wie zwei Männer eine riesige Schildkröte auf den
Rücken drehten. Hilflos lag sie da und wedelte mit den
Flossen.
Die beiden Männer mussten Brüder sein und sie sahen
nicht wie Sträflinge aus. Beide waren jung, schlank und braun
gebrannt. Sie hatten braune Haare und braune Augen und wirkten
vertrauenswürdig. Richard trat auf sie zu.
»Ah! Du musst Morgan sein«, sagte der eine. »Ich
bin Robert Webb und das ist mein Bruder Thomas. Hilf uns, dieses
Prachtexemplar anzuleinen. Morgen Mittag gibt es
Schildkröte.«
Richard half ihnen, ein Seil so um den Körper der
Schildkröte zu schlingen, dass es nicht herunterrutschen
konnte.
»Wir sind die Gärtner«, sagte Robert. Es war schwer
zu sagen,
ob er der ältere war, doch war er jedenfalls der Wortführer.
»Vielen Dank übrigens für die Frauen. Thomas legt zwar keinen Wert
auf weibliche Gesellschaft, aber ich war schon ganz
ausgehungert.«
»Haben Sie eine für sich gefunden?«, fragte
Richard, der nicht verstand, warum Robert sich bei ihm
bedankte.
»Ja, Beth Henderson, eine wunderbare Frau. Das
heißt allerdings, dass die Wege von Thomas und mir sich nun
trennen.« Roberts Bruder verzog das Gesicht. »Thomas ist bereits zu
Mr Altree in Arthur’s Vale gezogen, wo gerade viel gepflanzt
wird.«
Die Männer zerrten die Schildkröte ins Wasser und
wateten mit ihr im Schlepptau um die Landspitze der Turtle Bay.
Richard half den Brüdern, die Schildkröte in der Nähe der
Anlegestelle an Land zu ziehen, dann kehrte er in seine Hütte
zurück.
»Leutnant King hat dich gesucht«, sagte
Joey.
Also machte Richard sich gleich wieder auf den Weg,
um nach dem Kommandanten Ausschau zu halten. Er fand ihn auf dem
Gelände der zweiten Sägegrube, die bereits ausgehoben worden war
und nun noch mit Brettern abgestützt werden musste.
»Morgen gibt es Schildkröte, Sir«, begrüßte ihn
Richard.
»Oh, ausgezeichnet! Sehr gut!« King kam um die
Grube auf ihn zu. »Ich erlaube nicht, dass viele Schildkröten
geschlachtet werden, sonst gibt es am Ende gar keine mehr. Ich habe
auch verboten, die Eier auszugraben. Es gibt hier lange nicht so
viele Schildkröten wie auf Lord Howe Island. Und es wäre dumm, sie
auszurotten.«
»Sehr wohl, Sir.«
Doch dann lernte Richard Leutnant King von einer
weniger einnehmenden Seite kennen: King hatte vollkommen vergessen,
dass er seinen Sägern zwei Tage zuvor bis Montag freigegeben hatte.
»Morgen fangt ihr wieder an zu sägen«, befahl er. »Ich will weiter
oben im Tal eine dritte Sägegrube ausheben lassen, unterhalb der
Stelle des künftigen Damms. Das bedeutet, wir brauchen mehr Sägen.
Ich weiß zwar, dass nur kräftige Männer für diese schwere Arbeit in
Frage kommen, aber ich überlasse es Ihnen, Morgan, die
Männer auszusuchen. Sie können jeden haben, den Sie wollen, nur
keinen Schreiner. Die alte Sägegrube hat jetzt wieder ein Dach,
dort werden Sie morgen Holz für das Dach des Getreidespeichers
zusägen. Sie müssen auch am Samstag arbeiten. Der Getreidespeicher
muss fertig werden. Einige Felder stehen kurz vor der Ernte.« Er
wandte sich zum Gehen. Ȇberlegen Sie sich, wen Sie haben wollen,
Morgan, und lassen Sie es mich am Montag wissen.«
»Sehr wohl, Sir«, sagte Richard steif.
Für zwei Sägegruben brauchte er vier Teams, für
drei Sägegruben sechs. Herrje, da würde er selbst nur noch mit dem
Schärfen der Sägen beschäftigt sein, denn die Sägen mussten nach
jeweils zehn bis zwölf Fuß Schnittlänge nachgeschärft werden! Ned
Westlake, Bill Blackall und Harry Humphreys schienen nicht
begreifen zu können, wie man mit einer Feile umging. Will Marriner
bewies als Einziger ein gewisses Geschick, er würde deshalb in der
alten Sägegrube das Schärfen übernehmen müssen. Aber wen sollte er
als Säger rekrutieren? Die Männer hassten diese Arbeit und
verrichteten sie nur widerwillig. Schläger wie Len Dyer, Tom Jones,
Josh Peck und Sam Pickett kamen nicht in Frage. John Rice, der zu
den ersten Siedlern gehörte, war zwar kräftig genug, aber als
Seiler unentbehrlich. John Mortimer und Dick Widdicombe waren zu
alt, Noah Mortimer trödelte zu viel und hatte deshalb dauernd
Ärger. Dasselbe galt für den blutjungen Charlie McClellan, der
ebenfalls zur Gruppe der ersten Siedler gehörte.
Und welche Männer von der Golden Grove kamen
in Frage? John Anderson? Ja. Sam Hussey? Ja. Jim Richardson? Ja.
Willy Thompson? Ja. Aber das waren auch schon alle. Richardson, der
inzwischen mit Susannah Trippett ein Paar bildete, würde die Arbeit
bereitwillig, vielleicht sogar einigermaßen gern verrichten. Hussey
und Thompson waren Eigenbrötler, die bereits eifrig an eigenen
Hütten bauten, weil sie die Gesellschaft der anderen nicht
ertrugen. Sie erinnerten Richard an Taffy Edmunds. Anderson konnte
er schlecht einschätzen. Beim Gottesdienst am Sonntagmorgen um elf
dankte Richard Gott dafür, dass er als Sträfling nie in die
Verlegenheit kommen würde, einen Mann auspeitschen lassen zu
müssen. Er musste auf andere Weise dafür sorgen, dass seine
Säger arbeiteten, hauptsächlich, indem er nie zwei unzuverlässige
Männer zusammen arbeiten ließ, sondern jedem, dem er nicht traute,
einen tüchtigen Partner zuwies.
»Mehr als vier Mannschaften bekomme ich nicht
zusammen«, sagte Richard zu Stephen Donovan, als sie sich am
Sonntagabend in der Turtle Bay trafen, um eine Runde zu schwimmen.
»Und ich bin offenbar für alle Zeiten dazu verdammt, Sägen zu
schärfen, Mr Donovan. Im Grunde ist das eine einfache Arbeit, aber
die meisten begreifen nicht, worauf es dabei ankommt. Ihnen fehlt
das nötige Fingerspitzengefühl. Wenn doch Taffy Edmunds hier wäre!
Er ist ein genauso guter Sägenschleifer wie ich, und es würde ihm
hier auch gefallen.«
»So viel ich weiß, sollen noch mehr Leute kommen,
die Supply kann nur nicht alle auf einmal bringen«, sagte
Donovan. »Und da es in Port Jackson auch einige Bäume gibt, die zu
Balken verarbeitet werden müssen, wird man Taffy wohl nicht so
schnell ziehen lassen. Richardson ist ein tüchtiger Kerl. Wer weiß,
vielleicht wird aus einem der Neuen ein guter Sägenschleifer. Ich
verstehe allerdings nicht, warum Sie unbedingt selber sägen wollen,
Richard.«
»Weil die Männer, die sägen, meine Arbeit für
kinderleicht halten. Ich sitze ja nur da und tue scheinbar nichts.
Deshalb sollen alle das Schärfen üben. Wer es lernt, hat damit eine
bequemere Arbeit, wer es nicht lernt, weiß wenigstens, dass man zum
Sägenschleifen sehr viel Geduld und Geschick braucht.«
Richard nahm zur neuen Sägegrube im Arthur’s Vale
Ned Westlake, Harry Humphreys, Jim Richardson und John Anderson
mit. Natürlich verlangsamte sich das Arbeitstempo beträchtlich,
sehr zum Verdruss von Leutnant King.
»Sie haben in fünf Tagen nur 791 Quadratfuß Holz
zugesägt!«, sagte er verärgert zu Richard.
»Ich weiß, Sir, aber die alten Teams müssen die
beiden neuen erst einlernen«, erklärte Richard in respektvollem,
aber bestimmtem Ton. »Deshalb werden wir eine Zeit lang weniger
Holz produzieren.« Er holte tief Luft. »Außerdem sind wir nicht in
der Lage, die
Stämme auch noch zu entrinden, Sir. In der alten Sägegrube macht
das Joseph Long zusammen mit einem Gehilfen, aber hier in der neuen
Sägegrube haben wir niemanden. Ich muss unsere Sägen schleifen und
außerdem noch die großen Sägen von Marriner, daher habe ich für
nichts anderes Zeit. Könnten die Holzfäller die Stämme nicht gleich
entrinden? Je länger die Rinde dranbleibt, desto größer ist die
Gefahr, dass Käfer sich in das Holz fressen. Außerdem sollten die
Holzfäller vor dem Fällen die Qualität der Bäume prüfen. Die Hälfte
der Stämme, die wir erhalten, ist unbrauchbar, aber bis wir dazu
kommen, sie uns anzusehen, sind die Männer, die sie gebracht haben,
schon wieder weg und wir müssen unsere kostbare Zeit damit
vergeuden, sie auszusortieren.«
Solche offenen Worte gefielen dem Leutnant gar
nicht! Schon nach den ersten Worten runzelte er missbilligend die
Stirn. Seine braunen Augen funkelten wütend, doch Richard hielt
seinem Blick stand, ohne mit der Wimper zu zucken. Er riskierte
damit, dass King ihn wegen Aufsässigkeit auspeitschen ließ, aber
besser jetzt als später, denn wenn erst die dritte Sägegrube in
Betrieb war, wurde alles nur noch schlimmer. Dann hatten sie nur
noch eine Ersatzsäge, weil Richard aus der acht Fuß langen
Spaltsäge eine Ablängsäge gemacht hatte.
»Wir werden sehen«, sagte King schließlich und
marschierte aufgebracht zu dem neuen Getreidespeicher und den dort
arbeitenden Schreinern hinüber.
»Was halten Sie vom Aufseher der Säger?«, fragte
King Stephen Donovan beim Mittagessen in seinem Amtssitz.
Die hochschwangere Ann Innet brachte das Essen und
verschwand. Die Karaffe mit dem Portwein war schon halb leer und
würde ganz leer sein, noch bevor das Mittagessen beendet war.
Nachmittags war der Kommandant deshalb stets milder gestimmt als
morgens. Der Portwein war ein altes Laster. Es verging kein Tag, an
dem King nicht mindestens zwei Flaschen davon leerte - Portwein aus
dem Fass war ihm nicht gut genug! Die Flaschen wurden mindestens
einen Monat lang sorgfältig gelagert, bevor er sie persönlich
dekantierte.
»Sie meinen Richard Morgan?«
»Ja, den. Major Ross sagte, er sei ein guter Mann,
aber ich bin mir da nicht so sicher. Heute Morgen sagte er mir doch
ganz unverfroren ins Gesicht, ich würde Verschiedenes falsch
machen!«
»Ja, Morgan sagt, was er denkt - aber ich kann mir
nicht vorstellen, dass er es auf eine unverschämte Art tat. Er
erwies sich auf der Alexander als eine große Hilfe, als wir
Probleme mit den Bilgenpumpen hatten. Sie erinnern sich bestimmt
noch daran, dass Sie kurz an Bord kamen, bevor wir Rio erreichten.
Morgan erklärte, dass wir das Problem nur mit Kettenpumpen lösen
könnten.«
King runzelte die Stirn. »Unsinn!«, sagte er
unwirsch. »Ich habe die Kettenpumpen vorgeschlagen!«
»Richtig, Sir, aber Morgan tat es schon vor Ihnen.
Hätte er Major Ross und Marineadmiralarzt White nicht von der
Notwendigkeit der Maßnahme überzeugt, wären Sie gar nicht an Bord
der Alexander gerufen worden.«
»Ach so, verstehe. Aber das ändert nichts daran,
dass er heute Morgen zu weit gegangen ist«, sagte King trotzig. »Es
steht ihm nicht zu, meine Anordnungen zu kritisieren. Ich hätte ihn
auspeitschen lassen sollen.«
»Warum einen tüchtigen Mann bestrafen, nur weil er
einen Kopf auf den Schultern hat?«, fragte Donovan und lehnte
dankend ab, als King sein Glas nachfüllen wollte. »Sie wissen, dass
Morgan intelligent ist, Mr King. Er wollte nicht unverschämt sein,
er nimmt nur seine Arbeit ernst. Er will mehr produzieren.«
Der Kommandant schien nicht überzeugt.
»Seien Sie gerecht, Sir! Wenn ich diese Vorschläge
gemacht hätte - was genau hat Morgan denn vorgeschlagen, wenn ich
fragen darf?«
»Dass sich jemand die Bäume ansieht, bevor sie zu
den Sägegruben geschleppt werden, dass die Holzfäller die Stämme
nach dem Fällen gleich entrinden, und so weiter.«
Trinken Sie erst mal einen Schluck, Herr Leutnant,
dachte Stephen. Er schwieg, bis sein Vorgesetzter das Glas geleert
hatte. Dann hob er beschwörend die Hände. »Mr King, wenn ich das
vorgeschlagen hätte, hätten Sie dann nicht auf mich gehört?«
»Sie haben es aber nicht vorgeschlagen, Mr
Donovan.«
»Weil ich anderswo zu tun habe und weil die Säger
bereits einen Aufseher haben - Morgan! Seine Vorschläge klingen
vernünftig und haben zum Ziel, dass mehr Holz zugesägt wird. Warum
ihn also dafür bestrafen, Sir? Sie haben eine ausgezeichnete
Mannschaft von Holzfällern, Sägern und Schreinern, und mir fiel
auf, dass Sie sich stets bereitwillig anhören, was Nat Lucas zu
sagen hat. In Richard Morgan haben Sie einen zweiten Nat Lucas. Ich
an Ihrer Stelle würde das ausnützen. In zwei Jahren hat er seine
Strafe verbüßt. Wenn es ihm dann auf der Insel so gut gefällt, dass
er bleibt, haben Sie außer Lucas noch jemanden, auf den Sie sich
verlassen können.«
Und damit hatte er genug zu diesem Thema gesagt,
fand Stephen Donovan. Der empörte Ausdruck auf Kings Gesicht war
verschwunden. King hatte so viele gute Eigenschaften. Schade nur,
dass es ihm so schwer fiel, Ratschläge von einem Sträfling
anzunehmen.
Ende November wurde es so schwül, dass die
Arbeitszeiten geändert werden mussten. Die Arbeit begann nun schon
im Morgengrauen und wurde nach einer halbstündigen Frühstückspause
um halb acht bis elf fortgesetzt. Dann ruhte sie bis nachmittags um
drei, sie endete dafür jedoch erst bei Sonnenuntergang. Außerdem
wurde die erste Ernte eingebracht. Sie fiel dort, wo Raupen und
Ratten etwas übrig gelassen hatten, reichlich aus. Ohne die
gefräßigen Biester wäre auf dem fruchtbaren Boden alles
gewachsen.
Um Weihnachten schickte Leutnant King den
Sanitätsoffizier John Turnpenny Altree, Thomas Webb und John
Anderson zur Ball Bay, einem steinigen Strand an der Ostküste der
Insel, vor dem die Supply bei sehr schlechtem Wetter ankern
musste. Die Männer sollten sich dort niederlassen und eine
Fahrrinne durch die runden, kochkesselgroßen Steine anlegen und
freihalten, damit Beiboote zum Strand fahren konnten. Kings
Entscheidung wurde von den anderen mit heimlicher Belustigung
aufgenommen. Altree, ein seltsam untüchtiger Eigenbrötler, mied
Frauen wie die Pest. Thomas Webb hatte bei ihm Zuflucht gesucht,
als Beth Henderson ihn
aus dem Leben seines Bruders gedrängt hatte, und folgte ihm nun
auf Schritt und Tritt. Der Sträfling John Anderson schließlich war
froh, seine Frau und die Arbeit als Säger loszuwerden.
Jim Richardson brach sich eines Sonntags auf der
Suche nach Bananen das Bein so schlimm, dass der Heilungsprozess
Monate dauern konnte. Er würde nie mehr sägen. Richard hatte nun
zwei Säger weniger und konnte vor der Rückkehr der Supply
keine neue Mannschaft zusammenstellen - falls die Supply je
zurückkehrte. In anderen Worten, er musste von nun an selbst sägen
und in der dreieinhalbstündigen Mittagspause und jeder anderen
freien Minute Sägen schärfen. Doch zum Sägen brauchte er einen
Partner.
»Dann muss ich wohl den Gefreiten Wigfall fragen,
ob er sich als Säger etwas hinzuverdienen will«, sagte King, der
seinen Groll gegen Richard längst überwunden hatte. »Wigfall hat
die Statur und die Kraft eines Boxers.«
»Eine gute Wahl, Sir«, sagte Richard. »Aber was
ist, wenn der Gefreite Wigfall nicht gerade sägen kann und deshalb
der untere Mann sein muss? Es gehört sich nicht für einen
Sträfling, einem freien Mann von der Marine Sägemehl ins Gesicht
rieseln zu lassen.«
»Er kann ja einen Hut aufsetzen«, sagte King
unbekümmert und eilte davon.
Zum Glück war der Gefreite Wigfall wie die meisten
Männer seiner Statur gutmütig und nicht aus der Ruhe zu bringen. Er
kam aus Sheffield und hatte auf der Insel keine Freunde.
»Meine Freunde sind alle noch in Port Jackson«,
sagte er zu Richard. »Ich bin ehrlich gesagt ganz froh über neue
Gesellschaft. Außerdem ist mein Lohn als Säger höher als mein Sold.
Dann kann ich früher meinen Abschied nehmen. Ich habe nämlich vor,
irgendwo in der Nähe von Sheffield etwas Land mit einem hübschen
Häuschen darauf zu kaufen. Und wenn ich mir die Heimreise als
Matrose verdiene, kann ich noch mehr Geld sparen.«
»Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mich zuerst als
oberer Mann versuche?«, fragte Richard. »Ich wüsste gern, ob ich
beim Sägen ein so scharfes Auge habe wie beim Schleifen. Außerdem
ist die Arbeit des unteren Mannes etwas leichter. Leider können Sie
keinen Hut tragen, dazu stehen Sie zu nahe an der Säge. Aber ich
sage Ihnen, wann ich anfange zu ziehen, dann können Sie nach unten
sehen.«
Richard bewies auch beim Sägen ein gutes Auge;
Wigfall leider nicht, doch war er dennoch ein guter Partner, der
die Säge kraftvoll nach unten ziehen konnte. Das Sägen war
anstrengend. In Port Jackson wäre er zu dieser Arbeit nicht fähig
gewesen, dachte Richard. Dort war das Essen viel zu knapp und zu
schlecht, aber hier, wo es außer Pökelfleisch noch Fisch, ab und zu
Schildkröte und jede Menge Gemüse gab, von dem besseren Brot ganz
zu schweigen, hier konnte er sägen, ohne dabei über die Maßen
abzunehmen. Er war mit seinen vierzig Jahren in einer besseren
körperlichen Verfassung als der erst dreißigjährige Leutnant
King.
An Weihnachten, einem dunklen, windigen Tag,
schlachtete der Kommandant für seine Sträflingsfamilie ein großes
Mastschwein. Es wurde am Spieß über einem Feuer aus glühenden
Kohlen gebraten, bis seine Haut knusprige Blasen warf. Jede Frau
und jeder Mann erhielt eine doppelte Portion Fleisch und dazu
einige Kartoffeln und ein halbes Pint Rum. Es war Richards erster
Braten seit seiner Verhaftung, und er schmeckte köstlich! Lieber
Gott, ich bin dir ja so dankbar, betete er in jener Nacht, als er
in sein Bett aus Federn sank. Man weiß die einfachen Genüsse des
Lebens erst dann wirklich zu schätzen, wenn man sie lange genug
entbehrt hat.
Am Neujahrsmorgen 1789 ging die Sonne strahlend an
einem wolkenlosen Himmel auf. Die Sträflinge bekamen ein
Viertelpint Rum und hatten den halben Tag frei. Zur Freude Kings
nahmen die Arbeiten dank der Umsicht seiner Aufseher wie von allein
ihren Gang, sodass er sich auf Routinekontrollen beschränken
konnte.
King war überglücklich, als Ann Innet ihm am 8.
Januar 1789 einen gesunden Sohn gebar. Da er als Einziger auf der
Insel Gottesdienste abhielt, taufte er seinen Sohn selbst - auf den
Namen »Norfolk«.
»Ein schöner Name, Norfolk King«, sagte Stephen am
Strand der Turtle Bay zu Richard. »Ich freue mich für den Leutnant.
Jemand wie er braucht eine Familie. Es wird seiner Karriere bei der
Marine zwar nicht gerade förderlich sein, wenn er Ann Innet
heiratet, aber er liebt seinen Sohn abgöttisch. Er wird es schwer
haben, wenn er nach England zurück muss. Was soll er dort mit einem
unehelichen Sohn, ganz zu schweigen von dessen Mutter, die er auch
sehr gern hat?«
»Er wird eine Lösung finden«, erwiderte Richard
ruhig. »Er ist zwar ein launischer Kommandant, aber auch ein
Ehrenmann mit Verantwortungsgefühl. Gewisse Dinge liegen ihm
einfach nicht und er hat ein hitziges Temperament. Mary Gamble hat
es zu spüren bekommen.«
Mary Gamble hatte eine Axt nach einem Eber geworfen
und ihn schwer verletzt. King hatte sich dermaßen darüber
aufgeregt, dass sie das wertvolle Tier beinahe getötet hätte, dass
er ihr nicht zuhören wollte, als sie ihm aufgeregt zu erklären
versuchte, das Tier habe sie angegriffen und sie habe aus Notwehr
gehandelt. In seinem Zorn wollte er sie mit zwölf Dutzend
Peitschenhieben auf den nackten Hintern bestrafen. Als er sich
wieder beruhigt hatte, war er freilich bestürzt - diese wackere
Frau sollte vor Männern wie Dyer den Unterkörper entblößen und
volle 144 Hiebe erhalten, wenn auch mit der harmlosesten Peitsche
aus seinem Sortiment? Großer Gott! Unmöglich! Womöglich hatte der
Eber sie tatsächlich angegriffen. Kein männlicher Sträfling hatte
bisher auch nur halb so viele Peitschenhiebe erhalten! Also
bestellte er Mary Gamble zu sich und verkündete, dass er ihr
großmütig vergebe.
Einige Sträflinge hielten ihn deswegen für dumm,
weichherzig und schwach und beschlossen, bereits bestehende Pläne
für eine Revolte nun endlich in die Tat umzusetzen.
Robert Webb, der Gärtner, eilte zum Kommandanten,
um ihn zu warnen. »Sir, gegen Sie ist eine Verschwörung in
Gang.«
»Eine Verschwörung?«, fragte King verblüfft.
»Ja, Sir. Eine Gruppe von Sträflingen will Sie, Mr
Donovan, die anderen Freien und alle Seesoldaten gefangen nehmen.
Dann wollen sie das nächste Schiff, das kommt, in ihre Gewalt
bringen und damit nach Tahiti fahren.«
Das gebräunte Gesicht des Kommandanten wurde weiß
und er
starrte Webb ungläubig an. »Du lieber Himmel! Wer sind die
Verschwörer denn, Robert?«
»Nach dem, was ich gehört habe, sämtliche
Sträflinge von der Golden Grove bis auf drei« - Webb
schluckte aufgeregt - »und ein paar Leute aus der ursprünglichen
Gruppe.«
»Wie schnell das geht«, sagte King langsam. »Wenn
bereits eine neue Schiffsladung Sträflinge solche Folgen hat, was
soll dann erst werden, wenn Seine Exzellenz noch weitere Ladungen
schickt?« Er fuhr sich mit der Hand über die Augen. »Das ist
wirklich ungeheuerlich! Sogar ein paar von denen, die von Anfang an
mit dabei waren…Wie können sie so dumm sein? Wahrscheinlich handelt
es sich um Noah Mortimer und diesen Grünschnabel Charlie
MacClellan.« Er straffte die Schultern. »Wie hast du es erfahren,
Robert?«
»Meine Frau erzählte es mir, Sir - Beth Henderson.
William Francis sprach sie an, als sie allein war, und bat sie,
herauszufinden, ob ich mitmachen würde. Sie versprach ihm, mich zum
Mitmachen zu überreden, und dann erzählte sie mir alles.«
Der Schweiß lief King in die Augen. Es war eine
Qual, in diesen Breiten im Hochsommer die Uniform eines Leutnants
der Marine tragen zu müssen, doch als Kommandant war er dazu
verdammt. »Welche drei von der Golden Grove sind nicht an
der Verschwörung beteiligt?«, fragte er leise.
»John Bryant, der Katholik, und der Säger Richard
Morgan und sein einfältiger Hausgenosse Joseph Long«, erwiderte
Webb.
»Morgan ist als Aufseher der Säger zu beschäftigt
und Long ist tatsächlich ein Einfaltspinsel. Also frage ich am
besten den Katholiken Bryant aus; er arbeitet mit ihnen zusammen.
Geh sofort zu seiner Hütte, Robert, und bring ihn unauffällig
hierher. Heute ist Samstag, und kaum jemand ist in Sydney Town -
die meinen alle, ich würde nicht merken, dass sie ins Arthur’s Vale
verschwunden sind. Bitte auch Mr Donovan, sich sofort bei mir zu
melden.«
Leutnant King bewies großes Geschick im Umgang mit
der Gefahr. Er machte den Verschwörern einen Strich durch die
Rechnung, bevor sie begriffen, dass ihr Plan aufgedeckt worden
war.
Mit rostigen Musketen bewaffnet verhafteten die
Marinesoldaten die Anstifter der Verschwörung, William Francis,
Samuel Pickett, Joshua Peck, Thomas Watson, Leonard Dyer, James
Davis, Noah Mortimer und Charles MacClellan. Nach langen Verhören
standen schließlich die Schuldigen fest. Nur eine Hand voll Männer
hatte die Verschwörung aktiv geplant, auch wenn die anderen
Sträflinge bereit gewesen waren, sich den Verschwörern
anzuschließen. Francis und Pickett wurden in doppelte Eisen gelegt
und in einen Schuppen gesperrt. Watson und Mortimer bekamen
Fußfesseln, durften sich aber bis zu der für Montag angesetzten
gründlichen Untersuchung frei bewegen.
King schickte einen überraschten Richard Morgan zur
Ball Bay, um die drei dort wohnenden Männer nach Sydney Town zu
holen. In der Zwischenzeit versammelte er seine wenigen Freien und
Seesoldaten auf dem Strand. Den Sträflingen befahl er, in ihren
Hütten zu bleiben. Wer den Befehl missachtete, sollte erschossen
werden.
»Thompson wurde auch noch dabei erwischt, wie er im
Tal Mais stahl!«, sagte King entrüstet zu Donovan. »Er muss
geglaubt haben, Francis würde die Insel übernehmen, bevor ich ihn
wegen Diebstahls auspeitschen lassen könnte. Aber da irrt er sich
gewaltig.«
»Die Verschwörer hätten auf die Supply
warten müssen. Dann hätte unsere ganze Aufmerksamkeit dem Schiff
gegolten«, sagte Stephen. Er war zu taktvoll, um hinzuzufügen, dass
Kings Milde gegenüber Mary Gamble die Verschwörer darin bestärkt
hatte, ihren Plan in die Tat umzusetzen. »Was haben Sie mit den
Frauen vor, Sir?«
King zuckte die Achseln. »Frauen sind Frauen. Sie
sind weder der Grund noch das Problem.«
»Wen wollen Sie bestrafen?‹,
»Möglichst wenige«, erwiderte King. Er sah Stephen
besorgt an. »Sonst kann ich mich nicht gegen die Sträflinge
behaupten, das ist Ihnen sicher klar, Mr Donovan. Kaum eine Muskete
schießt noch und sie sind in der Überzahl. Aber die meisten von
ihnen sind Schafe, die einen Anführer brauchen. Das ist unsere
Rettung, wenn ich darauf verzichte, die Schafe zu bestrafen. Wenn
die Supply kommt, werde ich über sie Port Jackson
benachrichtigen, und dann muss ich warten, bis sie zurückkehrt und
die Rädelsführer abholt, damit sie in Port Jackson vor Gericht
gestellt werden können.«
»Ich habe das Gefühl, dass Sie die Probleme auf der
Insel nicht dadurch lösen werden, dass Sie die Männer nach Port
Jackson bringen«, sagte Stephen nachdenklich.
Kings Augen funkelten wütend. »Ich weiß auch,
warum«, sagte er grimmig. »Man hat die meisten Sträflinge ja
hergeschickt, um sie loszuwerden. Der Gouverneur wird sie nicht
zurückhaben wollen, und Meuterer schon gleich gar nicht. Er müsste
sie hängen lassen, und das tut er nicht gern. Es fällt ihm schon
bei den Verbrechern, die ihre Verbrechen in Port Jackson verübt
haben, schwer genug. Außerdem präsentiert er die Insel gern als
Beispiel einer erfolgreichen Politik. Norfolk ist zu abgelegen, um
unter einem System zu gedeihen, in dem Männer befehlen, die ihren
Amtssitz nicht hier auf der Insel, sondern im tausend Meilen
entfernten Port Jackson haben. Die Behörden von Norfolk Island
müssten in Angelegenheiten, die die Insel betreffen, selbst
entscheiden können.«
»So ist es«, seufzte Stephen. »Eine verzwickte
Situation.« Er beugte sich vor. »Doch Sie haben einen gelernten
Büchsenmacher auf der Insel, Sir, der nicht in die Verschwörung
verwickelt war - Morgan, den Säger. Darf ich Sie ergebenst bitten,
ihn sofort mit der Reparatur unserer Schusswaffen zu betrauen? Dann
könnten Freie und Seesoldaten immer am Samstagmorgen zwei Stunden
lang schießen üben. Ich könnte östlich von Sydney Town einen
Schießstand errichten und die Schießübungen überwachen, wenn Morgan
mir dabei hilft.«
»Eine ausgezeichnete Idee! Kümmern Sie sich darum,
Mr Donovan.« Der Kommandant grunzte. »Wenn Seine Exzellenz unsere
Meuterer nicht in Port Jackson haben will, wie ich fürchte, dann
muss er mir eine größere Abteilung Seesoldaten unter dem Kommando
eines Offiziers schicken. Außerdem brauche ich ein paar Kanonen und
jede Menge Schießpulver, Kugeln und Patronen für die Musketen. Ich
werde gleich einen Brief aufsetzen.« King wirkte
ernst und entschlossen. »Und von jetzt an, Mr Donovan, werden Sie
als Oberaufseher der Sträflinge für mehr Disziplin sorgen. Wenn die
Burschen es darauf anlegen, ausgepeitscht zu werden, dann bekommen
sie die Peitsche. Ich bin zutiefst enttäuscht und verletzt!«
Nach den Vernehmungen richtete sich der ganze
Groll der Verschwörer gegen John Bryant, einen geradezu fanatisch
frommen Katholiken. Er hatte die Verschwörer besonders schwer
belastet, denn er hatte ausgesagt, sie hätten schon an Bord der
Golden Grove geplant, das Schiff in ihre Gewalt zu bringen,
doch dieser erste Plan sei geplatzt, weil er, Bryant, ihn Captain
Shairp verraten habe. William Francis und Samuel Pickett wurden
schließlich als Anstifter der Revolte ausgemacht und sollten mit
doppelten Eisen gefesselt in Haft bleiben. Noah Mortimer und Thomas
Watson sollten leichte Fußfesseln tragen, solange der Kommandant es
für nötig hielt. Die Übrigen gingen straffrei aus.
Eine traurige Folge der Verschwörung war, dass das
kleine Sydney Town nicht mehr idyllisch zwischen hohen Tannen und
»weißen Eichen« lag, denn Leutnant King ließ alle Bäume fällen und
sogar das Unterholz zwischen ihnen roden. An den beiden Enden der
Siedlung wurde je ein Seesoldat postiert, der sogar nach Einbruch
der Dunkelheit das Kommen und Gehen zwischen den Hütten
beobachtete. Tom Jones, ein Kumpan von Len Dyer, erhielt 36
Peitschenhiebe, weil er Stephen Donovan und Sanitätsoffizier Thomas
Jamison durch verächtliche sexuelle Anspielungen beleidigt
hatte.
»Das Klima hat sich verändert«, sagte Richard zu
Stephen, als sie vor der ersten Schießübung die Musketen noch
einmal überprüften. »Schade. Mir gefällt die kleine Insel, und ich
könnte hier glücklich sein, wenn die anderen Männer nicht da wären.
Ich möchte nicht länger im Hüttendorf wohnen. Die Bäume sind weg
und man hat kein Privatleben mehr - selbst beim Pinkeln schauen
einem Leute zu. Am liebsten würde ich mich irgendwohin
zurückziehen, wo ich meine Ruhe habe, und meine Kontakte zu anderen
Sträflingen auf die Sägegruben beschränken.«
Stephen sah ihn verwundert an. »Sind sie Ihnen so
zuwider, Richard?«
»Einige mag ich. Es sind die Schurken, die immer
alles verderben - und warum? Lernen sie nie dazu? Denken Sie nur an
den armen Bryant. Sie wissen, dass die Kerle sich geschworen haben,
ihn fertig zu machen, und das werden sie.«
»Als Oberaufseher der Sträflinge werde ich alles
tun, um das zu verhindern. Bryant hat eine nette Frau, und die
beiden lieben sich innig. Wenn ihm etwas zustoßen sollte, würde es
ihr das Herz brechen.«
Das Jahr 1789 begann mit heftigen Regenfällen und
Stürmen. Sie vernichteten den Rest der Gerste, verdarben einige
Fässer mit Mehl und machten das Fischen an den meisten Tagen
unmöglich und das Leben im nun baumlosen Hüttendorf ausgesprochen
ungemütlich. Kleider und Bettzeug waren feucht, kostbare Bücher und
ebenso kostbare Schuhe setzten Schimmel an, und viele Inselbewohner
klagten über Erkältungen und Kopf- und Gliederschmerzen. Mitte
Februar ließ der Kommandant Francis und Pickett aus dem Schuppen
holen und ohne Handschellen, aber mit schweren Eisen an den Füßen
in ihre Hütten zurückbringen. Die Supply ließ sich nicht
blicken. Als letztes Schiff hatte die Golden Grove vor der
Insel Anker geworfen, und das war nun schon vier Monate her. Würden
sie nie mehr ein Schiff zu Gesicht bekommen? War der Supply
etwas zugestoßen? Was ging in Port Jackson vor?
Das schlechte Wetter setzte allen zu, besonders dem
Kommandanten. Er wusste, dass es bei so heftigen Regenfällen zu
riskant war, mit dem Bau eines Damms zu beginnen; außerdem hatte er
einen schreienden Säugling im Haus. Die meisten Arbeiten mussten
verschoben werden, und die Männer saßen zu viel herum und murrten.
Nur den drei Männern in der Ball Bay ging es besser. Sie wohnten
mit genügend Nahrungsmitteln versehen in einem festen Haus im
Schutze der Pinien und konnten auch beim stärksten Regen noch
Fische fangen.
Der 26. Februar sollte allen als schrecklicher Tag
in Erinnerung
bleiben. Der Tag begann mit heftigen Winden aus Ostsüdost und
einer so hohen Flut, dass die Brandung bis zu den Stränden der
Lagune reichte. Stephen und Richard wollten zum Point Hunter
hinauslaufen. Auf halber Strecke drehten sie sich um. Die
Küstenlinie im Westen bot einen Furcht erregenden Anblick.
Gewaltige Brecher krachten mit solcher Wucht gegen die Klippen,
dass die Gischt über 300 Fuß hoch aufspritzte und bis zu dem vier
Meilen landeinwärts gelegenen höchsten Berg der Insel geweht
wurde.
»Du lieber Gott, da braut sich der schlimmste Sturm
aller Zeiten zusammen!«, schrie Stephen.
Als sie sich um die Turtle Bay gekämpft hatten und
zurückblickten, war nicht nur Phillip Island mit seinen hohen
Bergen in den schäumenden Fluten verschwunden, sondern auch das
nähere Nepean Island. Der Wind, der inzwischen aus Südosten kam,
wurde immer stärker. Die ganze Gewalt der Elemente richtete sich
auf die Siedlung.
Geduckt, um dem Sturm weniger Angriffsfläche zu
bieten, scheuchten die Leute Schweine und Federvieh in die Schuppen
und Hütten, dann verbarrikadierten sie die Türen mit Baumstämmen
und kletterten durch die Fenster in ihre Hütten.
So laut war das Getöse des heulenden Sturms und der
herandonnernden Wassermassen, dass Richard und Stephen nicht einmal
das laute Ächzen einer 180 Fuß hohen Tanne hörten, die hinter der
Turtle Bay aus der Erde gerissen wurde. Sie sahen den Baum nur
wegfliegen. Mit seiner spitz zulaufenden Krone und den mächtigen
Wurzeln sah er aus wie ein Pfeil, der 30 Fuß über der Erde auf die
Hügel landeinwärts zuraste. Weitere Bäume folgten. Es war, als
hätte eine Armee von Riesen die Insel überfallen; die Sturmböen
waren ihre Bögen, die Tannen ihre Pfeile und die weißen Eichen ihre
Enterhaken.
Stephen kämpfte sich an den Hütten entlang, um sich
zu vergewissern, dass alle Öffnungen dichtgemacht waren. Als
Richard seine Hütte erreichte, sah er, dass die Tür bereits mit
einem Baumstamm verrammelt war. Er war froh, dass Joey und
MacGregor in Sicherheit waren, doch er selbst blieb lieber draußen.
In der Hütte blind seinem Schicksal ausgeliefert zu sein, war für
ihn ein schrecklicher
Gedanke! Stattdessen setzte er sich vor die im Windschatten
liegende Rückwand und betrachtete die Naturkatastrophe, die sich
vor ihm abspielte.
Dann kam der Regen. Der Wind peitschte ihn fast
waagerecht vom Meer herein, sodass Richard trotz der Sintflut
trocken blieb. Weiter hinten hoben sich Dächer von den Hütten und
schwebten wie Regenschirme davon. Am heftigsten schien der Sturm
freilich dreißig Fuß über dem Boden zu toben - dieser Umstand und
das Fehlen von Bäumen in unmittelbarer Nähe der Hütten retteten die
Siedlung. Hätte Leutnant King nicht angeordnet, das ganze Gelände
zu roden, wären Schuppen, Häuser und Hütten samt der Menschen darin
unter umgestürzten Bäumen begraben worden.
Um acht Uhr morgens hatte der Sturm begonnen, gegen
vier Uhr nachmittags flaute er allmählich wieder ab. Nur die Hütten
im mittleren Abschnitt, wo Richard und Joey wohnten, und die
größeren Häuser, die nicht mit Flachs, sondern mit Schindeln
gedeckt waren, hatten ihre Dächer behalten.
Doch erst am nächsten Tag, der mild und windstill
war, als sei nichts gewesen, sahen die 64 Bewohner von Norfolk
Island das ganze Ausmaß der Verwüstungen, die der Orkan angerichtet
hatte. Wo der Sumpf gewesen war, wälzte sich nun ein Fluss; alle
gerodeten Flächen waren fast kniehoch mit Tannenzweigen, Buschwerk,
Sand, Korallenbrocken und Blättern bedeckt, und vor den dem Sturm
zugewandten Hauswänden türmten sich Trümmer, die teilweise so fest
im Holz der Wände steckten, dass man sie gewaltsam herausziehen
musste. In den Wäldern der Umgebung hatte der Sturm große Flächen
bis auf den letzten Baum niedergemäht. An den riesigen Wurzelballen
der gefällten Tannen und ihren langen Pfahlwurzeln konnte man
ermessen, wie stark die Böen gewesen sein mussten, die sie aus der
Erde gerissen hatten. Wo die Bäume gestanden hatten, klafften nun
tiefe Krater. Die Verluste an Tannen waren hoch. Allein in
Sichtweite von Sydney Town waren hunderte von Bäumen entwurzelt
worden. Das unlängst gerodete, anderthalb Hektar große Gebiet
hinter dem Sumpf war dicht mit umgestürzten Tannen bedeckt. Selbst
fünfzig Holzfäller hätten in einem ganzen Monat nicht so viele
Bäume umhauen können.
»Die Natur hat verrückt gespielt, normal ist das
nicht«, sagte Leutnant King aufmunternd zu den versammelten
Sträflingen. Selbst die aufsässigsten Gemüter unter ihnen wirkten
eingeschüchtert. »Nirgendwo auf der Insel habe ich Anzeichen dafür
entdeckt, dass hier je ein so schwerer Orkan gewütet hat, zumindest
nicht in den Jahrhunderten, die die Pinien brauchten, um
zweihundert Fuß hoch zu werden. Einen solchen Sturm hat es schlicht
noch nicht gegeben.« Er wurde ernst, und sein Gesicht erinnerte
jetzt an einen methodistischen Pfarrer, der von Hölle und
Verdammnis predigte. »Warum passiert so etwas ausgerechnet in
diesem Jahr? Wer von euch gesündigt hat, der prüfe sein Gewissen.
Denn dieser Sturm ist das Werk Gottes! Wir müssen uns also fragen,
warum Gott den ersten Menschen, die sich auf dieser paradiesischen
Insel niedergelassen haben, diese Prüfung sandte. Bittet um
Vergebung und sündigt nie wieder! Das nächste Mal könnte sich die
Erde auftun und euch mit Haut und Haaren verschlingen!«
Kings Strafpredigt zeigte tatsächlich Wirkung,
zumindest ein paar Wochen lang. Dann vergaßen die Menschen ihre
guten Vorsätze wieder.
Der Kommandant musste sich allerdings selbst
fragen, ob er mit seinem hitzigen Temperament Gott nicht ebenfalls
erzürnt hatte, denn ein Baum hatte eine Sau, die ihm gehörte, und
einen ganzen Wurf Ferkel erschlagen.
Männer und Frauen waren tagelang mit
Aufräumarbeiten beschäftigt. Und das Wasser der Lagune, das die
weggespülte Erde rostrot gefärbt hatte, leuchtete erst nach einem
Monat wieder blau.
Als am 2. März die Supply auf der Reede
eintraf, machten Richard und seine Säger sich wieder an die Arbeit.
Die Siedlung in Neusüdwales brauchte wieder Balken, Bretter und
Planken und für die Schiffe Rundhölzer. Wenigstens mussten keine
Bäume mehr gefällt werden, auch wenn viele der überall
herumliegenden Stämme alt und morsch waren.
Unter den neuen Sträflingen, die mit der
Supply kamen, war auch ein erfahrener Säger namens William
Holmes - noch ein William!
Da Richard wusste, dass der Kommandant eine dritte Sägegrube
ausheben lassen wollte, wies er dem neuen Säger die Sägegrube am
Strand zu und forderte ihn auf, sich unter den anderen
Neuankömmlingen drei Gehilfen zu suchen. Holmes war ein tüchtiger
Mann. Er hatte seine Frau Rebecca mitgebracht, und das Paar
gliederte sich schnell in die Gemeinschaft ein. Die Sägegrube in
Arthur’s Vale überließ Richard Bill Blackall und Will Marriner, er
selbst wollte sich mit dem Gefreiten Wigfall, Sam Hussey und Harry
Humphreys in die neue Sägegrube weiter oben im Tal
zurückziehen.
Dort wird es friedlicher zugehen, dachte er. Ich
frage Leutnant King, ob ich mir in der Nähe ein Haus bauen darf.
Joey Long muss dann eben alleine zurechtkommen. Mein Bett und mein
Bettzeug, die Hälfte der Decken, meine Bücher und meine übrigen
Sachen nehme ich mit - und einen der Welpen von MacGregor und
Delphinia. Mr King hat Joey schließlich erlaubt, zwei zu behalten.
Ein guter Rattenfänger wird droben im Tal ein Segen sein.
Richard konnte seine Pläne alle verwirklichen.
Stephen Donovan war der Einzige, der das bedauerte. Er sah Richard
jetzt nicht mehr so oft wie früher, als er auf dem Weg zum
Schwimmen in der Turtle Bay an Richards Hütte vorbeigekommen
war.
Im Winter trafen vierzehn neue Seesoldaten unter
dem Kommando von Leutnant John Creswell ein. Dank der zusätzlichen
Arbeitskräfte und der strengeren Beaufsichtigung konnte der
Kommandant die meisten seiner Vorhaben in die Tat umsetzen. Auch
der Damm wurde gebaut. Einige hundert Meter oberhalb des Dammes
stand einsam am Waldrand Richards neues Haus.
Als Nächstes nahm Leutnant King Wege in Angriff.
Ein drei Meilen langer Weg wurde quer durch die Insel zur Cascade
Bay angelegt. Die Bucht hatte diesen Namen erhalten, weil dort der
imposanteste der vielen kleinen Wasserfälle der Insel von einer
Klippe ins Meer stürzte. Vor dem Ufer bildete ein vorspringender
Felsen eine Art Terrasse, an der Boote anlegen konnten, wenn das
stürmische Wetter eine Landung an der Sydney Bay unmöglich machte.
Außerdem wuchs in der Umgebung der Cascade Bay besonders
viel guter Flachs. Leutnant King beschloss deshalb, oberhalb des
Landungsplatzes eine neue Siedlung namens Phillipburgh zu
errichten, in der Flachs zu Leinwand verarbeitet werden
sollte.
In Sydney Town schossen entlang der Straße immer
mehr Hütten und Häuser wie Pilze aus dem Boden. Richard besuchte
den Ort nur noch, um am Gottesdienst teilzunehmen und seine
Verpflegungsrationen abzuholen. Sein Hund MacTavish, der sich als
ebenso guter Wächter erwies wie sein Vater MacGregor, war die
einzige Gesellschaft, die er wünschte - von Stephen Donovan
abgesehen, der in seinen Gedanken längst nicht mehr Mr Donovan,
sondern nur noch »Stephen« war.
Richards Haus maß zehn auf fünfzehn Fuß und hatte
mehrere große Fensteröffnungen, die viel Licht hereinließen. Johnny
Livingstone hatte ihm einen Tisch und zwei Stühle angefertigt. Das
Dach war mit Flachs gedeckt, doch King hatte ihm bis zum Jahresende
Schindeln versprochen. Der Boden bestand aus Holzdielen. Das
Fundament des Hauses bildeten Tannenstämme. Das Holz verrottete in
der Erde zwar, aber Richard konnte faulende Stämme wenigstens
leicht herausziehen und ersetzen, ohne das Haus abreißen zu müssen.
Innen war das Haus mit dünnen, schön gemaserten Tannenbrettern
verkleidet. Die geriffelte Maserung erinnerte Richard an
Sonnenstrahlen auf ruhigem Wasser.
Die Zahl der Inselbewohner war auf hundert
gestiegen, und auch die Zahl der Einbrüche hatte zugenommen. Von
Richard Morgan hielten die Diebe sich freilich fern. Wer einmal die
Muskeln seines nackten Oberkörpers unter der gebräunten Haut hatte
arbeiten sehen, wenn Richard die vierzehn Fuß lange Säge durch
einen dicken Stamm zog, vermied es, sich mit ihm anzulegen.
Außerdem war Richard ein Einzelgänger, und Einzelgänger waren den
meisten Inselbewohnern unheimlich. Ein Mann, der lieber allein war,
der keine Gesellschaft suchte und sich nicht nach Anerkennung durch
andere sehnte, konnte nicht ganz richtig im Kopf sein. Doch Richard
genoss sein Einsiedlerdasein. Er fand es erstaunlich, dass nicht
mehr Leute, die jahrelang so dicht mit anderen zusammengesperrt
gewesen waren, das Bedürfnis nach Einsamkeit hatten.
Im Winter rächte der harte Kern der Meuterer sich
schließlich doch noch an John Bryant. Francis, Pickett, Watson,
Peck und andere Sträflinge von der Golden Grove schlugen
Holz auf dem Mount George, als Bryant - keiner wusste, wie oder
warum - unter eine umfallende Tanne geriet. Der Baum zerschmetterte
Bryant den Kopf. Er starb zwei Stunden später und wurde noch am
selben Tag beerdigt. Weinend lief seine vor Kummer halb wahnsinnige
Witwe durch Sydney Town.
»Die Stimmung ist angespannt«, sagte Stephen nach
der Beerdigung auf dem Weg zu Richards Haus.
»Es musste so kommen«, erwiderte Richard nur.
»Die arme Frau! Und es war kein Priester da, um
ihren Mann zu beerdigen.«
»Gott ist das egal.«
»Gott ist alles egal!«, sagte Stephen heftig. Er
betrat Richards Haus, und ihm fiel auf, wie sauber und aufgeräumt
es war. »Herrgott«, seufzte er und sank auf einen Stuhl. »Heute ist
einer der seltenen Tage, an denen ich einen Schluck Rum gebrauchen
könnte. Ich fühle mich am Tod Bryants mitschuldig.«
»Es musste so kommen«, wiederholte Richard.
MacTavish sprang auf Richards Schoß und legte sich
ruhig hin. Er hat ihn gut erzogen, dachte Stephen. Wie schafft er
es nur, immer noch genauso auszusehen wie bei unserer ersten
Begegnung? Wir anderen werden alt und bitter, doch er bleibt so,
wie er immer war.
»Bringen Sie mir ein paar der Zuckerrohrstauden,
die hier überall wachsen«, sagte Richard. »Dann bekommen Sie in
zwei Jahren mehr Rum, als Sie trinken können.«
»Wie bitte?«
»Ach, natürlich brauche ich auch noch zwei
Kupferkessel, etwas Kupferblech, ein paar Kupferrohre und einige in
der Mitte durchgesägte Fässer«, fuhr Richard lächelnd fort. »Ich
kann unter anderem auch Schnaps brennen, Mr Donovan.«
»Donnerwetter, Sie sind wirklich der Traum jedes
Kommandanten, Richard! Und nennen Sie mich doch bitte endlich
Stephen! Ich rede Sie doch auch mit dem Vornamen an. Nach all den
Jahren
wird es wirklich Zeit, dass Sie Ihre Förmlichkeit ablegen, auch
wenn Sie immer noch ein Sträfling sind. Ich hasse diese Bristoler
Manieren!«
»Tut mir Leid, Stephen«, sagte Richard
augenzwinkernd.
»Na also! Geschafft!« Stephen war überglücklich,
endlich seinen Namen aus Richards Mund zu hören, doch er verbarg
seine Gefühle hinter einem Stirnrunzeln. »Die Seesoldaten murren,
weil nie genug Rum da ist, um ihnen volle Rationen zu geben, und
Leutnant Creswell ist mit seiner Weisheit am Ende. Ihm geht es ja
auch nicht besser. King kümmert das natürlich nicht, solange er
seinen Portwein hat, aber Creswell würde lieber Rum trinken. In
Port Jackson gibt es auch kaum welchen. Ich wette, eine
Rumbrennerei auf Norfolk Island würde die volle Zustimmung Seiner
Exzellenz finden. Es wäre viel billiger, selbst Rum herzustellen,
als ihn per Schiff herzuschaffen, und selbst der idealistischste
Beamte weiß, dass Rum ebenso wichtig ist wie Brot und
Pökelfleisch.«
»Ich kann ja schon mal ein Zuckerrohrfeld anlegen.
Dagegen dürfte niemand etwas haben. Zuckerrohr gedeiht auf diesem
Boden prächtig, und die Raupen mögen es nicht. Und Weizen und Mais
werden wir diesen Sommer trotz der Ratten und Raupen ernten können,
da bin ich sicher.«
»Ich hoffe es für uns alle. Harry Ball von der
Supply sagt, dass bald noch mehr Leute hierher gebracht
werden.« Stephen schauderte. »Ich glaube, nie in meinem Leben,
nicht einmal während des Orkans, graute mir so wie damals, als das
ganze Tal eine einzige wimmelnde Masse von Raupen war. Die Hunnen
waren nichts dagegen. Ich dachte wirklich schon, der Teufel hätte
sie uns geschickt. Brr!« Wieder überlief ihn ein Schauer. Er
wechselte das Thema. »Wer vergreift sich eigentlich an unseren
Schweinen, Richard? Eins wurde getötet, ein anderes
verstümmelt.«
Mit einer an Liebe grenzenden Zuneigung studierte
Richard Stephens Gesicht, nur dass Liebe seiner Meinung nach nicht
der richtige Ausdruck für das war, was er für den Freund empfand.
Nicht weil das sexuelle Element fehlte, sondern weil Liebe ein
Gefühl war, das er mit William Henry, der kleinen Mary und Peg
verband.
Jahrelang hatte er die Erinnerung an diese drei
Menschen verdrängt,
doch nun war sie plötzlich wieder da, so klar wie der Bach, der
weiter oben aus dem Fels sprudelte, so weit weg wie die Sterne und
zugleich so nah wie MacTavish auf seinem Schoß. Weder die Zeit noch
all das, was er inzwischen erlebt hatte, hatten sie trüben oder gar
auslöschen können. Ich bin wie ein Gefäß, das mit ihrem Licht
gefüllt ist, dachte Richard, und irgendwann, irgendwo werde ich
diese Liebe wieder erfahren. Nicht in einem jenseitigen Leben,
sondern hier, auf dieser Insel. Ich bin wieder erwacht und
lebendig. Ich berste vor Leben! Und ich will diese Lebenskraft
nicht verschwenden, ich will nicht zu den Leuten gehören, die
überall nur mutwillig Schaden anrichten. Peg, die kleine Mary und
William Henry sind hier. Sie warten auf mich. Sie werden bei mir
sein.
Stephen entging die Veränderung in Richard nicht.
Als hätte Richard eine alte Haut abgestreift, dachte er. Was habe
ich denn gesagt? Was hat diese erstaunliche Verwandlung bewirkt?
Und warum darf ausgerechnet ich ihr Zeuge werden?
»Wer das Schwein getötet hat?«, nahm Richard
Stephens Frage auf. »Das ist doch klar. Len Dyer.«
»Warum Len Dyer?«
»Er ist scharf auf Mary Gamble, die aber keinen an
sich heranlässt. Er hat sie angesprochen wie ein Rüpel, ohne
Respekt oder Interesse für sie als Mensch. Du weißt schon, was ich
meine. ›He, Gamble, lass uns ficken.‹ Da hat sie ihn vor seinen
Kumpanen beschimpft.« Richard machte ein grimmiges Gesicht. »Dyer
ist hinterhältig und rachsüchtig. Mary hat schon einmal eine Axt
nach einem Eber geworfen und wäre dafür beinahe ausgepeitscht
worden. Warum nicht ein paar Schweine abstechen? Man wird dann
natürlich sofort Mary verdächtigen.«
»Jetzt nicht mehr, mit solchen Burschen werde ich
fertig.« Stephen stand auf und warf Richard übermütig eine Kusshand
zu. »Nenn mich doch bitte noch einmal Stephen.«
»Stephen«, sagte Richard lachend. »Aber jetzt geh.
Ich muss an die Arbeit.«
Leutnant King hatte in dem Gebiet zwischen den
alten Gemüsebeeten und Point Hunter am Ende der Turtle Bay unter
der Erde
ein leicht abbaubares Gestein entdeckt. Zunächst wollte er den
Stein für Kamine und Öfen verwenden, doch dann stellte er fest,
dass er gebrannt einen hervorragenden Kalk ergab.
Im Dezember brachte die Supply weitere
Sträflinge, die die Einwohnerzahl von Norfolk Island auf 132
erhöhten, und außerdem ein Schreiben von Gouverneur Phillip mit der
Anweisung, die Verpflegungsrationen um ein Drittel zu kürzen. In
Port Jackson hatte er dasselbe angeordnet.
Seit zwei Jahren war kein Schiff aus England mehr
eingetroffen. Das sehnlichst erwartete Versorgungsschiff
Guardian, das neben privaten Gütern von Angehörigen der
Marine Tonnen von Mehl, Pökelfleisch und anderen Lebensmitteln
sowie Tiere nach Port Jackson bringen sollte, war nicht gekommen,
und niemand wusste, warum. Seit einem Jahr hielten die Wachposten
auf der südlichen Landspitze vor der Hafeneinfahrt von Port Jackson
nun schon vergeblich nach der Guardian Ausschau. Jedes
Segel, das sie am Horizont zu erkennen glaubten, entpuppte sich zu
ihrer Enttäuschung als Fontäne eines Wals, Schaumkrone oder ein
niedriges weißes Wölkchen. Die Lebensmittel, die die Sirius
im Mai 1789 vom Kap der Guten Hoffnung mitgebracht hatte, gingen
allmählich zur Neige, ohne dass Nachschub in Sicht gewesen wäre.
Die einzige Hoffnung von Gouverneur Phillip war Norfolk Island, auf
dessen Feldern zumindest einige Dinge wuchsen und wo es keine
plündernden Eingeborenen gab.
Die im Dezember mit der Supply
eingetroffenen Neuankömmlinge schilderten die Zustände in Port
Jackson als katastrophal. Die Menschen dort waren inzwischen bis
auf die Knochen abgemagert und buchstäblich vom Hungertod bedroht.
Auf dem Rose Hill und in einigen Gebieten nördlich und südlich von
Port Jackson wuchs inzwischen zwar etwas Gemüse, doch mit einer
nennenswerten Getreideernte war in den nächsten Jahren nicht zu
rechnen.
Gouverneur Phillip beschloss, die Sirius
nach China zu schicken, wo es Reis und Rauchfleisch im Überfluss
gab und außerdem Tee und Zucker, mit denen man den Sträflingen das
entbehrungsreiche Leben etwas versüßen konnte. Außerdem hoffte er,
in
den europäischen Handelsniederlassungen in Wampoa Rum kaufen zu
können. Dass die Lage Anfang 1790 noch schlimmer sein würde als
Anfang 1789, hatte er nicht erwartet.
Während die Sirius für die lange Reise
gerüstet wurde, fuhr die Supply noch einmal mit Sträflingen
an Bord nach Norfolk. Später sollte die Sirius auf dem Weg
in den Orient zusammen mit der Supply weitere 183 Sträflinge
- 116 Männer und 67 Frauen - sowie 28 Kinder, 8 Offiziere und 56
Seesoldaten nach Norfolk bringen. Danach hatte die Insel 424
Einwohner.
Der Gouverneur kannte seine Untergebenen,
insbesondere Leutnant Phillip Gidley King, der mit ihm auf der
Ariadne und der Europa gedient hatte. Die Berichte
Kings, die die Supply von ihren Fahrten nach Norfolk Island
mitbrachte, ließen Seine Exzellenz daran zweifeln, ob King seinen
Aufgaben als Inselkommandant noch gewachsen sein würde, wenn die
kleine Inselgemeinde plötzlich so groß war, dass er die Menschen
nicht mehr persönlich kannte. King hatte seinen Sohn auf den Namen
der Insel getauft! Schon das zeigte, was für ein Romantiker er war.
Und ein Romantiker war nicht geeignet, eine große Sträflingskolonie
zu regieren.
Gouverneur Phillip überlegte sich noch aus anderen
Gründen, King abzuberufen. Erstens wäre er gern den nörgeligen
Schotten Major Ross losgeworden, zweitens musste er so schnell wie
möglich einen Mann, dem er voll vertrauen konnte, nach England
schicken. Der Gesandte sollte in Erfahrung bringen, warum kein
Nachschub kam, und die derzeitigen Machthaber davon überzeugen,
dass Neusüdwales zwar alle Voraussetzungen erfüllte, eine blühende
Kolonie zu werden, dazu jedoch mehr Entwicklungshilfe brauchte. Die
bewilligten 50 000 Pfund waren lächerlich wenig, wenn man bedachte,
dass die Ostindische Kompanie jährlich allein für Bestechungsgelder
mehr ausgab! Philip vertraute King, Ross dagegen nicht. Er hätte
auch Captain Hunter von der Sirius schicken können, doch dem
traute er ebenfalls nicht, weil Hunter wie Ross ein typischer
schottischer Schwarzseher war. Für Ross und Hunter war Neusüdwales
nur ein trostloser Vorposten ohne Entwicklungsmöglichkeiten.
Wahrscheinlich hätten sie der Krone
empfohlen, das Experiment sofort zu beenden. Der Gouverneur
seinerseits glaubte fest an die Zukunft von Neusüdwales. Es war nur
eine Frage der Zeit und des Geldes.
Er schickte deshalb mit der Supply nicht nur
weitere Sträflinge nach Norfolk Island, sondern auch einen Brief an
Leutnant King, in dem er ihm befahl, mit Ann Innet und seinem Sohn
nach Port Jackson zurückzukehren, wo er mit den Einzelheiten einer
höchst wichtigen Mission vertraut gemacht werden würde. Seinen
Platz in Norfolk sollte Vizegouverneur Ross einnehmen. So schlug
Gouverneur Phillip mehrere Fliegen mit einer Klappe: Er wurde nicht
nur Major Ross los, sondern auch Captain Hunter, der mit der
Sirius von Norfolk Island aus nach China weitersegeln
sollte. Und wenn die Insel erst 424 Einwohner hatte, hatte Port
Jackson nur noch 591.
Am Samstag, dem 13. März 1790, trafen die
Sirius und die Supply zusammen vor Norfolk Island
ein. Sie mussten zunächst vor der Cascade Bay auf der Leeseite der
Insel Anker werfen, da nach einem nassen, windigen Sommer die
Äquinoktialstürme mit voller Macht eingesetzt hatten. Der Weg quer
durch die Insel war schon beschwerlich genug, ihn zu erreichen
freilich noch schwieriger, da die Küste von Cascade Bay steil ins
Meer abfiel. Der einzige Pfad zur Kuppe führte vom Landungsfelsen
durch eine Schlucht so steil nach oben, dass die Frauen ohne fremde
Hilfe nicht hinaufsteigen konnten, zumal das Wasser den Boden
aufgeweicht und schlüpfrig gemacht hatte.
King schickte alle Sträflinge mit Ausnahme der
Säger und Schreiner zum anderen Ende der Insel, um mitzuhelfen, die
von Major Ross angeführten Neuankömmlinge und ihr Gepäck zur Kuppe
hinauf und dann über die Insel nach Sydney Town zu bringen.
»Der arme Teufel tat mir schrecklich Leid«, sagte
Stephen zu Richard. Die beiden saßen in Richards Haus vor einem
selbst gekochten Mittagessen, das aus kaltem, ungesüßtem
Reisauflauf, einem kleinen Stück Pökelfleisch und einer Hand voll
Petersilie bestand, und sahen durch das offene Fenster in den
prasselnden Regen.
Stephen hatte das Mehl und das Pökelfleisch beigesteuert, Richard
den Reis und die Petersilie.
»Du meinst Major Ross?«
»Ja. Er und Hunter hassen einander wie die Pest,
und Hunter schickte Ross mit einem Beiboot der Sirius an
Land, das bis zu den Dollborden mit Hühnern, Puten, Kisten und
Fässern beladen war. Ross bekam so schlimme Wadenkrämpfe, dass er
es kaum noch schaffte, vom Boot auf den Landungsfelsen zu springen.
Von Hunters Männern half ihm keiner. Ich glaube, sie hätten den
Major zu gern um sein Leben schwimmen sehen. Doch Major Ross wäre
nicht Major Ross, wenn er ihnen diesen Spaß gegönnt hätte. Er
gelangte so trocken ans Ufer, wie es bei dem Regen möglich war.
Seine Sachen sind immer noch auf der Sirius und werden
sicher zuletzt ausgeladen. Ich habe ihn abgeholt und wollte ihm den
gefährlichen Hang hinaufhelfen, doch glaubst du, er hätte das
zugelassen? Er doch nicht! Nass bis auf die Haut, hoch erhobenen
Hauptes und mit verkniffenem Mund stieg er zur Kuppe hinauf und
rannte dann so schnell über die Insel, dass ich kaum hinterherkam.
Er mag aussehen wie ein Pferd, aber er ist wirklich ein
Prachtkerl!«
Richard grinste breit, sagte aber nichts. Er stand
auf, stellte die Teller in den Regen hinaus und wischte den Tisch
ab. Natürlich hatte es sich nach dem letzten Besuch der
Supply schnell herumgesprochen, dass Leutnant King gehen und
durch Major Ross ersetzt werden sollte. Fast alle Inselbewohner
stöhnten, als sie das hörten, besonders Männer wie Dyer und
Francis. Richard Morgan dagegen fand die Aussicht gar nicht so
schlecht. Leutnant King war ein guter Kommandant gewesen, aber für
seinen familiären Stil waren im Grunde schon 149 Leute zu viel. Die
Insel war zwar nicht groß, doch war Sydney Town nicht der einzige
Ort, an dem Menschen angesiedelt werden konnten. Trotzdem hatte
King nur eine andere Siedlung gegründet: Phillipburgh, wo der
Flachs verarbeitet werden sollte. King wollte alle Mitglieder
seiner inzwischen gewachsenen Familie in der kleinen Ebene um
Sydney Town um sich wissen. Er war ganz aus dem Häuschen gewesen,
als Robert Webb mit Beth Henderson nach Cascade ausgewandert war,
und als Richard Phillimore von der Scarborough in ein
idyllisches kleines Tal hinter der Landspitze am östlichen Ende des
Strandes hatte ziehen wollen, um dort weitere Felder anzulegen,
hatte King ihn nicht gehen lassen.
Richard hielt es dagegen für das Vernünftigste, die
Insel Norfolk zu erschließen und die Leute überall wohnen zu
lassen, wo es ihnen gefiel. Ihm graute bei dem Gedanken, das
schnell wachsende Sydney Town könnte sich schließlich bis ins
Arthur’s Vale hinauf ausbreiten, denn er genoss es, dort droben
keine Nachbarn zu haben. Am Hang hatte er eine Grube ausgehoben,
die ihm als Abtritt diente, weiter oben hatte er inmitten von
Baumfarnen ein Bad angelegt. Er wusch sich in einem kleinen
Seitenkanal, den er vom Bach aus in den Wald geleitet hatte, sodass
er den Bach selbst nicht verunreinigte. Unter Kings Regiment hatte
er den Tag kommen sehen, an dem Sydney Town ihn erreichte. Nicht
dass er Major Ross für klüger gehalten hätte als Leutnant King.
Ross war nur ganz anders als sein Vorgänger und würde das Problem
des großen und plötzlichen Bevölkerungszuwachses vielleicht anders
lösen als King.
»Dann trocknet der Major seinen Mantel jetzt wohl
bereits in seinem neuen Amtssitz?«, fragte Richard.
»Sicher. Der arme Mr King! Einerseits ist er
begeistert von der wichtigen Mission, mit der der Gouverneur ihn
betraut, andererseits treibt ihn die Vorstellung, was Major Ross
aus der Insel machen wird, fast zur Verzweiflung.«
Innerhalb von vier Tagen war die Einwohnerzahl
Norfolks von 149 auf 424 gestiegen. Mit der Sirius und der
Supply waren mehr Leute eingetroffen, als bis zum März 1790
überhaupt auf der Insel gelebt hatten. Die beiden Schiffe hatten
auch zusätzliche Lebensmittelvorräte an Bord.
»Aber bei weitem nicht genug!«, klagte Leutnant
King. »Von was soll ich all diese Leute denn ernähren?«
»Das wird nicht Ihre Sorge sein«, entgegnete der
Major ruppig. »Sie sind nur noch bis zur Abfahrt der Supply
Kommandant, also nicht mehr lange. Wir müssen nur noch warten, bis
die See ruhiger
wird, damit das Schiff seine Fracht auf dieser Seite der Insel
ausladen kann. Bis zu Ihrer Abreise werde ich mich Ihren
Entscheidungen unterwerfen. Doch die Verpflegung dieser Leute ist
meine Sache. Ihre Unterbringung ebenfalls.« Er legte den Arm um
seinen zehnjährigen Sohn Alexander John, der zum Leutnant der
Seesoldaten ernannt worden war. Nach dem Tod von Captain John Shea
waren die anderen Offiziere in der Hierarchie aufgerückt, sodass am
unteren Ende ein Offiziersposten frei wurde. Der kleine John, wie
alle ihn nannten, war ein stilles Kind, das sich hütete, das Leben
seines Vater schwieriger zu machen, als es bereits war. Er wusste
sehr wohl, dass die unübliche Beförderung ihn bei den anderen
Offizieren nicht beliebt machte, doch er fügte sich in sein
Schicksal.
Major Ross blickte von der Anhöhe, auf der sein
bescheidener Amtssitz stand, über die Ebene von Sydney Town. Dort
herrschte dasselbe Chaos wie seinerzeit nach der Landung in Port
Jackson. Menschen wanderten ziellos umher, darunter die 56 neuen
Seesoldaten, die noch kein Quartier hatten. Ihre Offiziere hatten
acht mal zehn Fuß große Hütten alteingesessener Sträflinge
beschlagnahmt, die sich nun unter die neu eingetroffenen
Obdachlosen mischten und dadurch für noch mehr Verwirrung
sorgten.
»Ich hoffe, Sie haben tüchtige Säger, Mr King«,
sage Ross grimmig.
»Ja, einige schon.« King war so aufgeregt, dass er
Mühe hatte, sich zu beherrschen. Ihm wurde plötzlich ganz bang bei
dem Gedanken, Norfolk Island verlassen zu müssen. »Es gibt hier
drei Sägegruben, aber wir brauchen noch mehr Säger. Wie Sie ja
selbst wissen, Major Ross, ist es nicht leicht, geeignete Männer zu
finden.«
»Unter den neuen Sträflingen sind ein paar Säger
aus Port Jackson.«
»Hoffentlich auch weitere Sägen.«
»Seine Exzellenz hat alle Zugsägen bis auf drei
sowie hundert Handsägen mitgeschickt.« Ross nahm den Arm von der
Schulter seines Sohnes. »Sägt Richard Morgan auch?«
Über Kings unglückliches Gesicht glitt ein Lächeln.
»Ich wüsste
nicht, was ich ohne ihn anfangen sollte«, erwiderte er. »Er ist so
unersetzlich wie mein Schreiner Nat Lucas oder mein Sekretär Tom
Crowder.«
»Ich sagte Ihnen ja, dass Morgan ein guter Mann
ist. Wo ist er?«
»Er sägt den ganzen Tag.«
»Und wer schärft die Sägen?«
King grinste. »Er lässt inzwischen Frauen die Sägen
schärfen, was hervorragend klappt. Sein Partner an der Säge ist der
Gefreite Wigfall, weil es unter den Sträflingen keine geeigneten
Männer mehr gab. Keiner reißt sich um die anstrengende Arbeit, aber
sie kann Wigfall, Morgan und ein paar anderen offenbar nichts
anhaben. Sie erfreuen sich bester Gesundheit, wahrscheinlich weil
sie hart arbeiten und gutes Essen bekommen.«
»Das werden sie auch weiterhin bekommen, selbst
wenn andere vielleicht hungern müssen«, sagte Ross. »Zuerst müssen
Unterkünfte für die Soldaten gebaut werden. In Zelten zu leben ist
die Hölle - falls Hunter sich irgendwann dazu aufrafft, die Zelte
ausladen zu lassen. Wo wäre Ihrer Meinung nach der beste Platz für
neue Unterkünfte?«
»Dort drüben, hinter dem Sumpf. Das Land am Fuße
der Hügel hinter Sydney Town ist trocken. Leider verrotten die
Norfolktannen in der Erde schnell, deshalb wären Fundamente aus
Stein besser geeignet. Sind auch Steinmetze mitgekommen?«
»Ja, mehrere, und ein paar Meißel haben wir auch
dabei. Seine Exzellenz weiß, dass sie hier dringender gebraucht
werden als in Port Jackson, wo im Augenblick keine neuen Häuser
gebaut werden müssen. Der Gouverneur war übrigens hocherfreut über
den Kalk, den Sie ihm geschickt haben. Wir haben auf unseren Reisen
durch Cumberland County keinen einzigen Brocken Kalkstein
gefunden.«
»Dann kann ich dem Gouverneur ja mitteilen, dass es
hier genug Kalk gibt. Wir könnten notfalls hundert Scheffel am Tag
produzieren.« King sehnte sich nach einem Glas Portwein, wusste
aber, dass der Major es nicht guthieß, am Tag mehr als ein halbes
Pint eines alkoholischen Getränks zu sich zu nehmen. Er sah Ann an
der Haustür stehen und beschloss, den Major sich selbst zu
überlassen. Ann war wieder schwanger und brauchte vielleicht seine
Hilfe. »Ich muss gehen!«, sagte er und verschwand.
In diesem Augenblick trat der schmächtige Leutnant
Ralph Clark ein. Ross hatte nichts von ihm gehalten, bis er merkte,
dass der unreife, sentimentale Clark zwar nicht zum Seesoldaten
taugte, aber ein großartiges Kindermädchen war. Es schien ihm
tatsächlich Spaß zu machen, sich um den kleinen John zu
kümmern.
»Ich sehne mich nach einem frischen Hemd, Sir«,
sagte Clark höflich und lächelte den kleinen John an. »Sie sicher
auch. Vielleicht wurde unser Gepäck inzwischen an Land
gebracht.«
»Ich frage mich langsam, ob die Leute von der
Sirius es überhaupt je schaffen werden, die Ladung zu
löschen«, sagte Ross mürrisch. »Bei der Supply klappt es
reibungslos.«
»Die Supply hat Ball und Blackburn, Sir. Die
kennen sich hier aus.«
Und Hunter von der Sirius ist ein launischer
Idiot, dachte Ross. Laut sagte er zu Clark: »Kümmern Sie sich um
den kleinen John, Leutnant. Ich sehe mir die Insel an.«
Ross wanderte durch Sydney Town und Umgebung, dann
marschierte er nach Westen ins Arthur’s Vale. Was Oberleutnant King
in nur zwei Jahren und mit so wenigen Männern aufgebaut hatte,
nötigte dem Major Respekt ab, auch wenn er sich das nur ungern
eingestand. Die Holzfundamente des Getreidespeichers und der
Scheune waren inzwischen fast vollständig durch Fundamente aus dem
Stein ersetzt worden, den King in der Umgebung des Friedhofs
entdeckt hatte. Neben der Scheune befand sich ein großer Viehhof.
Ross kam an der zweiten Sägegrube vorbei, in der unter einem
Sonnenschutz eifrig gesägt wurde. Er blickte skeptisch zu den
Frauen hinüber, die unter einem Dach Sägen schärften und sich dabei
unterhielten. Dann ging er weiter talaufwärts. Oberhalb des Damms
wurden die Hänge gerodet, um Platz für weitere Weizen- und
Maisfelder zu schaffen. Dort entdeckte er die dritte Sägegrube und
Richard Morgan und einen Mitarbeiter. Die beiden Männer sägten
gerade dicke Balken aus dem Kernholz eines gewaltigen Stammes. Da
der Major wusste, dass es gefährlich sein
konnte, Säger abzulenken, während ihr scharfes Werkzeug sich durch
das Holz fraß, blieb er ruhig stehen und sah zu.
Als die beiden fertig waren, sprach er Richard an.
»Wie ich sehe, sind Sie beschäftigt, Morgan.«
Richard gab sich keine Mühe, seine Freude zu
verbergen. Er sprang von dem Stamm herunter und trat auf Ross zu.
Er wollte schon die Hand ausstrecken, besann sich aber noch
rechtzeitig und hob sie stattdessen grüßend. »Willkommen auf der
Insel, Major Ross«, sagte er lächelnd.
»Sind Sie auch aus Ihrer Hütte vertrieben
worden?«
»Noch nicht, Sir, aber das wird wohl noch
kommen.«
»Wo wohnen Sie denn, dass es noch nicht geschehen
ist?«
»Weiter oben, am Ende des Tals.«
»Zeigen Sie es mir.«
Das Haus, das inzwischen ein steinernes Fundament
und ein Schindeldach hatte - eine Hütte konnte man es nicht mehr
nennen -, lag am Waldrand. Es hatte sogar einen steinernen Kamin,
wie einige der Sträflingshütten und Häuser an der Küste. Offenbar
hatte King Richard Morgan damit auszeichnen wollen. Etwas unterhalb
des Hauses befand sich ein Abort. Das Haus war von einem üppigen
Gemüsegarten umgeben, durch den ein Weg aus Basaltsteinen zum
Eingang führte. An den Garten schloss ein Feld mit Zuckerrohr- und
Bananenstauden an. Der Hang um den Abort war mit buschigen kleinen
Bäumen bepflanzt, die rötliche Beeren trugen.
Major Ross betrat das Haus und staunte über die
fachmännische Inneneinrichtung. Ein Schreiner hätte es nicht besser
machen können! Die Wände und die Decke waren holzgetäfelt und wie
der Fußboden glatt geschmirgelt. Natürlich! Büchsenmacher
arbeiteten auch mit Holz. An einer Wand stand ein Regal mit einer
beeindruckenden Büchersammlung. Auf einem anderen Regal stand
etwas, das verdächtig nach einem Filterstein aussah, auf dem Bett
lagen Decken von der Alexander. In der Mitte des Raums
standen ein hübscher Tisch und zwei Stühle. Die Fenster waren mit
richtigen Läden versehen.
»Schön haben Sie es hier«, sagte Ross und ließ sich
auf einem
Stuhl nieder. »Nehmen Sie doch Platz, Morgan, sonst fühle ich mich
unwohl.«
Richard setzte sich kerzengerade auf den anderen
Stuhl. »Ich freue mich, Sie zu sehen, Sir.«
»Das habe ich gemerkt. Viele haben sich nicht
gefreut.«
»Die Menschen haben Angst vor Veränderungen.«
»Besonders wenn die Veränderung Robert Ross heißt.
Nein, nein, Morgan, Sie haben keinen Grund zur Besorgnis! Sie sind
ein Sträfling, aber kein Verbrecher. Das ist ein
Unterschied.«
Der Major stand auf. »Ich gratuliere Ihnen zu
diesem Haus. Im Sommer ist es sicher angenehm kühl, weil es im
Schatten der Bäume liegt, und im Winter warm, weil es einen Kamin
hat.«
»Es steht zu Ihrer Verfügung, Sir«, sagte Richard
pflichtbewusst.
»Wenn es nicht so abgelegen wäre, würde ich es
sofort nehmen, Morgan, damit wir uns nicht falsch verstehen. Und
irgendwann werden Sie es mit jemandem teilen müssen.« Der Major
ging zur Tür.
Richard begleitete Ross zur Sägegrube zurück, wo
Sam Hussey und Harry Humphreys gerade einen neuen Stamm in Angriff
nahmen.
»Ich bin der Aufseher der Säger, Sir, daher würde
ich gerne mit Ihnen über unsere Arbeit sprechen, sobald Sie Zeit
haben«, sagte er.
»Jetzt ist die beste Gelegenheit dazu. Reden
Sie.«
Richard zeigte Ross alle drei Sägegruben und legte
ihm dar, welche Vorteile es hatte, zum Schärfen der Sägen und zum
Entrinden der Stämme Frauen einzusetzen. Er erklärte, wo weitere
Sägegruben ausgehoben werden könnten, was für Männer er zum Sägen
brauchte, dass es sich bewährt habe, die Säger in ihrer Freizeit
Holz für ihre eigenen Häuser sägen zu lassen, und warum es nötig
gewesen sei, aus einigen der Zugsägen Ablängsägen zu machen.
»Diese Arbeit muss ich allerdings selbst machen«,
beendete er seine Ausführungen. »Es sei denn, Sie haben William
Edmunds mitgebracht.«
»Er ist dabei. Sie können ihn haben.«
Für mich ist die Umstellung nicht schwer, dachte
Richard zufrieden. Wie einsam muss Major Ross sein, wenn er sich
mit einem Sträfling unterhält wie mit einem Mann aus seinem Stab.
Hat er mich deshalb hierher vorausgeschickt?
Am Freitag, dem 19. März, einem schönen Tag mit
ruhiger See, steuerte die Sirius die Sydney Bay an, um ihre
Fracht zu löschen. Im Windschatten von Nepean Island drehte das
Schiff bei. Schon sollten die Boote ausgesetzt werden, doch da
bemerkten die Offiziere, dass das Schiff zu nahe an die Felsen von
Point Hunter herantrieb und gingen wieder unter Segel, um weiter
hinauszufahren. Doch das Schiff verfehlte das Wenden und bewegte
sich nicht. Navigator Keltie beschloss, das Schiff vor den Wind zu
drehen. In diesem Augenblick frischte der Wind böig auf. Wieder
verfehlte die Sirius das Wenden. In Sydney Town läutete
gerade die Mittagsglocke, als eine Welle das Schiff hob und
breitseitig auf das Riff warf. Die Besatzung griff sofort zu den
Äxten und hackte die Masten auf Deckhöhe ab. Die umstürzenden
Masten zerschlugen die Boote und begruben die Decks unter einem
Wirrwarr von Spieren und Segeltuch. Sofort versuchten Helfer, das
gestrandete Schiff vom Strand und von der auf der Reede ankernden
Supply aus mit Booten zu erreichen, doch vergeblich. Die
tückische Brandung war inzwischen so hoch, dass sie bereits über
den eichenen Klüverbaum schlug. Während die Seeleute hektisch die
Decks vom herabgestürzten Takelwerk befreiten, wurde eine sieben
Zoll starke Trosse zum Ufer geschleppt und dort hoch an einer Tanne
befestigt. Wer an Bord nicht gebraucht wurde, klammerte sich an das
dicke Tau und wurde durch die steigende Nachmittagsflut an Land
gezogen. Da das Tau in der Mitte durchhing, zog sich Captain
Hunter, der als Erster ans Ufer gewinscht wurde, unterwegs etliche
blaue Flecken, Beulen und Schnittwunden zu. Ross bemerkte es voller
Schadenfreude. Außerdem würde der Kapitän sich in England vor
Gericht für den Verlust seines Schiffes verantworten müssen.
Die Nachricht erreichte die Sägegruben so schnell
wie alle schlechten Nachrichten. Richard ließ die Säger mit der
Arbeit
weitermachen, solange sie an der Unglücksstelle nicht gebraucht
wurden. Die vielen Neuankömmlinge benötigten dringend Unterkünfte;
außerdem saßen nun auch noch die rund hundert Männer von der
Sirius auf der Insel fest. Wenn die Sirius nicht nach
China fahren konnte, dachte Richard, musste der Gouverneur wohl die
Supply schicken, und das bedeutete für die Menschen auf der
Insel mehrere Monate ohne Nachschub. Richard sollte Recht
behalten.
Am Samstagmorgen war die Sirius trotz des
stark beschädigten Rumpfes noch nicht gesunken oder auseinander
gebrochen. Mit dem Heck nach oben hing sie auf dem Riff. Inzwischen
wehte ein stürmischer Wind und dunkle Wolken verhießen Regen, doch
trotz des schlechten Wetters wurden den ganzen Tag lang Vorräte von
Bord geholt. Um vier Uhr nachmittags kamen die letzten Männer der
Sirius an Land, nachdem sie die ganze Fracht zum Abtransport
auf die freigeräumten Decks geschleppt hatten.
Am selben Morgen um neun Uhr berief King auf
Drängen von Major Ross eine Versammlung aller Offiziere der
Sirius und des Korps der Seesoldaten ein. Ross führte den
Vorsitz.
»Angesichts der Notlage hat Leutnant King mir als
Vizegouverneur das Kommando übertragen«, begann Ross. Seine hellen
Augen glänzten stählern wie ein See im schottischen Hochland. »Es
müssen Entscheidungen getroffen werden, die Ruhe und Ordnung auf
der Insel sichern. Die Supply kann ungefähr zwanzig
Mitglieder der Besatzung der Sirius sowie Mr King, seine
Lebensgefährtin und seinen Sohn nach Port Jackson mitnehmen. Sie
muss so schnell wie möglich aufbrechen. Seine Exzellenz muss
unverzüglich von der Katastrophe unterrichtet werden.«
»Es war nicht meine Schuld!«, stieß Hunter hervor.
Er hatte eine Schnittwunde im Gesicht und war so bleich, als würde
er gleich in Ohnmacht fallen. »Wir konnten das Schiff nicht wenden!
Es war unmöglich, weil der Wind plötzlich drehte - es ging alles so
wahnsinnig schnell!«
»Ich habe diese Versammlung nicht einberufen, um
die Schuldfrage zu klären, Captain Hunter«, sagte Ross barsch.
»Unser Problem ist, dass in einer Kolonie, die vor sechs Tagen noch
149 Einwohner
hatte, nun mehr als 500 Leute leben, darunter 300 Sträflinge und
über 80 Männer von der Sirius. Letztere werden als Seeleute
weder bei der Beaufsichtigung der Sträflinge noch bei der
Feldarbeit eine große Hilfe sein. Mr King, glauben Sie, dass
Gouverneur Phillip die Supply von Port Jackson wieder
hierher schickt?«
King sah ihn erschreckt und verwirrt an, dann
schüttelte er heftig den Kopf. »Nein, Major Ross, mit der Rückkehr
der Supply können Sie nicht rechnen. So weit ich
unterrichtet bin, sind die Leute in Port Jackson am Verhungern, und
niemand weiß, warum kein Nachschub eintrifft. Seine Exzellenz hegt
die Befürchtung, dass man uns in England vergessen hat. Nach der
Havarie der Sirius ist die Supply die einzige
Verbindung zur Außenwelt. Der Gouverneur wird sie nach Kapstadt
oder Batavia schicken, um Nahrungsmittel zu besorgen. Ich schätze,
er wird sich für Batavia entscheiden, weil die Reise dorthin für
ein altes Schönwetterschiff wie die Supply weniger
beschwerlich ist. Vor allem aber muss er jemanden nach England
schicken, der die dort zuständigen Herren daran erinnert, dass die
Zustände in beiden Kolonien katastrophal sind - falls nicht doch
noch ein Versorgungsschiff eintrifft. Aber das wird leider immer
unwahrscheinlicher.«
»Wir können also nicht auf ein Versorgungsschiff
hoffen, sondern werden uns auf das Schlimmste vorbereiten, Mr King.
Es sind noch Weizen und Mais im Speicher, doch mit der Aussaat
müssen wir noch mindestens zwei Monate warten, sodass es noch acht
oder neun Monate bis zur nächsten Ernte sind. Wenn wir es schaffen,
allen Proviant von der Sirius zu holen, bevor sie sinkt« -
er ignorierte Hunters verzweifelten Blick - »dann reichen unsere
Vorräte schätzungsweise knapp drei Monate. Wir müssen also ständig
fischen und jeden essbaren Vogel fangen, den wir hier
finden.«
Kings Miene hellte sich auf. »Es gibt hier einen
schmackhaften Seevogel, der im April eintrifft und bis August
bleibt«, sagte er lebhaft. »Wenn die Situation kritisch wird, ist
er eine Nahrungsquelle. Sie müssen nur Wege zu seinen Nistplätzen
auf dem Mount Pitt anlegen.«
»Ich danke Ihnen für diese Information, Mr King.«
Ross räusperte sich. »Wie dem auch sei, die größte Gefahr sehe ich
in einer
Meuterei.« Er funkelte seine Offiziere drohend an. »Und zwar nicht
nur in einer Meuterei der Sträflinge. Unter meinen Unteroffizieren
und Mannschaften sind viele Raufbolde, die ständig mit Rum versorgt
werden müssen. Und wenn ich sagte, dass unsere Lebensmittelvorräte
höchstens drei Monate reichen, dann meinte ich damit auch den Rum.
Da ich genug Rum für meine Offiziere reservieren muss, bin ich
gezwungen, die Rationen der Unteroffiziere und Mannschaften weiter
zu kürzen. Und natürlich erwarten Captain Hunters Leute ebenfalls,
dass sie mit Rum versorgt werden - so ist es doch, Captain,
oder?«
Hunter schluckte. »Ich fürchte ja, Major
Ross.«
»Dann sehe ich nur eine Lösung: das Kriegsrecht!
Jeder Diebstahl, ganz gleich, ob ein Freier oder ein Sträfling ihn
begeht, wird ohne vorherige Gerichtsverhandlung mit dem Tode
bestraft. Und glauben Sie mir, meine Herren, ich meine es
ernst.«
Nach dieser Ankündigung herrschte tiefes Schweigen.
Nur die Geräusche der Männer, die sich draußen abmühten, die
Vorräte der Sirius zu bergen, drangen schwach durch die
Wände der Gouverneursresidenz.
»Am Montagmorgen um acht versammelt sich die
gesamte Bevölkerung der Insel am Fahnenmasten mit dem Union Jack«,
sagte Ross. »Dort werde ich sie über die neue Lage unterrichten.
Bis dahin, meine Herren, erbitte ich mir strengstes Stillschweigen.
Wer jetzt schon verrät, dass das Kriegsrecht über die Insel
verhängt werden soll, den lasse ich auspeitschen, egal wie hoch
sein Rang ist. Sie können gehen.«
Am Montagmorgen um acht wurden alle Inselbewohner
zum Fahnenmasten mit dem Union Jack abkommandiert. Seesoldaten und
Matrosen mussten sich auf der rechten Seite aufstellen, die
Sträflinge auf der linken. Die Offiziere standen in der Mitte,
direkt unter der Fahne.
»Als Kommandant dieser englischen Kolonie erkläre
ich hiermit, dass ab sofort das Kriegsrecht gilt!«, brüllte Major
Ross. »Bis Gott und Seine Majestät der König uns Hilfe schicken,
sind wir auf uns selbst angewiesen. Wenn wir überleben wollen,
müssen
wir uns zwei Ziele fest vornehmen: wetterfeste Unterkünfte zu
bauen und Nahrung zu produzieren. Nach meiner Rechnung werden nach
Abfahrt der Supply noch 504 Menschen hier sein - über
dreimal so viele wie vor einer Woche! Wir sind vom Hunger bedroht,
aber eins versichere ich euch: Keiner wird bevorzugt, keiner
bekommt mehr zu essen als der andere. Gott prüft uns, wie er das
Volk Israel in der Wüste geprüft hat, auch wenn wir nicht von uns
behaupten können, so tugendhaft zu sein wie dieses alte und
bewundernswerte Volk. Unser Schicksal hängt allein von uns ab - von
unserem Einfallsreichtum, von unserer Bereitschaft, hart zu
arbeiten, und von unserem Willen, allen Widrigkeiten zum Trotz zu
überleben!«
Er hielt inne, und wer in seiner Nähe stand, sah,
wie sein Gesicht einen verbitterten Ausdruck annahm. »Ich sage es
noch einmal, ihr seid nicht das Volk Israel! Unter euch ist der
Abschaum der Menschheit, daher werde ich, wenn es sein muss, hart
durchgreifen. Wer sein Los mit Anstand erträgt und sich selbstlos
in den Dienst der Gemeinschaft stellt, wird belohnt. Wer anderen
das Essen vom Mund wegstiehlt, wird mit dem Tode bestraft! Wer
stiehlt, um das Diebesgut gegen andere Dinge zu tauschen, um ein
bequemeres Leben zu haben, um sich zu betrinken oder aus
irgendeinem anderen Grund, wird ausgepeitscht, bis die Haut ihm in
Fetzen von den Knochen hängt! Das gilt für Männer und Frauen, und
auch Kinder werden streng bestraft. Es herrscht Kriegsrecht, und
das bedeutet, dass ich Richter, Jury und Henker in einer Person
bin. Mir ist egal, wenn ihr Unzucht treibt. Ich habe auch nichts
dagegen, wenn ihr in eurer Freizeit zusätzliches Gemüse anbaut oder
euch eine Unterkunft zimmert. Aber ich werde nicht den geringsten
Verstoß gegen die Interessen der Gemeinschaft dulden! Ich erwarte,
dass alle Männer und Frauen sofort mit dem Anbau von Gemüse und
Obst beginnen, um die Vorräte aufzustocken. In den ersten sechs
Wochen muss alles Gemüse und Obst abgeliefert werden, danach darf
jeder mit einem ertragreichen Garten ein Drittel der Ernte
behalten. Ertrag durch Arbeit, lautet mein Motto, und das gilt für
die Freien genauso wie für die Sträflinge.«
Der Major bleckte die Zähne. »Ich bin
Vizegouverneur dieser Insel, und was ich sage, ist ebenso Gesetz,
als hätte der König persönlich es verkündet! Nun will ich ein
dreifaches Hoch auf Seine Majestät König Georg hören, aber bitte
laut! Hipp, hipp!«
»Hurra!«, schrien alle, dreimal
hintereinander.
»Und ein dreifaches Hoch auf Leutnant King, der
hier Wunder vollbracht hat! Mr King, ich wünsche Ihnen eine gute
Reise. Hipp, hipp!«
Die Hurras für King waren noch lauter als die für
den König. King stand ganz benommen da und strahlte vor Freude. In
diesem Augenblick liebte er Major Ross geradezu.
»Und jetzt laufen alle am Union Jack vorbei und
neigen zum Zeichen ihrer Treue den Kopf!«
Eingeschüchtert und ernst defilierte die Menge
vorüber.
Richard hatte unter den neu eingetroffenen
Sträflingen zu seiner Freude bereits viele bekannte Gesichter
entdeckt, darunter Will Connelly, Neddy Perrott und Taffy Edmunds,
Tommy Kidner, Aaron Davis, Mikey Dennison, Steve Martin, George
Guest, George Whitacre und den lustigen Ed Risby. Unter den neuen
Seesoldaten erblickte er seinen Büchsenmacherlehrling Daniel
Stanfield und zwei Männer von der Alexander - Elias Bishop
und Joe McCaldren. Bestimmt würden seine alten Freunde ihn gleich
begrüßen wollen. Wie sollte er ihnen erklären, dass Major Ross es
dem Aufseher der Säger übel nehmen würde, wenn er untätig
herumstand und mit ihnen plauderte? Doch noch bevor Richard in eine
Zwickmühle geraten konnte, rief Major Ross seinen Namen.
»Ja, Sir?«, fragte Richard. Die Menge um ihn
zerstreute sich.
»Ich werde den Gefreiten Stanfield beauftragen,
Edmunds zu holen. Werden Sie in der dritten Sägegrube sein?«
»Ja, Sir.«
»Ich schicke Ihnen John Lawrell. Er wird bei Ihnen
wohnen und alles tun, was Sie anordnen. Er ist zwar etwas
einfältig, aber ein guter Kerl. Lassen Sie ihn in Ihrem Garten
arbeiten. In den ersten sechs Wochen wird Tom Crowder alles
einsammeln, was reif ist, danach wird er nur noch zwei Drittel
mitnehmen.«
»Jawohl, Sir.« Richard salutierte und eilte davon.
Er kannte
John Lawrell nur flüchtig. Lawrell war ein gutmütiger, recht
langsamer Mann aus Cornwall, der zuerst auf dem Gefangenenschiff
Dunkirk und später auf der Scarborough gewesen war
und seit seiner Ankunft vor einem Jahr zu Stephens Hilfsarbeitern
gehörte. Was hatte Major Ross vor? Er hatte ihm soeben einen
Dienstboten zugewiesen, der seinen Garten für ihn versorgen
sollte.
Als Richard die dritte Sägegrube erreichte, wo Sam
Hussey mit Harry Humphreys sägte, hatte er den Zweck der Maßnahme
begriffen. Auf Grund der vielen Neuankömmlinge stieg für die
alteingesessenen Inselbewohner, die ertragreiche Gemüsegärten
besaßen, die Gefahr, dass Diebe sie um ihre Ernte brachten -
Kriegsrecht hin oder her. Ross wollte verhindern, dass sein Garten
geplündert wurde. Bestimmt wies er auch den anderen Inselbewohnern
mit ertragreichen Gärten Wächter zu. Richard unterdrückte einen
Seufzer. Er nahm sich vor, in seiner Freizeit Holz zu sägen und
Lawrell eine eigene Hütte zu bauen. Der Gedanke, sein Haus teilen
zu müssen, flößte ihm weit mehr Unbehagen ein als die Vorstellung,
nicht mehr genug zu essen zu haben.
»Ich muss weg und mich um die neuen Sägegruben
kümmern, Billy«, sagte er zum Gefreiten Wigfall, den er inzwischen
als einen guten Freund betrachtete. Er lachte. »Sorg dafür, dass
wir nicht noch mehr Williams als Säger bekommen!« Dann fiel ihm
noch etwas anderes ein. »Wenn ein Waliser namens Taffy Edmunds hier
aufkreuzt, setz ihn in den Schatten - aber nicht zu den Frauen! -
und sag ihm, er soll warten, bis ich zurückkomme. Er wird in
Zukunft das Schleifen der Sägen beaufsichtigen. Schade, dass er
keine Frauen mag. Er wird lernen müssen, mit ihnen
auszukommen.«
Drei der neuen Sägegruben lagen östlich von Sydney
Town am Fuß der Hügel, deren Hänge noch dicht bewaldet waren.
Ross hatte angeordnet, zwischen der Turtle Bay und
der Ball Bay eine zwanzig Fuß breite Schneise durch den Wald zu
schlagen, die später zu einer richtigen Straße ausgebaut werden
sollte. Die Stämme, die an den Hängen oberhalb der Turtle Bay
gefällt wurden, sollten zur Bucht hinuntergerollt werden. Wenn die
Holzfäller sich bis zur Kuppe vorgearbeitet hatten, sollte an der
Ball Bay eine weitere Sägegrube ausgehoben werden, sodass das Holz,
das
an den ihr zugewandten Hängen geschlagen wurde, dort verarbeitet
werden konnte. Da Richard selbst unmöglich so viele so weit
auseinander liegende Sägegruben im Auge behalten konnte, musste er
für jede Grube einen Stellvertreter finden, der dafür sorgte, dass
das Arbeitstempo sich nicht verlangsamte, wenn er selbst gerade
woanders war.
Und die Zahl der Sägegruben sollte noch
weiterwachsen, denn Ross plante weitere Straßen. Der Weg nach
Cascade sollte auf zwanzig Fuß verbreitert werden, die dritte und
längste Straße sollte nach Westen zur Anson Bay führen. Sägegruben
und noch mehr Sägegruben, so lauteten die Befehle des Majors.
Nach der Arbeit machte Richard sich auf den Weg
nach Sydney Town, um seine alten Freunde zu besuchen. Er nahm einen
Tannenast mit einem dicken Astknoten am Ende mit, der ihm auf dem
Heimweg als Fackel dienen sollte. Ab acht Uhr herrschte
Ausgangssperre. Hinter der Häuserreihe am Strand waren Zelte
aufgeschlagen worden, doch viele Sträflinge mussten unter freiem
Himmel schlafen, da die Besatzung der Sirius mehrere Zelte
für sich beanspruchte. Morgen, so hoffte Richard, würden sie
Schutzdächer aus den Segeln der Sirius bekommen.
Dort, wo die obdachlosen Sträflinge übernachten
sollten, brannte ein großes Feuer aus Holzabfällen. An die hundert
Menschen drängten sich um das Feuer. Ihre Habseligkeiten lagen um
sie verstreut. Anders als Seesoldaten und Offiziere waren die
Sträflinge mit ihrer gesamten Habe an Land gebracht worden, sodass
sie wenigstens Decken hatten. Alle waren barfuß. Es gab schon seit
Monaten keine Schuhe mehr, auch auf Norfolk Island nicht.
Richard sah Will Connelly und Neddy Perrott neben
Frauen sitzen, die offenbar ihre waren - ein gutes Zeichen! Er
bahnte sich einen Weg durch die Menge.
»Richard! Richard, Schätzchen!«
Lizzie Lock stürzte sich auf ihn, schlang die Arme
um seinen Hals und bedeckte sein Gesicht mit Küssen. Sie weinte vor
Freude. Richards Reaktion war instinktiv. Alles war vorbei, bevor
er etwas unterdrücken oder Lizzie unter vier Augen sagen konnte,
dass er
nicht mehr mit ihr zusammenleben wollte, auch wenn sie offiziell
seine Frau war. Seit jenem denkwürdigen Tag, an dem William Henry,
die kleine Mary und Peg in seiner Seele wieder zu Leben erwacht
waren, hatte er nicht mehr an Lizzie Lock gedacht. Bevor er einen
klaren Gedanken fassen konnte, hatte er sich schon aus ihren Armen
befreit.
Mit weißem Gesicht starrte er sie an, als wäre sie
eine Teufelserscheinung. »Rühr mich nicht an!«, schrie er. »Rühr
mich nicht an!«
Lizzie ließ ihn erschrocken los. Ihre übergroße
Freude schlug in Bestürzung und einen so großen Schmerz um, dass
sie sich an die magere Brust fasste und Richard aus tränenblinden
Augen anstarrte, die nichts mehr wahrnahmen außer seiner Abscheu
vor ihr. Ihr Mund ging auf und zu, doch bekam sie kein Wort heraus.
Hilflos sank sie auf die Knie.
Die Umstehenden, die Richard kannten und das
Wiedersehen mit Spannung erwartet hatten, hielten die Luft an und
tauschten entgeisterte Blicke.
»Richard!«, schluchzte Lizzie. »Ich bin doch deine
Frau!«
Richard kam wieder zur Besinnung. Er betrachtete
die vor ihm kniende Lizzie, sah die zornigen und empörten Gesichter
seiner Freunde und die neugierigen Blicke unbeteiligter Zuschauer,
die gespannt auf die Fortsetzung des Dramas warteten. Was sollte er
tun? Was sagen? Instinktiv trat er einen Schritt zurück.
Die Würfel waren gefallen. Am besten brachte er die
Sache jetzt gleich zu Ende, hier, im grellen Schein des Feuers und
inmitten von Leuten, die ihn zu Recht als einen herzlosen Schuft
verdammen würden, der die Peitsche verdiente.
»Tut mir Leid, Lizzie«, sagte er mühsam, »aber ich
kann nicht mehr mit dir zusammenleben. Ich kann es einfach nicht.«
Er hob die Hände und ließ sie wieder sinken. »Ich will keine Frau,
ich …«
Er verstummte hilflos, und schließlich drehte er
sich um und ging.
Am nächsten Tag traf er sich wie immer nach der
Arbeit mit Stephen am Point Hunter. Gemeinsam betrachteten sie von
der
Landspitze aus den Sonnenuntergang. Es war einer dieser
wolkenlosen Abende, an denen Richard immer dachte, die große, rot
glühende Scheibe müsste mit einem Zischen ins Meer eintauchen. Der
Himmel wurde dunkel und verfärbte sich tiefblau, während das Meer
wie von den Strahlen der untergegangenen Sonne durchleuchtet
milchig blau erglühte.
»Diese Insel ist ein wunderbares Fleckchen Erde«,
sagte Stephen. Die Szene mit Lizzie Lock erwähnte er nicht, obwohl
er davon gehört haben musste. »Hier muss einst der Garten Eden
gewesen sein. Die Insel bezaubert mich. Sie zieht mich in ihren
Bann wie eine Sirene, ich weiß gar nicht, warum. Doch jetzt sind
Menschen da, und sie werden sie zerstören. Der Mensch hat auch den
Garten Eden zerstört.«
»Vielleicht werden sie es versuchen, aber es wird
ihnen nicht gelingen. Gott liebt diese Insel.«
»Es gibt übrigens Gespenster hier, wusstest du
das?«, bemerkte Stephen beiläufig. »Ich habe eines gesehen, ganz
deutlich und am helllichten Tag, einen Riesen mit gewaltigen
Wadenmuskeln und goldener Haut und nackt bis auf einen dünnen
Lendenschurz. Sein Gesicht war von einer strengen Schönheit, ein
geradezu aristokratisches Gesicht, und seine Schenkel waren mit
einem Muster aus verschnörkelten Linien tätowiert. Ich habe so
jemanden noch nie gesehen, nicht in meinen wildesten Träumen. Er
kam mir am Strand entgegen, doch als er so nahe war, dass ich ihn
fast hätte berühren können, bog er ab und ging mitten durch die
Wand von Nat Lucas’ Haus. Olivia begann zu schreien wie am
Spieß.«
»Dann kann ich ja froh sein, dass ich oben im Tal
wohne. Obwohl Billy Wigfall mir neulich erzählte, er hätte John
Bryant an der Stelle stehen sehen, wo der Baum ihn erschlug. Nur
einen Augenblick lang, dann war er wieder verschwunden. Wie
erschrocken über seine Entdeckung, sagte Billy.«
Die Brandung donnerte gegen das Riff. Die
Supply hatte die Reede verlassen und fuhr um die Insel nach
Cascade. Dort würden King und seine schwangere Lebensgefährtin sich
einschiffen, keine leichte Sache, da sie von einem rutschigen
Felsen in ein schwankendes Beiboot springen mussten.
Stephen musterte Richard mit Augen, die im
Abendlicht fast schwarz schienen. Richard saß zusammengekauert und
angespannt wie eine Stahlfeder neben ihm.
»Ich habe gehört, du hattest heute Morgen Besuch
vom Major.«
Richard lächelte gequält. »Major Ross hat
Fledermausohren. Ich habe keine Ahnung, wie er erfuhr, was gestern
Abend am Lagerfeuer geschah. Aber du kennst ihn ja. Er wartete, bis
ich zum Frühstücken nach Hause zurückkehrte, platzte herein, setzte
sich hin und sagte: ›Wie ich hörte, haben Sie Ihre Frau öffentlich
verstoßen. ‹ Ich nickte und er grunzte. Dann sagte er: ›Das hätte
ich nicht von Ihnen erwartet, Morgan, aber ich nehme an, Sie haben
Ihre Gründe, wie sonst ja auch.‹«
Stephen kicherte. »Eine diplomatische
Formulierung.«
»Dann fragte er mich, ob Lizzie meiner Meinung nach
eine gute Haushälterin für einen Offizier abgäbe! Ich sagte, sie
sei reinlich und ordentlich, könne gut nähen, stopfen und kochen
und sei meines Wissens noch Jungfrau. Er klatschte sich auf die
Knie und stand auf. ›Mag sie Kinder?‹, fragte er. ›Ich glaube
schon‹, sagte ich. ›Zu den Kindern im Gefängnis von Gloucester war
sie jedenfalls immer sehr nett.‹ Dann fragte er noch, ob ich sicher
sei, dass sie aufrichtig und ehrlich sei. ›Absolut‹, versicherte
ich ihm. ›Dann entspricht sie genau meinen Vorstellungen‹, sagte er
und marschierte so zufrieden hinaus wie eine Katze, die einen Topf
voll Rahm entdeckt hat.«
Stephen bog sich vor Lachen. »Ich sage dir,
Richard, bei Major Ross kannst du nichts falsch machen. Aus
irgendeinem Grund, den ich nicht kenne, hast du bei ihm einen
dicken Stein im Brett.«
»Er mag mich, weil ich keine Angst vor ihm habe«,
sagte Richard. »Und weil ich ihm die Wahrheit sage, statt ihm zu
schmeicheln. Deshalb wird er Tommy Crowder auch nie so schätzen wie
King. Als ich King einmal sagte, was meiner Meinung nach getan
werden müsste, hatte er nicht übel Lust, mich auspeitschen zu
lassen. Bei Major Ross bestand diese Gefahr nie.«
»King ist Engländer durch und durch«, sagte
Stephen. »Er ist reizbar und launisch. Außerdem ist er jeder Zoll
Mitglied der Königlichen Marine. Ross dagegen ist der klassische
Schotte, immer
gleich gelaunt - nämlich schlecht. Er kommt aus einem kalten Land,
das nur Sieger oder Verlierer hervorbringt.« Stephen stand auf und
streckte Richard die Hand hin, um ihm hoch zu helfen. »Ich bin
jedenfalls froh, dass er das Problem gelöst hat, was mit deiner
verstoßenen Frau geschehen soll.«
»Du hast mir damals davon abgeraten, sie zu
heiraten«, sagte Richard mit einem Seufzer. »Hätte ich gewusst,
dass sie hier ist, wäre ich darauf vorbereitet gewesen, doch so war
es wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Ich hatte gerade Will
Connelly entdeckt, da hing sie plötzlich an meinem Hals und küsste
mich. Ich - ich roch sie und spürte sie, Stephen. Sehen konnte ich
sie nicht; dazu war sie viel zu nahe. Solange ich mit ihr zusammen
war, lagen immer noch andere Gerüche in der Luft, keiner davon
angenehm. In Port Jackson stank es und in Gloucester auch. Jetzt
dagegen hatte ich plötzlich nur noch den strengen Geruch einer Frau
in der Nase - nicht dass Lizzie stinken würde, das tut sie wirklich
nicht, ich konnte nur nicht ertragen, wie sie roch. Ich weiß selbst
nicht, warum. Und ich bin weiß Gott nicht stolz auf das, was ich
getan habe. Aber ich empfand in diesem Augenblick nichts als Ekel -
als wäre ich im Dunkeln in ein Spinnennetz gelaufen. Ich stieß sie
instinktiv von mir weg. Und dann war es zu spät für eine Umkehr,
also versuchte ich es erst gar nicht.«
Sie hatten Stephens Haus erreicht. Stephen ging
hinein und sah Richard durch das Fenster nach, bis seine Fackel im
Tal verschwand. Es war spät geworden. Stephen sah auf die Uhr,
presste die Lippen zusammen und überlegte, wie groß sein Hunger
war. Sollte er eine Suppe warm machen oder sich mit Brot begnügen?
Captain Hunter wohnte inzwischen in der Gouverneursresidenz und
Johnny mehr bei ihm als bei Stephen - ach ja. Wärm dir die Suppe,
Stephen, es ist kalt genug für ein Feuer.
Stephen war gerade beim Feuermachen, als auf einmal
Richard zurückkehrte und ins Zimmer stürmte. »Ich will einfach nur
meine Ruhe haben und allein sein - mit meinen Büchern und meinem
Hund!«, sagte er heftig.
»Was willst du dann hier bei mir?«, fragte Stephen
verdutzt. »Im Tal droben hast du doch deine Ruhe.«
»Schon, aber … aber …«, stotterte Richard.
»Dann gib doch einfach zu, dass du dich schuldig
fühlst, weil du so grob zu Lizzie Lock warst - auch wenn du nicht
anders konntest. Ich kenne keinen einzigen Menschen, der so hohe
moralische Ansprüche an sich stellt wie du - du bist ein richtiger
protestantischer Märtyrer!«
»Hör auf zu predigen!«, fuhr Richard ihn an. »Dein
Problem ist, dass du dich nie entscheiden kannst, ob du nun
Katholik oder Protestant sein willst oder gar Märtyrer! Warum
gestehst du dir nicht einfach ein, dass du Johnny für dich allein
willst und Hunter am liebsten verdreschen würdest?«
Eine volle Minute lang funkelten die beiden Männer
sich wütend an. Keiner der beiden rührte sich. Dann begannen ihre
Lippen gleichzeitig zu zucken, und sie lachten, bis ihnen die
Tränen kamen.
»Das reinigt die Luft«, sagte Stephen und wischte
sich mit einem Tuch das Gesicht ab.
»Da hast du Recht«, sagte Richard, immer noch
lachend, und lieh sich das Tuch.
John Lawrell zog bei Richard ein und so schnell
wieder aus, dass dem armen Kerl der nicht besonders helle Kopf
schwirrte. Innerhalb eines Monats hatte Richard ihm am hinteren
Ende seines kleinen Grundstücks eine komfortable Hütte gebaut,
deren vordere Wand weder eine Tür noch eine Fensteröffnung hatte.
Wenn Lawrell nun schnarchte, hörte Richard es nicht. Lawrell erwies
sich als ein hervorragender Gärtner, doch er hatte eine Schwäche:
Er spielte für sein Leben gern Karten und musste davon abgehalten
werden, seine knappen Essensrationen zu verspielen.
Sydney Town entwickelte sich immer mehr zu einer
großen Siedlung mit richtigen Straßen und langen Reihen kleiner
Holzhütten, die Nat Lucas und seine Schreiner so schnell
zusammenzimmerten, wie Richards Säger sie mit Brettern und Balken
versorgen konnten. Eine der Sägegruben produzierte nun Holz für
Schindeln. Die Hütten sollten Schindeldächer bekommen, doch da das
Holz erst sechs Wochen in Salzwasser gelegt werden musste,
bevor es gespalten werden konnte, mussten sie vorübergehend mit
Flachs gedeckt werden. Ross wies die Matrosen von der Sirius
an, auf der ganzen Insel nach Flachs zu suchen. Es kam für ihn
nicht in Frage, dass sie nichts taten.
Da es vorerst nicht möglich war, Port Jackson mit
Kalk zu versorgen, wurden die Kalksteinvorräte zum Bau von
Fundamenten und Kaminen verwendet. Unter den Neuankömmlingen waren
vier Böttcher. Sie hatten ein für Fässer geeignetes einheimisches
Hartholz entdeckt, das in der Sägegrube zurechtgesägt wurde, die
auch die Schindeln produzierte, sodass die Böttcher mit der
Herstellung von Fässern beginnen konnten. Ross hatte Frauen dazu
eingeteilt, Kings Weizenernte mit Handmühlen zu mahlen, denn er war
der Ansicht, Mehl in Fässern sei vor den Ratten sicherer als
ungemahlenes Getreide im Speicher. Aaron Davis, der in Port Jackson
zuletzt als Bäcker gearbeitet hatte, wurde zum Bäcker der Insel
ernannt. Nicht dass deren Bewohner jeden Tag in den Genuss von Brot
gekommen wären. Sonntags und mittwochs gab es Brot, montags und
donnerstags Reis, dienstags und freitags einen Brei aus Mais- und
Hafermehl und samstags Erbsen.
Als Ross sah, wie schnell die Schweine sich
vermehrten, hängte er einen Kessel über eine kleine Feuerstelle und
begann Salz zu gewinnen. Damit pökelte er das Schweinefleisch. Die
Teile des Schweins, die sich nicht pökeln ließen, wurden klein
gehackt und zu Würsten verarbeitet.
»Das Beste an einem Schwein ist, dass man nur das
Grunzen nicht essen kann«, hörte man Ross sagen. Da der Major als
ein Mann ohne jeden Sinn für Humor galt, wurde allgemein
angenommen, dass diese Bemerkung völlig ernst gemeint sei.
In praktischen Dingen bewies Ross viel Geschick und
Einfallsreichtum. Nachdem die Produktion von Salz, Würsten und
einem Raupenvernichtungsmittel aus Tabak angelaufen war, kam er auf
die Idee, einen Teil des Sägemehls, das bisher untergegraben wurde,
in Räucherhäusern als Brennmaterial zu verwenden. Was sich nicht
pökeln ließ, konnte vielleicht geräuchert werden, unter anderem
auch Fisch. Das erste Ziel war, so viel Nahrung wie möglich zu
produzieren, das zweite, möglichst viele seiner Schützlinge
dazu zu bringen, dass sie sich selbst versorgten. Denn nur so
hatte das Experiment mit den Sträflingen einen Sinn - warum sollte
man tausende von Sträflingen und Aufsichtspersonen ans andere Ende
der Welt verfrachten, wenn der Staat sie dort bis in alle Ewigkeit
mit Lebensmitteln versorgen musste?
Robert Ross empfand es wie Arthur Phillip als
seine Pflicht, zu verhindern, dass die Moral der ihm anvertrauten
Menschen unter das Niveau anderer englischer Kolonien sank. Die
christlichen Vorstellungen von Sitte und Anstand, die kulturellen
und technischen Errungenschaften und die organisatorischen
Strukturen, die eine zivilisierte europäische Gesellschaft
auszeichneten, mussten unter allen Umständen aufrechterhalten
werden. Was Phillip von Ross unterschied, war sein Optimismus.
Phillip glaubte an das Experiment in der Botany Bay und war fest
entschlossen, ihm zum Erfolg zu verhelfen. Ross dagegen betrachtete
es als eine sinnlose Verschwendung von Zeit, Geld, Material und
Kraft. Er war davon überzeugt, dass es kläglich scheitern würde,
ohne Spuren zu hinterlassen. Trotzdem bemühte er sich nach Kräften,
alle die Schwierigkeiten zu meistern, die die Wichtigtuer in London
nicht bedacht hatten, als sie den Ausführungen von Sir Joseph Banks
und Mr James Matra lauschten. Wie leicht war es doch, menschliche
Schachfiguren auf dem großen Schachbrett der Welt umherzuschieben,
wenn der Sessel bequem, der Magen voll, das Feuer warm und die
Portweinkaraffe gefüllt war.
»Herein«, rief Stephen, als Richard klopfte.
Richard trat ein und setzte sich.
»Iss mit mir zu Abend«, sagte Stephen. »Es gibt
frischen Fisch, und Johnny scharwenzelt um Captain Hunter herum,
deshalb ist seine Ration übrig.«
»Ich könnte jeden Tag Fisch essen«, sagte Richard
und langte zu. »Morgen grabe ich eine Hand voll Kartoffeln für dich
aus, um mich für die freundliche Einladung zu revanchieren. Meine
Kartoffeln gedeihen prächtig.«
»Sprechen die Leute inzwischen wieder mit dir?«,
fragte Stephen,
als sie gegessen, die Teller abgespült und das Schachspiel
aufgebaut hatten.
»Ja, nur die nicht, die sich auf die Seite meiner
Frau geschlagen haben - Connelly, Perrott und ein paar andere, die
ich von der Ceres und der Alexander kenne. Die
Gruppe, die Lizzie schon vor meiner Zeit in Gloucester kannte, hat
seltsamerweise für mich Partei ergriffen.« Er sah verärgert aus.
»Als ob es nötig wäre, sich zwischen uns zu entscheiden.
Lächerlich! Lizzie fühlt sich droben beim Major pudelwohl. Sie
bemuttert den kleinen John wie eine Glucke. Beim Major versucht sie
es allerdings nicht.«
»Sie liebt dich, Richard«, sagte Stephen.
Richard sah ihn verblüfft an. »Unsinn! Es war nie
Liebe zwischen uns. Ich weiß, du hast gehofft, nach unserer Heirat
würde sich vielleicht Liebe zwischen uns entwickeln, aber dem war
nicht so.«
»Sie liebt dich.«
Richard war so betroffen, dass er eine Zeit lang
gar nichts sagte. Er machte einen Zug mit einem Bauern, verlor den
Bauern und versuchte es mit einem Springer. Wenn Lizzie ihn
tatsächlich liebte, dann hatte er sie viel tiefer verletzt, als er
gedacht hatte. Er wusste noch, was sie ihm über die entwürdigende
Behandlung der Frauen auf der Lady Penrhyn erzählt hatte,
und hatte geglaubt, das Schlimmste an seiner Zurückweisung sei die
öffentliche Demütigung gewesen. Sie hatte ihm nie gesagt, dass sie
ihn liebte, ihm mit keinem Wort oder Blick zu verstehen gegeben,
was sie wirklich für ihn empfand … Er verlor auch den
Springer.
»Wie ist das Verhältnis zwischen Seesoldaten und
Marine?«, fragte er.
»Gespannt. Hunter konnte Major Ross noch nie
leiden, und dass er jetzt hier festsitzt, macht seinen Hass nur
noch größer. Bisher konnten die beiden einen handfesten Streit
vermeiden, aber irgendwann geraten sie bestimmt aneinander. Hunter
hat nur noch das Beiboot der Sirius, mit dem er keine langen
Fahrten machen kann. Er rudert fast den ganzen Tag um Nepean Island
herum - wahrscheinlich sucht er nach Beweisen zu seiner
Verteidigung, wenn er sich in England vor dem Kriegsgericht
verantworten muss.«
»Warum kehrt Johnny eigentlich immer wieder zu ihm
zurück - wenn das keine zu indiskrete Frage ist?«
Stephen zuckte die Achseln und zog die Mundwinkel
nach unten. »Nein, ich beantworte sie. Ein einfacher Angehöriger
der Königlichen Marine kann sich der Autorität des Kapitäns schwer
entziehen; es sei denn, er ist von Natur aus aufsässig, und das ist
Johnny nicht. Für ihn kommt Hunter gleich nach Gott.«
Richard hatte die Partie verloren. Er stand auf und
zündete an Stephens Feuer eine Tannenfackel an. »Die Revanche
müssen wir verschieben, denn wenn ich jetzt nicht gehe, werde ich
nach der Ausgangssperre erwischt.«
Der Winter begann kälter und trockener als im
Vorjahr. Weizen und Mais wurden ausgesät, aber die Saat wollte
nicht aufgehen. Erst ein stürmischer Regentag, auf den ein sonniger
Tag folgte, zauberte zur allgemeinen Freude einen grünen Schleier
über die blutrote Erde der Felder im Tal und an den Hängen. Auf der
Insel herrschte immer noch das Kriegsrecht. Ross hatte schon viele
Leute auspeitschen lassen. Verabreicht wurden die Peitschenhiebe
von Jim Richardson, der zu Richards Sägern gehört hatte, bis er
sich ein Bein brach. Es waren auch schon welche gehängt worden,
allerdings keine Sträflinge. Captain Hunters Diener hatten mithilfe
eines Dieners von Major Ross die knappen Rumvorräte des Majors
geplündert, einen Teil davon selbst getrunken und den Rest
verkauft. In seiner Funktion als Richter, Jury und Henker hatte
Vizegouverneur Ross drei der Missetäter gehängt. Sein Diener Escott
und Hunters Adjutant Elliott entgingen zwar dem Galgen, erhielten
zur Strafe jedoch fünfhundert Peitschenhiebe, die ihnen das Fleisch
von den Knochen rissen, wie der Major in seiner Ansprache angedroht
hatte. Die fünfhundert Hiebe wurden nicht am Stück verabreicht,
sondern in fünf Einheiten zu je hundert Hieben, denn hundert Hiebe
galten als das Höchstmaß, das ein Mann auf einmal verkraften
konnte. Der Auspeitscher begann an den Schultern und arbeitete sich
langsam über Rücken, Gesäß und Schenkel zu den Waden hinunter. Die
Matrosen murrten und spielten mit dem Gedanken an Meuterei, doch
angesichts des
schweren Verbrechens ihrer Kameraden konnte Captain Hunter nicht
ihre Partei ergreifen. Die Seesoldaten ihrerseits waren mehr als
bereit, das ganze Matrosenpack niederzuschießen. Ihre Musketen
waren dank des Gefreiten Daniel Stanfield in einem ausgezeichneten
Zustand, und die Soldaten machten weiterhin jeden Samstagmorgen
unter Aufsicht von Stephen und Richard Schießübungen.
Nach dem Rumdiebstahl suchte Major Ross Richard in
dessen Haus auf. Seine Miene war noch grimmiger als sonst.
Das Amt macht ihn fertig, dachte Richard und bot
dem Major einen Stuhl an. Er ist seit seiner Ankunft um zehn Jahre
gealtert.
»Ich habe interessante Dinge über Sie erfahren«,
begann Ross. »Mr Donovan erzählte mir, dass Sie Rum brennen
können.«
»Ja, Sir - mit den nötigen Gerätschaften und
Zutaten. Allerdings kann ich Ihnen nicht versprechen, dass mein Rum
besser sein wird als der berüchtigte Fusel aus Rio de Janeiro.
Eigentlich muss Rum wie alle Spirituosen im Fass reifen, bevor er
getrunken wird. Das unfertige Zeug wird scheußlich schmecken, aber
wahrscheinlich wollen Sie den Rum möglichst schnell.«
»In der Not darf man nicht wählerisch sein.« Ross
schnalzte mit den Fingern nach dem Hund, der sofort auf ihn
zusprang, um sich streicheln zu lassen. »Und wie geht’s dir,
MacTavish?«
MacTavish wedelte mit dem Schwanz.
»In Bristol war ich unter anderem Gastwirt, Sir«,
sagte Richard und warf ein Holzscheit ins Feuer. »Ich weiß deshalb
besser als viele andere, wie groß unser Problem ist. Männer, die es
gewohnt sind, täglich Rum oder Gin zu trinken, können ohne ihn nur
schlecht leben. Das gilt auch für manche Frauen. Nur weil
Kriegsrecht herrscht und das nötige Zubehör fehlt, wurde hier
bisher noch kein Schnaps gebrannt. Ich bin gerne bereit, eine
Rumbrennerei für Sie zu bauen und zu betreiben, aber …«
Ross wärmte sich die Hände am Feuer und grunzte.
»Ich weiß, was Sie denken. Sobald bekannt wird, dass es hier eine
Brennerei gibt, werden einige mit einem halben Pint pro Tag nicht
mehr zufrieden sein, und andere werden ein gutes Geschäft
wittern.«
»Ja, Sir.«
»Zuckerrohr wächst hier gut. Sie haben hinter Ihrem
Haus sogar welches angebaut.«
Richard grinste. »Ich dachte, es könnte sich als
nützlich erweisen.«
»Trinken Sie jetzt auch?«
»Nein. Darauf gebe ich Ihnen mein Wort, Major
Ross.«
»Leutnant Clark trinkt ebenfalls nicht. Also
übertrage ich ihm die Aufsicht über dieses Projekt. Dann suche ich
unter meinen Soldaten noch ein paar geeignete Männer. Bei
Stanfield, Hayes und James Redman kann ich mich darauf verlassen,
dass sie weder Rum trinken noch ihn verkaufen. Captain Hunter« - er
verzog das Gesicht, hatte sich jedoch sofort wieder unter Kontrolle
- »empfiehlt seinen Geschützführer Drummond, außerdem Mitchell und
Hibbs. Das wären dann insgesamt sechs Mann und ein Offizier.«
»Im Tal ist für die Brennerei kein Platz, Sir«,
sagte Richard entschieden.
»Einverstanden. Haben Sie einen Vorschlag?«
»Nein, Sir. Ich kenne nur das Gelände zwischen
meinen Sägegruben.«
»Ich werde über einen geeigneten Platz nachdenken,
Morgan.« Ross erhob sich zögernd. »Lassen Sie inzwischen Lawrell
das Zuckerrohr schneiden.«
»Jawohl, Sir. Ich werde ihm allerdings sagen, Sie
hätten mir befohlen, Zucker zu raffinieren, damit die Offiziere
ihren Tee süßen können.«
Der Major nickte zufrieden und marschierte davon,
um die Installation eines Mühlsteins zu überwachen. Die nächste
Weizenernte würde mit Handmühlen nicht mehr zu bewältigen sein. In
Ermangelung anderer Energiequellen musste er den gewaltigen
Mühlstein von Männern drehen lassen. Er hielt diese Fronarbeit
allerdings für eine gute Alternative zur Peitsche, deren Einsatz er
insgeheim ablehnte - nicht, weil er Skrupel hatte, Leute
auspeitschen zu lassen, sondern weil die Strafe nur abschreckend
wirkte, wenn die Missetäter so viele Hiebe erhielten, dass sie ihr
Leben lang halbe Krüppel blieben. Einen Mann eine Woche oder einen
Monat lang an den Mühlstein zu ketten, war dagegen eine harte,
aber gute Strafe, da sie seine Gesundheit nicht zerstörte.
Die Straßen zur Ball Bay und zur Cascade Bay waren
inzwischen fertig. Anfang Juni begannen die Holzfäller, einen Weg
zur Anson Bay freizuschlagen. Dabei machten sie eine überraschende
und höchst erfreuliche Entdeckung: rund fünfzig Hektar der
Hügellandschaft zwischen Sydney Town und der Anson Bay waren
unbewaldet. Major Ross beschloss sofort, dort eine neue Siedlung zu
errichten. Die Besatzung der Sirius wollte er auf ein
bereits gerodetes Gelände zwischen Sydney Town und der Cascade Bay
verbannen.
Die neue Siedlung an der Straße zur Anson Bay
sollte nach Ihrer Majestät Königin Charlotte Charlotte Field
heißen. Richard war nicht überrascht, als kein anderer als Leutnant
Clark den Auftrag erhielt, Charlotte Field aufzubauen - und zwar
mithilfe der Gefreiten Stanfield, Hayes und James Redman. Richard
glaubte fest, dass die Rumbrennerei an einem versteckten Ort unweit
der Straße zwischen Sydney Town und Charlotte Field entstehen
sollte.
Er hatte Recht. Wenig später wurde er nach
Charlotte Field geschickt, um sich dort nach einem geeigneten Platz
für eine neue Sägegrube umzusehen. Die Gegend war schön. Auf dem
unbewaldeten Gelände wucherte eine Pflanze, die Clark an die
englische Juckbohne erinnerte. Sie ließ sich leicht aus dem Boden
reißen und eignete sich zusammen mit einem Strauch, der zwei Zoll
lange Dornen hatte, gut zum Bau von Zäunen, durch die nicht einmal
Schweine kommen würden.
Der Platz, den Major Ross für die Rumbrennerei
ausgesucht hatte, lag ein Stück vor Charlotte Field am Ende eines
Weges, der von der Straße zur Anson Bay abging. Dort entsprang ein
Bach, der sich weiter unten mit anderen Bächen zu einem kleinen
Fluss vereinigte und schließlich unweit von Point Ross am
westlichen Ende von Sydney Town ins Meer mündete. Für zusätzlichen
Lohn gingen die drei Seesoldaten und drei Seeleute mit Feuereifer
daran, Grund für einen Holzschuppen und einen großen Stapel
Eichenholz zu roden. Die Steinblöcke für den Ofen ließ Ross von
Sträflingen
aus Sydney Town bis zur Abzweigung des Weges schaffen. Den
Sträflingen wurde gesagt, die Steine seien für Charlotte Field
bestimmt. Nach Einbruch der Dunkelheit holten Richard und seine
sechs Männer sie persönlich von der Straße ab. Auch den Schuppen
mussten sie selbst bauen. Ross besorgte Kupferkessel, Absperrhähne
und Ventile, Kupferrohre und Bottiche aus in der Mitte
durchgesägten Fässern. Richard schweißte und montierte die Teile
zusammen. Er wunderte sich, dass es gelang, das Projekt geheim zu
halten. Das geschnittene Zuckerrohr und einige Maiskolben
verschwanden in den Pressen und Handmühlen der Brennerei.
Vier Wochen später konnte Richard das erste
Destillat herstellen. Der Vizegouverneur nippte vorsichtig daran,
verzog das Gesicht und nahm noch ein Schlückchen. Dann kippte er
den Rest des Viertelpints hinunter. Er schätzte Rum ebenso wie
seine Soldaten.
»Das Zeug schmeckt scheußlich, Morgan, aber es hat
die richtige Wirkung«, sagte er und lächelte sogar. »Damit haben
Sie uns womöglich vor Meuterei und Mord gerettet. Abgelagert wäre
der Rum natürlich milder, aber das ist Zukunftsmusik. Wer weiß?
Vielleicht beliefern wir Port Jackson irgendwann einmal nicht nur
mit Kalk und Holz, sondern auch mit Rum.«
»Wenn es Ihnen recht ist, Sir, würde ich jetzt gern
wieder zu meinen Sägegruben zurückkehren«, sagte Richard. Der
Anblick der Brennerei rief in ihm keine glücklichen Erinnerungen
wach.
»Dann begleiten Sie mich doch nach Sydney Town.«
Ross ermahnte noch die sechs Helfer Richards. »Bewacht und pflegt
den Schuppen gut, Jungs«, sagte er leutselig und immer noch
lächelnd. »Jeder von euch bekommt dafür zwanzig Pfund extra im
Jahr.«
Die Straße durch den Wald folgte dem Bergrücken bis
zum Gipfel des Mount George, der eine herrliche Aussicht bot - über
das Meer, Sydney Town, die Lagune, die Brandung, Nepean Island und
Phillip Island. Major Ross blieb stehen, um sie zu genießen.
»Ich habe die Absicht, Ihnen die Freiheit
wiederzugeben, Morgan«, sagte er. »Vorerst kann ich Ihnen zwar noch
keinen völligen, sondern nur einen bedingten Straferlass gewähren,
doch sobald die Umstände es mir erlauben, werde ich bei Seiner
Exzellenz in
Port Jackson Ihre volle Begnadigung beantragen. Ich finde, Sie
haben sich das verdient. Damit genießen Sie einen besseren Status
als einer, der nur freigelassen wurde, weil er seine Strafe
abgebüßt hat - sagten Sie nicht, dass Ihre Strafe im März 1792
abläuft?«
Richards Augen füllten sich mit Tränen. Er bemühte
sich krampfhaft, ein Schluchzen zu unterdrücken, und brachte kein
Wort heraus. Stattdessen nickte er nur und rieb sich die Augen.
Frei. Endlich!
Der Blick des Majors war immer noch auf Phillip
Island gerichtet. »Ich gebe nicht nur Ihnen die Freiheit wieder,
sondern auch Lucas, Phillimore, Rice, dem älteren Mortimer und noch
ein paar anderen. Ihr sollt die Möglichkeit erhalten, ein Stück
eigenes Land zu bewirtschaften und etwas aus euch zu machen, denn
ihr habt euch, seit ich euch kenne, wie redliche Männer verhalten.
Männern wie euch ist es zu verdanken, dass es diese Kolonie noch
gibt und dass ich oder mein Vorgänger Leutnant King sie regieren
konnte. Doch nun zu Ihnen, Morgan. Sie sind von nun an ein freier
Mann. Das bedeutet, dass Sie als Aufseher der Säger einen Lohn von
fünfundzwanzig Pfund im Jahr erhalten. Außerdem zahle ich Ihnen
fünf Pfund für die Beaufsichtigung der Brennerei im Wechsel mit
Leutnant Clark und eine einmalige Summe von zwanzig Pfund für ihren
Bau. Da London uns kein Münzgeld zur Verfügung gestellt hat,
erhalten Sie Ihren Lohn in Form von Schuldscheinen der Regierung.
Die können Sie als Zahlungsmittel benutzen, wenn Sie in den
staatlichen Vorratshäusern oder bei Privatleuten etwas kaufen. Ich
wünsche, dass über die Brennerei weiterhin absolutes Stillschweigen
gewahrt wird. Es ist durchaus möglich, dass ich sie eines Tages
wieder schließe - sie ist ein Experiment, das ich nur durchführe,
weil ich nicht will, dass Matrosen von der Sirius auf die
Idee kommen, mit selbst gebranntem Rum Geschäfte zu machen. Ganz
wohl ist mir dabei nicht.« Er sah Morgan düster an. »Auf Leutnant
Clarks Verschwiegenheit kann ich mich verlassen. Er wird die
Brennerei nicht einmal in seinem Tagebuch erwähnen. Zwar hat er
nicht vor, es zu veröffentlichen, aber manchmal fallen Tagebücher
in die falschen Hände.«
Die lange Rede des Majors gab Richard Zeit, sich zu
fassen.
»Das werde ich Ihnen nie vergessen, Major Ross!« Richard lächelte
und seine Augen leuchteten blau auf. »Doch um einen Gefallen möchte
ich Sie noch bitten. Darf ich Ihnen als freier Mann die Hand geben?
Es wäre mir eine Ehre.«
Ross reichte ihm bereitwillig die Hand. »Ich muss
nach Sydney Town zurück«, sagte er dann, »aber ich fürchte, Morgan,
Sie müssen mir in der Brennerei noch etwas von diesem scheußlichen
Gebräu holen, damit ich heute Abend vor dem Essen den wenigen guten
Rum, den ich noch habe, damit strecken kann.« Er verzog das
Gesicht. »Ich habe die Vögel vom Mount Pitt inzwischen genauso satt
wie alle anderen, aber bestimmt wird keiner sich über das eintönige
Essen beklagen, wenn er es mit einem Becher Schnaps hinunterspülen
kann.«
Frei! Er war frei! Und obendrein durch Begnadigung!
Denn das war ein großer Unterschied. Alle Sträflinge kamen frei,
wenn sie ihre Strafe verbüßt hatten, aber sie waren nur entlassene
Sträflinge. Ein begnadigter Sträfling war etwas ganz anderes. Er
war rehabilitiert.
Am 4. August sichteten die Bewohner von Sydney
Town ein Segel. Vor lauter Aufregung vergaßen sie ihre Beschwerden
und alle Vorschriften. Leutnant Clark und Captain Johnston stiegen
auf den Mount George und bestätigten, dass es sich tatsächlich um
ein Segel handelte. Das Schiff fuhr allerdings seelenruhig an der
Insel vorbei. Da der starke Südwind eine Landung an der Sydney Bay
unmöglich machte, marschierten Captain Johnston und Captain Hunter
zur Cascade Bay, wo das Meer spiegelglatt war. Sie glaubten, das
Schiff würde dort anlegen. Doch es entfernte sich in Richtung
Norden, und bei Einbruch der Dämmerung war es verschwunden. In der
Stadt und im Tal, selbst in Charlotte Field und in Phillipburgh
machte sich an diesem Abend Verzweiflung breit. Das erste Schiff
seit langer Zeit war an der Insel vorbeigefahren! Was konnte
schlimmer sein?
Am nächsten Morgen schickte Major Ross ein paar
Männer auf den Mount Pitt, die noch einmal nach dem Schiff Ausschau
halten sollten - doch vergebens, es war tatsächlich
verschwunden.
Drei Tage später wurden die Bewohner von Sydney
Town im Morgengrauen von Schreien geweckt, die ein Schiff am
südlichen Horizont meldeten.
Da der Wind aus der entgegengesetzten Richtung
wehte, war das Schiff am späten Nachmittag noch nicht viel näher
gekommen, doch inzwischen waren hinter ihm die Segel eines zweiten
Schiffs aufgetaucht.
Sie würden nicht zulassen, dass noch einmal ein
Schiff an ihnen vorbeifuhr!
Leutnant Clark fuhr dem ersten Schiff mit einem
Boot entgegen. Als es ihm nicht gelang, mit ihm Kontakt
aufzunehmen, fuhr er zum zweiten. Diesmal schaffte er es, an Bord
zu gelangen. Es handelte sich um die Surprize. Sie kam aus
London, und ihr Kapitän war Nicholas Anstis, der auf der Lady
Penrhyn Erster Offizier gewesen war. Anstis teilte Clark mit,
er bringe 204 Sträflinge nach Norfolk Island, und das andere
Schiff, die Justinian, habe große Mengen Nahrungsmittel an
Bord. Port Jackson war bereits versorgt, und jetzt war Norfolk
Island an der Reihe. Die dortigen Vorräte an Pökelfleisch und Mehl
hätten keine drei Wochen mehr gereicht.
»Was war das gestern für ein Schiff, das unsere
Signale einfach ignorierte?«, wollte Clark wissen.
»Die Lady Juliana«, erwiderte Anstis. »Sie
brachte eine Ladung weiblicher Sträflinge nach Port Jackson, hatte
jedoch ein so übles Leck, dass sie sofort leer nach Wampoa
weiterfuhr. Dort soll sie eine Ladung Tee aufnehmen, doch zuerst
muss sie ins Trockendock. Die Justinian und die
Surprize fahren auch nach Wampoa weiter, sobald wir unsere
Fracht gelöscht haben.«
Selbst Männer wie Len Dyer und William Francis
halfen eifrig mit, die in Sydney Town gelandeten Beiboote der
Surprize und der Justinian mit Gemüse für deren
Besatzungen voll zu packen, die schon lange kein Grünzeug mehr
bekommen hatten. Wegen des schlechten Wetters konnte keines der
beiden Schiffe seine Fracht löschen. Nur ein paar Briefe aus
England und Port Jackson und einige Schiffsoffiziere wurden an Land
gebracht. Das Ausladen musste warten und notfalls in Cascade
erfolgen.
Leutnant Clark erhielt zu seiner großen Freude
gleich vier lange Briefe von seiner geliebten Betsy und las zu
seiner Beruhigung, dass es ihr und dem Baby gut ging.
Gouverneur Phillip teilte Major Ross in einem
ausführlichen Bericht mit, dass er die Supply mit Leutnant
King an Bord nach Batavia geschickt habe. Dort sollte das Schiff so
viel Proviant aufnehmen, wie seine kleinen Frachträume fassen
konnten, und möglichst noch ein holländisches Frachtschiff
anheuern, das die Supply mit weiteren Lebensmitteln beladen
nach Port Jackson zurückbegleitete. Seine Exzellenz hoffte, dass
King von Batavia aus mit einem holländischen Ostindienfahrer
zumindest nach Kapstadt gelangen würde, vielleicht sogar direkt
nach London, wo er Unterstützung für die Kolonien anfordern sollte.
Die Supply sollte gleich nach ihrer Rückkehr von Batavia,
mit der jedoch frühestens Anfang 1791 zu rechnen war, nach Norfolk
Island weiterfahren, um Captain Hunter und die restliche Besatzung
der Sirius abzuholen. Phillip schrieb auch, dass er nun, da
genügend Vorräte auf Norfolk Island eingetroffen seien, keine
Notwendigkeit mehr für das Kriegsrecht sehe. Es müsse deshalb
unverzüglich aufgehoben werden! Der verdammte King!, dachte der
Major wütend. Diese Anweisung habe ich nur ihm zu verdanken. Wie
soll ich Hunters Matrosen denn dazu bringen, zu arbeiten, wenn ich
sie nicht hängen kann?
Doch das war nicht die einzige schlechte Nachricht
aus Port Jackson. Das Versorgungsschiff Guardian war mit
Nahrungsmitteln beladen von England aufgebrochen, hatte in Kapstadt
jedes dort erhältliche Nutztier aufgekauft und anschließend seine
Reise zur Botany Bay fortgesetzt. An Heiligabend 1789 fuhr es 1000
Meilen vom Kap entfernt friedlich durch eine nicht allzu raue See,
als vor ihm ein Sommereisberg auftauchte. Captain Riou, der
unterschätzt hatte, wie viel Wasser Rinder pro Tag tranken,
beschloss, die günstige Gelegenheit zu nutzen und mit Booten ein
paar dicke Brocken Eis zu holen, um die Trinkwasservorräte
aufzustocken. Als das geschehen war, fuhr die Guardian
weiter. Der Kapitän vergewisserte sich noch, dass sie sich von dem
Eisberg entfernten, dann stieg er zum Essen hinunter. Eine
Viertelstunde
später erschütterte ein gewaltiger Stoß die Guardian. Das
Steuerruder wurde weggerissen und das Schiff schlug leck. Da es nur
langsam Wasser machte, beschloss Captain Riou, trotz des Lecks nach
Kapstadt zurückzukehren. Alle Tiere wurden über Bord geworfen und
der größte Teil der Besatzung sowie einige besonders nützliche
Handwerker aus den Reihen der Sträflinge in fünf Boote verfrachtet.
Doch die Matrosen hatten ihre Angst, in dem eiskalten Wasser zu
ertrinken, mit Rum zu betäuben versucht. Sie waren sturzbetrunken.
Nur ein Boot erreichte Land. Die Guardian strandete nach
wochenlanger Irrfahrt durch den Indischen Ozean unweit von
Kapstadt. Der kleine Teil ihrer Fracht, der noch gerettet werden
konnte, wurde auf die Lady Juliana umgeladen, die einige
Zeit nach der Katastrophe auf dem Weg zur Botany Bay Kapstadt
anlief. Tiere konnten die Viehhändler von Kapstadt der Lady
Juliana allerdings keine mehr verkaufen. Sie waren alle an der
Unglücksstelle ertrunken. Verloren war auch die persönliche Habe
von Gouverneur Phillip, Major Ross, Captain David Collins und
anderen ranghohen Marineoffizieren. Ross erholte sich nie von den
finanziellen Verlusten, die er durch die Havarie der
Guardian erlitt. Er hatte über einen Bevollmächtigten viele
Tiere für die eigene Haltung und Zucht gekauft.
Im Laufe der folgenden Tage wurden einige Vorräte
von der Justinian und der Surprize an Land gebracht,
die Sträflinge - 47 Männer und 157 Frauen - jedoch noch nicht. Die
Frauen waren alle mit der Lady Juliana gekommen. Sie war das
erste von fünf Schiffen gewesen, die im Juni in Port Jackson
eintrafen. Gouverneur Phillip hatte natürlich auf ein
Versorgungsschiff gewartet und war hellauf entsetzt, als das erste
Schiff nach so langer Zeit nur Frauen und Kleider an Bord hatte.
Bald darauf traf jedoch das Versorgungsschiff Justinian ein,
und gegen Ende des Monats folgten die Surprize, die
Neptune und - zum zweiten Mal - die
Scarborough.
»Es war furchtbar!«, berichtete Mr Murray,
Schiffsarzt der Justinian, den in der Offiziersmesse
versammelten Offizieren von Norfolk Island. Der Schrecken stand ihm
noch ins Gesicht geschrieben. Er holte tief Luft. »Die
Surprize, die Neptune und die Scarborough
wurden mit 1000 Sträflingen an Bord nach Port Jackson geschickt.
Davon starben 267 auf der Überfahrt, und von den verbliebenen 759
waren 500 schwer krank. Es war … Ich fürchtete schon, Seine
Exzellenz würde gleich in Ohnmacht fallen, und wer hätte es ihm
verdenken können? Sie können sich nicht vorstellen …« Murray
versagte die Stimme. »Das Innenministerium hatte die Lieferanten
gewechselt. Für die Verpflegung der drei Schiffe war eine
Sklavenhandelsgesellschaft zuständig. Sie wurde im Voraus pro
Sträfling bezahlt, doch im Liefervertrag war nicht davon die Rede,
dass die Sträflinge lebend und gesund abzuliefern seien. Der Gewinn
der Gesellschaft war größer, wenn die Sträflinge möglichst bald
nach der Abfahrt starben, deshalb bekamen sie fast nichts zu essen.
Außerdem waren sie die ganze Reise über unter Deck eingesperrt und
gefesselt wie früher die Sklaven - mit Fußschellen, verbunden durch
eine ein Fuß lange Eisenstange. Sie konnten also nicht einmal
herumlaufen. Es war schon grausam genug, Schwarze für eine Reise
von sechs oder acht Wochen so zu fesseln, aber stellen Sie sich den
Zustand von Männern vor, die fast ein Jahr lang mit solchen
Fußschellen unter Deck eingesperrt waren.«
»Sie müssen unter schrecklichen Qualen gestorben
sein«, sagte Stephen Donovan mit gepresster Stimme. »Verflucht
seien alle Sklavenhändler!«
Die anderen schwiegen.
»Am schlimmsten war es auf der Neptune«,
fuhr Murray fort. »Doch auf der Scarborough war es auch
nicht viel besser. Dort waren sechzig Männer mehr in einem
kleineren Raum als beim ersten Mal eingesperrt. Am besten ging es
den Sträflingen noch auf der Surprize. Auf ihr starben
unterwegs nur 36 von 254 Sträflingen. Ich muss sagen, wir kämpften
mit den Tränen und mussten uns übergeben, als wir die lebenden
Skelette aus den Frachträumen holten, in denen es unerträglich
stank. Die Menschen starben, während wir ihnen heraushalfen, auf
den Decks und in den Booten, und als wir sie ans Ufer trugen. Wer
dann noch lebte, den mussten wir vor der Einweisung ins Lazarett
zunächst vom Ungeziefer befreien; die Sträflinge waren völlig
verlaust. So war es doch, oder habe ich übertrieben, Mr
Wentworth?«
»Kein bisschen«, erwiderte D’arcy Wentworth, ein
stattlicher, blonder Mann, der als Arzt auf Norfolk Island Dienst
tun sollte. »Die Neptune war die Hölle. Ich diente auf ihr
als Schiffsarzt, doch wurde ich während der ganzen Reise kein
einziges Mal aufgefordert, nach den Sträflingen zu sehen - es war
mir sogar verboten, das Gefängnis zu betreten. Wir hatten die ganze
Zeit über den Gestank in der Nase, und als ich in Port Jackson zu
den Sträflingen hinunterstieg, um zu helfen - mein Gott! Es lässt
sich nicht mit Worten beschreiben, wie es dort unten aussah. Ein
Gewimmel von Maden, verwesende Leichen, Kakerlaken, Ratten, Flöhe,
Fliegen, Läuse. Doch einige Männer lebten noch, können Sie sich das
vorstellen? Wir Ärzte befürchten, dass die Überlebenden alle
wahnsinnig sind.«
»Wer ist der Kapitän der Neptune?«, fragte
Stephen, der mehr Kapitäne der Handelsmarine kannte als die
Offiziere.
»Eine Bestie namens Donald Trail«, erwiderte
Wentworth. »Er konnte unsere Empörung gar nicht verstehen, sodass
wir uns fragten, wie viele Sklaven wohl bei seinen Fahrten nach
Jamaica überleben. Trail war wie Anstis nur daran interessiert, den
Leuten in Port Jackson Nahrungsmittel zu verkaufen, allerdings zu
so astronomischen Preisen, dass nur sein Rum Absatz fand.«
»Ich habe schon von Trail gehört«, sagte Stephen
angewidert. »Die Schwarzen muss er besser versorgen, weil er sie
nur lebend verkaufen kann. Ihm einen Liefervertrag zu geben, der
ihm stillschweigend erlaubt, die Sträflinge sterben zu lassen, ist
Mord! Der Teufel soll das Innenministerium holen!«
»Berichten Sie weiter, was mit den armen Teufeln in
Port Jackson geschah, Mr Murray«, forderte Major Ross den Arzt
auf.
»Seine Exzellenz der Gouverneur ließ weit außerhalb
der Siedlung eine große Grube ausheben«, fuhr Murray fort. »Dort
wurden die Toten hineingelegt, und Mr Johnson sollte einen
Trauergottesdienst für sie abhalten. Die Leichen wurden mit Steinen
zugedeckt, damit sie vor den Hunden der Eingeborenen sicher waren -
die fressen alles. Es wurden immer noch Leichen dorthin gebracht,
als die Surprize hierher aufbrach. Die Männer starben weiter
massenweise. Gouverneur Phillip ist außer sich vor Empörung.
Er hat uns ein Schreiben an Lord Sydney mitgegeben, aber ich
fürchte, das Schreiben wird das Innenministerium nicht rechtzeitig
erreichen, bevor die nächste Ladung Sträflinge losgeschickt wird -
mit Schiffen derselben Sklavenhändler und zu denselben
Bedingungen.«
Die Offiziere tranken den auf Norfolk Island
gebrannten Rum, doch damit sie das nicht merkten, hatte Robert Ross
ihn klugerweise mit besserem Rum vermischt und »Rio-Rum« genannt.
Einen Teil von Richards Erzeugnis ließ er mit gutem Rum aus Bristol
verschneiden, den die Justinian mitgebracht hatte, und in
leere Eichenfässer füllen. Diesen geheimen Rumvorrat versteckte er
mit Leutnant Clark und Richard an einem trockenen Ort, wo niemand
ihn finden würde. Die Brennerei sollte zunächst 2000 Gallonen Rum
produzieren, dann, so schätzte Ross, würde der Vorrat an Zuckerrohr
und Fässern aufgebraucht sein. Danach sollte die Anlage in ihre
Einzelteile zerlegt und von Richard versteckt werden. So wollte der
Major sein Gewissen besänftigen. Außerdem hatte er beschlossen, aus
der Gerste, die auf der Insel wuchs, Dünnbier zu brauen. Die
Justinian hatte Hopfen mitgebracht, und so würden selbst die
Sträflinge ab und zu etwas Besseres zu trinken bekommen als
Wasser.
Was für ein schreckliches Schicksal die Sträflinge
gehabt hatten. Von den Beamten Seiner Majestät den Würmern zum Fraß
vorgeworfen! Ross hatte Männer auspeitschen und sogar hängen
lassen, aber er hatte auch für sie gesorgt, so gut er konnte. Ob
Arthur Phillip begriffen hatte, dass die Skrupellosigkeit von
Sklavenhändlern seine Kolonie zum zweiten Mal in einem Jahr vor dem
Verhungern bewahrt hatte? Was wäre gewesen, wenn alle 1200
Sträflinge vom Juni in einer so guten Verfassung eingetroffen wären
wie die, die mit mir kamen? Die Guardian war havariert, und
die Lebensmittel der Justinian hätten nur ein paar Wochen
gereicht. Gott hat Neusüdwales durch gewissenlose Sklavenhändler
gerettet. Aber wen wird er für den Tod der Sträflinge zur
Rechenschaft ziehen?
Am Morgen des 10. August, noch bevor die
Sträflinge von der Surprize an Land gebracht worden waren,
versammelte Major Ross
die Inselbewohner unter dem Union Jack und hielt eine
Ansprache.
»Unsere Lage hat sich verbessert, da inzwischen
Lebensmittel eingetroffen sind, die einige Zeit reichen werden!«,
brüllte er. »Deshalb erkläre ich hiermit das Kriegsrecht für
aufgehoben! Was nicht bedeutet, dass ihr tun könnt, was ihr wollt!
Ich kann vielleicht niemanden mehr hängen, aber ich kann euch
auspeitschen lassen, bis ihr fast tot seid - und das werde ich
auch, wenn es sein muss! Unsere Kolonie wird bald 718 Einwohner
haben, und der starke Bevölkerungsanstieg stellt uns vor große
Probleme! Außerdem handelt es sich bei den neuen Sträflingen
größtenteils um Frauen, und die wenigen Männer unter ihnen sind
krank. Die Neuankömmlinge können also keine schwere Arbeit
verrichten, müssen aber ernährt werden. In jeder Hütte und in jedem
Haus wird ein Neuankömmling einquartiert, denn ich habe nicht vor,
neue Unterkünfte für die Frauen zu bauen. Alle Seesoldaten, die
nicht in den Gemeinschaftsunterkünften der Marine wohnen, und alle
Sträflinge, auch die begnadigten, müssen mindestens eine Frau
aufnehmen. Nur die Aufseher der alten und neuen Sträflinge, Mr
Donovan und Mr Wentworth, werden von dieser Verpflichtung befreit.
Den Offizieren steht es frei, ebenfalls Neuankömmlinge bei sich
unterzubringen. Aber ich warne euch! Ich werde nicht dulden, dass
jemand eine Frau schlägt oder sonst wie drangsaliert. Ich kann euch
nicht daran hindern, Unzucht zu treiben, aber ich werde nicht
zulassen, dass ihr euch wie Barbaren aufführt. Wer eine Frau
vergewaltigt oder auf andere Weise körperlich misshandelt, erhält
500 Hiebe mit Richardsons schlimmster Peitsche. Das gilt für die
Seesoldaten ebenso wie für die Sträflinge.«
Der Vizegouverneur ließ den Blick drohend über die
schweigende Menge schweifen. Er sah die selbstgefällige Miene von
Captain Hunter, der genau wusste, dass die von Seiner Exzellenz
befohlene Aufhebung des Kriegsrechts ihm einige Freiheiten
verschaffte.
»Ich werde Sydney Town verkleinern, indem ich einen
Teil der Bewohner anderswo ansiedle. Die Besatzung der
Sirius wird auf die große Lichtung an der Straße nach
Cascade ziehen, bis die Supply
sie abholt. Sodann will ich möglichst viele von euch auf
Grundstücke von einem halben Hektar Größe umsiedeln. Wer eigenes
Land haben will, muss jedoch einen Neuankömmling mitversorgen. Auf
die Erträge eurer Grundstücke erhebt der Staat keine Ansprüche. Das
Land soll vielmehr dazu dienen, euren Bedarf an Lebensmitteln der
Regierung zu verringern. Überschüsse könnt ihr an den Staat
verkaufen; das gilt für Freie ebenso wie für Sträflinge.
Sträflinge, die hart arbeiten, ihre Grundstücke roden und bestellen
und Lebensmittel an den Staat verkaufen, erhalten die Freiheit
zurück, sobald sie bewiesen haben, dass sie sie verdienen - so wie
ich einigen von euch als Belohnung für gute Arbeit schon die
Freiheit zurückgegeben habe. Wer ein Stück Land bestellt, bekommt
vom Staat eine Zuchtsau, die er bei Bedarf von einem Eber decken
lassen kann. Geflügel kann ich nicht verteilen, aber sobald wir
genug Puten, Hühner und Enten haben, kann, wer genug Geld hat,
welche kaufen.«
Ein Raunen ging durch die Menge. Einige strahlten
vor Freude, andere machten ein finsteres Gesicht. Nicht allen
gefiel die Vorstellung, hart zu arbeiten, nicht einmal, wenn es in
ihrem eigenen Interesse war.
Richard kehrte mit gemischten Gefühlen in seine
Sägegrube oben im Tal zurück. Einerseits war er glücklich und
dankbar, dass Ross ihm das Stück Land zugeteilt hatte, auf dem sein
Haus stand und das er bereits bestellte. Andererseits trauerte er
seinem friedlichen Einsiedlerdasein nach, das Ross nun beenden
wollte. Richard wusste, dass er eine Frau nicht wie Lawrell in eine
andere Hütte verbannen und auch nicht bei Lawrell einquartieren
konnte. Lawrell war zwar ein harmloser Kerl, aber er würde
natürlich erwarten, dass sie mit ihm schlief, ob sie das wollte
oder nicht. Nein, Richard musste sie wohl oder übel in sein Haus
aufnehmen. Das warf seine Pläne für das kommende Wochenende über
den Haufen. Eigentlich hatte er auf den Felsen westlich des
Landeplatzes angeln und einen langen Spaziergang mit Stephen machen
wollen. Stattdessen musste er nun für eine Frau ein zweites Zimmer
an sein Haus anbauen. Johnny Livingstone hatte ihm einen Schlitten
mit glatten Kufen gebaut, den er mithilfe eines Geschirrs aus
Segeltuch
wie ein Pferd ziehen konnte. Er hatte den Schlitten gebraucht, um
die Zutaten für die Maische im Schutz der Nacht zur Brennerei zu
befördern. Der Schlitten fasste so viel wie ein großer Handkarren
und war von unschätzbarem Wert. Jetzt würde er ihn dazu benutzen
müssen, Steine zur Erweiterung des Fundaments vom Steinbruch zu
holen. Er verfluchte alle Frauen.
Da Winter war, nahmen die ranghöheren Offiziere
die warme Hauptmahlzeit um ein Uhr zusammen mit Major Ross in der
Offiziersmesse der Gouverneursresidenz ein. Lizzie Lock, die darauf
bestand, Mrs Morgan genannt zu werden, war nun, da sie eine größere
Auswahl an Zutaten hatte, eine ausgezeichnete Köchin. An diesem Tag
gab es zur Feier der Ankunft der Surprize und der
Justinian Schweinebraten. Die Offiziere der beiden Schiffe
waren jedoch nicht eingeladen worden, ebenso wenig wie die Herren
Donovan, Wentworth und Murray. So nahmen an dem Festessen nur Major
Ross, Captain Hunter, Captain Johnston, Leutnant Johnstone und
Leutnant William Faddy teil.
Als Aperitif schenkte der Major »Rio-Rum« aus. Die
Flasche Portwein, die Captain Maitland von der Justinian
mitgebracht hatte, wollte er erst nach dem Essen öffnen. Da der
Braten auf sich warten ließ, ließ der Major noch einen Rum
ausschenken. Die fünf Männer waren deshalb bereits besäuselt, als
sie Mrs Morgans Schweinelende zusprachen. Die Kruste des Bratens
war herrlich knusprig, die Soße würzig, und die in Schmalz
gerösteten Kartoffeln schmeckten ebenfalls köstlich. Das Essen
schwächte die Wirkung des Rums freilich nicht ab, denn die fünf
tranken fleißig weiter.
»Ich habe festgestellt, dass Clark nicht mehr die
staatlichen Vorratshäuser verwaltet«, sagte Hunter und verspeiste
das letzte Stück Reispudding, das in Sirup schwamm.
»Leutnant Clark hat Besseres zu tun als Zahlen
zusammenzuzählen«, sagte Ross, dessen Kinn vor Bratenfett glänzte.
»Seine Exzellenz schickt mir freie Männer, damit ich sie sinnvoll
einsetze, und genau das tue ich. Ich brauche Clark jetzt in
Charlotte Field. Er überwacht die Bauarbeiten.«
Hunter runzelte die Stirn. »Da fällt mir ein, dass
Sie in Ihrer Ansprache heute Morgen andeuteten, meine Männer
sollten aus Sydney Town wegziehen - an die Straße nach Cascade,
wenn ich Sie richtig verstanden habe.«
Ross nickte und wischte sich das Kinn mit einer
Serviette ab, die die gute Mrs Morgan aus einem alten
Leinentischtuch genäht hatte - die Frau war wirklich eine Perle!
Der Major hatte schon oft überlegt, warum Richard Morgan sie
verstoßen hatte. Vermutlich hatten die beiden sich im Bett nicht
verstanden, denn eine Verführerin war Mrs Morgan gewiss nicht. Er
faltete die Serviette zusammen und blickte Hunter an, der am
anderen Ende des Tisches saß.
»Ja und?«, fragte er.
»Was gibt Ihnen das Recht, Entscheidungen über
meine Besatzung zu treffen?«
»Ich bin immer noch Vizegouverneur und kann Leute
nach meinem Ermessen umsiedeln. Hier werden bald über 150 Frauen
eintreffen, deshalb will ich nicht, dass in Sydney Town Schläger
herumhängen, die außer essen nichts tun.«
Hunter stieß seinen Teller so heftig zurück, dass
sein leerer Becher umkippte, und beugte sich vor. »Jetzt reicht’s
mir aber!«, schrie er und schlug mit der Faust auf den Tisch. »Sie
sind ein Tyrann, Ross, und das werde ich dem Gouverneur sagen, wenn
ich nach Port Jackson komme! Sie lassen meine Männer hängen und
auspeitschen, und dafür verfluche ich Sie! Sie haben Männern der
Königlichen Marine Arbeiten zugemutet, zu denen ich nicht einmal
Judas Ischarioth verdammen würde.« Er sprang auf und starrte Ross
zornig an.
»Das habe ich in der Tat«, sagte Ross mit
trügerischer Freundlichkeit. »Es ist Balsam für meine Seele und
meine Augen, die Marine ausnahmsweise einmal arbeiten zu
sehen.«
»Und ich sage Ihnen, Major Ross, meine Männer
bleiben, wo sie sind!«
»Mitnichten!« Ross stand ebenfalls auf. Seine Augen
funkelten vor Wut. »Ich ertrage Sie und Ihren verwöhnten Haufen nun
schon seit fünf Monaten und wie es aussieht, muss ich Sie noch
weitere
sechs Monate ertragen - aber nicht in meiner unmittelbaren
Nachbarschaft! Sie halten sich für die Herren der Schöpfung, aber
das sind Sie nicht! Jedenfalls nicht hier. Hier sind Sie nur ein
Pack von Schmarotzern, die anderen Leuten das Blut aussaugen. Auf
dieser Insel führt ein Seesoldat das Kommando, und zwar ich! Sie
tun, was ich Ihnen sage, Hunter, und damit basta! Treiben Sie mit
Ihren Schiffsjungen, was Sie wollen, aber nicht hier, sondern an
der Straße nach Cascade!«
»Ich bringe Sie vors Kriegsgericht, Ross! Ich sorge
dafür, dass Sie mit dem ersten Schiff nach Hause geschickt
werden!«
»Versuchen Sie’s doch, Sie Schwuchtel! Aber denken
Sie daran, dass nicht ich ein Schiff verloren habe, sondern Sie!
Wenn ich wegen Ihnen nach England zurückkehren und vor dem
Kriegsgericht erscheinen muss, dann sage ich aus, dass Sie Ihr
Schiff deshalb verloren haben, weil Sie keinen Rat von uns annehmen
wollten!« Ross brüllte jetzt. »Die Wahrheit ist doch, Hunter, dass
Sie als Kapitän völlig unfähig sind!«
Hunters Gesicht war puterrot angelaufen.
»Pistolen!«, stieß er hervor. »Morgen bei Tagesanbruch.«
Der Major brach in schallendes Gelächter aus. »Dass
ich nicht lache! Ein Duell mit einer Schwuchtel, die schon mit
einem Fuß im Grab steht! Das ist unter meiner Würde. Verschwinden
Sie! Los, machen Sie, dass Sie rauskommen, und lassen Sie sich in
Sydney Town nicht mehr blicken, solange ich hier Vizegouverneur
bin!«
Captain Hunter stürmte empört aus dem Zimmer.
Die anderen blickten einander über den Tisch an und
Ross seufzte tief. »George, schenken Sie uns bitte Portwein ein.
Ich möchte zum Abschluss dieses denkwürdigen Mahls mit Ihnen auf
Seine Majestät den König anstoßen und auf die Marineinfanterie, die
vom König eines Tages bestimmt zur Königlichen Marineinfanterie
erhoben wird. Dann ziehen wir mit der Königlichen Marine
gleich.«
Am Freitag, dem 13., einem Tag, an dem die ganze
Inselgemeinde vor abergläubischer Furcht zitterte, wurden in
Cascade die weiblichen Sträflinge der Surprize an Land
gebracht.
Richard hatte inzwischen zehn Sägegruben zu
beaufsichtigen, und Ralph Clark wollte in Charlotte Field eine
weitere Sägegrube anlegen - Ross drängte auf eine möglichst
schnelle Fertigstellung der dortigen Siedlung.
Am frühen Morgen des 13. August teilte Richard
Major Ross allerdings mit, dass er seine Männer nicht dazu
überreden konnte, an einem Unglückstag zu arbeiten. »Natürlich
könnte ich Richardson mit der Peitsche kommen lassen, Sir. Dann
würden sie zwar arbeiten, aber in einer solchen Panik, dass Unfälle
zu befürchten wären. Und gerade jetzt, wo wir Holz für so viele
neue Hütten zusägen müssen, kann ich es nicht riskieren, dass
Männer wegen Verletzungen ausfallen.«
»Es gibt Dinge, gegen die man nichts machen kann«,
sagte Ross, der selbst nicht gegen Aberglauben gefeit war. »Ich
gebe den Männern einen Tag frei. Dafür müssen sie morgen arbeiten.
Übrigens habe ich allen Sträflingen verboten, heute nach Cascade zu
marschieren, um sich die Frauen anzusehen, die dort ausgeladen
werden.« Er lächelte gequält. »An einem Freitag, dem 13., würden
sie sich sowieso die Falsche aussuchen. Aber irgendwer muss den
Frauen natürlich beim Aussteigen helfen, und da ich auch meinen
Seesoldaten befohlen habe, sich von Cascade fern zu halten, bleibt
das Feld der Besatzung der Sirius überlassen. Wenigstens
sind auch Mr Donovan und Mr Wentworth dabei, und Sie können die
beiden begleiten, Morgan.«
Um acht brachen die drei Männer nach Cascade auf.
Sie waren trotz des Datums in bester Laune. Stephen Donovan und
D’arcy Wentworth verstanden sich blendend. Sie hatten einiges
gemeinsam, insbesondere ihre Abenteuerlust, und waren beide sehr
belesen. Stephen hatte als Seemann die Welt kennen gelernt,
Wentworth war dem Ruf der Landstraße gefolgt und schon mehrfach
wegen Straßenraubs verhaftet und verurteilt worden. Wenn er nicht
gerade Postkutschen überfallen hatte, hatte er Medizin studiert.
Nur durch die guten Beziehungen seiner einflussreichen Verwandten
war er immer wieder freigekommen, doch schließlich hatte seine
Familie die Geduld verloren und ihn aufgefordert, nach Neusüdwales
zu verschwinden und nie mehr zurückzukommen.
In Cascade angekommen, kletterten die drei die
steile Schlucht zwischen den zweihundert Fuß hohen Klippen
hinunter. Die Surprize lag recht nahe am Ufer. Die See war
ruhig, bald würde die Flut einsetzen. Donovan hatte Captain Anstis
zwei Tage zuvor erklärt, wie er die Leute sicher an Land bringen
konnte, und Anstis war so vernünftig, den Ratschlägen zu
folgen.
»Aber er ist ein übler Halsabschneider«, sagte
Stephen und setzte sich auf einen Felsen. »Wie ich höre, hat er in
Port Jackson Papier für einen Penny den Bogen, Tinte für ein Pfund
das Fläschchen und billigen, ungebleichten Baumwollstoff für zehn
Schillinge die Elle verkauft. Er hat deshalb auch viel weniger
verkauft als erwartet. Ich bin gespannt, was er hier
verlangt.«
Richard fiel ein, dass Lizzie Lock - Mrs Morgan! -
erzählt hatte, auf der Lady Penrhyn habe es keine Lappen für
menstruierende Frauen gegeben, und er beschloss, für die Frau, die
er aufnehmen musste, ein paar Ellen ungebleichten Baumwollstoff zu
kaufen, auch wenn es ihm zutiefst widerstrebte, einem Mann Geld in
den Rachen zu werfen, der aus Gewinnsucht Menschen verhungern ließ.
Außerdem brauchte die Frau auf jeden Fall ein Bett und eine
Matratze, ein Kopfkissen und Leintücher, vielleicht auch eine Decke
und Kleider. Johnny Livingstone hatte ihm noch ein Bett und weitere
Stühle versprochen, aber der unwillkommene Gast würde ihn trotzdem
einiges kosten. Zum Glück hatte Richard noch die in der Kiste und
in den Absätzen von Ike Rogers Stiefeln versteckten Goldmünzen. Was
Nicholas Anstis wohl alles zu verkaufen hatte? Hoffentlich auch
Schmirgel. Sein Vorrat war fast erschöpft. Sandpapier konnte er aus
Sand von der Turtle Bay und einem Leim aus Fischresten selbst
herstellen, Schmirgelpulver dagegen nicht.
Kurz nach zehn steuerte das erste Beiboot der
Surprize auf das Ufer zu - unter dem Beifall von ungefähr
fünfzig erwartungsvollen Matrosen der Sirius. Weitere
Beiboote, die bereits zu Wasser gelassen worden waren, füllten sich
mit Frauen. Die See war nicht so rau wie bei der Ankunft von Major
Ross, doch als die Ruderer das Boot zum Landungsfelsen manövrierten
- bereit, es sofort wieder vom Felsen abzustoßen, wenn eine größere
Welle heranrollte -, schrien die Frauen aufgeregt durcheinander und
weigerten sich, an
Land zu springen. Ein Matrose von der Sirius lief zum Rand
des Felsens und streckte die Hände aus. Das Boot glitt schwankend
heran, und die beiden Matrosen auf dem Boot stießen dem Mann auf
dem Felsen eine Frau entgegen. Derselbe Vorgang wiederholte sich.
Keine der Frauen fiel ins Wasser, und auch ihr Gepäck landete
sicher auf dem Felsen. Ein weiteres Boot traf ein, und die Prozedur
begann von neuem. Bald drängten sich auf der kleinen begehbaren
Fläche am Landeplatz Frauen und Matrosen. Es kam jedoch nicht zu
unsittlichen Übergriffen. Die meisten Frauen fanden sofort einen
Matrosen, der ihnen half, den Steilhang hinaufzuklettern.
»Wartet ab, bis die Leute in Sydney Town erfahren,
dass die Matrosen von der Sirius sich schon die besten
Frauen geschnappt haben«, sagte Stephen. »Die Seesoldaten werden
außer sich sein, weil Ross ihnen verboten hat, herzukommen.«
»Warum hat er das getan?«, fragte Wentworth
neugierig.
»Aus anderen Gründen, als Sie vielleicht denken«,
erwiderte Richard. »Was ist besser? Den Seesoldaten, die dienstfrei
haben, die erste Wahl zu überlassen, oder den Matrosen von der
Sirius? Da es sowieso Streit gibt, ist es dem Major lieber,
wenn sich die Seesoldaten mit den Matrosen streiten und nicht
untereinander.«
Nach dem Abzug der Matrosen von der Sirius
stiegen die drei Männer zum Landungsfelsen hinunter, um weiteren
verängstigten Neuankömmlingen unter gutem Zureden an Land zu
helfen. Wie Stephen Donovan und Richard Morgan war auch D’arcy
Wentworth nicht darauf aus, eine Frau zu finden; allerdings aus
anderen Gründen. Er hatte bereits eine Freundin auf der
Surprize, ein schönes, rothaariges Mädchen namens Catherine
Crowley. Man hatte ihm versprochen, sie nicht zusammen mit den
anderen Frauen in Cascade an Land zu bringen. Catherine sollte mit
ihrem kleinen Sohn William Charles an Bord bleiben, bis die See vor
der Sydney Bay sich beruhigte. Wentworth hatte sich auf der
Neptune auf den ersten Blick in sie verliebt und sie, allen
Protesten der Besatzung zum Trotz, aus dem schmutzstarrenden Gang,
in dem die weiblichen Sträflinge untergebracht waren, in eine frei
gewordene Kabine umquartiert. Kurz vor der Ankunft der
Neptune in Port
Jackson hatte Catherine ein Kind zur Welt gebracht. Die Freude der
Eltern war jedoch nicht ungetrübt. Der kleine Charles William, der
die kupferroten Locken der Mutter und, wie es schien, die Statur
des Vaters geerbt hatte, schielte extrem und würde nie gut
sehen.
Als die Surprize alle männlichen Sträflinge
und fast siebzig Frauen an Land gebracht hatte, signalisierte sie,
dass sie auf Grund des Wasserstands nun keine mehr losschicken
würde. Die Frauen sahen bemitleidenswert aus. Sie waren laut Mr
Murray zwar auf der Lady Juliana gut behandelt und verpflegt
worden, doch die Reise von Port Jackson nach Norfolk Island hatten
sie auf dem völlig verdreckten, nach Verwesung und Exkrementen
stinkenden Zwischendeck eines feuchten, undichten Schiffes
verbringen müssen.
Die siebenundvierzig Männer, die an Land gebracht
wurden, befanden sich jedoch in einem noch schlimmeren Zustand.
Waren das die gesündesten der aus England in Port Jackson
eingetroffenen Sträflinge? Wentworth musste in das Boot springen -
die Seeleute von der Surprize zeigten sich wenig hilfsbereit
-, den armen Teufeln hochhelfen und sie Richard und Stephen
hinhalten. Selbst hätten sie nicht springen können. Sie bestanden
nur noch aus Haut und Knochen. Ihre Augen waren tief in die Höhlen
gesunken, ihre Nägel verfault, Zähne und Haare ausgefallen. Sie
hatten Skorbut und Ruhr und waren völlig verlaust. Richard
marschierte eilends nach Sydney Town, forderte Hilfe an und kehrte
wieder zurück, gefolgt von Sergeant Tom Smyth und einigen
Männern.
Bei Einbruch der Dunkelheit befanden sich alle
Sträflinge, die an diesem Tag an Land gebracht worden waren, in
Sydney Town. Die Frauen, die keinen Matrosen gefunden hatten,
wurden von Soldaten oder Sträflingen aufgenommen, die ausgezehrten,
schwer kranken Männer in das kleine Lazarett und einen schnell in
ein Notlazarett umgewandelten Schuppen gebracht. Olivia Lucas,
Eliza Anderson, John Bryants Witwe und die Haushälterin des
Vizegouverneurs Mrs Morgan kümmerten sich um die Kranken, hatten
aber wenig Hoffnung, dass sie je wieder gesund werden würden.
Da die Surprize am nächsten Tag immer noch
vor Cascade lag, kehrten Stephen, D’arcy Wentworth und Richard
dorthin zurück, um wieder zu helfen. Nach einiger Zeit frischte der
Wind auf, und die Surprize signalisierte, dass keine
weiteren Boote an Land geschickt werden sollten. Stephen und D’arcy
nahmen die letzte Ladung Frauen in Empfang, redeten den
verängstigten Geschöpfen gut zu und nahmen ihnen so viel Gepäck ab,
wie sie tragen konnten. Das Leben auf Norfolk Island werde ihnen
gefallen, sagten sie, dort sei alles viel besser als in Port
Jackson.
Da Richard sich vergewissern sollte, dass die
Besatzung der Surprize nicht doch noch ein weiteres Boot ans
Ufer schickte, verließ er Cascade einige Minuten nach Stephen und
D’arcy. Vom Gipfel der Klippen aus ließ er den Blick noch einmal
über die Küste wandern. Die Aussicht war ihm weniger vertraut als
die auf die Sydney Bay mit ihren Sandstränden, der Lagune, dem Riff
und den vorgelagerten Inseln, doch war er von der Schönheit der
zerklüfteten Küste mit ihren vielen Wasserfällen tief
beeindruckt.
Auch heute bin ich noch einmal davongekommen,
dachte er und wandte sich zum Gehen. Alle Frauen haben einen Mann
gefunden, der ihnen half, und Stephen, der Teufelskerl, hat sowieso
allen am besten gefallen. Mit etwas Glück brauche ich überhaupt
keine Frau aufzunehmen, auch wenn ich dann keine Sau bekomme.
Plötzlich miaute es. Richard runzelte die Stirn und
blieb stehen. Mit der Sirius waren zwar einige Katzen
mitgekommen, doch sie waren als Haustiere und Rattenfänger hoch
geschätzt und kamen nicht zur Cascade Bay. Vielleicht hatte sich
eine Katze hierher verirrt und war auf einen Baum geklettert, von
dem sie nicht mehr herunterkam.
Er blickte sich lauschend um.
Das nächste Miauen klang weniger nach einer Katze.
Mit klopfendem Herzen verließ Richard die Straße und betrat den
Wald. Mit jedem Schritt wurde es finsterer um ihn. Er blieb stehen,
bis seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, dann ging er
weiter. Plötzlich war er sich sicher, dass er eine menschliche
Stimme gehört hatte. Schade. Er hätte Stephen zu gerne eine Katze
mitgebracht - als Ersatz für seinen geliebten Rodney, der als
Schiffskatze auf der Alexander geblieben war, als Stephen
wegen Johnny Livingstone auf die Sirius übergewechselt
war.
»Wo bist du?«, rief er. »Melde dich, damit ich dich
finden kann.«
Doch es war nichts zu hören außer dem Knarren der
Tannen, dem Heulen des Windes in den Wipfeln und aufflatternden
Vögeln.
»Hab keine Angst, ich will dir nur helfen. Melde
dich!«
Ein leises Miauen kam aus dem Dickicht vor ihm.
Richard eilte auf das Geräusch zu.
»Sag mir, wo du bist«, rief er. »Hilfe!«
Die Frau kauerte in einem Loch, das Generationen
von Insekten in den Stamm einer gewaltigen Tanne genagt hatten.
Vielleicht hatte ein entflohener Sträfling das Loch als
Unterschlupf genutzt. Auf der Insel kursierten Gerüchte, dass ab
und zu ein Sträfling in die Wildnis flüchtete, freilich nur um
Wochen später völlig ausgehungert wieder in Sydney Town
aufzutauchen.
Ein kleines Mädchen, dachte Richard zuerst. Dann
sah er, dass aus einem Riss in ihrem Kleid die Brust einer Frau
heraussah. Er ging in die Hocke, lächelte sie an und streckte ihr
eine Hand entgegen. »Komm raus, hab keine Angst, ich tu dir nichts.
Wir müssen hier weg, bevor es so dunkel wird, dass wir nicht mehr
zur Straße zurückfinden. Komm, gib mir deine Hand.«
Zitternd vor Angst und Kälte legte die Frau die
Finger in seine Hand und ließ sich herausziehen.
»Wo sind deine Sachen?«, fragte er, bemüht, nicht
mehr von ihr zu berühren als ihre zitternden Finger.
»Der Mann hat sie mitgenommen«, flüsterte
sie.
Richard führte sie zur Straße und betrachtete sie
im schwindenden Tageslicht. Sie reichte ihm nur bis zu den
Schultern, war sehr dünn und schien blonde Haare zu haben - sie
waren so verdreckt, dass ihre Farbe nur schwer zu bestimmen war.
Ihre Augen dagegen waren…waren…Richard stockte der Atem. Nein,
unmöglich! Im Sonnenlicht würde sich zeigen, dass es nicht stimmte.
Niemand auf der Welt hatte Augen wie William Henry!
»Kannst du noch laufen?«, fragte er. Er hätte ihr
gerne sein Hemd gegeben, wollte sie jedoch nicht erschrecken.
»Ich glaube schon.«
»Sobald ich einen Ast finde, mache ich uns eine
Fackel. Dann können wir uns Zeit lassen.«
Sie zuckte zusammen.
»Keine Angst! Dir geschieht nichts. Wir brauchen
das Licht für den Heimweg. Es sind noch drei Meilen.« Er nahm sie
bei der Hand. »Ich bin Richard Morgan, ein freier Mann.« Es war ein
großartiges Gefühl, das sagen zu können! »Ich bin der Aufseher der
Säger.«
Sie sagte nichts, ging jedoch neben ihm her, bis
sie das Lager der Matrosen der Sirius erreichten. Die
Matrosen wohnten in Zelten, bis die Schreiner ihnen Barracken und
Hütten bauen konnten. An dem großen Feuer, das in der Nähe der
Straße brannte, saß niemand. Wahrscheinlich waren alle betrunken.
Deshalb merkte auch niemand, wie Richard einen Ast am Feuer
anzündete, und niemand sah die schmächtige, verwahrloste Gestalt,
die seine Hand umklammerte, als hinge ihr Leben davon ab.
»Wie heißt du?«, fragte Richard im Weitergehen. Der
Wind war stärker geworden, und die Tannen ächzten.
»Catherine Clark. Kitty.«
»Bist du mit der Lady Juliana
gekommen?«
»Ja.«
Er merkte, dass sie kaum noch die Füße heben
konnte, wagte es aber nicht, sie zu tragen, weil er sie nicht
erschrecken wollte - wer war der Schweinehund, der sie überfallen
hatte? »Wir können später reden, Kitty. Jetzt ist das Wichtigste,
dich schnell nach Hause zu bringen.«
Nach Hause! Das schönste Wort der Welt. Er sprach
es aus, als bedeute es ihm wirklich etwas, als verspreche er ihr
all die Dinge, die sie schon so lange vermisste, denn seit ihrer
Verurteilung waren schon Jahre vergangen. Nach einem kurzen
Aufenthalt im London Newgate war sie auf die Lady Juliana
gekommen, die jedoch noch monatelang auf der Themse gelegen hatte,
bevor sie
schließlich allein zur Botany Bay segelte. Die Zeit auf dem Schiff
war nicht schlimm gewesen. Kein Matrose war hinter ihr her gewesen.
Die dreißig Männer der Besatzung hatten schließlich 204 Frauen zur
Auswahl, darunter dralle Mädchen mit Hüften und Brüsten und hübsch
gerundeten Bäuchen. Einige Matrosen waren Schürzenjäger, die sich
nicht mit einer Eroberung zufrieden gaben, aber Mr Nicol hatte
dafür gesorgt, dass keine Frau vergewaltigt wurde. Die meisten
Seeleute verhielten sich wie Käufer auf einem Pferdemarkt. Sie
suchten sich eine Frau aus, bei der sie dann blieben. Catherine
Clark zog nie die Aufmerksamkeit der Männer auf sich. In Port
Jackson blieben die weiblichen Sträflinge zunächst auf der Lady
Juliana, dann wurden 157 von ihnen zum Weitertransport nach
Norfolk Island auf die Surprize gebracht. Catherine hatte
noch nie etwas von Port Jackson oder Norfolk Island gehört.
Auf der Surprize war alles viel schlimmer
gewesen als auf der Lady Juliana. Catherine hatte sich schon
auf der Lady Juliana die meiste Zeit übergeben müssen,
selbst als das Schiff noch auf der Themse lag, doch die Reise nach
Norfolk Island mit der Surprize war ein solcher Albtraum,
dass sie verrückt geworden wäre, hätte ihre Seekrankheit sich nicht
so verschlimmert, dass sie vor lauter Übelkeit kaum etwas anderes
wahrnahm. Die weiblichen Sträflinge waren in einem nassen,
unbelüfteten Raum untergebracht, in dem es vor Ungeziefer wimmelte
und unerträglich stank. Überall standen große Lachen einer
widerlichen Brühe, die bei jeder Bewegung des Schiffes hin und her
schwappten und über deren Zusammensetzung niemand nachzudenken
wagte. Die Sträflinge durften nicht an Deck, um frische Luft zu
schnappen und sich etwas Bewegung zu verschaffen.
Catherine hatte Angst, als sie in einem
schwankenden Boot ans Ufer gerudert und wie eine Puppe auf den
Landungsfelsen geworfen wurde, doch ein schöner Mann mit einem
strahlenden Lächeln und den blauesten Augen, die sie je gesehen
hatte, fing sie auf, sprach ihr Mut zu, legte ihr die Hand auf die
Schulter und fragte, ob sie es schaffen würde, den schrecklichen
Steilhang hinaufzuklettern. Da sie ihm gefallen wollte, nickte sie
tapfer und kämpfte
sich mit ihrem Gepäck mühsam die Schlucht hinauf. Oben angelangt,
musste sie erst einmal eine Verschnaufpause einlegen. Dann begann
sie die Straße durch den Wald entlangzugehen, ohne zu wissen, wohin
sie führte und wie lang es bis dorthin war. Sie spürte bald, dass
die Seekrankheit sie so geschwächt hatte, dass der Marsch über ihre
Kräfte ging. Einige Männer eilten an ihr vorbei, ohne sie zu
beachten.
Bald trugen ihre Beine sie nicht mehr weiter.
Keuchend setzte sie sich auf ihr Bündel und ließ den Kopf auf die
Knie sinken.
»Na, wen haben wir denn da?«, fragte eine
Stimme.
Sie hob den Kopf und sah, dass ein strohblonder
Bursche, bekleidet nur mit ausgefransten Segeltuchhosen, sie
neugierig musterte. Der Bursche grinste, und sie sah, dass ihm oben
und unten je zwei Schneidezähne fehlten. Sie war so müde, dass sie
die Hand ergriff, die er ihr entgegenstreckte, weil sie dachte, er
wolle ihr auf die Beine helfen. Stattdessen zog er sie in seine
Arme und versuchte, seinen zahnlosen Mund auf ihre Lippen zu
pressen. Sie wehrte sich mit letzter Kraft und spürte, wie ihr
dünner Sträflingskittel zerriss, als er grob nach ihren Brüsten
griff.
Plötzlich war in einiger Entfernung eine Stimme zu
hören. Der Griff des Burschen lockerte sich sofort, und Catherine
riss sich los und rannte in den Wald. Der Bursche schien zu
überlegen, ob er ihr folgen sollte, doch dann waren noch mehr
Stimmen zu hören. Achselzuckend griff er nach dem Bündel der Frau
und marschierte auf der Straße weiter. Die Stimmen kamen immer
näher. In ihrer Panik lief Catherine so tief in den Wald hinein,
dass sie nicht mehr wusste, wo die Straße war. Etwas flog ihr ins
Gesicht, aber sie schrie nicht. Sie wurde ohnmächtig und schlug mit
dem Kopf auf einer Wurzel auf.
Als sie stöhnend und würgend wieder zu sich kam,
war es so dunkel, dass sie nichts mehr sehen konnte. Im Unterholz
raschelte und knackte es, Vögel kreischten und die hohen Tannen
knarrten im Wind. Auf Händen und Füßen tastete sie sich vorwärts,
kam zu dem hohlen Baum und verkroch sich darin. Erst im
Morgengrauen sah sie, dass ihr Versteck sich in einem Baum befand.
In der Umgebung standen weitere gewaltige Bäume, und über dem
Eingang
des Lochs hing eine Schlingpflanze, deren Ranken so dick waren wie
ihre Taille.
Den ganzen Tag über hörte sie in der Ferne
menschliche Stimmen, doch sie rief nicht um Hilfe, weil sie Angst
hatte, der Mann mit den Zahnlücken könnte in der Nähe lauern. Erst
als die Dämmerung hereinbrach, begann sie zu rufen, und als dann
jemand antwortete, dachte sie an den schönen Mann, der sie an Land
gezogen hatte.
Der Mann, der sie fand, sah dem schönen Mann vom
Landeplatz zwar ähnlich, aber er war es nicht. Er hatte kurze Haare
und graue Augen. Doch auch er lächelte freundlich. Seine Zähne
waren weiß wie Schnee und keiner fehlte. Es war zu dämmerig, um
mehr zu erkennen, aber als er ihr die Hand hinstreckte, ergriff
Catherine sie und hielt sie fest, weil er sie an den schönen Mann
erinnerte, der ihr so freundlich ans Ufer geholfen hatte. Auf der
Straße sah sie ihn dann besser. Er war älter als ihr Held vom
Landeplatz, doch seine Haut war genauso braun und seine Haare
genauso dunkel. Die beiden hätten Brüder sein können. Diese
Feststellung bewog sie dazu, ihm zu vertrauen und mit ihm
mitzugehen.
»Dir ist kalt«, sagte der Mann. »Bitte nimm mein
Hemd. Ich will nichts von dir, Kitty, aber ich muss dich anfassen,
um es dir anzuziehen.«
Selbst wenn er etwas anderes von ihr gewollt hätte,
wäre sie zu erschöpft gewesen, um sich zu wehren. So stand sie
einfach nur da, während er sein Hemd auszog und ihr die Ärmel über
die Arme streifte. Die Hemdzipfel ließ er sie selbst vor dem Bauch
zusammenknoten.
»Ist dir jetzt wärmer?«
»Ja.«
Irgendwie schaffte Catherine es, sich auf den
Beinen zu halten, bis sie den letzten Abschnitt der Straße
erreichten. Nun ging es steil bergab in eine andere Dunkelheit
hinein, in der flackernde Feuer und, weiter draußen, weiße Wirbel
leuchteten. Catherine stolperte und stürzte schwer.
»Jetzt geht es nicht mehr anders«, sagte Richard,
löschte die
Fackel und warf sie weg. Dann hob er Catherine hoch, legte sie
sich um die Schultern, hielt mit der einen Hand ihre Handgelenke
und mit der anderen ihre Beine fest und marschierte sicheren
Schrittes los, als wäre es Tag. Am Fuß des Berges stand ein Haus.
Er schritt darauf zu und klopfte an die Tür.
»Stephen!«, rief er.
Der Mann vom Landeplatz öffnete. »Na so was«, sagte
er mit freundlichem Spott in den Augen. »Entführst du jetzt Frauen,
Richard?«
»Das arme Kind hat die letzte Nacht im Wald von
Cascade verbracht. Irgendein Strolch ist über sie hergefallen und
hat ihre Sachen gestohlen. Bitte begleite mich mit einer Fackel
nach Hause.«
»Lass mich die Kleine tragen, Richard«, sagte
Stephen. »Du bist doch vollkommen erschöpft.«
Oh ja, bitte trag mich!, flehte Catherine lautlos.
Aber Richard Morgan schüttelte den Kopf.
»Nein, ich hab sie nur das letzte Stück getragen.
Sie hat Läuse. Es reicht, wenn du mich heimbegleitest.«
»Was macht es schon, wenn sie Läuse hat. Bring sie
rein!«, sagte Stephen energisch und hielt die Tür weit auf. »Bei
dir ist kein Feuer an, und da du bei mir essen wolltest, hast du
nichts zu essen vorbereitet. Bring sie rein!« Sein Herz krampfte
sich zusammen, als er Richards Gesicht sah. Es schien wie
verwandelt. Wer weiß schon, warum jemand sich verliebt und in wen?
Richard ist seinem Schicksal begegnet wie ich auf der
Alexander. »Ich habe Fischsuppe. Die wird sie
vertragen.«
»Zuerst die Läuse, sonst wird sie krank. Am
nötigsten hat sie ein Bad und saubere Kleider. Hast du genug warmes
Wasser? Brauchst du kaltes? Ich laufe schnell zu Olivia Lucas rüber
und hole, was fehlt.«
»Ich habe genug Wasser, aber keinen Badezuber und
keinen Läusekamm. Sieh nach, ob Olivia uns aushelfen kann.«
Richard ging und ließ Stephen mit Catherine allein.
Die Frau hatte sich schon etwas erholt und blickte Stephen voller
Bewunderung an - mit den außergewöhnlichsten Augen, die dieser je
gesehen
hatte. Sie waren honigfarben mit dunkelbraunen Pünktchen und von
dichten Wimpern umgeben, die so hell waren, dass nur ihr
kristallener Schimmer im Kerzenlicht verriet, dass es sie überhaupt
gab. Die Frau war viel dünner, als es Gottes Wille sein konnte, und
hatte ein ovales Gesicht und wie viele Engländerinnen eine große
Nase und ein vorspringendes Kinn. Ihr Gesicht war nicht schön, mit
Ausnahme der Augen.
Stephen stellte einen Stuhl mitten ins Zimmer und
setzte sie darauf.
»Ich heiße Stephen Donovan«, sagte er, schöpfte
Fischsuppe in eine Schale und stellte sie zum Abkühlen auf die
Seite.
»Catherine Clark. Kitty«, erwiderte sie und zeigte
lächelnd regelmäßige, aber verfärbte Zähne. Für den erfahrenen
Seemann ein untrügliches Zeichen langwieriger Seekrankheit und
schlechter Ernährung.
»Sie haben mir auf den Felsen geholfen«, sagte
Catherine.
»Wie fünfzig anderen auch, ja. Jetzt erzähl mir von
dem Mann und deiner Nacht im Wald, Kitty.«
Sie gehorchte; und während sie erzählte, sah sie
sich, mit jeder Minute ruhiger werdend, in der sauberen Wohnküche
um. Ein Tisch, mehrere hübsche Stühle, eine Arbeitsbank, ein
zweiter Tisch, der offensichtlich als Schreibtisch diente,
geschmirgelte Wände.
»Ein blonder Mann, dem vier Schneidezähne
fehlten?«
»Ja.«
»Tom Jones der Zweite, kein Zweifel.« Er reichte
ihr die Schale. »Trink.«
Sie kostete vorsichtig von der Suppe, und ein
Ausdruck höchster Wonne ging über ihr Gesicht. Gierig schlürfte sie
weiter und hielt ihm dann die leere Schüssel hin.
»Kann ich noch etwas haben, Mr Donovan?«
»Stephen. Später bekommst du mehr, Kitty. Es soll
sich erst mal setzen. Bist du häufig seekrank gewesen?«
»Fortwährend«, sagte sie nur.
»Gut, ab morgen putzt du dir jeden Tag mit Asche
die Zähne. Sonst fallen sie dir aus. Wenn einem monatelang die
Galle hochkommt,
werden die Zähne zerfressen, bis nichts mehr von ihnen übrig
ist.«
»Es tut mir Leid, wenn ich Ihnen Läuse ins Haus
trage.«
»Papperlapapp, Kindchen. Richard besorgt dir neue
Kleider. Die hier verbrennen wir. Du solltest dir aber die Haare
abschneiden. Nicht ganz, nur stutzen.«
Sie zuckte zusammen, nickte aber gehorsam.
Richard kam zurück, unterm Arm einen kleinen
Badezuber aus Zinn mit Kleidern darin. »Olivia Lucas ist ein
Schatz«, sagte er, setzte den Zuber ab und nahm die Kleider heraus.
»Hat Kitty dir erzählt, was ihr passiert ist?«
»Ja. Es war Tom Jones der Zweite. Irrtum
ausgeschlossen.«
Die beiden Männer füllten die Kinderwanne mit
heißem und kaltem Wasser, und Kitty sah ihnen verwirrt dabei zu.
Sie kamen ihr wie Brüder vor.
»Badest du öfter, Kitty?«, fragte Richard. Eine
taktvollere Formulierung war ihm nicht eingefallen. Nach ihrem
Äußeren zu urteilen, hatte sie sich womöglich überhaupt noch nie
gewaschen.
»Oh ja. Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll,
Mr Morgan. Seit ich die Lady Juliana verlassen habe, konnte
ich mich nicht mehr richtig waschen. An Bord haben wir uns
regelmäßig gewaschen und bekamen keine Läuse. Wenn Sie mir eine
Schere geben, schneide ich mir die Haare ab.«
Richard sah sie entsetzt an. »Nicht so schnell! Ich
habe einen Kamm mit feinen Zähnen. Damit kämmst du dich so lange,
bis du die Läuse los bist. Ich heiße übrigens Richard, nicht Mr
Morgan. Woher stammst du, Kitty?«
»Aus Eltham in Kent. Später war ich im Arbeitshaus
für Mädchen in Canterbury, und dann als Küchenhilfe auf dem Gut von
St. Paul Deptford. In Maidstone kam ich vor Gericht und wurde zu
sieben Jahren Deportation verurteilt. Ich hatte in einem Laden
Musselin gestohlen.«
»Wie alt bist du?«, fragte Stephen.
»Zwanzig, seit letztem Monat.«
»Zeit zum Baden.« Richard bückte sich und hob den
Zuber in die Höhe, als sei er federleicht. »Drüben im Schlafzimmer.
Ich gebe
dir eine Kerze. Und schrubb dich ab. Gib mir deine Schuhe und wirf
deine schmutzigen Kleider aus dem Fenster. Stephen, bring ihr die
frischen Sachen, Seife und eine Bürste - los, keine Müdigkeit
vorschützen. Wasch dir die Haare, mein Kind, bürste dir die
Kopfhaut und dann kämm dich, als hinge dein Leben davon ab.« Er
kicherte. »Das Schicksal deiner Haare tut es jedenfalls.«
»Jetzt zu Tom Jones dem Zweiten«, sagte Richard,
als sie Kitty sich selbst überlassen hatten. »Was machen wir mit
ihm?«
»Überlass ihn mir.« Stephen zündete eine Kerze am
Feuer an, dann schöpfte er Fischsuppe in zwei Schalen und brach
einen Laib Brot in zwei Teile. »Ich halte es nicht für ratsam, den
Major damit zu behelligen, solange Mrs Morgan seine Wirtschafterin
ist. Sie erfährt noch früh genug, dass du eine streunende Katze
aufgenommen hast. Ein Glück, dass Kitty mit Nachnamen Clark heißt!
Ich gehe zu unserem lieben Leutnant Clark und erzähle ihm die
Geschichte. Ich mache ihm klar, dass Kitty ein anständiges Mädchen
ist. Da sie Clark heißt, wird er mir gerne glauben. Außerdem kann
er Tom Jones den Zweiten nicht ausstehen. In dieser Hinsicht
beweist er guten Geschmack. Doch ich fürchte, Kittys Habseligkeiten
werden wir nicht wieder sehen - Jones hat sie bestimmt schon einer
Hure als Gegenleistung für ihre Gefälligkeiten verehrt.«
Richard hob Kittys Schuhe auf und rümpfte die Nase.
»Die stinken ja schlimmer als die Bilgen der Alexander.« Er
warf sie ins Feuer und wusch sich auf Stephens Arbeitsbank
sorgfältig die Hände. »Sieh zu, dass du Leutnant Clark ein Paar
neue Schuhe für sie abschwatzt. In den Vorratslagern gibt es
zurzeit welche.«
Er setzte sich und aß gierig seine Suppe. »Ich habe
sie für eine Katze gehalten«, sagte er unvermittelt.
»Bitte?«
»Kitty. Sie hat im Wald miaut. Es klang nach einer
Katze. Ich sah nach, weil ich hoffte, einen neuen Rodney für dich
zu finden.«
Stephen sah ihn über den Tisch hinweg an. Das war
wieder typisch für Richard! Dachte er eigentlich nie zuerst an sich
selbst? Und jetzt dieses arme Mädchen, das ebenso wenig eine
Verbrecherin war wie die Jungfrau Maria. Eine Landpomeranze aus dem
Arbeitshaus. Was war nur in ihn gefahren? Wieso hatte er sich in
sie verliebt? Warum gerade in sie? Er hatte dutzenden von Mädchen
und Frauen an Land geholfen, einige davon bildschön,
temperamentvoll, geistreich, sogar kultiviert. Nicht jeder
weibliche Sträfling war eine Hure. Warum also ausgerechnet
Catherine Clark? Verhärmt und reizlos, eine blonde Unschuld vom
Land, eine graue Maus ohne Anmut und Witz.
»Nett von dir, dass du daran gedacht hast«, sagte
Stephen, »aber Olivia hat mir eins von ihren Kätzchen versprochen,
einen orangefarbenen Kater ohne den kleinsten weißen Fleck. Er hat
auch schon einen Namen - Tobias.« Seine Schale war leer, und so
stand er auf und ging zum Topf, um nachzusehen, ob noch genug für
sie beide und Kitty da war. »Hast du jemals solche Augen gesehen?«,
fragte er auf dem Weg zum Kamin.
Er hatte sich abgewandt und konnte deshalb nicht
sehen, wie Richard zusammenzuckte, doch als er sich wieder
umdrehte, lag so viel Leid in den Zügen des Freundes, dass er
erschrak.
»Ja«, sagte Richard fest, »ich habe solche Augen
schon mal gesehen. Bei meinem Sohn, William Henry.«
»Du hattest einen Sohn, Richard?«
»William Henry, ja. Seine Schwester starb an den
Pocken, bevor er auf die Welt kam. Seine Mutter starb völlig
unerwartet, als er acht war. Er…er verschwand kurz vor seinem
zehnten Geburtstag. Die Leute glaubten, er sei im Avon ertrunken,
aber ich glaubte es nicht. Vielleicht sollte ich auch sagen, ich
wollte es nicht glauben. Er war mit einem Lehrer seiner Schule
zusammen. Der Lehrer erschoss sich später und hinterließ einen
Abschiedsbrief, in dem er sich die Schuld an William Henrys Tod
gab, was die Verwirrung nur noch größer machte. Ganz Bristol suchte
eine Woche lang nach William Henrys Leichnam, aber er wurde nie
gefunden. Ich setzte die Suche alleine fort. Am schlimmsten war die
Ungewissheit - war er tot, und wenn ja, wie war er gestorben? Der
Einzige, der es mir vielleicht hätte sagen können, hatte sich das
Leben genommen.«
Umso erstaunlicher, dachte Stephen, dass er mich,
eine schamlose Schwuchtel, wie einen Bruder behandelt. Der Lehrer -
was für ein Beruf für einen Kinderschänder! - hat sich an ihm
vergangen.
Da gehe ich jede Wette ein, und Richard weiß es auch. Trotzdem hat
er mich mit diesem Kerl nie in einen Topf geworfen. »Erzähl weiter,
Richard«, sagte er leise.
»Danach lag mir nichts mehr am Leben. Du kennst ja
die Geschichte von dem Steuerbetrug und den Schwindlern, die mich
in Gloucester vor Gericht gebracht haben, um mich loszuwerden.«
Richard senkte den Kopf und starrte nachdenklich auf den Tisch.
»Aber jetzt weiß ich, dass William Henry tot ist. Kittys Augen sind
ein Zeichen des Himmels. Sie sind die Antwort auf viele
Fragen.«
Stephen weinte. Aus Mitleid mit Richard, aber auch
vor Kummer über seinen eigenen Verlust. Auch wenn er sich nie
wirklich Hoffnungen auf Richards Liebe gemacht hatte, so hatte er
sich doch stets damit trösten können, dass Richard keinem anderen
gehöre. Doch das stimmte nicht. Richard gehörte seinen toten
Angehörigen, vor allem seinem Sohn, den er für immer verloren
glaubte. Bis Gott ihm Catherine Clark sandte, die ihn mit den Augen
seines Sohnes ansah. Eine Gunst des Himmels. So schnell konnte es
gehen. Ein Blick, ein Lachen, ein Wort, eine Geste, ohne Bedeutung
für andere, da die Bedeutung im Einmaligen und Individuellen
lag.
»Es freut mich, wenn es dir jetzt leichter ums Herz
ist«, sagte Stephen.
Die Schlafzimmertür ging auf, die beiden Männer
drehten sich um.
Kitty lächelte feierlich wie ein Kind beim ersten
selbstständigen Botengang. In Richards Augen war sie wunderschön,
frisch gewaschen vom seidigen Haar bis zu den perlenfarbigen
Zehennägeln. Reizend, liebenswert, seine kleine Kitty, für die er
bis zu seinem Tod sorgen würde.
Für Stephen war sie nur etwas ansehnlicher als das
schmutzige Ding von vorhin - verhärmt und reizlos. Das Lächeln?
Gewöhnlich, ein wenig rührselig. Wie verschlungen waren doch die
Wege des Schicksals! Ausgerechnet diese graue Maus hatte das
Schicksal mit dem einzigen Vorzug auf dieser Welt ausgestattet, der
Richard Morgan zu betören vermochte.
»Du brauchst ein Hemd, bevor wir uns dem Augustwind
in Sydney
Town aussetzen«, sagte Stephen und warf Richard eins zu. »Kitty,
deine Schuhe waren so schmutzig, dass wir sie verbrennen mussten.
Ich besorge dir so schnell wie möglich neue, aber du musst dich von
uns zu Richards Haus tragen lassen.«
»Könnte ich nicht hier bleiben?«
»In einem Haus, in dem es bloß Hängematten gibt?
Außerdem erwarte ich später noch Besuch. Fertig?«
Draußen fassten sich Stephen und Richard an der
Hand. Kitty hüpfte auf die so gebildete Trage, legte Richard den
einen, Stephen den anderen Arm um den Hals, und die beiden Männer
trugen sie, jeder eine Fackel in der freien Hand, durch das Tal bis
zum Saum des Waldes, an dem Richards Haus stand.
Sie machten Feuer und stapelten Holz neben dem
Kamin, dann verabschiedete sich Stephen von Richard, machte eine
tiefe Verbeugung vor Kitty und überließ die beiden sich selbst. Er
hatte noch zu tun, und morgen früh begann wieder die Arbeit mit den
Sträflingen. Ach nein! Morgen war ja Sonntag.
Aus Sorge, Kitty könnte sich auf dem Weg die
nackten Füße verletzen, trug Richard sie zum Abtritt und hinterher
wieder ins Haus. »Weck mich, falls du in der Nacht noch mal raus
musst«, sagte er und legte sie in sein Federbett.
»Und wo schlafen Sie?«, fragte sie.
»Auf dem Fußboden.«
Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch der
Schlaf überwältigte sie, ehe ihr ein Wort über die Lippen kam.
Richard wusste, dass kein Geräusch der Welt sie jetzt noch wecken
konnte. Er schlüpfte aus seinen Kleidern, legte sie in einen Kübel
und trug sie hinaus, dann ging er zu seinem Teich und nahm ein Bad,
um sich von etwaigen Läusen zu befreien. Bibbernd vor Kälte kehrte
er zum Kamin zurück, zog eine alte Hose an, baute sich aus
Segeltuch von der Sirius auf dem Fußboden ein Lager und
legte sich hin. Zufrieden schloss er die Augen und schlief
augenblicklich ein.
John Lawrells Hahn weckte ihn vor dem Morgengrauen.
Das Feuer im Kamin glomm noch unter der Asche. Richard blies in die
Glut, legte Holz nach und inspizierte seinen Speiseschrank, der
nicht besser bestückt war als jeder andere auf Norfolk Island. Ein
Großteil der Lebensmittel war noch nicht an Land gebracht worden.
Wie üblich hatte man zuerst den Teil der Fracht gelöscht, der in
Richards Augen am entbehrlichsten war, Rum und Kleidung. Aber er
hatte noch einen Laib Maisbrot, dem der Bäcker gerade so viel
wertvolles Weizenmehl beigemischt hatte, dass es genießbar war, und
der Garten lieferte Kohl, Blumenkohl, Kresse, dicke Bohnen und das
ganze Jahr über Petersilie und Kopfsalat.
Der Morgen dämmerte, die Sonne ging auf. Richard
trat ans Bett und sah auf Kitty hinunter. Sie lag noch genauso da
wie am Vorabend, und da sie die Lider geschlossen hatte, konnte er
sie ruhiger betrachten, als wenn er in William Henrys Augen
geblickt hätte. Sie hatte dünne und glatte blonde Haare, hübsche
Brauen und Wimpern, eine helle Haut, die nur ein schwaches Rot
überglänzte, was vermuten ließ, dass sie nicht oft an Deck gegangen
war, eine recht große und knubbelige Nase, einen süßen, rosigen
Mund, der ihn an Mary erinnerte, ein vorspringendes Kinn über einem
langen, schmalen Hals und zierliche Hände mit spitz zulaufenden
Fingern.
Major Ross hielt um acht seinen Gottesdienst ab,
und wie King duldete er kein unentschuldigtes Fehlen. Richard
musste hingehen, aber Kitty würde niemand vermissen, da sie ja noch
nicht im Inselregister eingetragen war. Hätte er sie unvorbereitet
mit Lizzie Lock konfrontieren sollen? Keinesfalls! Also ging er zu
seinem Bad am Bach, zog seine einzigen, sorgsam geschonten Breeches
und Strümpfe an, dazu Rock, Überzieher, Dreispitz und eins seiner
beiden verbliebenen Paar Schuhe. Er überlegte hin und her, ob er
Kitty eine Nachricht hinterlassen sollte, dann sagte er sich, dass
sie wahrscheinlich ohnehin nicht lesen konnte, und so ging er
schließlich in der Hoffnung, dass sie nicht vor seiner Rückkehr
aufwachte.
»Wie geht’s Kitty?«, fragte ihn Stephen anderthalb
Stunden später auf dem Nachhauseweg.
»Schläft.«
»Johnny bringt dir heute Nachmittag ein zweites
Bett. Ich fürchte allerdings, dass du Matratze und Kissen mit Stroh
ausstopfen musst.«
»Das ist sehr nett von dir.« Richard pfiff
MacTavish, der sich vor dem fremden Gast im Haus ins Freie
zurückgezogen hatte.
»Ich will versuchen, noch ein paar Lebensmittel zu
besorgen, aber vor morgen Mittag wird nichts zu machen sein.«
»Das reicht vollkommen. Jetzt muss ich
weiter.«
Stephen klopfte ihm freundschaftlich auf die
Schulter. »Richard, du bist eine richtige Glucke.«
»Ich habe ein Küken«, grinste Richard. »Komm,
MacTavish.«
Inzwischen hatte sich bei dem Hund offenbar ein
Sinneswandel vollzogen. Mit einem Satz war er durch die Tür, hüpfte
auf Richards Bett und leckte Kittys Arm, der quer über dem Kissen
lag. Kitty fuhr erschrocken hoch, erblickte die haarige
Hundeschnauze und lächelte.
»Das ist MacTavish«, sagte Richard und nahm den Hut
ab. »Hast du gut geschlafen, Kitty?«
»Sehr gut.« Sie setzte sich auf. »Ist es schon so
spät? Sie waren schon aus.«
»Im Gottesdienst. Steh auf, dann zeige ich dir mein
Bad. Du kannst barfuß gehen, der Boden ist ziemlich weich. Morgen
bekommst du wahrscheinlich Schuhe.«
Kitty ging auf den Abtritt, dann folgte sie Richard
zu dem kleinen Teich im Wald, an dessen Ufer er Handtuch und Seife
bereitgelegt hatte.
»Das Wasser ist kalt, tut aber gut, wenn du erst
mal drin bist. Wie ein römisches Bad, tief genug, um
unterzutauchen, aber nicht so tief, dass man ertrinken kann.
Hinterher gibt es Frühstück. Später wird Mrs Lucas vorbeischauen
und fragen, was du brauchst. Aber du wirst wohl mit
Sträflingskleidern und derben Schuhen ohne Absätze und Schnallen
vorlieb nehmen müssen. Hattest du in deinem Bündel etwas Hübsches
zum Anziehen?«
»Nur Sträflingssachen.« Kitty zögerte. »Ich habe
doch erst gestern Abend gebadet. Muss ich heute Morgen schon
wieder?«
Es wurde Zeit, dass er gewisse Dinge klarstellte.
Er setzte eine strenge Miene auf. »Wir sind hier nicht in England.
Das Klima ist anders. Du musst im Garten arbeiten und ein Schwein
versorgen,
Futter suchen oder Maiskolben aus dem Speicher holen. Du wirst
ebenso schwitzen wie ich. Deshalb wirst du jeden Abend nach der
Arbeit baden. Heute darfst du zweimal baden - einmal genügt nicht,
um den Dreck von der Surprize abzuwaschen. Wenn du bei mir
wohnen willst, musst du ebenso sauber sein wie ich und mein Haus.
Darauf bestehe ich.«
Kitty erbleichte. »Aber hier im Freien kann mich ja
jeder sehen.«
»Dieses Land gehört mir, und niemand wagt sich auf
mein Land. Gegen einen Mann wie mich nimmt man sich keine
Freiheiten heraus.«
Damit ließ er sie allein. Es tat ihm Leid, dass er
so streng mit ihr sein musste, aber er war fest entschlossen, ihr
einige Grundregeln beizubringen.
Kitty befand sich nun am anderen Ende der Welt,
doch sie hatte keine Ahnung, wohin genau es sie verschlagen hatte.
Nach ihrer Ankunft in Port Jackson war die träge Lady
Juliana von Langbooten in Schlepp genommen und weit draußen vor
der Küste vertäut werden. Ein eigenartiger, beklemmender Ort! Kaum
hatte sie sich an Deck gewagt, kamen nackte Schwarze in einem
Rindenkanu längsseits gepaddelt, schwatzten laut durcheinander,
fuchtelten mit den Armen und schwangen Speere, sodass sie vor
Schreck gleich wieder unter Deck flüchtete und kaum noch die Nase
ins Freie steckte.
Und auch Norfolk Island begann wie ein Albtraum.
Ein Albtraum, der nur enden würde, wenn sie es sich mit Richard
Morgan und Stephen Donovan nicht verdarb. Die beiden erinnerten sie
ein wenig an Mr Nicol, den Steward von der Lady Juliana, der
ein gutes Herz hatte. Beide waren Freie, wie sie sagten, und beide
waren Aufseher. Doch während Richard ihr Furcht einflößte, fühlte
sie sich zu Stephen hingezogen. Kitty hatte nicht die leiseste
Ahnung, was sie auf der Insel erwartete, doch irgendwie spürte sie,
dass die Entscheidung über ihr künftiges Schicksal nicht bei
Stephen lag, sondern bei Richard.
Die gewaltigen Tannen am Teich machten ihr Angst,
sie konnte nichts Schönes an ihnen finden, und so machte sie sich
mit einem
tiefen Seufzer auf den Rückweg zum Haus. Im hinteren Teil des
Gartens erblickte sie Richard. Nur mit einer Segeltuchhose
bekleidet, verband er gerade eine Reihe von Steinen im Boden mit
Mörtel. Er hatte kräftige Schultern und Arme, und die glatte Haut
auf seinem Rücken wogte wie ein Fluss. Sein Anblick weckte bei
Kitty keinerlei zärtliche Gefühle oder weibliches Verlangen. Im
Gegenteil, er schüchterte sie ein, und sie fühlte sich in ihrem
ersten Eindruck bestätigt, dass Richard eine Respektsperson war,
der man Gehorsam schuldete. Außerdem war er alt. Nicht runzlig oder
grämlich, nur eben alt. Obwohl er ein starker, schöner Mann war.
Aber sie hatte Stephen Donovan zuerst gesehen, und weiter vermochte
sie nicht zu sehen.
Stephen! Er war ein Bild von einem Mann - stark und
gut gewachsen, dazu jugendlich und unbeschwert, mit leuchtenden
Augen und einem strahlenden Lächeln. Und er war sich seiner Wirkung
auf Frauen bewusst. Bei ihrer Landung hatte er mit einigen keckeren
Frauen gescherzt, über ihre Anspielungen und Anzüglichkeiten aber
hinweggesehen, ohne sie zu kränken. Kitty wäre nie in den Sinn
gekommen, dass diese erfahrenen Frauen auf den ersten Blick erkannt
hatten, woran sie mit ihm waren. Kitty wusste nicht, dass es
Menschen gab, die eine Schwäche für das eigene Geschlecht hatten.
Arbeitshäuser der anglikanischen Kirche weihten nicht in die
Geheimnisse des Lebens ein. Sie bläuten den Kindern Gehorsam ein,
nutzten sie nach Kräften aus, solange sie jung waren, und entließen
sie dann ins Leben, damit sie als kümmerlich entlohnte Dienstboten
und Analphabeten ihr Dasein fristeten, überzeugt vom eigenen Unwert
und in völliger Unkenntnis dessen, was in der großen weiten Welt
vorging. Natürlich hatte Kitty im Gefängnis Ausdrücke wie warmer
Bruder oder Hinterlader gehört, doch sie hatten ihr nichts gesagt.
Und dass es auch Frauen gab, die sich zum eigenen Geschlecht
hingezogen fühlten, und solche Frauen neben ihr auf der Lady
Juliana gelebt hatten, war ihr gleichfalls entgangen…
Stephen, Stephen, Stephen… Ach, warum hatte nicht
er sie gefunden? Warum durfte sie nicht in seinem Haus wohnen? Und
was wollte Richard von ihr?
Richard richtete sich auf und streifte ein Hemd
über. »War es sehr schlimm?« Er hielt ihr augenzwinkernd die Tür
auf.
»Nein, Sir, das Bad hat gut getan.«
»Richard. Nenn mich einfach nur Richard.«
»Das wäre ungehörig«, sagte Kitty. »Sie könnten
mein Vater sein.«
Zum ersten Mal bemerkte sie einen Zug an ihm, der
ihr später noch häufig auffallen sollte. Er blieb äußerlich völlig
ungerührt, verzog keine Miene, machte keine unpassende Geste, und
doch ging etwas in ihm vor, etwas Geheimnisvolles, das sich den
Blicken entzog.
»Ich bin in der Tat alt genug, um dein Vater zu
sein. Trotzdem bin ich für dich einfach nur Richard. Auf
Förmlichkeiten legen wir hier keinen Wert, wir haben Wichtigeres zu
tun. Ich bin keiner von deinen Wärtern, Kitty. Ich bin ein freier
Mann, gewiss, aber bis vor kurzem war ich Sträfling wie du. Nur
guter Arbeit und einem glücklichen Geschick habe ich es zu
verdanken, dass ich begnadigt wurde.« Er führte sie zum Tisch und
gab ihr Maisbrot, Salat, Kresse und Wasser.
»War Stephen auch Sträfling?«, fragte sie, gierig
essend.
»Nein, nie. Stephen ist Schiffsmaat.«
»Sind Sie schon lange befreundet?«
»Eine kleine Ewigkeit.« Richard stopfte sich das
Hemd in die Hose, nahm Platz und fuhr sich nervös durch das kurz
geschnittene Haar. »Weißt du eigentlich, warum du hier bist?«
»Was gibt es da zu wissen?«, fragte sie verdutzt.
»Ich bin hier, um zu arbeiten, bis ich meine Strafe abgebüßt habe.
Zumindest hat das der Richter bei meiner Verhandlung gesagt.«
»Hast du dich nie gefragt, warum man dich und die
zweihundert anderen Frauen auf Schiffe verfrachtet und hierher
gebracht hat? Und warum ihr hier, sechzehntausend Meilen von
England entfernt, eure Strafe abbüßen sollt? Findest du das nicht
merkwürdig? Hier gibt es weder Arbeitshäuser noch Fabriken.«
Kittys Hand, die eben nach einem Stück Brot greifen
wollte, fiel schlaff in ihren Schoß. Ihre Augen weiteten sich.
»Natürlich«, sagte sie langsam. »Aber natürlich. Wie konnte ich nur
so blöd
sein! Am anderen Ende der Welt gibt es keine Arbeitshäuser und
keine Fabriken. Und keine Herrenwesten zum Besticken…Das musste ich
nämlich im Arbeitshaus in Canterbury tun. Wollen Sie sagen, dass
man uns als Ehefrauen für die Sträflinge hierher geschickt
hat?«
Richard kniff die Lippen zusammen. »Sagen wir, um
den Sträflingen das Leben etwas annehmlicher zu gestalten. Das
kommt der Sache näher. Ich behaupte nicht, die offiziellen Gründe
zu kennen. Ich weiß nur, dass man sehr viele Männer hierher
gebracht hat, die sonst vielleicht zu einer öffentlichen Gefahr
geworden wären. In England hat es Meutereien gegeben. Männer, die
nichts zu verlieren haben, sind aufs Land geflüchtet. Wenn sie
hier, am anderen Ende der Welt, rebellieren oder flüchten, kann das
England egal sein. Hier stellen sie keine Bedrohung dar. Die
einzigen Menschen, die es zu schützen gilt, sind die Wärter und
ihre Familien.« Er hielt inne und sah ihr in die Augen. »Ohne
Frauen sinken Männer auf die Stufe von Tieren herab. Deshalb sind
Frauen bei diesem Experiment unverzichtbar, und ich für mein Teil
bin davon überzeugt, dass der Sinn dieses Experiments darin
besteht, das andere Ende der Welt in ein riesiges englisches
Gefängnis zu verwandeln.«
Kitty hatte ihm mit gerunzelter Stirn gelauscht und
versuchte, das Gehörte zu verdauen. Wenn sie ihn richtig verstand,
hatte man sie nur hierher gebracht, um die Männer zu bändigen. »Wir
sind die Huren der Männer«, sagte sie. »Haben uns die Seeleute der
Lady Juliana deshalb als Huren beschimpft? Und nicht weil
sie glaubten, wir seien wegen Prostitution verurteilt worden? Das
hätte mich auch gewundert. Die meisten von uns sind nämlich wegen
Diebstahls verurteilt worden. Und Prostitution ist kein Verbrechen.
Sagen jedenfalls ein paar von den Frauen. Sie wurden immer böse,
wenn die Seeleute sie Huren nannten. Aber die Männer meinten es
anders. Sie meinten, dass wir Huren werden, habe ich Recht?«
Richard verdrehte die Augen und seufzte. »Nun ja«,
sagte er schließlich und lächelte müde, »würde meine Tochter noch
leben, wäre sie ungefähr in deinem Alter. Und genauso unschuldig -
als guter Vater hätte ich dafür gesorgt. Aus was für Verhältnissen
kommst du, Kitty? Was waren deine Eltern?«
»Mein Vater war Gutspächter in Eltham«, sagte sie
stolz mit erhobenem Kinn. »Meine Mutter starb, als ich zwei war,
und mein Vater stellte eine Frau ein, die sich um mich kümmerte. Er
starb, als ich fünf war. Da er keinen Erben hatte, fiel die Farm an
den Gutsherrn zurück. Ich kam in die Obhut der Gemeinde, und die
schickte mich nach Canterbury.«
»Warst du das einzige Kind?«
»Ja. Wäre Papa nicht gestorben, hätte ich lesen und
schreiben gelernt und später wohl einen Farmer geheiratet.«
»Stattdessen bist du ins Armenhaus gekommen und
hast nie lesen und schreiben gelernt«, sagte Richard sanft.
»So ist es. Ich hatte geschickte Finger und scharfe
Augen, also musste ich sticken. Aber das kann man nicht ewig
machen. Für Erwachsenenhände ist die Arbeit zu fein. Sie behielten
mich, bis ich siebzehn war, doch dann begann ich plötzlich zu
wachsen, und so schickten sie mich als Küchenhilfe nach St. Paul
Deptford.«
»Wie lange warst du dort?«
»Bis zu meiner Verhaftung. Drei Monate.«
»Wie kam es zu deiner Verhaftung?«
»Das Gut hatte vier Dienstmädchen - Betty, Annie,
Mary und mich. Mary und ich waren gleich alt, Annie war sechzehn,
Betty fünfundzwanzig. Die Herrschaften wurden ganz plötzlich nach
London gerufen, und die Köchin schloss sich in der Mansarde ein.
Betty hatte Geburtstag, und so schlug sie vor, gemeinsam einen
Bummel durch die Geschäfte zu machen. Ich war noch nie in einem
Geschäft gewesen.«
Oh, wie schrecklich! Richard saß da wie der
Aufseher im Arbeitshaus und lauschte ohne erkennbare Regung ihrer
albernen Geschichte. Und albern war sie allemal - zu albern, um sie
dem Gericht in Kent zu erzählen. Aber das Gericht hatte sie ohnehin
nicht hören wollen.
»Bist du während deiner Zeit im Arbeitshaus nie
ausgegangen?«
»Nein, nie.«
»Aber in St. Paul Deptford hattest du doch
sicherlich hin und wieder einen freien Tag?«
»Einmal in der Woche einen halben Tag, aber nie mit
den anderen
Mädchen zusammen, deshalb ging ich allein über die Felder
spazieren. Das hätte ich wohl auch an Bettys Geburtstag getan, aber
sie hat mich ausgelacht und ein Bauerntrampel genannt, weil ich
noch nie in einem Geschäft war, also bin ich mitgegangen.«
»Und dann? Bist du in einem Geschäft in Versuchung
geraten?«
»So muss es wohl gewesen sein«, antwortete Kitty
unsicher. »Betty nahm eine Flasche Gin mit, und wir tranken im
Gehen. Ich erinnere mich nicht mehr an die Geschäfte, oder dass ich
in einem drin war - nur an Männer, die uns anbrüllten und
einsperrten.«
»Was hast du gestohlen?«
»Musselin, hieß es vor Gericht, und in einem
zweiten Geschäft kariertes Leinen. Ich weiß nicht, warum wir das
gestohlen haben - die Kleider, die wir anhatten, waren aus dem
gleichen Stoff. Zehn Meter Musselin im Wert von vier Shilling und
sechs Pennys, meinte das Gericht, obwohl der Ladenbesitzer ständig
brüllte, der Stoff sei drei Guineen wert. Wegen des Leinens wurde
keine Anklage erhoben.«
»Hast du öfter Gin getrunken?«
»Nein, es war das erste Mal. Für Mary und Annie
auch.« Kitty schauderte. »Ich trinke nie wieder Gin, so viel steht
fest.«
»Seid ihr alle verurteilt worden?«
»Ja, zu sieben Jahren Deportation. Gleich nach der
Verhandlung brachte man uns auf die Lady Juliana. Ich nehme
an, dass auch die anderen hier irgendwo sind. Es ist nur so, dass
ich ständig seekrank war. Die anderen konnten mich nicht mehr
ertragen und haben deshalb nicht auf mich gewartet. Und auf der
Surprize war es dunkel.«
Richard stand abrupt auf, kam um den Tisch herum
und legte Kitty die Hand auf die Schulter. »Ist schon in Ordnung,
Kitty, wir sprechen nie wieder darüber. Nur die englische
Gemeindefürsorge kann aus einer jungen Frau ein Kind machen, wie du
es bist.«
MacTavish, der zum Frühstück zwei Ratten verspeist
hatte, kam ins Zimmer gesprungen. Richard tätschelte Kitty, dann
den Hund und nahm wieder Platz. »Es wird Zeit, dass du erwachsen
wirst, Catherine Clark. Nicht damit du deine Unschuld verlierst,
sondern damit du sie behältst. Wie du weißt, gibt es hier keine
Landgüter oder Arbeitshäuser. In Port Jackson wärst du ins
Frauenlager gekommen, aber Major Robert Ross, der Kommandant auf
Norfolk Island, lehnt es ab, die Frauen abzusondern. Und aus gutem
Grund. Das würde alles nur noch schlimmer machen. Jeder Mann, der
ein Haus oder eine Hütte besitzt, soll eine Frau von der
Surprize bei sich aufnehmen. Einige kommen allerdings auch
zu Frauen wie Mrs Lucas, um ihnen im Haushalt zu helfen, andere
sollen sich um das leibliche Wohl der Offiziere und Mannschaften
kümmern, wieder andere werden den Leuten von der Sirius
zugeteilt.«
Kitty erbleichte. »Und ich gehöre Ihnen.«
Richard lächelte beschwichtigend. »Ich bin kein
Unhold, Kitty, und ich habe auch nicht die Absicht, dich mit
Liebeswerbungen zu bedrängen. Ich will dich als Hausgehilfin
behalten. Und ich werde so bald wie möglich ein Zimmer anbauen,
damit jeder von uns ungestört sein kann. Dafür erwarte ich, dass du
willig mitarbeitest. Ich baue gerade einen Stall für das Schwein,
das ich von Major Ross bekommen werde, und es wird zu deinen
Pflichten gehören, es zu versorgen. Außerdem kümmerst du dich um
das Haus, die Hühner, wenn sie endlich da sind, und den
Gemüsegarten. Ein Mann namens John Lawrell bestellt das
Getreidefeld und nimmt dir die schweren Arbeiten ab. Die anderen
Leute betrachten dich als mein Eigentum, mehr Schutz brauchst du
nicht.«
»Und ich darf mir nicht aussuchen, zu wem ich
will?«, fragte sie.
»Wenn du es könntest, zu wem wolltest du
denn?«
»Zu Stephen«, antwortete sie einfach.
Seine Miene und sein Blick blieben unverändert,
doch sie spürte, dass etwas in ihm vorging. In unverändertem Ton
sagte er: »Unmöglich, Kitty. Schlag dir Stephen aus dem
Kopf.«
Noch am selben Tag bekam Richard ein eigenes Bett,
das wie das von Kitty aus einem Holzgestell mit quer gespannten
Seilen bestand. Kurz nach Einbruch der Dunkelheit schickte er Kitty
schlafen, dann setzte er sich mit einer Kerze an den Tisch, legte
ein Buch auf das Lesepult und begann zu lesen. Welches Verbrechen
er auch
begangen haben mochte, dachte Kitty schläfrig, er hatte eine gute
Erziehung genossen. Nicht einmal der Herr auf St. Paul Deptford
hatte so feine Manieren.
Am Montagmittag sah sie Richard nur kurz. Er war
gleich nach Tagesanbruch zur Arbeit in die Sägegruben gegangen.
Später kam er mit einem Paar Schuhe für sie nach Hause, schlang
hastig ein kaltes Mittagessen hinunter und arbeitete dann am
Schweinestall weiter, der rasch Gestalt annahm. Der Stall war etwa
zwanzig auf zwanzig Fuß groß und bestand aus Holzpfählen, die
Richard auf das Steinfundament setzte.
»Schweine wühlen gern«, erklärte er ihr. »Mit einem
einfachen Zaun wie bei Schafen oder Rindern ist es deshalb nicht
getan. Außerdem brauchen sie Schatten, denn in der prallen Sonne
gehen sie ein. Ihre Exkremente stinken, aber Schweine sind saubere
Tiere und machen ihr Geschäft immer in dieselbe Ecke. Ein guter
Dung, der sich leicht einsammeln lässt.«
»Muss ich den Stall ausmisten?«, fragte
Kitty.
»Ja.« Er sah auf und grinste sie an. »Du wirst noch
froh sein, dass du hier baden kannst.«
Am Abend kam er nicht nach Hause. Mit ihrer
Lebensmittelzuteilung könne sie tun, was ihr beliebe, hatte er
gesagt. Er sei es gewohnt, selbst für sich zu sorgen, und er esse
hin und wieder bei Stephen, der ein eingefleischter Junggeselle sei
und keine Frauen in seinem Haus wünsche. Nach dem Essen spiele er
mit ihm Schach. Sie solle also nicht auf ihn warten und ins Bett
gehen, wenn es dunkel werde.
Kitty mochte naiv sein, aber das fand sie doch
merkwürdig. Stephen kam ihr überhaupt nicht wie ein eingefleischter
Junggeselle vor. Obwohl, wenn sie es recht bedachte, hatte sie
eigentlich keine Ahnung, wie sich ein eingefleischter Junggeselle
benahm. Sie wusste nur, dass Männer die Gesellschaft anderer Männer
genossen und sich durch die Anwesenheit von Frauen gestört
fühlten.
Am Dienstag erschien ein Seesoldat und brachte sie
nach Sydney Town, wo sie den Mann identifizieren sollte, der sie
belästigt und ausgeraubt hatte. Richards Haus bot nur einen
begrenzten Ausblick
auf die Umgebung, und so staunte Kitty auf dem Weg durch Arthur’s
Vale nicht wenig, als sich eine weite Landschaft vor ihnen auftat.
Im Grund des Tales und an den Hängen zu beiden Seiten wogten grüne
Weizen- und Maisfelder, an deren Raine sich vereinzelte Häuser,
Scheunen und Schuppen schmiegten. Dann, ganz plötzlich, endete das
Tal, und sie betrat eine größere Siedlung mit sauberen, von
Holzhäusern und Hütten gesäumten baumlosen Straßen, begrenzt durch
einen leuchtend grünen Sumpf, hinter dem, am Fuß der Hügel, einige
größere Gebäude aufragten. Sie kamen auch an Stephen Donovans Haus
vorbei, doch Kitty erkannte es nicht wieder.
Zwei Offiziere - Kitty konnte Seesoldaten von
Landsoldaten nicht unterscheiden - erwarteten sie vor einem großen,
zweistöckigen Gebäude, der Kaserne der Marineinfanterie, wie sie
später erfuhr. Eine Gruppe männlicher Sträflinge stand in einer
Reihe davor. Sie waren mit Hemden bekleidet, während die Offiziere
vorschriftsgemäß Perücke, Säbel und Dreispitz trugen.
»Miss Clark?«, fragte der ältere Offizier und
durchbohrte sie mit seinen hellgrauen Augen.
»Ja, Sir«, wisperte sie.
»Sie wurden am dreizehnten August auf der Straße
von Cascade von einem Mann angesprochen?«
»Ja, Sir.«
»Er versuchte, Ihnen Gewalt anzutun, und zerriss
Ihr Kleid?«
»Ja, Sir.«
»Sie flüchteten in den Wald?«
»Ja, Sir.«
»Was tat der Mann dann?«
Mit glühenden Wangen und großen Augen antwortete
sie: »Zuerst hatte es den Anschein, als wollte er mich verfolgen,
dann hörten wir Stimmen. Er packte mein Bündel und rannte
davon.«
»Sie verbrachten die Nacht im Wald, richtig?«
»Ja, Sir.«
Major Ross wandte sich an Leutnant Ralph Clark,
der, seit er die Geschichte von Stephen Donovan gehört und sich von
Richard Morgan hatte bestätigen lassen, darauf brannte, seine
Namensvetterin kennen zu lernen, und nun mit Erleichterung
feststellte,
dass sie keine Hure war. Kitty war ein ebenso unschuldiges Ding
wie Miss Mary Branham, die, auf der Lady Penrhyn von einem
Matrosen geschändet, in Port Jackson einen Jungen zur Welt gebracht
hatte und anschließend mit der Sirius nach Norfolk Island
geschickt worden war, um in der Offiziersmesse zu arbeiten. Dort
war er auf sie aufmerksam geworden. Sie war anbetungswürdig schön,
fast wie seine geliebte Betsy. Und nun, da er Betsy und den kleinen
Ralphie wohlbehalten in England wusste und obendrein ein bequemes
Haus ganz für sich allein hatte, überlegte er, ob er Mary nicht zu
sich nehmen sollte. Bei ihm hätte sie gewiss weniger Arbeit als in
der Offiziersmesse. Marys Sohn lernte jetzt laufen und fiel ihr
ziemlich zur Last. Ja, er würde Mary einen großen Gefallen tun,
wenn er sie zu sich holte. Natürlich würde er dieses Arrangement in
dem Tagebuch, das er für die geliebte Betsy schrieb, nicht
erwähnen. Es durfte nichts enthalten, was sie schockieren oder
beunruhigen könnte. Abfällige Bemerkungen über Huren mochten noch
hingehen, doch Teilnahme an einem weiblichen Sträfling war
definitiv nicht erlaubt.
Gut, gut. Zu einer gemeinsamen Zukunft mit Mary
Branham entschlossen, sah er den Major an.
»Leutnant Clark, würden Sie mit Miss Clark bitte
die Reihe abschreiten, um festzustellen, ob der Schurke darunter
ist«, sagte Ross. Er hatte alle Sträflinge, die schon einmal
bestraft worden waren, antreten lassen.
Leutnant Clark führte Kitty unter beruhigenden
Worten die Reihe entlang und wieder zu seinem Vorgesetzten
zurück.
»Ist er dabei?«, bellte Ross.
»Ja, Sir.«
»Welcher ist es?«
Sie deutete auf den Mann mit den Zahnlücken. Beide
Offiziere nickten.
»Haben Sie vielen Dank, Miss Clark. Der Seesoldat
wird Sie nach Hause begleiten.«
Das war alles. Kitty eilte davon.
»Tom Jones der Zweite«, sagte der Soldat, der sie
begleitete. »Das hat Mr Donovan auch gesagt.«
»Mr Donovan kennt sie alle.«
»Er ist sehr nett«, sagte Kitty traurig.
»Ja, nicht übel für einen warmen Bruder. Nicht so
ein Weichling. Ich habe gesehen, wie er mit den bloßen Fäusten
einen Mann auseinander genommen hat, der größer war als er. Kann
ziemlich unangenehm werden, wenn man ihn reizt, unser Mr
Donovan.«
»Ziemlich«, stimmte Kitty bereitwillig zu. Tom
Jones hatte sie über dem Gedanken an Stephen Donovan schon bald
vergessen.
Richard ging auch weiterhin abends aus, und nicht
nur, um mit Stephen Schach zu spielen. Er besuchte Freunde wie die
Familie Lucas, einen Mann namens George Guest oder den Seesoldaten
Daniel Stanfield. Am meisten kränkte Kitty, dass diese Freunde
niemals auch sie einluden. Offenbar war sie auch in ihren Augen
lediglich Richards Hausgehilfin. Sie sehnte sich nach einer
Freundin, doch von Netty und Mary hatte sie keine Nachricht, und
Annie war tatsächlich bei der Familie Lucas untergekommen. Die
erste Begegnung mit John Lawrell, Richards anderem Gehilfen, war
sehr unerfreulich verlaufen. Lawrell hatte sie wütend angefunkelt
und ihr befohlen, die Finger vom Geflügel und Getreide zu
lassen.
So kam es, dass Kitty, als sie eine weibliche
Gestalt den Weg zwischen den Gemüsebeeten herauftrippeln sah, nur
allzu gern bereit war, die Besucherin mit ihrem freundlichsten
Lächeln und einem Knicks zu begrüßen. Die Frau war eine höchst
imposante Erscheinung, wenn auch auf eine etwas vulgäre Art. Sie
trug ein rot-schwarz gestreiftes Kleid, ein rotes Umhängetuch aus
Seide mit langen Fransen, hochhackige Schuhe mit funkelnden
Schnallen und einen ausladenden schwarzen Samthut mit wippenden
roten Straußenfedern.
»Guten Tag, Madam«, grüßte Kitty.
»Auch Ihnen einen guten Tag, Miss Clark, denn so
heißen Sie doch wohl«, sagte die Besucherin, rauschte ins Haus und
sah sich nicht ohne Bewunderung um. »Er hat treffliche Arbeit
geleistet, was? Und mehr Bücher denn je. Lesen, lesen, lesen!
Typisch Richard.«
»Aber nehmen Sie doch Platz«, sagte Kitty und
deutete auf einen Stuhl.
»So wohnlich wie beim Major«, sagte die rot-schwarz
gestreifte Person. »Ich staune. Richard hat das Glück gepachtet. Er
ist wie eine Katze. Fällt immer auf die Füße.« Sie musterte Kitty
mit kleinen dunklen Augen unverhohlen von Kopf bis Fuß und
kräuselte die schwarzen Brauen. »Ich habe mir nie eingebildet,
besonders gut auszusehen«, meinte sie nach der Inspektion, »aber
ich verstehe mich wenigstens anzuziehen. Sie sind dürr wie ein
Besenstiel, Kindchen.«
Kitty fiel die Kinnlade herunter. »Wie
bitte?«
»Sie haben genau verstanden. Dürr wie ein
Besenstiel.«
»Wer sind Sie?«
»Ich bin Mrs Richard Morgan. Was sagen Sie
dazu?«
»Was soll ich dazu sagen?«, erwiderte Kitty, als
sie wieder zu Atem gekommen war. »Ich freue mich, Ihre
Bekanntschaft zu machen, Mrs Morgana.«
»Herrje!«, rief Mrs Morgan. »Was ist bloß mit
Richard los!«
Kitty wusste nicht, was mit Richard los war,
deshalb schwieg sie.
»Sind Sie nicht seine Geliebte?«
»Ach so!« Kitty schüttelte empört den Kopf. »Wie
dumm von mir. Ich hätte nie gedacht…«
»Ja, dumm trifft den Nagel auf den Kopf. Sie sind
also nicht seine Geliebte?«
Kitty reckte das Kinn. »Ich bin seine
Bedienstete.«
»Oho! Auch noch stolz!«
»Wenn Sie Mrs Richard Morgan sind«, erwiderte
Kitty, die sich über den Spott der Besucherin ärgerte und deshalb
mutiger wurde, »warum wohnen Sie dann nicht hier? Wenn Sie im Haus
wären, bräuchte er kein Mädchen.«
»Ich wohne nicht hier, weil ich es nicht will«,
erwiderte Mrs. Morgan hochmütig. »Ich arbeite als Wirtschafterin
bei Major Ross.«