TEIL ZWEI
Oktober 1784 bis Januar 1786
Das Bristol Newgate lag in der Narrow Wine
Street, zwei Gebäude hinter der Wasborough-Messinggießerei. Die
acht Polizisten nahmen Richard und Willy Insell in die Mitte und
marschierten mit ihnen auf dem kürzesten Weg zum Gefängnis. Sie
betraten es durch ein Tor aus dicken Eisenstäben, das an ein
Fallgitter erinnerte. Drinnen sah Richard als Erstes einen engen
Korridor mit einer Türöffnung auf jeder Seite. Der Anführer der
Polizisten schob die beiden durch die linke Tür, die anderen halfen
mit einem Stoß von hinten nach, blieben aber selbst draußen.
»Die Gefangenen Morgan und Insell!«, bellte er.
»Bitte unterschreiben!«
An einem Tisch saß mit ausgestreckten Beinen ein
Mann. Träge griff er nach den beiden Schriftstücken, die der
Polizist ihm vorlegte. »Und wo soll ich die beiden unterbringen?«,
fragte er, während er zwei große Kreuze auf die Papiere
malte.
»Das ist deine Sache, Walter«, sagte der Polizist
kurz und ging.
Willy weinte hemmungslos, Richard stand ruhig und
ungerührt da. Der Schock ließ allmählich nach, und er konnte wieder
fühlen und denken. Im Grunde war er nicht überrascht. Mit Annemarie
Latour hatte das Verhängnis begonnen, mit Ceely Trevillian nahm es
seinen Lauf. Was wurde ihm vorgeworfen? Wann würde er es erfahren?
Gewiss, er hatte die Uhr und den Schuldschein Ceelys, doch er hatte
dem Mann in der Clifton Green Lane gesagt, Ceely würde seine Uhr
zurückbekommen, und er hatte den Schuldschein nicht auf Ceelys Bank
eingelöst. Warum hatte er sich nicht besser überlegt, was er
tat?
Das Gefängnis war überfüllt, und das würde ihm
helfen, freizukommen.
Die praktisch denkende Richterschaft von Bristol war inzwischen
gegen Zahlung einer Extrasumme zu einem Vergleich mit Gefangenen
bereit. Richard würde dann zwar sein Leben lang Schulden haben, die
er nur zurückzahlen konnte, wenn ein weiterer Krieg den Bedarf an
Waffen erhöhte, doch er wusste, dass seine Familie ihn nicht im
Stich lassen würde.
»Brot kostet einen Penny täglich bis zur
Verhandlung«, sagte der Gefängnisaufseher, der Walter hieß. »Wenn
du verurteilt wirst, erhöht sich der Betrag auf zwei Pennys.«
»Ich soll wohl verhungern«, entfuhr es
Richard.
Der Aufseher kam hinter seinem Schreibtisch hervor
und schlug Richard so heftig ins Gesicht, dass seine Lippe
aufplatzte. »Keine frechen Bemerkungen, Morgan! Hier drinnen wird
nach meinen Regeln gelebt und gestorben.« Er sah zur Tür. »Bewegt
euch, ihr Trantüten!«
Zwei Männer mit Knüppeln stürmten ins Zimmer.
»Legt sie in Ketten!« Walter rieb sich die
Hand.
Richard stillte das Blut mit seiner Hemdmanschette
und folgte dem heulenden Willy über den Korridor in den
gegenüberliegenden Raum, der an eine Sattlerei erinnerte, nur dass
an den Wänden statt Lederriemen Eisenketten hingen.
Im Bristol Newgate galten Fußeisen als ausreichend.
Ein zerlumpter Kerl, der für diese Gerätschaften des Elends
zuständig war, legte Richard die Fesseln an. Die zwei Zoll breiten
Eisen um seine Knöchel waren nicht vernietet, sondern mit
Schlössern versehen und durch eine zwei Fuß lange Kette miteinander
verbunden, sodass Richard zwar gehen, aber keine großen Schritte
machen oder gar rennen konnte. Willy geriet in Panik und versuchte
sich freizukämpfen. Sofort wurde er mit Knüppeln zu Boden
geschlagen. Richard, dessen geplatzte Lippe immer noch blutete, sah
stumm zu. Er hatte sich nach seiner Bemerkung zum Gefängnisaufseher
geschworen, nie wieder jemanden zur Gewalt zu provozieren. Er
fühlte sich an die Tage in Mr Colstons Schule erinnert - schweigend
Platz nehmen, schweigend aufstehen, schweigend tun, was einem
befohlen wurde, keine Aufmerksamkeit erregen.
Am Ende des Korridors kam ein zweites Gittertor.
Ein Wärter öffnete es mit einem riesigen Schlüssel, dann wurden die
beiden neuen Gefangenen Morgan und Insell in die »Hölle« dahinter
gestoßen. Die »Hölle« war ein großer Raum, dessen Steinwände
unaufhörlich Feuchtigkeit ausschwitzten. An vielen Stellen hatten
sich lange Tropfsteine gebildet, die schwarz waren vom Ruß der
Fabriken am Ufer der Froom. Möbel gab es keine, der geflieste Boden
starrte vor jahrzehntealtem Dreck. Die Gefangenen, die den Raum
bevölkerten, waren ausschließlich männlich und alle mit Fußeisen
gefesselt. Die meisten saßen mit ausgestreckten Beinen auf dem
Boden. Einige schlurften ziellos herum, zu entkräftet, um die mit
Eisen beschwerten Füße über die Beine eines Leidensgenossen zu
heben, der apathisch sitzen blieb, als hätte er den Schlag der
Kette nicht gespürt. Wer aus der Gosse von Bristol kam, kannte den
Gestank nach Fäulnis und Kot. Mangels Belüftung stank es hier
allerdings noch viel schlimmer.
Nur an einer Türöffnung am anderen Ende des Raumes
herrschte rege Betriebsamkeit. Richard hatte das Bristol Newgate
zwar noch nie von innen gesehen, aber er vermutete, dass dahinter
der Schankraum des Gefängnisses lag. Wer über das nötige Kleingeld
verfügte, bekam dort Rum, Gin oder Bier. Bemerkungen von Dick und
Vetter James, dem Apotheker, hatten Richard eine Vorstellung von
den Zuständen im Newgate vermittelt. Er hatte sich vorgestellt,
dass dort ständig um Geld, Schnaps, Brot und andere Dinge gekämpft
wurde. Jetzt begriff er, dass die Wärter zu klug waren, um es so
weit kommen zu lassen. Den Häftlingen fehlte die Kraft zum Kämpfen.
Sie waren vom Hunger geschwächt, und viele von ihnen hatten auf
leeren Magen getrunken. Sabbernd und misstönend vor sich hin
summend lehnten sie mit ausgestreckten Beinen an der Wand und
nahmen nichts mehr wahr.
Willy wich Richard nicht von der Seite. Er hing an
ihm wie eine Klette. Wohin Richard auch ging, Willy folgte ihm
heulend. Ich werde noch verrückt, dachte Richard. Das halte ich
nicht aus. Trotzdem, ich betrinke mich nicht wieder mit Rum oder
dem billigeren Gin. Schließlich ist der Albtraum hier in ein paar
Monaten vorbei - eben dann, wenn die Gerichte sich mit mir und
Willy befassen.
Warum heult Willy bloß die ganze Zeit so jämmerlich? Was nützt ihm
das?
Nach einer Stunde wurde Richard müde. Die Eisen um
seine Knöchel begannen zu schmerzen. Er suchte sich ein freies
Stück Wand, das breit genug für ihn und seinen Schatten war, setzte
sich hin und streckte mit einem Seufzer der Erleichterung die Beine
aus. Nun verstand er, warum alle Gefangenen so dasaßen. Wenn die
Fußfesseln auf dem Boden auflagen, war ihr Gewicht nicht mehr zu
spüren. Richard stellte fest, dass seine dicken Stricksocken vom
Laufen mit den Fesseln bereits zerschlissen waren. Auch das war ein
Grund, warum die meisten sich nicht von der Stelle bewegten.
Er hatte Durst. Aus der Wand, hinter der die Froom
vorbeifloss, ragte ein Rohr, aus dem ein dünner Wasserstrahl in
einen Pferdetrog plätscherte; ein zinnerner Schöpflöffel diente als
Trinkgefäß. Richard starrte den Trog an, und im selben Augenblick
blieb eine zerlumpte Gestalt davor stehen, um hineinzupinkeln.
Richard sah, dass der Trog direkt neben vier unverkleideten Aborten
stand, die für die Bedürfnisse von über zweihundert Männern
ausreichen mussten. Wenn Vetter James, der Apotheker, Recht hat,
dann sterbe ich, wenn ich dieses Wasser trinke, dachte Richard. Die
Männer hier sind alle krank.
In diesem Augenblick erschien wie durch Richards
Gedanken beschworen Vetter James im Tor zum Korridor. Einige
Schritte hinter ihm folgte Dick.
»Vater!«, rief Richard. »Vetter James!«
Die beiden steuerten auf ihn zu. Das Entsetzen
stand ihnen ins Gesicht geschrieben.
Zum ersten Mal sah Richard Dick auf die Knie fallen
und zusammenbrechen. Richard strich beruhigend über die zuckenden
Schultern seines Vaters und blickte über sie hinweg den Apotheker
an.
»Wir haben euch einen Krug Dünnbier mitgebracht«,
sagte Vetter James. Er zog den Krug aus einem Beutel. »Und etwas zu
essen.«
Willy hatte sich in den Schlaf geweint, er wachte
jedoch sofort auf, als Richard ihn schüttelte. Nie hatte etwas so
gut geschmeckt
wie dieses Bier! Richard reichte Willy den entstöpselten Krug,
dann griff er in den Beutel. Im Beutel befanden sich Brot, Käse und
ein Dutzend frische Äpfel. Richard befürchtete schon, die
apathischen Gefangenen könnten sich beim Anblick der Köstlichkeiten
in eine zähnebleckende, rasende Meute verwandeln, doch die
Gefangenen blieben ruhig. Sie hatten jede Hoffnung
aufgegeben.
Dick erlangte die Fassung wieder und wischte sich
Augen und Nase am Hemd ab. »Das ist ja furchtbar! Einfach
furchtbar!«
»Es wird nicht ewig dauern, Vater«, sagte Richard,
ohne zu lächeln. Er wollte nicht, dass seine Lippe wieder
aufplatzte und Dick sich noch mehr Sorgen machte. »Irgendwann wird
mein Fall verhandelt und dann komme ich frei.« Er zögerte. »Kann
ich gegen Kaution entlassen werden?«
»Das weiß ich noch nicht, aber morgen früh gehe ich
als Erstes zu Vetter Henry, dem Anwalt, und dann begeben wir uns in
die Höhle des Löwen, in das Büro der Staatsanwaltschaft«, sagte
Vetter James eifrig. »Sei guten Mutes, Richard. Die Morgans sind in
Bristol bekannt. Du bist ein unbescholtener Bürger aus guter
Familie. Ich kenne den Laffen, der Anzeige gegen euch erstattet hat
- er treibt sich gewöhnlich in der Nähe des Tolzey herum und
schreit iah!, weil er so ein Esel ist.«
»Ich weiß ja nicht, wie die Nachricht sich so
schnell verbreiten konnte«, sagte Dick, »aber noch bevor wir zu
unserem Besuch hier aufbrachen, erschien Senhor Habitas. Seine
älteste Tochter ist mit einem Elton verheiratet, und Sir Abraham
Isaac Elton ist ein sehr guter Freund. Senhor Habitas meinte, du
könntest sicher sein, dass Sir Abraham Isaac der Richter sein wird,
der bei deiner Verhandlung den Vorsitz führt. Er wird dir zwar eine
fürchterliche Moralpredigt über die Versuchungen der Lilith halten,
doch es fehlt an Beweisen. Alles hängt davon ab, was der Richter
seinen Geschworenen rät. Und dieser Ceely Trevillian ist doch eine
verächtliche Kreatur - die Geschworenen werden ihn sofort
durchschauen und auslachen.«
Die beiden Morgans blieben nicht lange, und wenig
später war Richard heilfroh darüber. Die Anspannung und das
Dünnbier hatten eine fatale Wirkung auf seine Gedärme. Er musste
sich mit heruntergelassenen
Hosen auf eine verdreckte Kloschüssel setzen, vor aller Augen,
auch wenn das niemanden außer ihn selbst kümmerte. Es war auch kein
Lappen da, den er zum Abwischen benutzen und anschließend in einen
Waschzuber mit Seifenwasser hätte werfen können. Verschmiert wie er
war, musste er aufstehen und die Unterhosen hochziehen. Mit
geschlossenen Augen kämpfte er gegen die tiefste Scham, die er je
empfunden hatte. Von da an roch er sich selbst stärker als den
Gestank seiner Umgebung.
Bei Einbruch der Dunkelheit wurden die Gefangenen
von der Gemeinschaftszelle in den Männerschlafsaal verlegt, zu dem
eine Treppe hinaufführte. Die Pritschen in dem ebenfalls riesigen
Raum reichten längst nicht für alle Insassen. Einige waren mit
Kranken belegt, die offenbar den ganzen Tag dort zugebracht hatten.
Sie wanden sich in Fieberkrämpfen oder bewegten sich überhaupt
nicht mehr. Da Richard und Willy noch neu und deshalb schnell
waren, ergatterten sie zwei freie Pritschen. Es gab keine
Matratzen, keine Leintücher, keine Kissen und keine Decken, und
überall klebten die angetrockneten Spuren von Durchfall und
Erbrochenem.
Hier zu schlafen schien unmöglich. Es war eiskalt
und feucht, und Richard hatte nur seinen Mantel zum Zudecken. Willy
war vom Weinen so erschöpft, dass ihn nicht einmal die Schrecken
des Bristol Newgate wach halten konnten. Richard dankte einem
mitleidlosen Gott für diese kleine Gnade. Er lag da und lauschte
auf das Schnarchen und Stöhnen, ein gelegentliches trockenes
Husten, das Würgen von jemandem, der sich erbrach, und das
herzzerreißende Weinen eines kleinen Jungen. Nicht alle Gefangenen
waren Erwachsene. Richard hatte etwa zwanzig Jungen gezählt, die
zwischen sieben und dreizehn Jahre alt sein mochten. Keins dieser
Kinder erschien ihm besonders verdorben oder verbrecherisch
veranlagt, auch wenn über die Hälfte von ihnen betrunken waren. Sie
hatten irgendwo einen Becher Gin oder ein Taschentuch geklaut, und
das zornige Opfer hatte sie angezeigt. Im Cooper’s Arms kam es nie
so weit, weil Dick es schlicht nicht zuließ. Wenn dort ein Kind von
der Straße hereinkam und einem vor sich hin träumenden Gast einen
Becher Rum vor der Nase wegstahl, konnte Dick
die Gemüter immer beschwichtigen, indem er den Bengel zur Tür
hinauswarf und dem Geschädigten einen Rum spendierte. Außerdem kam
so etwas höchstens ein- oder zweimal im Jahr vor. In der Broad
Street wurden gewöhnlich nur Brieftaschen geklaut oder
Verleumdungen eingefädelt.
Im Grunde hatten Dick und Vetter James eine gute
Nachricht überbracht. Senhor Habitas war ein unverhoffter
Verbündeter - gewiss machte er sich immer noch Vorwürfe, weil er es
gewesen war, der Richard Thomas Latimer vorgestellt hatte. Der
Arme! Was konnte er dafür? Solche Dinge passieren, dachte Richard
schläfrig. Er schloss die Augen und fiel sofort in einen traumlosen
Schlaf.
Am späten Nachmittag des folgenden Tages erschien
Dick allein. Über der Schulter trug er einen Beutel mit Essen und
Dünnbier.
»Jim ist immer noch in der Kanzlei von Vetter
Henry«, erklärte er. Er hockte sich dicht neben Richard auf den
Boden, damit kein anderer außer dem gespannt lauschenden Willy ihn
hören konnte.
»Es ist anders gekommen als erwartet«, sagte
Richard ausdruckslos.
»Ja.« Dick ballte die Fäuste und biss die Zähne
zusammen. »Dein Prozess wird nicht in Bristol stattfinden, Richard.
Ceely Trevillian hat seine Klage bei den Behörden von Gloucester
eingereicht, mit der Begründung, die Straftat sei in Clifton
begangen worden, also außerhalb Bristols. Du bist nur vorübergehend
in Newgate in Haft - bis die Klage offiziell angenommen ist und die
Zeugenaussagen vorliegen, was immer das bedeutet.« Er gestikulierte
aufgebracht mit den Händen. »Mir dröhnt der Kopf vor juristischen
Phrasen! Ich verstehe sie nicht, habe sie nie verstanden und werde
sie auch nie verstehen!«
Richard lehnte den Kopf an die rußgeschwärzte Wand
und starrte über die gebeugte Gestalt seines Vaters weg zu dem
verseuchten Pferdetrog und den verdreckten Kloschüsseln. »Egal,
Vater«, sagte er schließlich mit zugeschnürter Kehle. »Im
Augenblick habe ich sowieso andere Probleme.« Er deutete auf seine
Füße. »Vor allem brauche ich dringend Lappen, um diese Eisen zu
polstern. Meine Strümpfe sind jetzt, nach einem Tag, schon
durchgescheuert. Morgen wird es meine Haut sein und übermorgen mein
Fleisch. Wenn ich hier rauskommen will - und ich schwöre dir, ich
werde rauskommen! -, muss ich gesund bleiben. Und solange ich
Dünnbier trinke und Brot, Käse, Fleisch und Obst oder grünes Gemüse
esse, bleibe ich das.«
»Du wirst nach Gloucester Castle verlegt«, sagte
Dick. Seine Lippen zuckten. »In Gloucester kenne ich
niemanden.«
»Die anderen Morgans kennen wahrscheinlich auch
niemanden. Ein durchtriebener Bursche, dieser Ceely Trevillian! Wie
er darauf brennt, mich zu vernichten. Warum? Wegen des
Steuerbetrugs? Will er seinen Hals retten? Oder weil ich ihn als
Mann gedemütigt habe?« Richard schüttelte lächelnd den Kopf.
»Wahrscheinlich wegen beidem.«
»Mir kam ein Gerücht zu Ohren«, sagte Dick
zögernd.
»Erzähle, Vater«, sagte Richard leise. »Ich bin
kein Kind mehr. Du brauchst keine Angst zu haben, dass ich dir
Schande bereite.«
Sein Vater wurde rot. »Ich habe das Gerücht von
Davy Evans, meinem neuen Rumbrenner - er brennt einen köstlichen
Tropfen, Richard! In seiner Branche heißt es, Cave und Thorne seien
sofort zu Trevillian gegangen, als sie von deinem Streit in Clifton
erfuhren, und hätten ihn gebeten, dich und Willy zu verklagen. Wir
beide wissen, dass Trevillian an dem Steuerbetrug beteiligt ist,
doch die Spirituosenhändler haben keine Ahnung davon. Sie stellten
die Verbindung auf andere Weise her. Laut Davy Evans wollen Cave
und Thorne, dass ihr beide verurteilt werdet, bevor die Steuersache
zur Verhandlung kommen kann. Dann gibt es keine Verhandlung, weil
verurteilte Straftäter nicht aussagen können. Außerdem war Cave
beim Leiter der Steuerbehörde, bei John Fisher, dem Bruder deines
Benjamin Fisher - es bleibt wie immer in der Familie -, und bot ihm
eine Nachzahlung von 1600 Pfund an. Die Fisher-Brüder haben
natürlich von deiner und Willys Verhaftung erfahren und wissen ganz
genau, was Trevillian damit bezweckt, doch können sie leider nichts
beweisen.«
»Wir sollen also verurteilt werden, damit wir nicht
aussagen können.«
Willy begann wieder zu heulen wie ein Schlosshund.
Richard fuhr zu ihm herum und packte ihn so fest am Arm, dass er
einen schrillen Schmerzensschrei ausstieß.
»Schluss jetzt, Willy! Sei endlich still! Noch eine
Träne und ich befördere dich trotz meiner Fesseln mit den Füßen ans
andere Ende des Raumes. Dann kannst du dort am Fieber
verrecken!«
Dick starrte Richard mit offenem Mund an. Willy
verstummte.
Vom Eingang steuerte Vetter James auf sie zu.
Hinter sich zog er eine Holzkiste von der Größe eines
Schrankkoffers her. Gut, dass Vetter James gerade jetzt kommt,
dachte der fassungslose Dick. Was hätte er diesem Fremden sonst
sagen sollen?
»Hier sind ein paar Sachen für dich, Richard, aber
dazu später«, sagte Vetter James und setzte ächzend die Kiste ab.
In seinen Augen schimmerten Tränen. »Es sieht immer schlechter für
dich aus.«
»Das überrascht mich nicht, Vetter James.«
»Die Gesetze sind so unbegreiflich, Richard! Ich
gestehe, dass ich nur die wenigen kenne, die meinen kleinen Bereich
betreffen, und ich schätze, das geht allen so, auch den armen
Teufeln, die in deine missliche Lage geraten.« Er streckte Richard
die Hand hin. Richard ergriff sie und spürte, wie sie sich um seine
klammerte. »Du hast kaum Rechte, schon gar nicht außerhalb der
Stadtgrenzen. Vetter Henry hat alles versucht, und Reverend James
und ich waren bei allen einflussreichen Männern, die wir kennen,
aber das Gesetz besagt, dass wir weder Ceelys eidliche Aussage
lesen noch die Namen seiner Zeugen erfahren dürfen. Es ist
furchtbar, unfassbar! Ich hatte gehofft, Kaution stellen zu können,
doch bei schweren Straftaten ist das nicht möglich, und man
beschuldigt dich …« - er stockte und schluckte - »… des schweren
Diebstahls und der Erpressung! Das sind Kapitalverbrechen und -
Richard, du kannst dafür gehängt werden!«
»Ich habe mir das alles selbst zuzuschreiben«,
sagte Richard müde.
»Trotzdem wäre es interessant, zu erfahren, was für
eine Erpressung Ceely meint. Schließlich hat er einem betrogenen
Ehemann als außergerichtlichen Vergleich einen Schuldschein
angeboten.
Oder behauptet er jetzt, ich sei nicht mit Annemarie verheiratet
und hätte ihn unter Vorspiegelung falscher Tatsachen erpresst? Wenn
ich Annemarie meine Frau nenne, dann ist sie das nach herkömmlichem
Recht auch, sofern ich nicht schon eine Frau habe, und das habe ich
nicht. So viel verstehe ich immerhin vom Recht.«
»Leider wissen wir nicht, was er unter Eid
ausgesagt hat«, sagte Dick gequält.
»Als Erstes müssen wir Annemarie Latour finden. Sie
kann meine Version vor Gericht bestätigen.«
»Du darfst nicht in eigener Sache aussagen,
Richard«, sagte Vetter James leise. »Der Angeklagte hat zu
schweigen. Er darf zu seiner Verteidigung lediglich Leumundszeugen
beibringen und sich einen Anwalt nehmen, der die Zeugen der Anklage
ins Kreuzverhör nimmt - wenn er sich einen leisten kann. Sein
Anwalt kann ihn weder zur Sache befragen noch neue Beweise
vorlegen. Und was die Frau betrifft - sie ist verschwunden.
Eigentlich sollte sie als Mitangeklagte im Frauentrakt von Newgate
sitzen, aber dort ist sie nicht. Ihre Zimmer in Clifton wurden
geräumt, und niemand scheint zu wissen, wohin sie verschwunden
ist.«
»Was ist das für ein seltsames Land«, sagte
Richard. »Wir lernen die Gesetze, die hier herrschen, erst kennen,
wenn wir von ihnen betroffen sind. Darf mein Anwalt den
Geschworenen wenigstens eine eidliche Aussage vorlesen?«
»Nein. Du darfst nur reden, wenn der Richter dir
eine Frage stellt, und dann darfst du nur die Frage
beantworten.«
»Können wir Annemarie nicht über Mrs Barton
ausfindig machen?«
»Es gibt gar keine Mrs Barton.«
Willy schluchzte laut auf.
»Nicht doch, Willy«, sagte Richard leise.
»Bitte.«
»Das ist ja furchtbar!«, rief Dick.
»Wir wissen also nicht, wie Ceely gerichtlich gegen
mich vorgehen will, wer seine Zeugen sind und was sie aussagen
werden«, fasste Richard ruhig zusammen. »Und der Prozess findet in
Gloucester statt, vierzig Meilen von hier.«
»So sieht es aus«, sagte Vetter James.
Richard saß eine Weile schweigend da und kaute auf
seiner Lippe. Er wirkte eher nachdenklich als beunruhigt. Dann
zuckte er die Achseln. »Das ist alles noch weit weg«, sagte er.
»Bis dahin habe ich ein paar dringende Bedürfnisse. Ich brauche
Lappen, um meine Fußfesseln zu polstern, Lappen, um mich zu
waschen, und Lappen, um mir den Hintern abzuwischen.« Er machte
eine Grimasse. »Letztere werde ich unter dem Wasserrohr waschen und
notfalls feucht benutzen. Unsere bedauernswerten Mithäftlinge haben
zwar kaum noch die Kraft zum Stehlen, doch wenn ich die Lappen zum
Trocknen aufhänge, sind sie wahrscheinlich bald verschwunden. Ich
werde einen der Wärter bezahlen müssen, damit er mir die Haare
abschneidet. Ich brauche Seife, alle paar Tage etwas Wäsche zum
Wechseln - Hemden, Strümpfe, Unterhosen - und saubere Lappen, jede
Menge saubere Lappen. Und Geld für Dünnbier. Ich wette, das Wasser
da drüben kommt aus der Leitung von Pugsley’s Well und ist
ungenießbar. Hier sind so viele krank.« Er holte tief Luft. »Ich
weiß, dass ich euch Geld koste, aber ich schwöre euch, sobald ich
frei bin, fange ich an, es euch zurückzuzahlen.«
Vetter James öffnete die Holzkiste. »Ich habe
bereits an Lappen gedacht«, sagte er und kramte sie hervor. »Pass
auf die Kiste auf, so gut es geht. Setz dich drauf oder mach’s wie
Dick und binde sie an deinem großen Zeh fest. Der Wärter hat sie
natürlich gründlich durchsucht, bevor er mich hereinließ.« Er
kicherte. »Keine Feilen oder Metallsägen, das war seine einzige
Sorge. Ich finde es zwar befremdlich, aber ein Rasiermesser und
eine Schere darfst du haben. Offenbar kümmert es die Wärter nicht,
ob ihr euch die Kehlen durchschneidet. Außerdem ein Streichriemen
und ein Wetzstein.« Er nahm die Schere heraus und reichte sie Dick.
»Fang an zu schneiden, Vetter.«
»Ich soll Richard die Haare abschneiden?«, rief
Dick entsetzt. »Das kann ich nicht.«
»Du musst. An Orten wie diesem wimmelt es von
Ungeziefer aller Art. Kurze Haare bieten zwar keinen völligen
Schutz, aber sie dämmen die Plage zumindest ein. Ich habe auch
einen Kamm mit
ganz feinen Zähnen mitgebracht, Richard. Schneide auch deine
Körperhaare oder zupfe sie aus.«
»Ich habe nur sehr wenige, deshalb wird Schneiden
genügen.« Vetter James durchsuchte die Kiste weiter. Er packte
einen schweren, sperrigen Gegenstand und zog ihn mühsam heraus.
Triumphierend stellte er ihn auf den Boden. »Ist das nicht ein
kleines Wunder?«
Richard, Dick und Willy starrten das Ding
verständnislos an.
»Bestimmt, Vetter James«, sagte Richard, »aber
was ist es denn?«
»Ein Filterstein«, erwiderte Vetter James stolz.
»Der unten spitz zulaufende Teil aus Stein bildet, wie du siehst,
eine Schale, die ungefähr drei Pint Wasser fasst. Das Wasser
sickert durch den Stein und tropft in die Messingschale darunter.
Ich weiß nicht, welche magischen Kräfte dem Stein innewohnen, aber
das Wasser in der Auffangschale ist so rein und frisch wie das
beste Quellwasser.«
»Vetter James«, sagte Richard mit einem Lächeln,
aus dem eine tiefe Zuneigung sprach. »Ich könnte dir vor Freude die
Hände und die Füße küssen.«
»Nicht notwendig, Richard.« Der Apotheker stand auf
und klatschte sich den Staub von den Händen. Dann sagte er ernst:
»Ich habe dir die Kiste heute gebracht, weil niemand mir sagen
will, wann du nach Gloucester verlegt wirst. Da die nächste Sitzung
des Geschworenengerichts nicht vor der Fastenzeit stattfindet, kann
das noch dauern. Es kann aber auch schon morgen so weit sein.
Vetter James, der Kirchenmann, lässt dir übrigens ausrichten, dass
er dich besuchen will.«
»Ich freue mich schon darauf, ihn zu sehen«, sagte
Richard und stand auf. Dick hockte noch auf dem Fußboden und
klaubte die abgeschnittenen Haare zusammen. »Vater, wasch dir die
Hände mit Essig und Teeröl, wenn du heimkommst. Vorher darfst du
dir nicht ins Gesicht fassen. Und bring mir bitte saubere
Unterhosen und Seife!«
Richard wurde nicht am folgenden Tag verlegt. Er
und Willy blieben bis Anfang 1785 im Bristol Newgate. Das war
einerseits ein
Segen - seine Familie konnte ihn mit allem Lebensnotwendigen
versorgen -, andererseits ein Fluch - seine Familie bekam das ganze
Elend mit, in das er geraten war.
Auch Mag wollte Richard unbedingt besuchen. Doch
als sie ihn mit geschorenem Haupt inmitten der zerlumpten Gestalten
sah, die mehr tot als lebendig waren, wurde sie vor Schreck
ohnmächtig.
Es sollte noch schlimmer kommen. Nach Weihnachten
erschien Vetter James, der Apotheker, allein. »Dein Vater hatte
einen Schlaganfall, Richard.«
Die Augen, mit denen Richard ihn ansah, waren nicht
wieder zu erkennen. Nach dem Tod von William Henry hatten sie noch
ab und zu humorvoll aufgeblitzt. Jetzt nicht mehr. Es war zwar noch
Leben in ihnen, doch sie nahmen nur noch passiv wahr. »Wird er
sterben, Vetter James?«
»An diesem Schlaganfall nicht. Ich habe ihn auf
eine strenge Diät gesetzt und hoffe, dass ich einen zweiten und
dritten verhindern kann. Sein linker Arm und sein linkes Bein sind
in Mitleidenschaft gezogen, doch kann er noch sprechen und klar
denken. Er lässt dich grüßen, aber wir sind der Meinung, dass ein
Besuch in Newgate ihm nicht gut täte.«
»Was wird nun aus dem Cooper’s Arms? Es wird ihn
umbringen, das Lokal aufgeben zu müssen!«
»Das braucht er nicht. Dein Bruder hat seinen
ältesten Sohn hingeschickt. Er soll dort Gastwirt lernen - ein
tüchtiger Junge und nicht so geldgierig wie William. Ich glaube,
der Junge ist froh, sein Elternhaus verlassen zu können. Du weißt
ja, wie streng und herrschsüchtig Williams Frau ist.«
»Ich könnte mir vorstellen, dass sie Will
strengstens verboten hat, mich im Gefängnis zu besuchen. Sicher
bedauert er, dass ihm nun keiner mehr kostenlos die Sägen
schränkt.« Richard sagte es ohne Groll. »Und Mutter?«
»Mag ist Mag. Ihre Antwort auf alles ist
Arbeit.«
Richard schwieg. Mit ausgestreckten Beinen saß er
auf den Fliesen, Willy wie einen Schatten neben sich. Vetter James
kämpfte mit den Tränen. Er versuchte sich Richard als Fremden
vorzustellen -
was ihm in letzter Zeit gar nicht so schwer fiel. Wie war es
möglich, dass Richard jetzt so viel besser aussah als früher? Oder
war es ihm bisher nur nicht aufgefallen? Die kurz geschorenen
Haare, die sich zu kräuseln versuchten, obwohl sie nicht mehr als
einen halben Zoll lang waren, brachten den wohlgeformten Schädel
und das ebenmäßige, faltenlose Gesicht mit den hervortretenden
Backenknochen und der markanten Adlernase stärker zur Geltung. Wenn
sich etwas verändert hatte, dann der Mund. Er wirkte trotz der
sinnlichen Unterlippe jetzt härter und fester, weniger verträumt.
Die schmalen schwarzen Brauen hatten schon immer dicht über den
Augen gelegen, doch jetzt wirkten sie geradezu wie ein Teil der
Augen, als seien sie eingraviert worden, um die Augen zu
betonen.
Richard ist sechsunddreißig, dachte Vetter James,
und Gott prüft ihn, wie er Hiob geprüft hat, doch irgendwie dreht
Richard den Spieß um, ohne sich von Gott abzuwenden oder ihn zu
verfluchen. Im vergangenen Jahr hat er nicht nur seine Frau und
sein einziges Kind verloren, sondern auch sein Vermögen, seinen
guten Ruf und den Kontakt zu Angehörigen wie seinem egoistischen
Bruder. Doch sich selbst hat er nicht verloren. Wie wenig wir doch
über Menschen wissen, die wir zu kennen glauben, weil wir das ganze
Leben mit ihnen zusammen waren.
Plötzlich leuchteten Richards Augen auf und er
lächelte strahlend. »Mach dir um mich keine Sorgen, Vetter James.
Das Gefängnis kann mich nicht zerstören. Ich werde es
überstehen.«
Vielleicht weil nur wenige Sträflinge von Bristol
nach Gloucester verlegt wurden, erfuhren Richard und Willy den
Termin erst zwei Tage vorher, in der ersten Januarwoche.
»Ihr dürft mitnehmen, was ihr tragen könnt, mehr
nicht«, sagte Walter, der Gefängnisaufseher, als sie ihm vorgeführt
wurden. »Einen Karren dürft ihr nicht benutzen.«
Er teilte ihnen nicht mit, von wo aus und mit
welchem Verkehrsmittel sie aufbrechen würden, und Richard fragte
ihn auch nicht danach. Willy hätte gerne gefragt, doch noch bevor
er den Mund aufmachen konnte, trat Richard ihm auf den Fuß und er
zuckte vor Schmerzen zusammen.
In Wahrheit bedauerte Walter es sehr, dass Richards
Zeit in Newgate zu Ende ging. Der Gefangene hatte ihm während
seiner dreimonatigen Haft ein hübsches Sümmchen eingebracht.
Richards Verwandten versorgten Richard und Insell mit Essen, was
für Walter einen Extraverdienst von zwei Pennys am Tag bedeutete.
Richards Vater schickte einmal die Woche eine Gallone guten Rum in
Walters Büro, und sein Vetter, der Apotheker, drückte Walter
regelmäßig eine Krone in die aufgehaltene Hand. Ohne diese
Sonderzuwendungen hätte Walter Richard bis zu seiner Verlegung nach
Gloucester zur Sicherheit ins St. Peter’s Hospital sperren lassen,
denn er hielt ihn für einen unberechenbaren Irren!
Richard wusch sich täglich am ganzen Körper mit
Seife und eiskaltem Leitungswasser. Er hielt seinen Hintern über
die Kloschüssel, statt sich draufzusetzen, und wischte ihn mit
einem Lappen ab, den er anschließend auswusch. Er schnitt sich
regelmäßig die Haare ab, ging nie in den Schankraum und las die
meiste Zeit Bücher, die sein Vetter, der Pfarrer der
St.-James-Kirche, ihm brachte. Doch seine verrückteste Angewohnheit
war, dass er jeden Tag eine dicke Steinschale mit Wasser aus der
Leitung füllte und nur das trank, was aus dem Stein in die
Messingschale darunter tropfte. Als Walter ihn neugierig fragte,
was er da mache, antwortete er, er verwandle Wasser in Wein wie
Jesus bei der Hochzeit zu Kana. Der litt wirklich unter
Wahnvorstellungen!
In den verbleibenden zwei Tagen traf Richard
Vorbereitungen, sich den Aufenthalt im Gefängnis von Gloucester zu
erleichtern.
Vetter James, der Kirchenmann, brachte ihm einen
neuen Mantel. »Wie du siehst, Richard, hat deine Base Elizabeth« -
James’ Frau - »ein dickes Wollfutter in den Mantel genäht und dir
zwei verschiedene Paar Handschuhe mitgegeben. Die ledernen sind an
den Fingerspitzen offen, die gestrickten nicht. Und ich habe die
Taschen des Mantels gefüllt.«
Kein Wunder, dass der Mantel so schwer war. Beide
Taschen waren mit Büchern voll gestopft.
»Ich habe die Bücher über Sendall in London
bestellt«, erklärte Vetter James, der Kirchenmann. »Sie sind auf
ganz dünnes Papier gedruckt, und ich habe darauf geachtet, dir
nicht zu viel Theologisches
zuzumuten. Nur eine Bibel ist dabei und das Gebetbuch der
anglikanischen Kirche.« Er zögerte. »Bunyan ist ein Baptist, wenn
man das eine Religion nennen kann, aber ich halte Die
Pilgerreise für ein großartiges Buch, deshalb habe ich es
auch dazugepackt. Und Milton.«
Richard fand außerdem einen Band mit Shakespeares
Tragödien, einen zweiten mit seinen Komödien und John Donnes
Übersetzung von Plutarchs Heldenleben. Er nahm Reverend
James’ Hand und drückte sie mit geschlossenen Augen an seine Wange.
Sieben Bücher von handlichem Format, gebunden in biegsames Leinen
und gedruckt auf extradünnes Papier. »Mit dem Mantel, den
Handschuhen, der Bibel, Bunyan, Shakespeare und Plutarch hast du
für meinen Körper, meine Seele und meinen Geist gesorgt. Ich kann
dir gar nicht genug danken.«
Vetter James, der Apotheker, nahm sich Richards
Gesundheit an. »Hier ist ein neuer Stein für deinen Filterapparat.
Wechsle ihn aber erst, wenn es nötig ist - Gott sei Dank ist der
Stein kaum schwerer als Bimsstein. Hier haben wir Teeröl und eine
neue, besonders ergiebige Seife. Du verbrauchst deine Seife viel zu
schnell, Richard! Hier ist etwas von meiner Asphaltspezialsalbe -
sie heilt alles vom Geschwür bis zur Schuppenflechte. Tinte und
Papier - ich habe den Korken mit Draht festgebunden, damit die
Flasche nicht auslaufen kann. Und schau dir das an, Richard!« Die
Begeisterung über die neue Erfindung ließ ihn seinen Kummer für
einen Augenblick vergessen. »Das sind so genannte ›Schreibfedern‹,
weil sie dieselbe Funktion erfüllen wie die Spitze eines
angeschnittenen Federkiels. Man steckt sie in die stählerne Fassung
am Ende dieses Holzstiels. Ich habe die Federn aus Italien kommen
lassen, obwohl sie in Arabien hergestellt werden - Gänse scheint es
in Arabien kaum zu geben. Noch ein Rasiermesser, für alle Fälle.
Eine große Büchse Malz, falls du zu wenig Obst oder Grüngemüse
bekommst - Malz ist gut gegen Skorbut. Und Lappen, jede Menge
Lappen. Meine Frau und deine Mutter haben den Stoffhändlern der
Nachbarschaft alle Leintücher abgekauft, die sie vorrätig hatten.
Dazu eine Mullbinde und ein blutstillendes Mittel. Und eine Flasche
von meinem patentierten Stärkungsmittel, dem
ich ein Dram Gold beigefügt habe, damit du keine Furunkel
bekommst. Falls du Furunkel oder Karbunkel bekommst, wenn du das
Stärkungsmittel aufgebraucht hast, dann kaue ein paar Tage lang
etwas Schrot. Was nicht mit Lappen ausgestopft ist, ist mit
Kleidern ausgestopft.«
Vetter James hatte fast alles in der Kiste
untergebracht. Jetzt runzelte er die Stirn. »Ich fürchte, du wirst
ein paar Sachen in die Manteltaschen stecken müssen,
Richard.«
»Die sind schon voll«, sagte Richard bestimmt.
»Reverend James hat mir Bücher gebracht, und auf die kann
ich nicht verzichten. Wenn mein Geist verkümmert, nutzt mir ein
gesunder Körper nichts mehr, Vetter James. Was meinen Geist in den
letzten drei Monaten gesund erhalten hat, war die Möglichkeit zu
lesen. Das Schlimmste an der Gefangenschaft ist die erzwungene
Untätigkeit. Zu Bunyans Zeit - ja, Bunyans Pilgerreise habe
ich dabei - durfte ein Häftling nützliche Arbeiten verrichten und
das, was er herstellte, sogar verkaufen, um seine Frau und seine
Kinder zu unterstützen, so wie Bunyan es zwölf Jahre lang tat. In
Newgate stört es die Wärter schon, wenn wir herumlaufen. Ohne
Bücher wäre ich verrückt geworden. Deshalb muss ich sie
behalten.«
»Verstehe.«
Nach vielem Ein-, Aus- und Umpacken war schließlich
doch alles in der Kiste verstaut, allerdings war sie so voll, dass
die beiden massiven Schnappschlösser erst zugingen, als Willy sich
auf den Deckel setzte. Den Schlüssel hängte Richard sich an einem
Lederriemen um den Hals. Er hob die Kiste hoch. Sie wog mindestens
fünfundzwanzig Kilo.
Willy hatte auch eine Kiste erhalten, die
allerdings kleiner und leichter war.
»Ich kann nicht in Worte fassen, wie dankbar ich
dir bin«, sagte Richard zu Vetter James. Seine Augen strahlten vor
Freude und Liebe.
»Ich danke Ihnen ebenfalls«, sagte Willy zu Tränen
gerührt.
Dann nahmen sie Abschied voneinander. Sie würden
sich erst um die Fastenzeit vor dem Geschworenengericht wieder
sehen.
Am frühen Morgen des 6. Januar schlurften Richard und Willy mit
ihren Kisten durch das Gittertor auf den Korridor. Dort holten
Walter und ein Fremder mit einem Knüppel sie ab und stießen sie in
den Raum mit den Eisenketten an den Wänden. Richard dachte schon,
die Fußfesseln würden ihnen für die Reise abgenommen, und stieß
einen Seufzer der Erleichterung aus. Die Kiste war schon schwer
genug. Doch er hatte sich zu früh gefreut. Der zerlumpte Verwalter
der Schreckenskammer legte ihm ein zwei Zoll breites Eisenband um
die Taille und schloss es vorne ab. Außerdem verpasste er ihm
Handschellen, die er durch zwei Fuß lange Ketten mit dem Schloss
auf Richards Bauch verband. Dann entfernte er die Kette zwischen
Richards Füßen und kettete die Fußschellen ebenfalls an den
Eisengürtel. An dem Schloss über Richards Bauchnabel liefen damit
vier Ketten zusammen. Richard konnte jetzt zwar größere Schritte
machen, doch die Ketten schränkten seine Bewegungsfreiheit derart
ein, dass er nie hätte fliehen können.
Irgendwie gelang es ihm, seine Kiste hochzuheben.
Mit einem seltsamen Gefühl der Genugtuung stellte er fest, dass die
Ketten zwischen seinen Handgelenken und dem eisernen Gürtel eine
Art Netz bildeten, das die Kiste hielt und ihr Gewicht auf seine
Arme und seinen Oberkörper verteilte.
»Wenn du die Kiste so hältst, Willy, lässt sie sich
leichter tragen«, sagte er zu seinem Schatten.
»Mund halten!«, bellte Walter.
Die schneidend kalte Luft draußen tat gut und roch
himmlisch. Tief einatmend und mit weit offenen Augen schritt
Richard vor ihrem Bewacher her, der bisher noch kein Wort gesagt
hatte. War er ein Hilfspolizist aus Bristol?
Was für eine Wohltat, aus dem stinkenden Verlies,
herauszukommen! Das Gefängnis von Gloucester, einer kleinen
Provinzstadt, war vermutlich erträglicher als das von Bristol.
Schließlich stand in allen Zeitungen zu lesen, dass auf dem Land
viel weniger Straftaten begangen wurden als in den Großstädten.
Richard konnte sich auch damit trösten, dass er den größeren Teil
seiner Haft bereits hinter sich hatte. Zur Fastenzeit, Ende März,
fanden in Gloucester die nächsten Gerichtstage statt.
Endlich frische Luft! Der bedrohlich finstere
Himmel verhieß Schnee, doch Richard fror nur an den Ohren, die
nicht mehr von Haaren bedeckt wurden. Sein Dreispitz mit der nach
oben gebogenen Krempe schützte nur seinen Kopf. Aber was machte das
schon? Mit leuchtenden Augen stapfte er die Narrow Wine Street
entlang. Bei jedem Schritt klirrten seine Ketten.
Es war noch früh am Morgen, doch die Bürger von
Bristol standen zeitig auf. Sie mussten kurz nach Tagesanbruch an
ihrer Arbeitsstätte sein. Dort arbeiteten sie im Winter acht, im
Frühjahr und Herbst zehn und im Sommer zwölf Stunden. Deshalb sahen
viele Menschen die drei Männer durch die Stadt laufen, die beiden
Gefangenen voran, der Bewacher hinterher. Erschrecken malte sich
auf Gesichtern, Passanten wechselten schnell die Straßenseite -
niemand wollte einen Verbrecher streifen.
Die Tore der Wasborough-Messinggießerei standen
weit offen. Drinnen herrschte ein Inferno aus Flammen und Lärm -
offenbar bekam die Königliche Marine jetzt die flachen
Messingketten, die sie für ihre neuen Bilgenpumpen brauchte. Seit
Richard sein Geld verloren hatte, war er nicht mehr dort
gewesen.
»Dolphin Street«, brummte der Hilfspolizist kurz,
als sie die Straßenecke erreichten. Sie gingen also nicht in
Richtung Cooper’s Arms, sondern nach Norden, über die Froom.
Natürlich, denn an der Kreuzung von Kingsdown Street und Horsefield
Street begann die Mautstraße nach Gloucester.
Von der Dolphin Street gelangten sie in deren neu
gebaute Verlängerung, die dreißig Fuß breite Union Street. Sie
kamen an großen glitzernden Schaufenstern und kunstvoll
geschnitzten Türen mit funkelnden Messingbeschlägen vorbei. Der
neue Boulevard war dreimal so breit wie die Narrow Wine Street,
sodass die Passanten, die vor ihnen auf die andere Straßenseite
flohen, sich dreimal so sicher fühlen konnten - vielleicht war das
auch gut so, denn hier wohnten feinere Leute.
Schließlich bogen sie nach links ab, in die
Broadmead und den Fuhrpark von Michael Henshaw, der mit seinen
Pferdefuhrwerken Fracht nach Gloucester, Monmouth, Wales, Oxford,
Birmingham und sogar Liverpool beförderte. Dort wurden sie in einen
Winkel
voller Pferdeäpfel gestoßen und durften ihre Kisten absetzen.
Willy keuchte vor Erschöpfung.
Wenigstens haben drei Monate ohne Bewegung mich
nicht ganz entkräftet, dachte Richard. Der arme Willy ist völlig
erledigt. In drei Monaten bin ich sicher genauso schwach, es sei
denn, ich kann im Gefängnis von Gloucester arbeiten und ich bekomme
genug zu essen, um arbeiten zu können. Aber wenn ich arbeiten darf,
wer bewacht dann meine Kiste vor Dieben? Um Sachen wie das Teeröl
und den Filterstein brauche ich mir keine Sorgen zu machen, aber
die Lappen und Kleider wären bestimmt schnell weg. Außerdem könnte
jemand das Geheimfach mit den Goldstücken entdecken. Und meine
Bücher könnten wegkommen! Ich bin sicher nicht der einzige
Gefangene in England, der Bücher liest.
Der große Wagen, in den Willy und Richard
schließlich stiegen, hatte eine über Eisenbügel gespannte Plane aus
Segeltuch. So waren sie vor Wind und Wetter einigermaßen geschützt,
auch vor dem aufkommenden Schneesturm, der ihnen außerhalb Bristols
mit seinen vielen heißen Schloten sicher heftiger zusetzen würde.
Die acht vor den Planwagen gespannten Pferde schienen kräftig
genug, um sich durch den Morast der ungepflasterten Mautstraße zu
kämpfen. Der Wagen selbst war mit so vielen Fässern und Gepäck
beladen, dass die beiden Gefangenen nicht wussten, wo sie ihre Füße
hinstellen sollten. Der Fuhrmann wollte ihre Kisten nicht
mitnehmen.
»Die Kisten kommen mit, das ist Vorschrift«,
beendete der Hilfspolizist die Debatte. Er kletterte in den Wagen,
um die Ketten zwischen den Fußfesseln und den Eisengürteln der
Gefangenen zu entfernen und die Gefangenen stattdessen an die
Eisenbügel der Plane zu ketten. Die beiden konnten sich nur mit
ausgestreckten Beinen zwischen die Fracht quetschen. Der
Hilfspolizist sprang von der Ladefläche. Richard dachte schon, er
würde sie verlassen, doch als der Wagen mit einem Ruck anfuhr, saß
ihr Bewacher neben dem Fuhrmann auf dem Kutschbock, über den
ebenfalls ein Schutzdach gespannt war.
»Hilf mir mal, Willy«, sagte Richard zu seinem
Gefährten, der den Tränen schon wieder gefährlich nahe war. »Lass
uns meine
Kiste gegen diesen Sack schieben. Dann machen wir dasselbe mit
deiner. So können wir uns anlehnen. Und wehe, du heulst! Eine Träne
und du bist tot.«
Der Wagen kam auf der völlig aufgeweichten
Landstraße nur mühsam voran und versank von Zeit zu Zeit bis zu den
Achsen im Matsch. Dann wurden Richard und Willy losgekettet und vom
Wagen gescheucht und mussten graben und schieben - zu Richards
Belustigung musste auch der entrüstete Hilfspolizist helfen. Es
schneite heftig, doch war es nicht so kalt, dass der Matsch gefror.
Ohne etwas zu essen oder zu trinken außer ein paar Hand voll Schnee
hatten sie gegen Ende des ersten Tages acht der vierzig Meilen
zurückgelegt.
Der Fuhrmann war sehr zufrieden. In Almondsbury
hielt er vor einer Herberge an.
»Ihr habt euch ein Bett und Decken verdient«, sagte
er sehr viel besser gelaunt als am Morgen zu den Gefangenen. »Ohne
eure Hilfe hätten wir den Wagen nicht ein halbes Dutzend Mal wieder
flottmachen können. Und du, Tom, bekommst einen Quartkrug Ale - das
Bier ist gut hier, der Wirt braut es selbst.«
Der Fuhrmann und Tom, der Hilfspolizist,
verschwanden, Richard und Willy blieben verwirrt im Wagen zurück.
Nach einer Weile kehrte der Hilfspolizist zurück. Er legte den
Knüppel in Reichweite auf den Boden, entfernte die Ketten, mit
denen er die Gefangenen an die Eisenbügel gefesselt hatte, und
führte sie zu einer steinernen Scheune, in der Stroh lag. Dort
kettete er sie an einen dicken Balken, in den in Bodennähe einige
Eisenkrampen geschlagen waren, dann verschwand er wieder.
»Ich habe solchen Hunger«, wimmerte Willy.
»Dann bete, Willy, aber fang bloß nicht wieder an
zu heulen!«
Der Stall roch sauber und das Stroh war trocken.
Seit drei Monaten hatten sie kein so ordentliches Lager gehabt.
Richard schob das Stroh zurecht. In diesem Augenblick kamen der
Wirt und ein stämmiger Bauernbursche herein. Der Wirt trug ein
Tablett mit zwei Humpen, Brot, Butter und zwei großen Schalen
dampfender Suppe. Der Bauernbursche ging zu einer leeren Pferdebox
und kam mit Decken zurück.
»John sagt, ihr hättet ihm auf der Fahrt geholfen«,
sagte der Wirt. Er setzte das Tablett in ihrer Reichweite ab und
trat schnell einen Schritt zurück. »Habt ihr Geld, um mehr zu
zahlen als den Penny, den mir der Hilfspolizist für jeden von euch
gibt? Sonst komme ich nicht auf meine Kosten und muss Johns Firma
den Rest berechnen. John sagt ja, ihr hättet einen Lohn
verdient.«
»Wie viel?«, fragte Richard.
»Mit dem Bier drei Pennys für jeden.«
Richard zog ein Sixpencestück aus seiner
Westentasche.
Bei Tagesanbruch erhielten er und Willy für weitere
drei Pennys Brot und Dünnbier. Dann ging die Reise weiter. Wieder
mussten sie unterwegs aussteigen, um zu graben und den Wagen aus
dem Schlamm zu schieben und zu ziehen. Doch ein paar Stunden
seliger Schlaf zwischen Stroh und Decken und die nahrhafte warme
Mahlzeit hatten Wunder gewirkt und Richard neue Kraft verliehen,
auch wenn seine Glieder vor Anstrengung schmerzten. Selbst Willy
war munterer und packte beherzter mit an. Es hatte aufgehört zu
schneien und war kälter geworden, doch nicht so kalt, dass der
Boden gefror. Sie schafften auch am zweiten Tag nur acht Meilen,
doch John, der Fuhrmann, war damit vollauf zufrieden,
wahrscheinlich weil er bei diesem Reisetempo abends seine gewohnten
Nachtquartiere ansteuern konnte.
Richard rechnete sich aus, dass sie am Abend des
fünften Tages im Gefängnis von Gloucester eintreffen würden. Doch
als sie den Stadtrand von Gloucester erreichten, hielt der Fuhrmann
vor einem Gasthaus namens Harvest Moon.
»Ich setze euch doch nicht im Dunkeln an diesem
verrufenen Ort ab«, erklärte er. »Ihr habt eure Reisekosten wie
Ehrenmänner beglichen, und ihr tut mir wirklich Leid. Das wird
jetzt für weiß Gott wie lange die letzte Nacht sein, in der ihr
einen anständigen Schlafplatz und ein anständiges Essen im Magen
habt. Ich kann nicht glauben, dass ihr Verbrecher seid. Ich wünsche
euch viel Glück.«
Am frühen Morgen des folgenden Tages rollte der
Wagen über die Zugbrücke zum anderen Ufer des Severn und durch das
Westtor
nach Gloucester hinein. Gloucester erinnerte in vielem an eine
mittelalterliche Kleinstadt. Ein Großteil der alten Mauern, Gräben,
Zugbrücken und Klöster stand noch. Die größeren Gebäude waren
vierstöckige, schwarz-weiße Fachwerkhäuser. Einige Dächer waren mit
Schiefer gedeckt, die meisten zu Richards Entsetzen allerdings noch
mit Stroh. Richard hatte wie alle Leute aus Bristol Angst vor durch
Stroh ausgelösten Feuersbrünsten. Er sah nicht allzu viel von dem
Städtchen, da der Planwagen nur hinten offen war. Doch was er sah,
bestätigte ihm, dass Gloucester im Vergleich zu Bristol ein
Provinznest war.
Der Wagen fuhr auf ein Tor in einer dicken alten
Mauer zu. Richard und Willy wurden vom Wagen geholt und zusammen
mit Tom, dem Hilfspolizisten, auf ein großes, offenbar bestelltes
Feld geführt. Was dort angebaut wurde, würde sich erst im Frühjahr
zeigen. Vor ihnen ragte die Burg von Gloucester auf, die
gleichzeitig das Gefängnis der Stadt war, ein finsteres Gemäuer mit
großen und kleinen Türmen und vergitterten Fenstern, umgeben von
einer Mauer und einem Graben. Die Burg hatte zur Zeit Oliver
Cromwells zum letzten Mal als Festung gedient und war seitdem
stetig verfallen.
Sie gingen nicht zum Eingang der Burg, sondern zu
einem großen Steinhaus an der Außenmauer, in dem der Oberaufseher
des Gefängnisses wohnte.
Dort kam Richard der Verdacht, dass der
Hilfspolizist ihn und Willy nicht deshalb von Bristol nach
Gloucester begleitet hatte, um ihre Flucht zu verhindern, sondern
um ihre Fesseln und Ketten wieder nach Bristol zurückzubringen.
Denn Tom griff nach jedem Stück Eisen, das ihnen abgenommen wurde,
wie eine Mutter nach ihrem Neugeborenen und verstaute es sofort in
einem Sack. Endlich war alles geregelt und unterzeichnet, und er
entfernte sich mit seinem Sack, um mit einer Kutsche nach Bristol
zurückzukehren. Ein Wärter legte Richard und Willy ein neues Paar
Fußeisen mit einer zwei Fuß langen Kette an - den Oberaufseher
sahen sie nicht - und eskortierte sie zur Burg. Ihre kostbaren
Kisten trugen sie vor sich her.
Der kleine noch bewohnbare Teil der Burg war so
überfüllt mit
Häftlingen, dass keiner die Beine ausstrecken konnte. Wer sich
hinsetzte, musste die Knie unters Kinn ziehen. Die
Gemeinschaftszelle maß genau zwölf auf zwölf Fuß und war mit
ungefähr dreißig Männern und zehn Frauen belegt. Der Wärter, der
sie hergebracht hatte, brüllte einen unverständlichen Befehl,
woraufhin alle, die einen Platz zum Sitzen gefunden hatten,
aufstanden. Dann marschierten die Häftlinge und Richard und der
heulende Willy mit ihren Kisten im Gänsemarsch auf einen eisigen
Hof, auf dem bereits zwanzig andere Männer und Frauen
warteten.
Es war Sonntag. Gleich würde Reverend Evans den
Insassen des Gefängnisses von Gloucester die Botschaft Gottes
verkünden. Die schwache Stimme des betagten Gefängnisgeistlichen
wurde vom Wind übertönt, der durch den rechteckigen Hof pfiff,
sodass seine Worte über Reue, Glaube und Hoffnung - oder was auch
immer - nicht zu verstehen waren. Glücklicherweise betrachtete er
eine zehnminütige Andacht und eine zwanzigminütige Predigt als
ausreichende Gegenleistung für die vierzig Pfund, die er als
Gefängnispfarrer im Jahr verdiente. Schließlich predigte er nicht
nur sonntags, sondern auch mittwochs und freitags.
Danach wurden sie in die Gemeinschaftszelle der
Sträflinge zurückgescheucht, die viel kleiner war als die der
Schuldner, obwohl es doppelt so viele Strafgefangene gab wie
Schuldner. Richard schob einen Mithäftling beiseite, um seine Kiste
abstellen zu können, und setzte sich darauf.
»So schlimm wie heute ist es unter der Woche
nicht«, sagte eine Stimme neben ihm. »Du bist ein stattlicher
Mann!«
Eine magere, sehnige Frau von ungefähr dreißig
Jahren schaffte sich mit den Ellbogen Platz und ließ sich zu seinen
Füßen nieder. Richard fiel auf, dass ihre Kleider zwar vielfach
geflickt, aber einigermaßen sauber waren. Die Frau trug einen
schwarzen Rock, einen roten Unterrock, eine rote Bluse, eine
schwarze Weste und schräg auf dem Kopf einen merkwürdig
extravaganten schwarzen Hut mit einer breiten Krempe und einer
scharlachrot gefärbten Gänsefeder.
»Gibt es hier keine Kapelle, in der man den Pfarrer
versteht?«, fragte Richard mit einem leichten Lächeln. Die Frau
hatte etwas
Liebenswertes, und solange er sich mit ihr unterhielt, musste er
nicht dem jammernden Willy zuhören.
»Doch, aber sie ist nicht groß genug für alle. Das
Gefängnis ist zurzeit wirklich voll - es müsste mal wieder
Fleckfieber ausbrechen, damit es leerer wird. Ich bin Lizzie Lock.«
Sie streckte ihm die Hand hin.
Richard schüttelte sie. »Richard Morgan. Und das
ist Willy Insell, mein Schatten, der mich noch um den Verstand
bringen wird.«
»Tag, Willy, wie geht’s?«
Wieder strömten die Tränen über Willys
Wangen.
»Das geht wie ein Wasserfall«, sagte Richard müde.
»Eines Tages erwürge ich ihn noch.« Er sah sich um. »Warum sind
Männer und Frauen hier nicht getrennt?«
»Das Gefängnis hat keinen Frauentrakt, Schätzchen.
Und auch keinen eigenen Trakt für Schuldner. Deshalb wurden wir vor
ungefähr fünf Jahren in John Howards Bericht über die englischen
Gefängnisse erwähnt. Deshalb bauen wir gerade ein neues Gefängnis
und deshalb ist diese Zelle von Montag bis Samstag nicht so
überfüllt wie jetzt, weil die Männer dann auf dem Bau sind.« Lizzie
hatte gesprochen, ohne Luft zu holen.
»Wer ist John Howard?«
»Er hat diesen Bericht über die Gefängnisse
geschrieben. Das hab ich doch gerade gesagt. Mehr weiß ich nicht,
also frag auch nicht weiter. Und das weiß ich auch nur, weil ganz
Gloucester sich darüber aufgeregt hat - vor allem der Bischof und
sein ehrenwertes Kollegium. Schließlich stimmte das Parlament einem
Gesetz über den Bau eines neuen Gefängnisses zu. Es soll in drei
Jahren fertig sein, aber da bin ich schon weg.«
»Du rechnest mit einem Freispruch?« Richards
Lächeln wurde breiter. Er fand die Frau überhaupt nicht attraktiv,
trotzdem mochte er sie, einfach weil in ihren wachen schwarzen
Augen noch keine Resignation lag.
»Großer Gott nein!«, erwiderte Lizzie belustigt.
»Ich wurde vor zwei Jahren zu sus. per coll. verurteilt.«
»Zu was?«
»Zum Tod durch den Strang, Schätzchen. Sus. per
coll., schreibt der Kerl, der dich hängt, in sein offizielles Buch,
sobald du aufgehört hast zu strampeln.«
»Doch wie ich sehe, bist du noch am Leben.«
»Ich wurde vorletzte Weihnachten begnadigt. Zu
Deportation für sieben Jahre. Noch bin ich hier, aber
wahrscheinlich nicht mehr lange.«
»Wie es aussieht, gibt es kein Land, in das man
dich deportieren könnte, Lizzie. Obwohl in Bristol Afrika im
Gespräch war.«
»Du bist aus Bristol! Das dachte ich mir. Du
nuschelst nicht, sondern du näselst.«
»Willy ist auch aus Bristol. Wir kamen heute mit
einem Fuhrwerk.«
»Und du bist ein Gentleman«, sagte sie
verwundert.
»Nur so etwas Ähnliches, Lizzie.«
Sie zeigte mit dem Finger auf die Holzkiste. »Was
ist da drin?«
»Meine Habseligkeiten, aber wer weiß, wie lange
noch. Einige hier sehen zwar krank aus, aber die meisten wirken
viel munterer als die Häftlinge im Bristol Newgate.«
»Weil sie das neue Gefängnis bauen und wegen der
Gemüsebeete des alten Hubbard. Wer arbeitet, bekommt anständig zu
essen. Es ist billiger, Häftlinge arbeiten zu lassen, als Arbeiter
aus Gloucester anzuheuern - und ein neues Gesetz erlaubt das
offenbar. Wir Frauen arbeiten auch, meist im Garten.«
»Wer ist Hubbard?«
»Der Oberaufseher. Hauptsache, man wird nicht krank
- dann bekommt man nämlich nur noch eine Viertelration. Besonders
gefährlich ist das Fleckfieber. Und über Weihnachten sind acht von
dreiundachtzig Häftlingen Opfer der Pocken geworden.« Lizzie strich
über die Holzkiste. »Keine Bange, Schätzchen, ich pass auf deine
Kiste auf - für eine Gegenleistung.«
»Was für eine Gegenleistung?«, fragte Richard
argwöhnisch.
»Schutz. Ich verdiene mir mit Stopfen und Flicken
volle Essensrationen und außerdem ein paar Pennys. Ich biete
Dienste an, gegen die der Pfarrer nichts einzuwenden hat. Aber die
Männer sind
dauernd hinter mir her, besonders Isaac Rogers.« Sie deutete auf
einen großen kräftigen Burschen mit einem verschlagenen Gesicht.
»Ein übler Kerl!«
»Weswegen sitzt er?«
»Straßenraub. Brandy und Tee.«
»Und was hast du verbrochen?«
Lizzie kicherte und tippte an ihren Hut. »Ich habe
den tollsten Seidenhut der Welt geklaut. Ich kann nicht anders,
Richard - ich liebe Hüte!«
»Soll das heißen, man hat dich zum Tod verurteilt,
nur weil du einen Hut gestohlen hast?«
Die schwarzen Augen funkelten. Lizzie senkte den
Kopf. »Nicht nur einen. Ich sagte doch, ich liebe Hüte!«
»So sehr, dass du für sie Kopf und Kragen
riskierst, Lizzie?«
»An den Galgen dachte ich beim Klauen nicht.«
Richard streckte ihr zum zweiten Mal die Hand hin.
»Abgemacht, Mädel. Ich werde dich beschützen. Dafür erwarte ich von
dir, dass du meine Kiste mit deinem Leben verteidigst. Und versuche
nicht, die Schlösser zu knacken, Lizzie Lock! Ich schwöre dir, es
sind keine Hüte drin.« Er drängelte einige Häftlinge zur Seite und
stand auf. »Ich würde mich hier gern etwas umsehen, wenn ich in
diesem Gedränge überhaupt vom Fleck komme. Pass auf meine Kiste
auf.«
Seine Runde dauerte nur eine Viertelstunde. Von der
Gemeinschaftszelle gingen ein paar unbeleuchtete kleine Zellen ohne
Fenster ab, die leer waren, obwohl in zwei von ihnen Kloschüsseln
standen. Eine bröckelnde Treppe führte zu einer Gittertür hinauf,
die den Zugang zum oberen Stockwerk versperrte. Eine weitere
Gittertür trennte die Gemeinschaftszelle der Sträflinge von der der
Schuldner, die zehn auf zwanzig Fuß groß war, aber wie die
kleineren Zellen weder Fenster noch Lüftungslöcher hatte und
stockfinster gewesen wäre, hätten die Insassen nicht unterhalb der
Decke ein Stück Wand herausgebrochen, um etwas Licht und frische
Luft hereinzulassen. Dahinter lag der Hof. Obwohl die Schuldner
mehr Platz hatten, ging es ihnen schlechter als den Sträflingen. Da
sie nicht arbeiteten, mussten sie mit Viertelrationen auskommen.
Sie waren wie die Häftlinge im Bristol Newgate abgemagert und
apathisch und teilweise nur mit Lumpen bekleidet.
Bei seiner Rückkehr sah Richard, wie Lizzie Lock
seine Kiste energisch gegen Isaac Rogers, den Straßenräuber,
verteidigte.
»Nimm die Finger von Lizzie und meinen Sachen weg«,
sagte er barsch.
»Na los, zeig’s mir doch!«, knurrte Rogers und
baute sich kampfbereit vor ihm auf.
»Verschwinde lieber! Einen Dickwanst wie dich lege
ich mit einem Schlag um«, entgegnete Richard unbeeindruckt. »Fort
mit dir! Ich bin Richard Morgan, ein friedliebender Mensch, und
diese Dame steht unter meinem Schutz.« Er legte den Arm um Lizzie,
die sich schadenfroh grinsend an ihn lehnte. »Es gibt hier noch
andere Frauen. Belästige doch eine von denen.«
Rogers musterte Richard eingehend und beschloss,
sich lieber nicht mit ihm anzulegen. Hätte Morgan nur eine Spur von
Angst gezeigt, die Sache wäre anders ausgegangen, doch schien der
Neue keine Angst zu kennen. Er wirkte vollkommen ruhig und
beherrscht. Burschen wie der kämpften verbissen wie Katzen. Rogers
zuckte also nur die Achseln und schlurfte davon. Richard hockte
sich auf seine Kiste, Lizzie setzte sich auf sein Knie.
»Wann bekommen wir etwas zu essen?«, fragte
Richard. Eine gewiefte Frau, diese Lizzie! Sie würde seine
Ritterlichkeit ganz gewiss nicht missverstehen. Ein Beschützer, der
sie nicht begehrte, kam ihr sehr gelegen.
»Bald ist Mittag«, antwortete sie. »Weil heute
Sonntag ist, bekommen wir frisches Brot, Fleisch, ein Stück Käse,
Rüben und Kohl. Nicht Butter oder Marmelade, aber genug zu essen.
Die Sträflinge haben ihre eigene Küche, dort drüben.« Sie deutete
zum anderen Ende des Raumes. »Der Koch gibt jedem ein Holzbrett und
einen Zinnbecher. Zum Abendessen gibt es dann noch mal Brot,
Dünnbier und Krautsuppe.«
»Gibt es einen Schankraum?«
»Hier drinnen? Du besäufst dich wohl gerne,
Schätzchen.«
»Ich trinke nichts außer Dünnbier oder Wasser. Ich
wollte es nur wissen.«
»Simmons, ein Wärter - sein Spitzname ist Selig -
verkauft Schnaps für einen Penny. Dann musst du dich vor Isaac in
Acht nehmen. Ike ist unberechenbar, wenn er getrunken hat.«
»Betrunkene Männer sind ungeschickt. Ich hatte mein
Leben lang mit ihnen zu tun.«
Ende Februar wusste Richard alles über das
Gefängnis von Gloucester und seine Mithäftlinge, mit denen er auf
engstem Raum zusammenlebte. Vierzehn von ihnen warteten wie er auf
ihre Verhandlung während der Gerichtstage in der Fastenzeit. Die
Übrigen waren bereits abgeurteilt, größtenteils zur Deportation.
Unter diesen vierzehn befanden sich drei Frauen - Mary Harding,
genannt Maisie, die der Hehlerei bezichtigt wurde, Betty Mason, der
man vorwarf, aus einem Haus in Henbury eine Geldbörse mit fünfzehn
Guineen gestohlen zu haben, und Bess Parker, die in North Nibley in
ein Haus eingebrochen und zwei Leinenhemden entwendet haben sollte.
Bess Parker hatte inzwischen ein festes Verhältnis mit einem
Häftling namens Ned Pugh, der seit 1783 einsaß. Betty Mason hatte
einem Wärter namens Johnny den Kopf verdreht. Beide Frauen waren
hochschwanger.
Wie schön wir es hier haben!, dachte Richard
bitter. Eine Gemeinschaftszelle, in der man kaum aufrecht stehen
konnte, und für die Männer ein vor Schmutz starrender Schlafsaal,
zu dem einem erst ein Wärter die Tür über der Treppe aufschließen
musste. Inzwischen war er allerdings einigermaßen abgebrüht. Er
entkleidete und wusch sich vor einer Pumpe in einer fensterlosen
Zelle, ohne auf die Frauen zu achten, wusch mit stoischer Ruhe die
Lappen aus, mit denen er sich den Hintern abwischte, und filterte
weiterhin sein Trinkwasser, unbeirrt von über drei Dutzend
Augenpaaren, die ihn und seinen Stein skeptisch beobachteten. Er
hatte auch einen gewissen Egoismus entwickelt, denn er bot weder
Lizzie noch Willy gefiltertes Wasser an. Der Stein brauchte eine
ganze Stunde, um zwei Pints zu produzieren. Auch die Seife und die
Lappen teilte er nicht. Die wenigen Pennys, die er ausgab, gingen
an Maisie, die ihm dafür seine Unterhosen, Hemden und Socken wusch.
Seine übrigen Kleidungsstücke stanken nach Schweiß.
Maisie, die Wäscherin, war die einzige Frau, die
keinen Beschützer hatte und nichts von den Männern verlangte, denen
sie ihre Gunst gewährte. Zwei oder drei andere Frauen waren für
einen Becher Gin zu haben. Wenn die Begierde ein Paar übermannte
und es kein freies Plätzchen auf dem Fußboden fand, stellte es sich
einfach an die Wand. Es war kein besonders erotischer Akt, da beide
die Kleider anbehielten und Neugierige bestenfalls einen flüchtigen
Blick auf ein entblößtes Glied und einen behaarten Schamhügel
erhaschten. Zu Richards Erstaunen trieben die Paare es nie in einer
der angrenzenden kleinen Zellen. Anscheinend graute allen vor der
Dunkelheit.
Anfang März wurden Bess Parker und Betty Mason zur
Entbindung in den Frauenschlafsaal getragen, nachdem ihnen in der
Gemeinschaftszelle das Fruchtwasser abgegangen war. Zwei andere
Frauen stillten bereits Babys, die im Gefängnis zur Welt gekommen
waren, und Maisie hatte ein kleines Kind ins Gefängnis mitgebracht.
Die meisten Säuglinge starben bei oder kurz nach der Geburt. Wenn
eines überlebte, war das ein Wunder.
Zum Glück gab es wenigstens genug Arbeit. Richard
wurde dazu eingeteilt, Kalksteinblöcke vom Anlegeplatz zum neuen
Gefängnis zu schleppen. So kam er an die frische Luft und konnte
sich draußen umsehen. Der kleine Hafen von Gloucester lag im Norden
des Burggeländes am Ufer des Severn, der bis dorthin für kleine
Briggs und große Flussboote befahrbar war. Es gab zwei Gießereien
in der Stadt, von denen die eine Kirchenglocken und die andere
kleine Eisenartikel für den lokalen Markt herstellte. Der Rauch,
der aus ihren Schloten aufstieg, reichte nicht aus, um die Luft zu
verpesten. Richard empfand sie als sauber und frisch. Der Severn
sah ebenfalls sauber aus, auch wenn das Auftreten von Fleckfieber
unter den Gefangenen vermuten ließ, dass die Wasserquelle des
Gefängnisses verseucht war. Vielleicht wurde die Krankheit aber
auch durch Flöhe oder Läuse übertragen. Richard bekämpfte diese
Parasiten, indem er seinen Körper und seine Kleider ständig nach
ihnen absuchte und seine verdreckte Pritsche mit Teeröl einrieb.
Wie er sich danach sehnte, sauber zu sein, in einer sauberen
Umgebung zu leben und nach der Arbeit seine wohlverdiente Ruhe zu
haben!
Wenige Tage nach Richards und Willys Ankunft war
wieder das Fleckfieber ausgebrochen und hatte die Zahl der
Sträflinge von vierzig auf zwanzig reduziert. Da einige wenige
Häftlinge neu dazukamen, waren es inzwischen wieder vierzehn, die
auf ihre Verhandlung warteten.
Richard hatte die anderen Männer im Lauf der Zeit
und durch die gemeinsame Arbeit besser kennen gelernt. Mit drei von
ihnen - William Whiting, James Price und Joseph Long - hatte er
sich sogar angefreundet. Sie sollten wie er zur Fastenzeit vor
Gericht gestellt werden.
Whiting wurde beschuldigt, ausgerechnet aus dem
Stall der Herberge in Almondsbury, in der Richard und Willy
unterwegs übernachtet hatten, einen Hammel gestohlen zu
haben.
»Blödsinn!«, sagte Whiting. Er war ein Spaßvogel,
bei dem man nie wusste, ob man ihm glauben sollte. »Warum sollte
ausgerechnet ich ein Schaf stehlen? Ich wollte es doch nur ficken.
Ich hätte es am nächsten Morgen in den Stall zurückgebracht, und
niemand hätte was gemerkt. Aber leider schlief der Schäfer
nicht.«
»War es denn so dringend, Bill?«, fragte Richard,
ohne zu lächeln.
»Nicht dringend, aber - ich ficke einfach gern, und
der Arsch eines Schafs fühlt sich fast so an wie die Möse einer
Frau«, erwiderte Whiting vergnügt. »Jedenfalls riecht er genauso
und ist sogar noch ein bisschen enger. Außerdem brauchst du mit
einem Schaf nicht lange zu diskutieren. Du steckst einfach seine
Hinterbeine in deine Stiefel und legst los.«
»Ob es nun Sodomie oder Viehdiebstahl war, ist doch
ganz egal, Bill. Dir droht der Strick. Warum musste es gerade
Almondsbury sein? Acht Meilen weiter, in Bristol, hättest du
tausend Huren beiderlei Geschlechts finden können - mit denen
brauchst du auch nicht zu diskutieren.«
»Ich konnte einfach nicht länger warten. Das Schaf
hatte ein so liebes Gesicht - es erinnerte mich an einen Pfarrer,
den ich kannte.«
Richard gab auf.
Jimmy Price war ein Bauer aus Somerset mit einer
Schwäche für
Rum. Er war mit einem Kameraden in drei Häuser in
Westburyupon-Trim eingestiegen und hatte große Stücke Rind-,
Schweineund Hammelfleisch, drei Hüte, zwei Mäntel, eine bestickte
Weste, Reitstiefel, eine Muskete und zwei grüne Seidenschirme
gestohlen. Sein Komplize, den er Peter nannte, war inzwischen am
Fleckfieber gestorben. Jimmy empfand keine Reue, weil er sich
keiner Schuld bewusst war. »Ich wollte das nicht - ich kann mich
auch an nichts mehr erinnern«, erklärte er. »Was soll ich mit zwei
grünen Seidenschirmen anfangen? In Westbury kann man die doch
nirgends verkaufen. Hunger hatte ich auch nicht, und keins der
Kleidungsstücke hätte mir oder Peter gepasst. Und Schießpulver oder
Munition für die Muskete habe ich ja gar nicht mitgenommen.«
Der Dritte des Trios war viel reumütiger. Richard
bedauerte ihn zutiefst. Der willensschwache, etwas einfältige Joey
Long hatte in Slimbridge eine silberne Uhr gestohlen. »Ich war
betrunken und die Uhr gefiel mir so gut«, sagte er nur.
Natürlich wurde auch Richard nach dem Grund seiner
Verhaftung gefragt. In der Gemeinschaftszelle der Sträflinge waren
vor allem Diebe versammelt. Er gab deshalb immer nur dieselbe kurze
Erklärung ab: »Erpressung und schwerer Diebstahl. Ein Schuldschein
über fünfhundert Pfund und eine Uhr aus Stahl.« Diese Antwort
verschaffte ihm großen Respekt, selbst bei Isaac Rogers.
»Ein vielseitiger Begriff, schwerer Diebstahl«,
sagte Richard zu Bill Whiting, während sie Kalksteinblöcke zur
Baustelle schleppten. Whiting konnte lesen und schreiben und war
intelligent. »Bei mir war es eine Uhr aus Stahl und bei der armen
Bess Parker waren es einfache Leinenhemden, die höchstens sechs
Pennys wert sind, bei Rogers dagegen vier Gallonen Brandy und
fünfundvierzig Kisten mit jeweils über hundert Pfund bestem
Hyson-Tee, der im Laden ein Pfund pro Pfund kostet - über 5000
Pfund Beute. Trotzdem werden wir alle wegen schweren Diebstahls
angeklagt. Das ist doch absurd.«
»Rogers wird hängen«, lautete Whitings
Kommentar.
»Lizzie bekam dieselbe Strafe, weil sie drei Hüte
gestohlen hat.«
»Sie ist eine Wiederholungstäterin«, sagte Whiting
lachend.
»Sie hätte sich bessern müssen, stattdessen ist sie rückfällig
geworden. Die meisten von uns waren betrunken. Der Alkohol ist
schuld.«
Am Montag, dem 21. März, trafen die beiden Vettern
James mit einer Mietkutsche in Gloucester ein. Da sie in der Stadt
selbst keine anständige Unterkunft fanden, stiegen sie schließlich
im Harvest Moon ab, in dessen Stall Richard und Willy die letzte
Nacht vor ihrer Einlieferung ins Gefängnis von Gloucester verbracht
hatten.
Die Vettern erwarteten wie seinerzeit Richard, dass
die Verhältnisse in diesem Gefängnis sehr viel besser sein würden
als im vorherigen. Ein übleres Verlies als das Bristol Newgate
konnten sie sich gar nicht vorstellen. Entsprechend groß war ihr
Entsetzen, als sie die Gemeinschaftszelle für die Sträflinge
betraten.
»Zur Zeit ist es hier eigentlich ganz erträglich«,
sagte Richard überrascht. »Das Fleckfieber hat für Platz gesorgt.«
Er hatte die beiden flüchtig auf den Mund geküsst, wollte sich
jedoch nicht von ihnen umarmen lassen. »Ich stinke«, erklärte
er.
Nach dem Gottesdienst am Sonntag hatten plötzlich
ein Tisch und Bänke in der Zelle gestanden. Der Oberaufseher war
gewarnt worden: Die Richter des Bezirksfinanzgerichts wünschten
sein Gefängnis womöglich zu besichtigen. Das Parlament beschäftigte
sich immer noch eingehend mit John Howards Bericht über die
Haftbedingungen von Schuldnern in englischen Gefängnissen.
Daraufhin hatte der Aufseher getan, was er konnte.
»Wie geht es Vater?«, fragte Richard als
Erstes.
»Schon besser, aber noch nicht gut genug für die
Reise hierher«, sagte Vetter James, der Apotheker. »Er wünscht dir
alles Gute und Gottes Segen.«
»Und Mutter?«
»Gut. Auch sie lässt dich herzlich grüßen und betet
für dich.«
Die Vettern staunten über Richards gutes Aussehen.
Sein Mantel, seine Weste und seine Hosen mochten zerschlissen sein
und stinken, aber sein Hemd, seine Socken und die Lappen, die er in
die Fußfesseln gestopft hatte, waren sauber. Die Haare trug er
immer noch kurz, graue Haare hatte er keine. Seine Fingernägel
waren gepflegt, sein Gesicht frisch rasiert und faltenlos. Nur sein
abwesender, strenger Blick machte den Vettern ein wenig
Angst.
»Habt ihr inzwischen etwas von William Henry
gehört?«
»Überhaupt nichts, Richard.«
»Dann ist das alles bedeutungslos.«
»Aber nein, keineswegs!«, widersprach Vetter James,
der Kirchenmann, energisch. »Wir haben dir einen Anwalt besorgt,
leider nicht aus Bristol - Fremde sind bei den Bezirksgerichten
nicht gern gesehen. Vetter Henry der Anwalt hat uns beauftragt,
einen in Gloucester bekannten Kollegen ausfindig zu machen. Es
werden zwei Richter anwesend sein, Sir James Eyre vom Königlichen
Finanzgericht und Sir George Nares vom Königlichen
Gerichtshof.«
»Habt ihr Ceely Trevillian gesehen?«
»Nein«, sagte Vetter James, der Apotheker, »aber
ich hörte, dass er sich im besten Gasthaus der Stadt einquartiert
hat. Wie mir erzählt wurde, sind die Gerichtstage für Gloucester
ein großes Ereignis, das gebührend gefeiert wird, zumindest an dem
Tag, an dem alle durch die Stadt zum Rathaus marschieren, das
gleichzeitig das Gericht ist. Die zwei Richter wohnen in besonderen
Unterkünften in der Nähe des Rathauses, doch die meisten der
Gerichtsdiener, Barrister und Protokollführer steigen in
Gasthäusern ab. Morgen tagt das Große Geschworenengericht, aber das
ist lediglich eine alte Sitte. Dein Anwalt sagt, dass ihr alle
drankommt.«
»Wer ist mein Anwalt?«
»James Hyde aus der Chancery Lane in London, ein
Barrister, der mit den Richtern Eyre und Nares den Gerichtsbezirk
Oxford bereist.«
»Wann sucht er mich auf?«
»Gar nicht, Richard. Seine Arbeit beschränkt sich
auf den Gerichtssaal. Vergiss nicht, dass er deine Version der
Geschichte nicht vortragen darf. Er hört sich die Aussagen der
Zeugen an, in der Hoffnung, Schwachpunkte darin zu finden, die er
im Kreuzverhör aufzeigen kann. Da er die Zeugen nicht kennt und
nicht weiß, was sie sagen werden, hätte es keinen Sinn, dich
aufzusuchen. Wir
haben ihm den Sachverhalt in allen Einzelheiten dargelegt. Er ist
sehr erfahren und tüchtig.«
»Was verlangt er?«
»Zwanzig Guineen.«
»Und ihr habt ihn bereits bezahlt?«
»Ja.«
Das Ganze ist eine Farce, dachte Richard, rang sich
jedoch ein Lächeln ab und drückte den beiden Vettern
freundschaftlich den Arm. »Ihr seid so gut zu mir. Ich kann euch
gar nicht sagen, wie sehr ich euch für eure Hilfe danke.«
»Du gehörst doch zur Familie, Richard«, sagte
Vetter James, der Kirchenmann, etwas verwundert.
»Ich habe dir einen neuen Anzug und ein neues Paar
Schuhe mitgebracht«, verkündete James, der Apotheker. »Und eine
Perücke. Du kannst nicht mit geschorenem Schädel vor Gericht
erscheinen. Die Frauen - deine Mutter, Arm und Elizabeth - haben
mir eine ganze Kiste voller Unterhosen, Hemden, Strümpfe und Lappen
für dich mitgegeben.«
Richard schwieg. Seine Familie schien mit dem
Schlimmsten zu rechnen, auch wenn sie das Beste hoffte. Denn wenn
er in zwei Tagen freigesprochen wurde, wozu brauchte er dann eine
ganze Kiste mit neuen Sachen?
Am folgenden Tag feierte Gloucester den Beginn der
Gerichtstage. Beim Steineschleppen hörte Richard deutlich das
Schmettern von Trompeten und Hörnern, Trommelwirbel, begeistertes
Klatschen, die Musik eines Spielmannszuges und den sonoren Singsang
von Stimmen, die in fließendem Latein Reden hielten. Ganz
Gloucester war in Feststimmung.
Die Stimmung im Gefängnis war gedrückt. Richard
konnte den sechzehn anderen Angeklagten - die Zahl war wieder
gestiegen - von den Gesichtern ablesen, dass sie einen Schuldspruch
erwarteten. Außer ihm konnten sich nur zwei einen Anwalt leisten:
Bill Whiting und Isaac Rogers. Ihr Verteidiger war ebenfalls James
Hyde, was Richard vermuten ließ, dass gar kein anderer Anwalt zur
Wahl stand.
»Hofft denn keiner, dass er freikommt?«, fragte
Richard Lizzie.
Seine Freundin, die schon drei Verhandlungen vor
dem Bezirksgericht hinter sich hatte, sah ihn verständnislos an.
»Wir kommen nicht frei, Richard. Wie sollte das denn gehen? Der
Staatsanwalt und die Zeugen liefern die Beweise, und die
Geschworenen glauben, was sie hören. Fast alle von uns sind
schuldig, obwohl ich auch einige kenne, die Opfer von Verleumdungen
wurden. Trunkenheit ist keine Entschuldigung, und wenn wir
hochgestellte Freunde hätten, säßen wir nicht in diesem
Gefängnis.«
»Gibt es überhaupt keine Freisprüche?«
»Höchstens wenn viele Fälle verhandelt werden.«
Lizzie saß auf seinem Knie und strich ihm über die Haare wie einem
Kind. »Mach dir keine Hoffnungen, Schätzchen. Dass du als
Angeklagter vor ihnen stehst, reicht den Geschworenen schon für
eine Verurteilung. Aber setz bitte deine Perücke auf.«
An Händen und Füßen gefesselt schlurfte Richard am
frühen Morgen des 23. März aus der Gemeinschaftszelle. Er trug
seinen neuen Anzug - eine einfache schwarze Jacke, eine schwarze
Weste und eine schwarze Hose - und neue schwarze Schuhe. Hand- und
Fußfesseln waren mit sauberen Lappen gepolstert. Nur die Perücke
hatte er nicht auf; das Ding hatte sich zu scheußlich angefühlt.
Sieben andere brachen mit ihm auf: Willy Insell, Betty Mason, Bess
Parker, Jimmy Price, Joey Long, Bill Whiting und Sam Day, ein
Siebzehnjähriger aus Dursley, der beschuldigt wurde, einem Weber
zwei Pfund Garn gestohlen zu haben.
Die Angeklagten wurden durch eine Hintertür ins
Rathaus gebracht und hastig eine Treppe in den Keller
hinuntergeführt, ohne einen Blick in den Saal werfen zu können, in
dem zwar nur mit Worten gefochten wurde, doch womöglich mit
tödlichen Folgen.
»Wie lange dauert das denn?«, fragte Bess Parker
Richard flüsternd und mit ängstlich aufgerissenen Augen. Ihr Kind,
ein Junge, war zu ihrem großen Kummer zwei Tage nach der Geburt am
Fleckfieber gestorben.
»Wahrscheinlich nicht lange. Das Gericht arbeitet
höchstens sechs Stunden am Tag und wir sind zu acht. Sie müssen
ihre Urteile so schnell produzieren wie ein Metzger seine
Würstchen.«
»Ich habe solche Angst!«, heulte Betty Mason. Sie
trauerte immer noch um ihr tot geborenes Töchterchen.
Jimmy Price wurde als Erster abgeholt. Er war noch
nicht zurück, als Bess Parker an die Reihe kam. Erst als auch Betty
Mason nicht mehr erschien, begriffen die anderen, dass die
Angeklagten nach der Verhandlung offenbar direkt ins Gefängnis
zurückgebracht wurden.
Dann ging Sam Day. Jetzt warteten nur noch Richard,
Willy, Joey Long und Bill Whiting. Einige Stunden vergingen.
»Die Herren Richter machen Mittagspause«, sagte
Whiting mit unverwüstlichem Humor. Er leckte sich die Lippen.
»Gänsebraten, Rinderbraten, Hammelbraten, Flammeris, Kuchen,
Torten, Pasteten und Puddings - wir haben Glück, Richard! Die
Bäuche der Herren Richter werden voll sein und ihre Köpfe von
Bordeaux und Portwein benebelt.«
»Ich glaube nicht, dass das gut ist«, sagte
Richard, dem nicht nach Scherzen zu Mute war. »Die Gicht wird ihnen
zusetzen und die Verdauung ebenfalls.«
»Du bist ein schöner Tröster in der Not!«
Richard und Willy wurden als Letzte hinaufgebracht,
der Uhr an der Wand des Gerichtssaals zufolge um halb vier. Die
Treppe führte direkt zur Anklagebank, nur dass dort keine Bank
stand und die Angeklagten stehen mussten. Das helle Licht blendete
sie. Ein mit einer Hellebarde bewaffneter Mann in mittelalterlicher
Aufmachung bewachte sie mit teilnahmsloser Miene. Der Raum war
nicht sonderlich groß, hatte aber auf halber Höhe
Zuschauergalerien. Die Leute unten im Saal schienen alle irgendwie
am Prozess beteiligt. Die beiden Richter trugen pelzbesetzte
karmesinrote Roben und Allongeperücken und thronten auf einem hohen
Podest. Um sie und unterhalb von ihnen saßen weitere
Gerichtsbeamte, andere Amtspersonen liefen im Saal umher. Richard
wusste nicht, wer von ihnen sein Anwalt James Hyde war. Die zwölf
Geschworenen standen in einer Art Pferch und traten verstohlen von
einem Fuß auf den anderen, um ihre müden Beine zu entlasten.
Richard wusste, dass die freien Männer vom Tweed bis zum Kanal das
Amt des Geschworenen schon deshalb nur ungern ausübten, weil man im
Gerichtssaal
den ganzen Tag stehen musste und für den Verdienstausfall nicht
entschädigt wurde. Das verleitete die Geschworenen dazu, ihre
Aufgabe so schnell wie möglich hinter sich zu bringen.
Ceely Trevillian saß neben einem streng
dreinblickenden Mann, an dessen Tracht zu erkennen war, dass er
ebenfalls in dem Schauspiel mitwirkte - er trug eine Robe, eine
Perücke mit nach hinten frisierten Haaren und verschiedene Spangen
und Abzeichen. Ceely sah ganz anders aus, als Richard ihn kannte.
Er trug einen schlichten Anzug aus feinstem, schwarzem Tuch, eine
konservative Perücke und schwarze Glacéhandschuhe und hatte die
Miene eines liebenswürdigen Trottels aufgesetzt. Der Ceely, der im
Rathaus von Gloucester saß, hatte nichts mehr mit dem affektierten
Gockel und dreisten Steuerbetrüger von einst gemein. Er war ganz
das naive Opfer eines Verbrechens. Bei Richards Erscheinen war er
mit einem ängstlichen Aufschrei näher an seinen Anwalt gerückt.
Danach vermied er es, in Richards Richtung zu blicken. Vor Gericht
war zwar Ceely der Ankläger, doch überließ er es seinem Anwalt, ihn
zu vertreten. Dieser wandte sich nun an die Geschworenen, um ihnen
das abscheuliche Verbrechen zu schildern, das die beiden
Angeklagten begangen hätten. Richard legte die gefesselten Hände
auf das Geländer und stellte sich breitbeinig auf die alten Dielen.
Er hörte, wie der Anklagevertreter die Tugenden Mr Trevillians
pries und von den Dummheiten sprach, die der harmlose Mann begangen
habe, und er begriff, dass heute in Gloucester keine Wunder
geschehen würden.
Dann erhielt Ceely das Wort. Er zitterte vor
Aufregung, schluchzte und schluckte, machte lange Pausen, um die
richtigen Worte zu finden, verdrehte die Augen und schlug immer
wieder die Hände vors Gesicht. Endlich war er mit seiner
Darstellung fertig. Die Geschworenen, von seiner geistigen Armut
nicht weniger beeindruckt als von seinem materiellen Reichtum,
schienen fest davon überzeugt, dass er das Opfer einer lasterhaften
Frau und ihres wütenden Ehemannes war. Das hieß allerdings noch
nicht unbedingt, dass er vorsätzlich betrogen und tatsächlich
erpresst worden war, auch wenn er sich genötigt gesehen hatte,
einen Schuldschein über fünfhundert Pfund auszuschreiben.
Den Beweis dafür sollten die beiden Zeugen
erbringen - die Frau des Friseurs Joice, die an der Wand gelauscht
hatte, und Mr Dangerfield aus dem Haus auf der anderen Seite, der
durch einen Spalt in der Wand gesehen hatte. Mrs Joice verfügte
offenbar über ein phänomenales Gehör, und Mr Dangerfield wollte
durch eine Ritze von nur einem Viertelzoll Breite einen Blickwinkel
von 360 Grad gehabt haben! Mrs Joice hatte Sätze wie »Du Hure, wo
ist denn deine Kerze?« und »Ich schlag dir den Schädel ein,
Schurke!« gehört. Mr Dangerfield hatte gesehen, wie Morgan und
Insell Ceely mit einem Hammer bedroht und ihn gezwungen hatten, an
einem Schreibtisch etwas zu schreiben.
Mr James Hyde, der Richard vertrat, war ein hoch
gewachsener, hagerer Mann, der große Ähnlichkeit mit einem Raben
hatte. Bei seinem geschickt geführten Kreuzverhör wollte er vor
allem darauf hinaus, dass das dreigeteilte Haus in der
unmittelbaren Nachbarschaft des Jakobsbrunnens ein Nest von
Klatschmäulern beherbergte, die in Wirklichkeit kaum etwas gesehen
und gehört hatten und stattdessen Geschichten erfanden, die auf dem
beruhten, was Ceely ihnen erzählt hatte. Die Dangerfields hatten
Ceely nach dem Streit bei sich aufgenommen, und bei ihnen hielt
sich zufällig auch Mrs Joice auf.
In einem Punkt konnte Ceely sich keinen Glauben
verschaffen. Beide Zeugen sagten aus, Richard habe durch die Tür
geschrien, er werde Mr Trevillian die Uhr zurückgeben, sobald er
Genugtuung erhalten habe. Das klang selbst für die Geschworenen
sehr nach einem betrogenen Ehemann.
Das ist doch lachhaft!, dachte Richard, als die
Zeugen seinen Besuch im Black Horse, wo er etwas zu trinken geholt
hatte, auf den darauf folgenden Tag verlegten. Dürften Willy und
ich für uns selbst sprechen, dann könnten wir den Beweis erbringen,
dass wir zu dieser Zeit beide im Hof des Lamb Inn waren. Es geht
nur eine Kutsche nach Bath, und zwar um die Mittagszeit. Selbst
Ceely sagt, dass ich nach Bath wollte. Trotzdem behaupten jetzt
alle, ich sei in Clifton gewesen!
Mrs Joice wollte außerdem gehört haben, dass
Richard und Annemarie im Hausflur Annemaries Verabredung mit Ceely
planten
- als ob jemand mit kriminellen Absichten solche Gespräche
ausgerechnet an einer dünnen Trennwand führen würde. Das Wort
»planen« freilich ließ Richter und Geschworene gleichermaßen
aufhorchen.
Doch so viel Mühe der Anklagevertreter sich auch
gab, die Geschworenen waren immer noch unschlüssig, ob die Tat
geplant oder von einem gehörnten Ehemann im Affekt begangen worden
war. Ein schwacher Hoffnungsstrahl begann Richards düstere Stimmung
aufzuhellen.
Vetter James, der Apotheker, und Vetter James, der
Kirchenmann, wurden als Leumundszeugen für Richard aufgerufen. Auch
wenn der Anklagevertreter wiederholt auf ihre engen
verwandtschaftlichen Beziehungen zum Angeklagten verwies, machten
die beiden grundsoliden Männer doch unübersehbar tiefen Eindruck
auf die Geschworenen. Unglücklicherweise zog sich Richards
Verhandlung, da er von einem Anwalt verteidigt wurde, nun schon
fast eine Stunde hin, und die Geschworenen konnten kaum noch
stehen. Keiner hatte am Ende eines langen Gerichtstages noch Lust
auf ein ewiges Hin und Her, auch die Richter nicht.
Mr Hyde rief Robert Jones als Leumundszeugen
auf.
Richard zuckte zusammen. Robert Jones sagte für ihn
aus? Der Schleimer, der William Thorne die ganze Zeit hofierte und
ihm von Willys Besuch beim Steueramt erzählt hatte?
»Kennen Sie die Angeklagten, Mr Jones?«, fragte Mr
Hyde.
»Jawohl, beide.«
»Sind sie ehrbare und gesetzestreue Männer, Mr
Jones?«
»Jawohl, in jeder Beziehung.«
»Sind sie, soweit Sie es beurteilen können, je mit
dem Gesetz in Konflikt gekommen?«
»Nein, nie.«
»Wissen Sie etwas über die Vorfälle in der Nähe des
Jakobsbrunnens am 30. September letzten Jahres - abgesehen von dem
Klatsch, der hier verbreitet wurde?«
»Jawohl, Sir.«
»Worauf beziehen sich Ihre Informationen?«
»Wie?«
»Was wissen Sie, Mr Jones?«
»Also, erstens ist Mrs Joice nicht die Frau von Mr
Joice, sondern nur eine Nutte, die bei Mr Joice eingezogen
ist.«
»Mrs Joice steht nicht unter Anklage. Beschränken
Sie sich bitte auf die besagten Vorfälle.«
»Ich habe mit Mrs Joice und mit Mr Dangerfield
gesprochen. Mr Dangerfield führte mich in das Zimmer mit der Ritze
in der Wand, sagte aber, er hätte nichts hören können und auch kaum
etwas gesehen. Mrs Joice sagte, sie hätte überhaupt nichts gehört
oder gesehen.«
Der Anklagevertreter runzelte die Stirn. Mr
Trevillian, der offizielle Ankläger, blickte drein, als sei das
alles viel zu hoch für seinen so jämmerlich beschränkten
Verstand.
Der Anklagevertreter nahm Mr Jones ins
Kreuzverhör.
»Wann fand Ihr Gespräch mit Mrs Joice und Mr
Dangerfield statt, Mr Jones? Seien Sie bitte präzise.«
»Wie?«
»Seien Sie genau.«
»Ach so, ja. Also das war am nächsten Tag, als ich
Willy - das heißt Mr Insell, den Angeklagten - besuchte. Er
erzählte mir, was passiert war, und ich fragte die Nachbarn, was
sie gesehen und gehört hätten. Mrs Joice - die wirklich nicht die
Frau von Mr Joice ist - meinte, sie hätte nichts gesehen und
gehört. Mr Dangerfield zeigte mir das Zimmer mit der Ritze, aber
als ich durchschaute, konnte ich nichts erkennen.«
Mrs Joice wurde erneut in den Zeugenstand gerufen
und erklärte, natürlich habe sie bestritten, nebenan etwas gesehen
oder gehört zu haben - sie lasse sich doch nicht von Schnüfflern
ausfragen!
Auch Mr Dangerfield wurde noch einmal befragt und
sagte, er habe nie behauptet, etwas gehört zu haben, er habe nur
etwas gesehen.
»Rufen Sie Mr James Hyde in den Zeugenstand!«, rief
der Anklagevertreter. Richards Anwalt schreckte hoch. »Nicht Sie,
verehrter Herr Kollege. Ich meine Mr James Hyde, den Hausdiener von
Mr Trevillians Mutter.«
Dieser James Hyde war ein kleiner rotblonder Mann
in den Fünfzigern mit der zurückhaltenden, leicht unterwürfigen Art
eines älteren Hausangestellten. Er gab an, Mr Dangerfield habe ihn
am ersten Oktober besucht und gesagt, ein gewisser Robert Jones
könne ihm für die Summe von fünf Guineen beweisen, dass Morgan und
seine Frau geplant hätten, Mr Trevillian auszunehmen.
Die Geschworenen wurden unruhig. Sir James Eyre
setzte sich aufrechter hin.
»Er sprach von einem Plan, Mr Hyde?«
»Ja, Sir.«
»War Mr Insell an dem Plan auch beteiligt?«
»Ihn erwähnte Mr Dangerfield nicht, nur Morgan und
seine Frau.«
Nochmals befragt, bestätigte Mr Dangerfield, dass
er seinen Freund Mr James Hyde in Mrs Maurice Trevillians Haus
besucht und ihm von Robert Jones’ Angebot erzählt habe.
Daraufhin wurde auch Mr Robert Jones noch einmal in
den Zeugenstand gerufen. Er gab zu, das Angebot gemacht zu haben.
Er habe gewusst, dass Mr Dangerfield freundschaftliche Beziehungen
zum Personal der Trevillians habe, und da er etwas knapp bei Kasse
gewesen sei …
»Und der Plan Morgans und seiner Frau, Mr
Trevillian auszunehmen? Gab es ihn?«, fragte der
Anklagevertreter.
»Ja sicher«, erwiderte Robert Jones munter. »Aber
Willy hatte nichts damit zu tun, das kann ich beschwören.«
»Sie stehen bereits unter Eid, Mr Jones.«
»Ach ja, natürlich!«
»Wie erfuhren Sie von dem Plan?«
»Mrs Morgan erzählte mir davon.«
Wieder horchten die Geschworenen und Richter
auf.
»Wann?«
»Um die Mittagszeit oder besser am frühen
Nachmittag des Tages, an dem er ausgeführt wurde. Ich wollte Willy
besuchen. Er war nicht da, dafür lief mir Mrs Morgan über den Weg.
Sie sagte, sie erwarte Mr Trevillian, er würde allerdings erst
später kommen,
wenn Morgan nach Bath gefahren sei. Sie war richtig gut gelaunt.
Sie sagte, wenn Mr Trevillian käme, würde Morgan über ihn
herfallen, weil Mr Trevillian ein kleines Techtelmechtel mit ihr
hätte - wie eben ein Ehemann, der gerade gemerkt hat, dass er
Hörner trägt. Sie sagte, ihr Mann meine, sie könnten aus dem
lächerlichen Fatzke fünfhundert Pfund rausholen. Der sei so
dämlich.«
Sir James Eyre sah zur Anklagebank. »Morgan, was
haben Sie zu dem gemeinsam mit Ihrer Frau ausgeheckten Plan zu
sagen?«
»Es gab keinen solchen Plan, Euer Ehren«, beteuerte
Richard. »Ich bin unschuldig.«
Der Richter zog die Mundwinkel nach unten. »Wo ist
Mrs Morgan?«, fragte er. Die Frage schien an alle Anwesenden
gerichtet. »Sie sollte als Angeklagte dort neben Ihrem Mann stehen,
so viel ist klar.« Er warf Richard einen grimmigen Blick zu. »Wo
ist Ihre Frau, Morgan?«
»Ich weiß es nicht, Euer Ehren«, antwortete Richard
mit fester Stimme. »Ich habe sie seit jenem Tag nicht mehr
gesehen.«
Der Anklagevertreter kam noch einmal ausführlich
auf den angeblichen Plan zu sprechen, ohne sich zur Abwesenheit der
Komplizin Mrs Morgan zu äußern. Dann wandte Sir James Eyre sich an
die Geschworenen. Auch er maß dem Plan große Bedeutung bei.
Die zwölf ehrbaren Männer sahen einander
erleichtert an. Jetzt konnten sie gleich heimgehen. Es war ein
langer, anstrengender Tag gewesen. In Gloucester gab es bei weitem
nicht genug freie Männer, um für jede Verhandlung eine andere Jury
einzuberufen. Eine Beratung fand nicht statt. Richard Morgan wurde
von dem Vorwurf freigesprochen, eine Uhr gestohlen zu haben, doch
im Hinblick auf die Erpressung des schweren Diebstahls für schuldig
erklärt. William Insell wurde in allen Anklagepunkten
freigesprochen.
Sir James Eyre fixierte die Angeklagten. Willy
Insell war weinend auf die Knie gesunken, der kahl geschorene
Richard Morgan - sah er nicht aus wie ein Schurke? - stand
regungslos da und starrte auf einen fernen Punkt weit jenseits des
Rathauses von Gloucester.
»Richard Morgan, hiermit verurteile ich Sie zu
sieben Jahren Deportation nach Afrika. William Insell, Sie sind
frei.« Der Richter ließ seinen Hammer niedersausen, um Sir George
Nares zu wecken. »Das Gericht tritt morgen Vormittag um zehn Uhr
wieder zusammen. Gott schütze den König.«
»Gott schütze den König«, wiederholten die
Anwesenden pflichtschuldig.
Der Wächter versetzte den Gefangenen einen Stoß mit
der Hellebarde. Richard drehte sich um und stieg die Treppe
hinunter, ohne noch einmal in Mr Trevillians Richtung zu blicken.
Ceely war für immer aus seinem Leben verschwunden. Die Ceelys waren
nicht von Bedeutung.
Auf dem Rückweg zum Gefängnis überkam ihn plötzlich
Erleichterung. Ihm war eingefallen, dass er die Heulsuse Willy bald
für immer los hatte.
Die Sonne stand tief über dem westlichen Horizont,
als Richard und Willy, der vermutlich vor Freude immer noch weinte,
in Begleitung zweier Gefängniswärter durch das Burgtor
marschierten. Drinnen wurde Richard angehalten, Willy durfte
weitergehen. War das der erste Unterschied zwischen einem
Untersuchungshäftling und einem verurteilten Straftäter? Sein
Bewacher deutete zum Haus des Oberaufsehers. Richard setzte sich
ohne jeden Protest in Bewegung wie immer, wenn eine Amtsperson
etwas von ihm wollte. Er war jetzt seit drei Monaten in Gloucester
und kannte alle Wärter, die freundlichen, die unfreundlichen und
die gleichgültigen. Er vermied jeden näheren Kontakt mit ihnen und
sprach keinen mit seinem Namen an.
Richard wurde in einen Raum geführt, der für
gesellige Zusammenkünfte behaglich hergerichtet worden war. An
einem Tisch saßen drei Leute: Sein Anwalt Mr Hyde, Vetter James,
der Apotheker, und Vetter James, der Kirchenmann. Beide Vettern
waren in Tränen aufgelöst, Mr Hyde machte einen niedergeschlagenen
Eindruck. Der Wärter verließ das Zimmer und machte die Tür hinter
sich zu. Sie sehen schlimmer aus, als ich mich fühle, dachte
Richard. Ich war nicht überrascht. Im Grunde meines Herzens
wusste ich, dass es so kommen würde. Justitia ist blind,
doch nicht in einem romantischen Sinn, wie man es uns in Colstons
Schule lehrte. Sie ist blind gegenüber dem einzelnen Menschen und
seinen Motiven. Richter und Geschworene glauben das Nächstliegende.
Sie sind unfähig, kompliziertere Zusammenhänge zu durchschauen. Die
Zeugenaussagen der Anwohner beruhen alle auf Klatsch. Ceely hat
lediglich Gerüchte geschürt und sein Scherflein beigesteuert.
Robert Jones hat er bezahlt - er hat natürlich alle bezahlt, doch
außer im Fall von Jones konnte er seine Zuwendungen als kleine
Aufmerksamkeiten und Geschenke an Leute tarnen, die ihn, seine
Familie und das Personal kannten. Natürlich begriffen diese Leute,
dass er sie bestach! Aber unter Eid befragt, hätten sie es
abstreiten können. Jones dagegen war eindeutig gekauft worden. Oder
Annemarie hatte ihm das mit der Geschichte gesagt. Dann hätte sie
von Anfang an zu Ceely gehört und wäre an der Verschwörung
beteiligt gewesen. Sie hätte mich ganz bewusst in eine Falle
gelockt, und alles zwischen uns wäre eine einzige Lüge gewesen. Ich
wurde auf Grund der Aussage einer Zeugin verhaftet, die gar nicht
erschien: Annemarie Latour. Doch der Richter ließ es dabei
bewenden, mich zu fragen, wo sie sei.
Während Richard schwieg, hatten seine Vettern Zeit,
sich die Tränen abzuwischen und ihre Fassung wiederzuerlangen. Und
Mr Hyde hatte Gelegenheit, Richard aus größerer Nähe zu betrachten,
als es ihm im Gerichtssaal möglich gewesen war. Ein stattlicher
Bursche, groß und schlank - schade, dass er keine Perücke getragen
hatte, er hätte vor Gericht einen besseren Eindruck gemacht. In der
Verhandlung war es letztlich darum gegangen, ob der Angeklagte ein
ehrbarer Mann war, der die Untreue seiner Frau als unerträgliche
Beleidigung empfunden hatte, oder ob er aus der Untreue seiner Frau
sozusagen Kapital geschlagen hatte. Natürlich wusste Mr Hyde von
den Vettern James, dass Annemarie Latour nicht die Frau seines
Klienten war, doch hatte er darauf verzichtet, dies vor Gericht
richtig zu stellen. Wenn bekannt geworden wäre, dass Annemarie eine
Hure war, hätte das Richards Lage nur verschlimmert. Was Richard
zum Verhängnis geworden war, war sein angeblicher Vorsatz. Richter
waren notorisch voreingenommen
gegen Angeklagte, die ihre Straftaten vorsätzlich begingen, und
die Geschworenen fällten das Urteil, das der Richter ihnen nahe
legte.
Vetter James, der Apotheker, steckte sein
Taschentuch ein und brach das lange Schweigen. »Wir haben diesen
Raum gemietet und können hier bleiben, solange wir wollen«, sagte
er. »Es tut mir so Leid, Richard! Das Ganze war ein abgekartetes
Spiel. Die Zeugen gehörten alle zum Kreis um Ceely.«
»Ich wüsste nur gern, warum Mr Benjamin Fisher vom
Steueramt nicht als Leumundszeuge für mich auftrat«, sagte Richard.
»Dann wäre der Prozess vielleicht ganz anders ausgegangen.«
Der Mund von Reverend James wurde zu einem Strich.
»Mr Fisher sagte, er habe keine Zeit für eine Reise von acht
Meilen. In Wahrheit ist er damit beschäftigt, mit Thomas Cave einen
Handel abzuschließen und schert sich nicht um das Schicksal seines
Hauptzeugen.«
»Doch seien Sie versichert, Mr Morgan«, sagte Mr
Hyde, der ohne seine Anwaltskluft längst nicht so imposant aussah,
»dass ich, wenn ich beim Innenminister Lord Sydney Einspruch gegen
das Urteil einlege, ein Schreiben von Mr Fisher beifügen
werde.«
»Kann ich denn nicht bei einem Gericht Einspruch
einlegen?«, fragte Richard.
»Nein, Sie können nur ein Gnadengesuch an den König
richten. Ich werde das Schreiben aufsetzen, sobald ich wieder in
London bin.«
»Trinke ein Glas Portwein, Richard«, sagte Vetter
James, der Apotheker.
»Lieber nicht, ich habe heute noch nichts
gegessen.«
Die Tür ging auf, und eine Frau trug ein Tablett
mit Brot, Butter, gegrillten Würstchen, Pastinaken, Kohl und einem
großen Humpen herein. Sie setzte es mit ausdruckslosem Gesicht ab,
machte einen Knicks vor den Herren und ging wieder.
»Iss, Richard. Der Oberaufseher sagte mir, im
Gefängnis sei das Abendessen bereits ausgegeben worden, daher bat
ich ihn, etwas zu essen bringen zu lassen.«
»Danke, Vetter James, danke«, sagte Richard gerührt
und
langte zu. Er schnupperte allerdings lange an dem ersten Stückchen
Wurst, das er auf sein Messer spießte, bevor er es vorsichtig
probierte. Dann nickte er zufrieden, schluckte und schnitt sich das
Nächste ab. »Würste, die für Häftlinge bestimmt sind, werden
gewöhnlich aus verdorbenem Fleisch hergestellt«, sagte er mit
vollem Mund.
Nach dem Essen nippte Richard an einem Glas
Portwein. Er verzog das Gesicht. »Ich habe schon so lange nichts
Süßes mehr gegessen oder getrunken, dass ich offenbar den Appetit
darauf verloren habe. Wir bekommen keine Butter zum Brot,
geschweige denn Marmelade.«
»Ach Richard!«, seufzten die Vettern unisono.
»Ihr braucht mich nicht zu bedauern. Mein Leben ist
nicht vorbei, nur weil ich die nächsten sieben Jahre im Gefängnis
verbringen muss.« Richard stand auf. »Ich bin jetzt sechsunddreißig
und werde nach Verbüßung meiner Strafe dreiundvierzigeinhalb sein.
Die Männer unserer Familie leben lange, und ich will gesund und bei
Kräften bleiben.« Er wandte sich an Vetter James, den Apotheker.
»Die fünfhundert Pfund Belohnung des Steueramts gehören mir, egal
was passiert. Ich werde dem gleichgültigen Mr Fisher schreiben,
dass er sie an dich auszahlen soll, Vetter James. Nimm dir, was ich
dich gekostet habe, und verwende den Rest, um mich weiterhin mit
Filtersteinen, Lappen, Kleidern und Schuhen zu versorgen. Und gib
Reverend James etwas für Bücher, auch für die, die er mir bereits
gebracht hat. Ich arbeite viel, denn das bedeutet, dass ich genug
zu essen bekomme. Aber sonntags kann ich lesen. Das ist ein
Segen!«
»Denk immer daran, wir lieben dich von Herzen,
Richard«, sagte Vetter James, der Apotheker, und umarmte und küsste
ihn.
»Und wir beten für dich«, fügte Vetter James, der
Kirchenmann, hinzu und umarmte und küsste ihn ebenfalls.
Willy Insell war der einzige Angeklagte, der bei
den Gerichtstagen in Gloucester im März 1785 freigesprochen wurde.
Sechs wurden zum Tod durch den Strang verurteilt: Maisie Harding
wegen Hehlerei, Betty Mason wegen Diebstahls von fünfzehn Guineen,
Sam
Day wegen Diebstahls von zwei Pfund Garn, Bill Whiting wegen
Diebstahls eines Schafes, Isaac Rogers wegen Straßenraubs und Joey
Long wegen Diebstahls einer silbernen Uhr. Die restlichen zwölf
wurden zu sieben Jahren Deportation nach Afrika verurteilt, einem
Kontinent, in dem Seine Britannische Majestät offiziell keine
Kolonie besaß. Richard wusste, dass auch er zum Tod durch den
Strang verurteilt worden wäre, wenn seine beiden Vettern nicht als
Leumundszeugen für ihn ausgesagt hätten. Bristol war zwar weit weg,
doch konnten Richter und Jury zwei angesehene Bürger dieser Stadt
nicht einfach ignorieren.
Das Problem, wie alle Verurteilten in die winzige
Zelle passen sollten, löste sich eine Woche später von selbst: Neun
der zu sieben Jahren Deportation verurteilten Häftlinge starben an
einer heimtückischen Halsentzündung, und mit ihnen die restlichen
Kinder und zehn Schuldner aus der Nachbarzelle.
Die Zustände in den englischen Gefängnissen waren
eine Katastrophe, was die für Gloucester zuständigen Richter
allerdings nicht davon abhielt, drakonische Strafen zu
verhängen.
Zwischen 1782 und 1784 hatte man außerdem dreimal
versucht, verurteilte Straftäter nach Amerika abzuschieben. Die
Swift wurde auf ihrer ersten Reise in Amerika zur Umkehr
gezwungen, einigen Deportierten gelang jedoch mithilfe der
Amerikaner die Flucht. Im August 1783 brach das Schiff mit 143
Häftlingen an Bord zu einer zweiten Reise auf. Ziel war
Neuschottland, doch kam die Swift nur bis Sussex, wo die
menschliche Fracht meuterte und das Schiff in der Nähe von Rye auf
den Strand setzte. Anschließend zerstreuten die Häftlinge sich in
alle Winde. Nur neununddreißig wurden wieder gefasst. Sechs davon
wurden gehängt, die Übrigen zu lebenslänglicher Deportation nach
Amerika verurteilt, als hätte immer noch die Möglichkeit bestanden,
Sträflinge nach Amerika zu deportieren. Die Mühlen der staatlichen
Behörden und besonders der Justiz mahlten langsam.
Im März 1784 kam es zum dritten Versuch, Sträflinge
nach Amerika zu transportieren. Diesmal hieß das Schiff
Mercury, Ziel der Reise war Georgia, das zusammen mit den
anderen zwölf seit kurzem vereinigten Staaten in einer an England
gerichteten Botschaft
unmissverständlich erklärt hatte, dass es unter keinen Umständen
bereit sei, deportierte Sträflinge aufzunehmen. Die Mercury
brach mit 179 Gefangenen an Bord von London auf. Unter den
Gefangenen befanden sich Männer, Frauen und Kinder. Nach einer
Meuterei vor der Küste von Devon landete das Schiff in der Nähe von
Torbay. Einige Sträflinge wurden noch an Bord wieder gefangen
genommen, doch die meisten waren bereits geflohen. Insgesamt 108
wurden wieder gefasst; einige waren bis Bristol gekommen. Viele
wurden zum Tod durch den Strang verurteilt, allerdings nur zwei
tatsächlich gehängt. Das politische Klima begann sich zu
verändern.
Mit der Recovery wurde im Januar 1785 ein
letzter planloser Versuch unternommen, in den überfüllten
Gefängnissen Englands Platz zu schaffen. Eine Ladung Sträflinge
wurde nach Äquatorialafrika verschifft und an einer sumpfigen Küste
ausgesetzt - ohne für sie verantwortliche Aufseher und ohne die
nötigen Vorräte und Ausrüstungsgegenstände, um in der Wildnis zu
überleben. Alle starben auf grauenvolle Weise. Das afrikanische
Experiment löste einen Sturm der Entrüstung aus und wurde nie
wiederholt. Das neue Kabinett von Premierminister William Pitt dem
Jüngeren gelangte zu der Einsicht, dass andere, weniger anstößige
Wege gefunden werden mussten, um zur Deportation verurteilte
Straftäter loszuwerden. Angesichts der Forderungen John Howards und
Jeremy Benthams nach Reformen des Strafvollzugs, der Kampagne der
Quäker gegen die Sklaverei und die britische Expansion in Afrika
und des wachsenden Einflusses von Thomas Clarkson und William
Wilberforce, der wie Bentham ein wichtiger Mann der Whigs in
Westminster war, hielt die Regierung es für klüger, diesen und
anderen Streitern für soziale Reformen keine weitere Munition zu
liefern. Die zusätzlich erhobenen Steuern, notwendig gemacht durch
die schlechte Wirtschaftslage, sorgten schon für genug
Unzufriedenheit. Und in einem stimmte Mr Pitt mit dem Sträfling
Richard Morgan überein: Er wollte noch lange leben. So durfte
Jeremy Bentham an den Plänen für das neue Gefängnis in Gloucester
mitwirken, und Innenminister Lord Sydney bekam den Auftrag, einen
Ort zu finden
- ganz egal wo -, an den die vielen überzähligen englischen
Sträflinge deportiert werden konnten.
Doch noch hatte sich im Gefängnis von Gloucester
nichts verändert. Die Häftlinge litten weiterhin unter der Enge und
allen möglichen Krankheiten.
Willy Insell, der immer noch bei jeder Gelegenheit
heulte, wurde am 5. April entlassen. Am selben Tag schickte Mr
James Hyde das Gnadengesuch Richard Morgans zusammen mit einem
Schreiben von Mr Fisher, dem Leiter der Steuerbehörde von Bristol,
an Lord Sydney. Lord Sydneys fleißiger und gewissenhafter Sekretär
Mr Evan Nepean überstellte es am 15. April in das Büro von Sir
James Eyre in der Bedford Row. Sir James Eyre, der bei Richards
Verhandlung den Vorsitz geführt hatte, sollte den Fall noch einmal
überprüfen und Lord Sydney mitteilen, ob Richard Morgan die Gnade
des Königs verdiene. Bisher war alles recht schnell gegangen;
schließlich hatte die Verhandlung erst am 23. März stattgefunden.
Doch in der Bedford Row verstaubte das Gnadengesuch. Richter Eyre
war zu beschäftigt, um für derlei Dinge Zeit zu haben.
Ende Juli kam ein Brief von Jem Thistlethwaite,
der London um dieselbe Zeit verlassen hatte, zu der William Henry
verschwunden war. Richard wurde das Herz schwer, als Hubbard ihm
den Brief aushändigte. Die alte Wunde öffnete sich wieder, und der
ganze Schmerz der Vergangenheit fiel ihn an. Nach seiner
Einlieferung ins Bristol Newgate hatte er alle Erinnerungen an
William Henry verdrängt. Nur so hatte er, ohne dass es ihm bewusst
war, den unbändigen Überlebenswillen aufbringen können und die
Disziplin, die Rituale zu befolgen, die er für sich eingeführt
hatte - Rituale der Reinigung, durch die er sich von seinen
Mithäftlingen absetzte und für sie zu einem Zwischending zwischen
einem Heiligen und einem Verrückten wurde. Warum wollte er um jeden
Preis überleben und gesund bleiben? Um anschließend die Suche nach
William Henry fortsetzen zu können, der tief in seinem Herzen
weiterlebte.
Richard, soeben habe ich einen Brief deines Vaters
erhalten. Ich bin von der schlimmen Nachricht völlig
niedergeschmettert. Vom Rum benebelt, glaubte ich, ich hätte dir
von meiner geplanten Flucht geschrieben, aber der Brief wurde
entweder nie verfasst oder er ging verloren. Ich war seit Juni
letzten Jahres im Ausland - das schöne Italien lockte und ich
beeilte mich, dem Lockruf zu folgen. Zum Glück konnte ich nach
meiner Rückkehr vor knapp einer Woche wieder mein altes Zimmer
mieten, sodass die Zeilen deines Vaters mich erreichten.
Ich habe immer gewusst, dass dein Leben nicht so
verlaufen würde, wie du dachtest - erinnerst du dich noch? Du
sagtest: »Ich bin in Bristol geboren und ich werde in Bristol
sterben.« Schon damals, als du das sagtest - mit dem kleinen
William Henry auf dem Schoß -, ahnte ich, dass es anders kommen
würde. Ich hatte Angst um dich. Und ich, der ich völlig unfähig bin
zu lieben, liebte dich damals, wie ich dich heute liebe, ohne dass
ich wüsste, warum - vielleicht weil ich etwas in dir sehe, das du
nicht siehst. Über William Henry will ich nicht mehr sagen, als
dass du ihn nie finden wirst. Er war nicht für diese Welt bestimmt,
aber wo immer er auch ist, Richard, er ist glücklich und hat seinen
Frieden. Die wirklich Guten haben auf dieser Welt nichts zu suchen,
sie können hier nichts lernen. Also freue dich für Henry.
Blind vor Tränen legte Richard den Brief nieder.
Zum ersten Mal konnte er um William Henry weinen. Die anderen
Sträflinge, Lizzie eingeschlossen, machten keinen Versuch, sich ihm
zu nähern. Stundenlang hockte er auf seiner Kiste und ließ den
lange unterdrückten Tränen endlich freien Lauf. Es war schon
seltsam, dass ausgerechnet Jem Thistlethwaite den Damm gebrochen
hatte. Dabei hatte er Unrecht. William Henry würde eines Tages
zurückkommen; er hatte diese Welt nicht für immer verlassen.
Am Abend des folgenden Tages hatte Richard immer
noch kein Wort gesagt, und niemand hatte ihn angesprochen. Zur
Essenszeit nahm er den Brief wieder zur Hand.
Ich habe unter dem neuen Schlag von Whigs, der
sich unter der Regierung eines jungen Mannes wie Pitt herausbilden
konnte, eine Nische für mich gefunden. Das Oberhaus wird immer eine
Oligarchie bleiben, aber das Unterhaus ist keine mehr. Es gibt dort
zurzeit so viele Männer mit neuen Ideen, und Pitt würde alle
fördern, wenn er das Geld dazu hätte. Doch um auf dich
zurückzukommen: mit deiner Deportation ist nicht zu rechnen. Das
afrikanische Experiment war ein Desaster, deshalb hat niemand in
Westminster den Mut - oder die Dummheit, so unglaublich es klingt
-, es in irgendeiner Form zu wiederholen. Indien wurde
vorgeschlagen, doch so schnell wieder verworfen, wie man sich eines
Hemdes aus Schlangen entledigen würde. Unsere wenigen Stützpunkte
dort sind gefährliche Orte. Doch der eigentliche Grund für die
Entscheidung gegen Indien war der Widerstand der Ostindienkompanie.
Sie will nicht, dass Sträflinge ihre Unternehmungen in Bengalen und
China gefährden. Auf den westindischen Inseln will man nur Schwarze
als Arbeiter oder Sklaven, und die Situation in von England
beanspruchten Gebieten wie Neuschottland und Neufundland lässt
keine Deportation zu. Dort treiben sich die Franzosen herum und
weiter südlich die Spanier.
Wie es aussieht, musst du deine Zeit in Gloucester
absitzen. Aber ich verspreche dir, ich werde dich unterrichten,
sobald ich etwas Neues höre. Dick sagt, du hättest dich in dein
Schicksal gefügt - mit »kaltem Zorn«, wie Vetter James, der
Apotheker, es ausdrückte.
Richard konnte den Brief erst am Sonntag
beantworten. Dazu nahm er das Ende des großen Tisches in Beschlag,
den Hubbard kurz vor den Gerichtstagen in die Gemeinschaftszelle
gestellt und danach nicht entfernt hatte. Hubbard hatte die Idee
gehabt, dass der Tisch sich als zusätzliche Etage nutzen ließ, auf
der einige Häftlinge Platz finden konnten, wenn die Zelle überfüllt
war. Als ob sie je unterbesetzt gewesen wäre.
Ich wäre lieber in Italien als im Gefängnis von
Gloucester, Jem, das kann ich dir versichern.
Über Ceely Trevillian und die Machenschaften in
der Rumbrennerei kann ich nicht mehr sagen, als dass ich mich
unglücklicherweise mit einem intelligenten Mann aus gutem Hause
anlegte, der seine Talente leider für Intrigen und Komplotte
missbraucht. Trevillian gehört auf die Bühne, wo er Kemp, Mrs
Siddons und Garrick an die Wand gespielt hätte. Mein einziger Trost
ist, dass ich meine Schulden zurückzahlen kann, sobald Cave und
Thorne sich mit dem Steueramt geeinigt haben. Dann können die
Vettern James mit dem Geld mir weitere Sachen kaufen. Ich bin nie
ohne ein Buch, auch wenn das Lesen mancher Bücher schmerzhaft ist,
weil ich dabei immer wieder an Clifton und die Hotwells denken
muss, Orte, an die ich lieber nicht erinnert werden möchte. Weniger
wegen William Henry oder Ceely als wegen Annemarie Latour, mit der
ich schlimm gesündigt habe. Ich sehe dir von hier aus an, wie du
dich über meine Prüderie ärgerst, aber du warst damals nicht da und
du hättest den Mann, der ich damals war, bestimmt nicht gemocht.
Ich ließ mich zu sehr von meinen Trieben beherrschen. Kannst du das
verstehen? Wenn nicht, wie kann ich es dir begreiflich machen? Ich
liebte Annemarie nicht, ich besprang sie wie ein brünftiger Stier
oder Hengst. Ich verabscheute das Objekt meiner tierhaften
Begierde, das auch ein Tier war. Im Gefängnis von Gloucester sind
alle zusammengesperrt - Männer, Frauen und Kinder. Allerdings wird
hier mehr gevögelt als gestillt. Die meisten Säuglinge sterben, die
armen kleinen Geschöpfe. Genauso bedauernswert sind die Mütter, die
sie austragen und gebären, nur um sie zu verlieren. Zuerst war ich
über die Anwesenheit der Frauen entsetzt. Doch im Laufe der Zeit
wurde mir klar, dass sie das Gefängnis von Gloucester erträglich
machen. Ohne sie wären wir keine Menschen mehr, sondern rohe
Bestien.
Meine Frau heißt Lizzie Lock. Sie sitzt seit
Anfang 1783 ein, weil sie Hüte gestohlen hat. Wenn sie einen Hut
sieht, der ihr gefällt, klaut sie ihn. Uns verbinden weder
romantische Gefühle
noch animalische Begierden. Wir führen eine rein platonische
Freundschaft. Ich beschütze sie vor den anderen Männern und sie
bewacht die Kiste mit meinen Sachen, während ich arbeite. Jem,
könntest du, wenn deine finanziellen Mittel es erlauben, einen
großen Hut für Lizzie besorgen? Rot oder rot-schwarz und möglichst
mit Federn? Sie wäre im siebten Himmel.
Irgendwie sind wir verlorene Seelen aus dem
Gefängnis von Gloucester eine Familie. Wir haben ja sonst niemand.
Wer verurteilt ist und die vielen Krankheiten überlebt hat, gehört
dazu und genießt zur Verblüffung unserer Wärter sogar ein gewisses
Ansehen. Es geht hier eben zu wie in einer Kleinstadt. Hubbard, der
Oberaufseher, macht ein gutes Geschäft, da der Staat ihm für die
arbeitenden Häftlinge dreißig Pennys pro Woche bezahlt. Auch die
Frauen arbeiten. Sie bauen Gemüse an, halten Vieh und Geflügel,
flicken Kleider und waschen. Andere Häftlinge sind nur vierzehn
Pennys wert, wie die Schuldner in der Nachbarzelle. Etwas stimmt
nicht an einem Rechtssystem, das einen Menschen ins Gefängnis
bringt, weil er einem anderen weniger als ein Pfund schuldet, und
ihn dann dort verrotten lässt, weil er nicht arbeiten kann, um das
Geld zurückzuzahlen. Dank der Anstrengungen der Frauen sind wir gut
genährt, sodass wir Hubbard wenig kosten. In Wirklichkeit verdient
er nicht zehn, sondern hundert Pfund im Jahr, selbst nach Abzug der
kleinen Zuwendungen an seine Günstlinge. Ich muss Schluss machen.
Selbst mein besonderer Status hier drinnen verleiht mir nicht das
Recht, den Tisch einen ganzen Sonntagnachmittag lang in Beschlag zu
nehmen. Das ist überhaupt das Komischste, Jem. Ich merke, dass ich
in dieser kleinen Welt aus irgendeinem Grund Respekt genieße -
vielleicht weil ich als verrückt gelte und mangels besserer
Vorbilder. Bitte schreib mir ab und zu.
Im August kam Vetter James, der Apotheker, zu
Besuch, bepackt mit einem neuen Filterstein, Lappen, Kleidern,
Medikamenten und Büchern.
»Aber benutze den alten Filterstein ruhig weiter,
Richard, er sieht noch nicht verbraucht aus. Je mehr Steine du in
Reserve hast, desto besser. Ich habe dir einen stabilen Sack für
die Ersatzsteine mitgebracht. Das Wasser in Gloucester ist viel
sauberer als alles, was in Bristol aus der Leitung kommt.« Vetter
James war sichtlich unbehaglich zu Mute. Er erzählte alles
Mögliche, nur um etwas zu sagen, und wich Richards Blick aus.
»Aber deshalb hättest du doch bei dieser Hitze
nicht eigens herkommen müssen, Vetter James«, sagte Richard
freundlich. »Lass mich bitte die schlechte Nachricht wissen.«
»Wir haben endlich von Mr Hyde aus der Chancery
Lane gehört. Am Neunten des letzten Monats konnte Sir James Eyre
sich endlich mit deinem Gnadengesuch befassen. Dieses Datum trägt
zumindest sein Schreiben an Lord Sydney. Sir James Eyre sprach sich
entschieden dagegen aus, dir Gnade zu gewähren. Für ihn besteht
kein Zweifel, dass du zusammen mit dieser Frau geplant hast, Ceely
Trevillian auszurauben, auch wenn die Frau seitdem verschwunden
ist.«
»Die Belastungszeugin war nicht da«, sagte Richard
leise. »Trotzdem glaubte man ihr.«
»So steht es also, mein armer Richard. Wir haben
alle Rechtsmittel ausgeschöpft. Die Belohnung ist dir allerdings
sicher. Sie kann nicht gepfändet werden, weil sie nichts mit der
Straftat zu tun hat, für die du verurteilt wurdest. Ich weiß, dass
du noch ein paar Guineen hast, aber bei meinem nächsten Besuch
bringe ich dir eine neue Kiste mit, bei der das Geheimfach in die
Längsseite eingebaut ist - man sagte mir, dass Deckel und Böden
eher überprüft werden als Seitenwände. Das Fach wird in Baumwolle
verpackte Goldmünzen enthalten, die nicht klimpern, auch wenn die
Kiste noch so gründlich geschüttelt oder abgeklopft wird. Auf Grund
der Baumwolle klingt die Seitenwand auch nicht hohl.«
Richard ergriff die Hände von Vetter James und
hielt sie fest. »Ich weiß, dass ich mich wiederhole, aber ich kann
dir gar nicht genug danken, Vetter James. Was wäre ohne dich aus
mir geworden?«
»Ohne ihn wärst du jedenfalls viel dreckiger,
Schätzchen«, sagte
Lizzie Lock, nachdem Vetter James gegangen war. »Er bringt dir
Filtersteine, Seifen, Teeröl und den ganzen Krimskrams für deine
Rituale. Du erinnerst mich an einen Priester, der die Messe
zelebriert.«
»Sauberkeit geht ihm wirklich über alles«, fügte
Bill Whiting neckend hinzu. »Das ist doch gar nicht nötig, Richard,
Schätzchen - sieh uns an.«
»Ach übrigens, Bill, ich sah dich neulich um meine
Schafe herumschleichen«, sagte Betty Mason, die für Hubbard eine
Herde hütete. »Lass sie gefälligst in Ruhe.«
»Ich habe doch sonst niemanden außer Jimmy und
Schätzchen Richard.« Schätzchen war inzwischen Richards Spitzname.
»Und die wollen nicht mit mir schlafen. Übrigens habe ich gehört,
dass unsere ganze Steineschlepperei wohl umsonst ist - der alte
Hubbard sagt, es gäbe ganz neue Pläne für das neue
Gefängnis.«
»Das habe ich auch gehört.« Richard tunkte ein
Stück altbackenes Brot in den Rest seiner Suppe.
Jimmy Price seufzte. »Wir sind wie der Dingsda -
wie heißt er gleich? -, der den Felsbrocken immer wieder den Berg
hinaufrollen musste, weil er jedes Mal wieder herunterkam.
Herrgott, es wäre schön, wenn unsere Plackerei wenigstens einen
Sinn hätte.« Er sah zum anderen Ende des Tisches hinüber, den die
Alten zäh gegen die Neuen verteidigten. Dort saß in sich
zusammengesunken Ike Rogers. »Ike, du musst etwas essen. Sonst
bekommt der hungrige Richard deine Suppe. Mir ist nicht
aufgefallen, dass die anderen fünf Galgenvögel ebenfalls den
Appetit verloren hätten oder sich große Sorgen machen. Iss, Ike,
iss! Du wirst nicht hängen, das schwöre ich dir.«
Ike gab keine Antwort. Von dem großmäuligen
Rabauken von früher war nichts übrig geblieben. Straßenräuber
galten als die Helden unter den Verbrechern, doch Ike konnte sich
offenbar weder mit seinem Schicksal abfinden noch die trotzige
Haltung der fünf anderen Todeskandidaten teilen.
Richard setzte sich neben ihn auf die Bank und
legte ihm den Arm um die Schultern. »Iss, Ike«, sagte er
aufmunternd.
»Ich hab keinen Hunger.«
»Jimmy hat Recht. Du endest nicht am Galgen. Seit
über zwei Jahren wird in Gloucester keiner mehr gehängt, obwohl
viele zum Galgen verurteilt wurden. Hubbard braucht Häftlinge, die
für zwei Schillinge und sechs Pennys die Woche arbeiten. Freie
Arbeiter aus Gloucester kosten zwölf Schillinge.«
»Ich will nicht sterben!«
»Das wirst du auch nicht, Ike. Jetzt trink deine
Suppe.«
»Was für ein Pessimist Ike ist«, sagte Bill Whiting
am nächsten Tag beim Steineschleppen. »Er stolziert die ganze Zeit
in seinen Reitstiefeln herum, nur damit niemand sie ihm klaut.
Herrje, seine Füße müssen vielleicht stinken! Er schläft sogar in
ihnen.« Bill fröstelte plötzlich. »Wenn er hängt, dann hänge ich
auch. Eigentlich ungerecht, oder? Seine Beute war fünftausend Pfund
wert, mein Schaf nur zehn Schillinge.«
Acht der Häftlinge bildeten inzwischen eine
verschworene Gemeinschaft: die vier Frauen, Bill, Richard, Jimmy
und der einfältige Joey Long. Bei dem Gedanken, dass vier von ihnen
den Jahreswechsel vielleicht nicht mehr erleben würden, lief auch
Richard ein Schauer über den Rücken.
Doch drei Tage nach Weihnachten wurden alle sechs
zum Tode Verurteilten begnadigt. Ihre Strafen wurden in vierzehn
Jahre Deportation umgewandelt - nach Afrika, wohin auch sonst? Die
Häftlinge brachen in Freudengeschrei aus, doch Ike Rogers war nie
wieder der Alte.
Richard hatte das Jahr 1785 von Anfang bis Ende im
Gefängnis verbracht. An Silvester erhielt er einen Brief von Mr
James Thistlethwaite.
Es tut sich was in Westminster, Richard. Es
kursieren alle möglichen Gerüchte. Das hartnäckigste, das deine
Zukunft betrifft, besagt Folgendes: Zur Deportation nach Afrika
verurteilte Häftlinge der Gefängnisse außerhalb Londons sollen auf
die Gefangenenschiffe in der Themse verlegt und so bald wie möglich
nach Übersee transportiert werden, aber nicht über den Großen
Teich, den Oceanus Atlanticus der Landkarten.
Stattdessen ist in Gerüchten, die jeden Tag lauter werden, vom
östlichen Ozean die Rede - dem so genannten Oceanus Pacificus, von
dem es kaum Karten gibt.
Vor gut zehn Jahren schickten die Königliche
Akademie der Wissenschaften und die britische Admiralität einen
Kapitän namens James Cook nach Tahiti, um den Durchgang der Venus
vor der Sonne zu beobachten. Dieser Cook entdeckte auf seinen
Forschungsreisen ein Paradies nach dem andern. Für seine Neugier
wurde er schließlich auf den nach Lord Sandwich benannten Inseln
von Eingeborenen erschlagen. Das Paradies, von dem ich jetzt
sprechen will, erinnerte Captain Cook an die Küste von Südwales,
daher nannte er es Neusüdwales. Wirklich sehr phantasievoll! Auf
Karten ist es als »Terra Incognita« oder »Terra Australis«
verzeichnet. Wie weit es sich von Osten nach Westen erstreckt, weiß
niemand genau, doch von Norden nach Süden sind es 2000 Meilen. Auf
ungefähr demselben Breitengrad, auf dem der neue amerikanische
Staat Georgia liegt, allerdings nicht nördlicher, sondern südlicher
Breite, entdeckte der ehrgeizige Kapitän eine Bucht, die er »Botany
Bay« nannte, weil der Präsident der Königlichen Akademie Sir Joseph
Banks dort mit Dr. Solander, einem Schüler des Linnaeus, an Land
ging, um für botanische Studien Pflanzen zu sammeln.
Ein Herr korsischer Abstammung namens James Maria
Matra hat unsere Behörden als Erster auf die Idee gebracht. Es
folgten zahllose Unterredungen mit Sir Joseph Banks, der Autorität
auf allen Gebieten von der Geburt Christi bis zur Sphärenmusik -
mit dem Ergebnis, dass Mr Pitt und Lord Sydney nun davon überzeugt
sind, die Antwort auf die drängende Frage, was mit deinesgleichen
geschehen soll, gefunden zu haben: Ihr sollt in die Botany Bay
gebracht werden. Allerdings sollt ihr nicht einfach an der Küste
ausgesetzt werden, wie es in Afrika geschah. Ihr sollt ein
fruchtbares Land, das bisher weder Franzosen noch Holländer noch
Spanier betreten haben, mit Engländern bevölkern. Ich habe noch nie
gehört, dass ein Land von Sträflingen besiedelt wurde, doch genau
das scheint die Regierung Seiner Majestät in der Botany Bay
vorzuhaben. Ich bin allerdings nicht sicher, ob »besiedeln« in
diesem Zusammenhang das richtige Wort ist. Mr Pitts Wort meint wohl
eher »abladen«. Wenn das Experiment funktioniert, kann England die
Botany Bay in Zukunft als Sträflingsdeponie benutzen und zwei Ziele
gleichzeitig erreichen. Das Erste und weitaus Wichtigere ist, mit
der Deportation englischer Sträflinge ans andere Ende der Welt auch
die Probleme, die sie hier verursachen, ein für alle Mal
loszuwerden. Das Zweite ist die Gründung einer neuen Kolonie, über
der der Union Jack weht, auch wenn sie keinen wirtschaftlichen
Gewinn verspricht - ein Schachzug, der die Bedenken unserer vielen
Weltverbesserer zerstreuen soll.
Sei also darauf gefasst, dass du nicht mehr lange
in Gloucester bist, Richard. Ich habe bereits Vetter James, dem
Apotheker, geschrieben, dass er dich bald besuchen und mit allem
versorgen soll, was du dort zum Leben brauchst. Und mach dich auf
einen Schock gefasst. Sobald du die in der Nähe des Königlichen
Zeughauses in Woolwich vertäuten Gefangenenschiffe betrittst, bist
du in London! Es gibt mehrere solche Schiffe auf der Themse,
doch nur drei davon kommen für euch in Frage: die Censor und
die Justitia, die schon seit zehn Jahren dort liegen und oft
von Mr John Howard inspiziert und beanstandet wurden, und die
Ceres, die erst jetzt in Dienst gestellt wird. Die Aufsicht
über die Schiffe wurde einem Londoner Spekulanten namens Duncan
Campbell übertragen - einem geschäftstüchtigen Schotten natürlich.
Leider muss ich dir mitteilen, dass es auf diesen Schiffen keine
Frauen gibt, die für das leibliche Wohl der Männer sorgen und einen
besänftigenden Einfluss auf sie ausüben könnten. Die Schiffe sind
schwimmende Höllen! Ich weiß, das ist eine Hiobsbotschaft, aber du
bist ein Hiob, Richard, und besser ein Hiob, der weiß, was ihn
erwartet. Gib gut auf dich Acht.
»Ich habe Neuigkeiten«, sagte Richard und legte
den Brief hin.
»Was denn für welche?«, fragte Lizzie, die
friedlich einen
Strumpf stopfte. Es konnten keine schlechten Neuigkeiten sein,
denn Richard wirkte ganz ruhig.
Sie ließ den Strumpf sinken und betrachtete Richard
liebevoll. Sie wusste nichts über ihn, denn er hatte nichts von
sich erzählt. Nur den Grund seiner Verhaftung hatte er genannt. Sie
liebte ihn, doch würde sie nie mit ihm schlafen. Sie hatte Angst,
schwanger zu werden, denn sie wusste, sie würde es nicht ertragen,
ihr Kind sterben zu sehen.
Der neue Hut, eine atemberaubende Kreation aus
schwarzer Seide und scharlachroten Straußenfedern, saß schräg auf
ihrem Kopf. Richard hatte ihn ihr an Weihnachten überreicht, aber
dazu gesagt, das Geschenk sei nicht von ihm, sondern von einem Mr
James Thistlethwaite aus London, einem alten Freund. Der Mann sei
Satiriker, also jemand, der unbeliebte Politiker, Prälaten und
Beamten allein durch die Macht des geschriebenen Wortes klein und
lächerlich machen konnte. Lizzie glaubte Richard aufs Wort. Da sie
weder lesen noch schreiben konnte, kamen Leute, die mit diesen
Fähigkeiten ihren Lebensunterhalt bestreiten konnten, für sie
gleich nach Gott.
Sie wandte sich wieder dem Loch in einem Strumpf
von Hubbard zu und nahm die Stopfnadel auf.
»Mein Satirikerfreund aus London schreibt, dass
alle, die zur Deportation nach Afrika verurteilt wurden, von den
Bezirksgefängnissen in die Gefangenenschiffe auf der Themse verlegt
werden sollen. Das heißt, nur die männlichen Häftlinge. Er sagt
nicht, was mit den Frauen geschehen soll.«
Die Zelle war seit einiger Zeit unterbelegt. Das
Scharlachfieber hatte so viele Opfer gefordert, dass um Michaelis
keine Gerichtstage abgehalten worden waren. Die nächsten sollten im
Januar 1986 um Dreikönig stattfinden - wenn bis dahin genügend
Fälle zur Verhandlung anstanden.
So hörten nur ungefähr zwanzig Leute Richards
Neuigkeiten. Alle waren wie vom Donner gerührt. Wer noch auf seine
Verhandlung wartete, hatte sich bald wieder gefasst, doch die
anderen brauchten dazu eine Weile. Sie starrten Richard mit großen
Augen an und wollten mehr wissen.
»Warum?«, fragte Bill Whiting.
»Irgendwo auf der Welt - ich weiß nicht genau, wo -
gibt es einen Ort mit Namen Botany Bay. Dorthin sollen wir
deportiert werden, vermutlich von London aus, weil man uns auf die
Gefangenenschiffe in der Themse bringt und nicht nach Portsmouth
oder Plymouth. Nur die Männer, wohlgemerkt. Obwohl offenbar auch
Frauen in die Botany Bay geschickt werden sollen.«
Bess Parker drückte sich an Ned Pugh, der weiß
geworden war, und weinte. »Ned! Man will uns trennen! Was sollen
wir bloß tun?«
Alle taten, als hätten sie Bess nicht gehört, denn
niemand fiel eine tröstliche Antwort ein. »Liegt die Botany Bay in
Afrika?«, fragte Jimmy Price, um das Schweigen zu brechen.
»Nein«, sagte Richard. »Es liegt weiter weg als
Afrika oder Amerika. Irgendwo im Osten.«
»Ostindien«, sagte Ike Rogers und schnitt eine
Grimasse. »Heiden.«
»Nein, nicht Ostindien. Die Botany Bay liegt tief
im Süden und wurde erst vor ein paar Jahren von einem Captain Cook
entdeckt. Jem schreibt, es sei ein Paradies, also kann es nicht so
schlimm sein.« Richard überlegte. »Es muss auf dem Weg nach Tahiti
liegen. Das war Cooks Ziel.«
»Wo liegt Tahiti?«, fragte Betty Mason, die genauso
unglücklich war wie Bess. Johnny, der Wärter, würde nicht in die
Botany Bay deportiert werden.
»Ich weiß es nicht«, gestand Richard.
Am folgenden Tag, dem Neujahrstag 1786, wurden die
bereits verurteilten Männer und Frauen in die Gefängniskapelle
abkommandiert. Dort warteten bereits der alte Hubbard, Reverend
Evans und drei Männer, die sie vom Sehen kannten, weil sie
gelegentlich die Handwerksmeister aus London begleiteten, die die
Bauarbeiten überwachten. John Nibbet war der Sheriff von
Gloucester, die anderen beiden hießen John Jefferies und Charles
Cole und wurden als Hilfssheriffs vorgestellt.
Nibbet sprach für die anderen. »Das
Innenministerium und
Innenminister Lord Sydney haben der Stadt Gloucester in
Gloucestershire mitgeteilt, dass einige der Häftlinge, die zur
Deportation nach Afrika verurteilt wurden, anderswohin deportiert
werden sollen!«
»Er hat kein einziges Mal Luft geholt«, murmelte
Whiting.
»Sei still, sonst kriegst du Prügel«, flüsterte
Jimmy.
Nibbet fuhr ohne Pause fort. Offenbar brauchte er
zum Reden keine Luft. »Darüber hinaus wurde der Stadt Gloucester in
Gloucestershire mitgeteilt, dass sie als Sammelstelle für zur
Deportation verurteilte Häftlinge aus Bristol, Monmouth und
Wiltshire zu dienen habe. Zu den Häftlingen aus vorgenannten
Städten stoßen nach ihrer Ankunft bei uns folgende Häftlinge aus
dem hiesigen Gefängnis: Joseph Long, Richard Morgan, James Price,
Edward Pugh, Isaac Rogers und William Whiting. Sie werden alle nach
London und Woolwich verlegt und bleiben bis auf weiteres
dort.«
Ein verzweifelter Schrei beendete die Erklärung des
Sheriffs. Bess Parker stolperte in ihren Fesseln auf Nibbet zu,
warf sich ihm zu Füßen, rang die Hände und schluchzte
gottserbärmlich. »Sir, bitte, ich flehe Sie an! Ned Pugh ist mein
Mann! Sehen Sie meinen Bauch? Ich erwarte ein Kind von ihm. Es kann
jeden Tag kommen! Bitte, Sir, nehmen Sie ihn mir nicht weg!«
»Hör auf mit dem Gewinsel, Frau!« Nibbet wandte
sich mit finsterer Miene an Hubbard. »Hat der Häftling Pugh eine
feste Beziehung mit der heulenden Frau da?«
»Ja, Mr Nibbet, seit einigen Jahren. Sie hatten
schon ein Kind zusammen, aber es starb.«
»Meine Anweisungen von Staatssekretär Nepean
lauten, dass nur männliche Häftlinge ohne Frauen oder
Lebensgefährtinnen, die mit ihnen inhaftiert sind, nach Woolwich
geschickt werden sollen. Also wird Edward Pugh zusammen mit den zur
Deportation verurteilten Frauen in Gloucester bleiben.«
»Das ist wirklich sehr rücksichtsvoll«, sagte
Hilfssheriff Charles Cole, »auch wenn ich keine Notwendigkeit dafür
sehe.«
Hubbard murmelte Nibbet etwas ins Ohr.
»Häftling Morgan, haben Sie eine feste Beziehung
mit einer gewissen Elizabeth Lock?«, bellte der Sheriff.
Richard wünschte sich von ganzem Herzen, er hätte
die Frage bejahen können, doch würde man seine Papiere überprüfen
und feststellen, dass er bereits eine Frau hatte, nämlich Annemarie
Latour. Sie beeinflusste sein Schicksal immer noch. »Ich habe eine
feste Beziehung mit Elizabeth Lock, Sir, aber sie ist weder meine
Ehefrau noch meine Lebensgefährtin. Ich bin bereits
verheiratet.«
Lizzie Lock wimmerte.
»Dann kommst du nach Woolwich, Morgan.«
Reverend Evans beendete die Versammlung mit einem
Gebet, dann eskortierte Johnny die Häftlinge in die
Gemeinschaftszelle zurück. Dort zerrte Lizzie Lock Richard in eine
ruhige Ecke.
»Warum hast du mir nicht gesagt, dass du
verheiratet bist?«, fragte sie. Die Federn auf ihrem Hut
nickten.
»Weil ich gar nicht verheiratet bin.«
»Warum hast du das dann zum Sheriff gesagt?«
»Weil es in meinen Papieren steht.«
»Wie kann das sein?«
»Es ist eben so.«
Lizzie packte Richard an den Schultern und
schüttelte ihn. »Verdammt noch mal, Richard, warum erzählst du mir
nie etwas? Warum bist du so zugeknöpft?«
»Nicht mit Absicht, Lizzie.«
»Doch! Du sagst mir nie etwas!«
»Du hast nicht gefragt.« Er wirkte
überrascht.
Sie schüttelte ihn erneut. »Dann frage ich dich
jetzt! Erzähl mir alles über dich, Richard Morgan, alles. Ich will
wissen, wie du gleichzeitig verheiratet und nicht verheiratet sein
kannst!«
»Dann kann ich es ja gleich allen erzählen.«
Sie versammelten sich um den Tisch und bekamen eine
stark gekürzte Version der Geschichte von Annemarie Latour, Ceely
Trevillian und der Rumbrennerei zu hören. Von Peg, der kleinen
Mary, William Henry und dem Rest seiner Familie sagte Richard
nichts. Es hätte zu viele schmerzliche Erinnerungen
wachgerufen.
»Dein Freund Willy war gesprächiger«, bemerkte
Lizzie anschließend enttäuscht.
»Mehr will ich nicht erzählen«, sagte Richard
gequält und
wechselte schnell das Thema. »Es sieht so aus, als würden wir
schon bald verlegt. Ich hoffe nur, dass mein Vetter James es noch
schafft, hierher zu kommen.«
Am 4. Januar stieg die Zahl der Männer in der
Gemeinschaftszelle wieder. Vier Männer aus Bristol und zwei aus
Wiltshire waren hinzugekommen. Zwei der Häftlinge aus Bristol waren
noch sehr jung, die anderen beiden Anfang dreißig und seit ihrer
Kindheit eng befreundet.
»Neddy und ich haben uns abends im Swan in der
Temple Street betrunken«, erzählte William Connelly und klopfte
Edward Perrott freundschaftlich auf die Schulter. »Was dann
geschah, weiß ich nicht mehr genau. Jedenfalls landeten wir im
Bristol Newgate und wurden vergangenen Februar vom Kriminalgericht
zu sieben Jahren Deportation nach Afrika verurteilt. Wir sollen
Kleider gestohlen haben.«
»Dafür, dass ihr ein Jahr in diesem Loch zugebracht
habt, seht ihr noch ganz gut aus«, sagte Richard. »Ich war drei
Monate dort, bevor ich hierher kam.«
»Du kommst auch aus Bristol?«
»Ja, aber mein Prozess fand hier statt, weil meine
Straftat in Clifton begangen wurde.«
William Connelly war unübersehbar irischer
Abstammung. Er hatte dicke, rostrote Haare, eine kurze Nase und
freche blaue Augen. Der stille Edward Perrot hatte die aschblonden
Haare, die lange Höckernase und das vorspringende Kinn des echten
Engländers.
Die beiden Häftlinge aus Wiltshire, William Earl
und John Cross, waren höchstens zwanzig Jahre alt und hatten sich
bereits mit den beiden Jugendlichen aus Bristol, Job Hollister und
William Wilton, angefreundet. Der einfältige Joey Long fühlte sich
gleich zu den jungen Burschen hingezogen, und auch Isaac Rogers
schloss sich ihnen an, was Richard zunächst erstaunte. Einige
Stunden später wusste er allerdings, warum. In ihrer Gesellschaft
konnte der Straßenräuber wieder den starken Mann spielen, der er
für seine alten Zellengenossen nicht mehr war, seit er aus Angst
vor dem Galgen die Nerven verloren hatte.
Zuletzt traf noch der Häftling aus Monmouth ein,
ein gewisser William Edmunds. Mit ihm war das Dutzend voll, das auf
den Abtransport nach Woolwich wartete.
»Herrje!«, rief Bill Whiting. »Fünf von den
Zwölfen, die nach Woolwich kommen, heißen William! Ich bin Bill,
und das bleibe ich auch. Wilton aus Bristol, du erinnerst mich an
die Heulsuse Willy Insell, deshalb heißt du ab sofort Willy.
Connelly aus Bristol, du bist Will, und du, Early aus Wiltshire,
Billy. Aber wie nennen wir den Fünften? Was hast du denn
verbrochen, Edmunds?«
»Ich habe in Peterstone ein Kalb gestohlen«, sagte
Edmunds im singenden Tonfall der Waliser.
Whiting brüllte vor Lachen und küsste den empörten
Waliser auf den Mund. »Noch ein Sodomit, bei Gott! Ich habe mir ein
Schaf für die Nacht ausgeborgt - ich wollte es nur ficken. An ein
Kalb habe ich noch nie gedacht!«
»Lass das!« Edmunds wischte sich empört den Mund
ab. »Du kannst ficken, wen du willst, aber mich nicht!«
»Er ist ein Waliser und ein Dieb«, sagte Richard
grinsend. »Wir nennen ihn Taffy.«
»Wurdest du zum Galgen verurteilt?«, fragte Bill
Whiting Taffy.
»Ja, schon zweimal.«
»Wegen eines Kalbes?«
»Nein, das zweite Mal wegen eines Fluchtversuchs.
Aber in Wales brodelt es zur Zeit und es wäre nicht klug gewesen,
einen Waliser zu hängen, auch nicht in Monmouth. Also wurde ich
begnadigt und abgeschoben.«
Richard fühlte sich zu Taffy ebenso hingezogen wie
zu Bill Whiting und Will Connelly. Taffys walisische Launen waren
wie über den Himmel jagende Wolken, zwischen denen immer wieder die
Sonne aufleuchtete. Aber Richard hatte ja selbst walisische
Wurzeln.
Am 5. Januar traf gerade noch rechtzeitig Vetter
James, der Apotheker, in Gloucester ein. Er war mit Säcken und
Holzkisten bepackt.
»Das Steueramt hat Ende Dezember über fünfhundert
Pfund gezahlt«,
sagte er und begann in dem Gepäck zu wühlen. »Ich habe sechs neue
Filtersteine mitgebracht, fünf davon mit dem dazugehörigen Gestell
und der Auffangschale aus Messing, weil ich fand, dass auch deine
fünf Freunde gesund bleiben sollten.«
»Wieso fünf Freunde, Vetter James?«, fragte Richard
verdutzt.
»Jem Thistlethwaite schrieb mir, die Männer auf den
Gefangenenschiffen würden in Sechsergruppen aufgeteilt, die
zusammen wohnen und arbeiten.« Vetter James sagte nicht, was Jem
ihm sonst noch über die Schiffe geschrieben hatte; er brachte es
nicht übers Herz. »Deshalb die fünf neuen Kisten. Alle enthalten
dasselbe wie deine, nur in kleineren Mengen. Ich habe auch deine
Werkzeugkiste mitgebracht.«
Richard überlegte, dann schüttelte er den Kopf.
»Nein, Vetter James, die Werkzeuge nicht. Zwar könnte ich sie in
dieser Botany Bay brauchen, doch sagt mir mein Verstand, dass sie
bis dahin weg wären. Bewahre sie auf und schick sie mir erst, wenn
du weißt, auf welches Schiff ich komme.«
»Hier sind noch ein paar Bücher von Reverend James,
diesmal vor allem Reiseberichte und Geographisches. Sie sind
schwerer, weil sie auf normales Papier gedruckt und in Leder
gebunden sind. Aber der Reverend hofft, dass sie sich als nützlich
erweisen und du sie und deine anderen Bücher in die Botany Bay
mitnehmen kannst.«
Was die praktischen Dinge betraf, schien nun alles
gesagt. Vetter James stand auf. »Die Botany Bay liegt am anderen
Ende der Welt, Richard, zehntausend Meilen weit weg, wenn du
fliegen könntest. Mit dem Schiff dürften es sogar um die
sechzehntausend sein. Ich fürchte, dass wir uns nicht wieder sehen
werden, und bin darüber zu Tode betrübt. Wenn man bedenkt, dass du
im Grunde gar nichts getan hast! Ich werde jeden Tag für dich
beten, solange ich lebe, Richard, und dein Vater, deine Mutter und
Reverend James ebenfalls. So viele Gebete bleiben gewiss nicht
unerhört. Gott wird dich gewiss beschützen!«
Richard umarmte ihn lange und küsste ihn auf die
Wangen. Dann schlich Vetter James gesenkten Hauptes hinaus, ohne
sich noch einmal umzudrehen.
Richard folgte ihm mit den Augen. Der Apotheker
ging den Weg
zwischen den Gemüsebeeten entlang und durch das Burgtor. Dann bog
er um die Ecke und verschwand. Ich werde auch für dich beten,
Vetter James, denn ich liebe dich mehr als meinen Vater.
Richard versammelte die anderen um den Tisch der
Gemeinschaftszelle. Lizzie Lock legte ihm die Arme um die
Schultern.
»Ich will mich nicht zum Anführer aufschwingen«,
sagte er zu den Fünfen, die ihm am nächsten standen - Bill Whiting,
Will Connelly, Neddy Perrot, Jimmy Price und Taffy Edmunds. »Ich
bin zwar siebenunddreißig und damit der Älteste von uns, aber ich
bin nicht aus dem Holz geschnitzt, aus dem Anführer geschnitzt
sind, das solltet ihr inzwischen wissen. Jeder muss selbst wissen,
was er will. Allerdings weiß ich einiges, und ich habe einen
Informanten in den politischen Kreisen Londons und in Bristol
meinen überaus klugen Vetter James, den Apotheker.«
»Den kenne ich«, sagte Will Connelly nickend.
»James Morgan aus der Corn Street. Ich erkannte ihn gleich, als er
reinkam, und dachte, bei Gott, dieser Richard Morgan hat wirklich
gute Beziehungen.«
»Die habe ich. Ich sage euch jetzt also, dass die
Männer auf den Gefangenenschiffen jeweils zu sechst zusammen wohnen
und arbeiten. Mein Vorschlag ist, dass wir, die wir sechs sind,
eine Gruppe bilden, bevor einer der Wärter auf den Schiffen uns
aufteilt. Ist euch das recht?«
Die anderen nickten ernst.
»Es ist unser Glück, dass wir zu zwölft nach London
kommen. Die anderen sechs sind jünger, mit Ausnahme von Ike, aber
er scheint ihre Gesellschaft der unsrigen vorzuziehen. Deshalb
werde ich ihm raten, mit seinen fünf Kameraden ebenfalls eine
Gruppe zu bilden. Dann können wir uns auf dem Schiff gegenseitig
beschützen.«
»Erwartest du Ärger, Richard?«, fragte Connelly
stirnrunzelnd.
»Ich weiß es nicht, Will. Wenn ich gewisse
Befürchtungen habe, dann eher wegen dem, was meine Leute mir
verschweigen als wegen dem, was sie mir erzählen. Wir kommen alle
aus dem Westen des Landes. Das wird auf den Gefangenenschiffen
nicht so sein.«
»Verstehe«, sagte Bill Whiting, ernst wie sonst
selten. »Lass uns also jetzt gleich beschließen, wie wir vorgehen
wollen, sonst ist es womöglich zu spät.«
»Wie viele von uns können lesen oder schreiben?«,
fragte Richard.
Connelly, Perrot und Whiting hoben die Hand.
»Vier. Gut.« Richard zeigte auf die fünf Kisten,
die neben ihm auf dem Boden standen. »Nun zu etwas anderem. Diese
Kisten enthalten Dinge, die wir brauchen, um gesund zu bleiben. Zum
Beispiel Filtersteine.«
»Ach Richard!«, rief Jimmy Price ungeduldig. »Du
machst ja geradezu eine Religion aus diesen albernen Filtersteinen!
Lizzie hat Recht, du führst dich auf wie ein Priester, der die
Messe liest.«
»Aber nur, weil ich unbedingt gesund bleiben will«,
sagte Richard unbeirrt. Er wandte sich an die beiden Männer aus
Bristol. »Will und Neddy, wie habt ihr ein Jahr im Bristol Newgate
überstanden, ohne krank zu werden?«
»Wir haben Bier oder Dünnbier getrunken«, sagte
Connelly. »Unsere Familien gaben uns Geld für gutes Essen und
Bier.«
»Als ich dort war, habe ich Wasser getrunken«,
sagte Richard.
»Unmöglich!«, rief Neddy Perrot entsetzt.
»Keineswegs. Ich habe das Wasser vorher durch
meinen Filterstein laufen lassen. Diese Steine machen schlechtes
Wasser sauber und genießbar, deshalb importiert mein Vetter James
sie aus Teneriffa. Wenn ihr auch nur einen Augenblick glaubt, das
Wasser aus der Themse wäre besser als das aus dem Avon, seid ihr
innerhalb einer Woche tot.« Richard zuckte die Schultern. »Es liegt
bei euch. Wenn ihr es euch leisten könnt, Dünnbier zu trinken,
soll’s mir recht sein. Aber bedenkt, dass wir in London keine
hilfsbereiten Verwandten in der Nähe haben. Und unsere Guineen
sollten wir sparen, statt sie für Dünnbier auszugeben. Vielleicht
brauchen wir sie noch, um jemanden zu bestechen.«
»Du hast Recht«, sagte Will Connelly und berührte
ehrfürchtig den Filterstein auf dem Tisch. »Ich werde mein Wasser
filtern, wenn ich es mir nicht leisten kann, Dünnbier zu trinken.
Das ist das Vernünftigste.«
Am Ende erklärten sich alle einverstanden, ihr
Wasser zu filtern, selbst Jimmy Price.
»Das wäre geregelt«, sagte Richard und ging zu Ike
Rogers hinüber, um mit ihm zu sprechen. Es tat ihm zwar Leid, dass
er keine zwölf Filtersteine hatte, aber nicht Leid genug, um die
sechs, die er hatte, auf zwölf Leute aufzuteilen. Ikes Gruppe würde
sich selbst helfen müssen. Wenigstens schien Ike reichlich Geld zu
haben.
Wenn wir zwei Gruppen bilden und zusammenhalten,
dachte Richard, dann haben wir eine Überlebenschance.