TEIL ZWEI
Oktober 1784 bis Januar 1786
Das Bristol Newgate lag in der Narrow Wine Street, zwei Gebäude hinter der Wasborough-Messinggießerei. Die acht Polizisten nahmen Richard und Willy Insell in die Mitte und marschierten mit ihnen auf dem kürzesten Weg zum Gefängnis. Sie betraten es durch ein Tor aus dicken Eisenstäben, das an ein Fallgitter erinnerte. Drinnen sah Richard als Erstes einen engen Korridor mit einer Türöffnung auf jeder Seite. Der Anführer der Polizisten schob die beiden durch die linke Tür, die anderen halfen mit einem Stoß von hinten nach, blieben aber selbst draußen.
»Die Gefangenen Morgan und Insell!«, bellte er. »Bitte unterschreiben!«
An einem Tisch saß mit ausgestreckten Beinen ein Mann. Träge griff er nach den beiden Schriftstücken, die der Polizist ihm vorlegte. »Und wo soll ich die beiden unterbringen?«, fragte er, während er zwei große Kreuze auf die Papiere malte.
»Das ist deine Sache, Walter«, sagte der Polizist kurz und ging.
Willy weinte hemmungslos, Richard stand ruhig und ungerührt da. Der Schock ließ allmählich nach, und er konnte wieder fühlen und denken. Im Grunde war er nicht überrascht. Mit Annemarie Latour hatte das Verhängnis begonnen, mit Ceely Trevillian nahm es seinen Lauf. Was wurde ihm vorgeworfen? Wann würde er es erfahren? Gewiss, er hatte die Uhr und den Schuldschein Ceelys, doch er hatte dem Mann in der Clifton Green Lane gesagt, Ceely würde seine Uhr zurückbekommen, und er hatte den Schuldschein nicht auf Ceelys Bank eingelöst. Warum hatte er sich nicht besser überlegt, was er tat?
Das Gefängnis war überfüllt, und das würde ihm helfen, freizukommen. Die praktisch denkende Richterschaft von Bristol war inzwischen gegen Zahlung einer Extrasumme zu einem Vergleich mit Gefangenen bereit. Richard würde dann zwar sein Leben lang Schulden haben, die er nur zurückzahlen konnte, wenn ein weiterer Krieg den Bedarf an Waffen erhöhte, doch er wusste, dass seine Familie ihn nicht im Stich lassen würde.
»Brot kostet einen Penny täglich bis zur Verhandlung«, sagte der Gefängnisaufseher, der Walter hieß. »Wenn du verurteilt wirst, erhöht sich der Betrag auf zwei Pennys.«
»Ich soll wohl verhungern«, entfuhr es Richard.
Der Aufseher kam hinter seinem Schreibtisch hervor und schlug Richard so heftig ins Gesicht, dass seine Lippe aufplatzte. »Keine frechen Bemerkungen, Morgan! Hier drinnen wird nach meinen Regeln gelebt und gestorben.« Er sah zur Tür. »Bewegt euch, ihr Trantüten!«
Zwei Männer mit Knüppeln stürmten ins Zimmer.
»Legt sie in Ketten!« Walter rieb sich die Hand.
Richard stillte das Blut mit seiner Hemdmanschette und folgte dem heulenden Willy über den Korridor in den gegenüberliegenden Raum, der an eine Sattlerei erinnerte, nur dass an den Wänden statt Lederriemen Eisenketten hingen.
Im Bristol Newgate galten Fußeisen als ausreichend. Ein zerlumpter Kerl, der für diese Gerätschaften des Elends zuständig war, legte Richard die Fesseln an. Die zwei Zoll breiten Eisen um seine Knöchel waren nicht vernietet, sondern mit Schlössern versehen und durch eine zwei Fuß lange Kette miteinander verbunden, sodass Richard zwar gehen, aber keine großen Schritte machen oder gar rennen konnte. Willy geriet in Panik und versuchte sich freizukämpfen. Sofort wurde er mit Knüppeln zu Boden geschlagen. Richard, dessen geplatzte Lippe immer noch blutete, sah stumm zu. Er hatte sich nach seiner Bemerkung zum Gefängnisaufseher geschworen, nie wieder jemanden zur Gewalt zu provozieren. Er fühlte sich an die Tage in Mr Colstons Schule erinnert - schweigend Platz nehmen, schweigend aufstehen, schweigend tun, was einem befohlen wurde, keine Aufmerksamkeit erregen.
Am Ende des Korridors kam ein zweites Gittertor. Ein Wärter öffnete es mit einem riesigen Schlüssel, dann wurden die beiden neuen Gefangenen Morgan und Insell in die »Hölle« dahinter gestoßen. Die »Hölle« war ein großer Raum, dessen Steinwände unaufhörlich Feuchtigkeit ausschwitzten. An vielen Stellen hatten sich lange Tropfsteine gebildet, die schwarz waren vom Ruß der Fabriken am Ufer der Froom. Möbel gab es keine, der geflieste Boden starrte vor jahrzehntealtem Dreck. Die Gefangenen, die den Raum bevölkerten, waren ausschließlich männlich und alle mit Fußeisen gefesselt. Die meisten saßen mit ausgestreckten Beinen auf dem Boden. Einige schlurften ziellos herum, zu entkräftet, um die mit Eisen beschwerten Füße über die Beine eines Leidensgenossen zu heben, der apathisch sitzen blieb, als hätte er den Schlag der Kette nicht gespürt. Wer aus der Gosse von Bristol kam, kannte den Gestank nach Fäulnis und Kot. Mangels Belüftung stank es hier allerdings noch viel schlimmer.
Nur an einer Türöffnung am anderen Ende des Raumes herrschte rege Betriebsamkeit. Richard hatte das Bristol Newgate zwar noch nie von innen gesehen, aber er vermutete, dass dahinter der Schankraum des Gefängnisses lag. Wer über das nötige Kleingeld verfügte, bekam dort Rum, Gin oder Bier. Bemerkungen von Dick und Vetter James, dem Apotheker, hatten Richard eine Vorstellung von den Zuständen im Newgate vermittelt. Er hatte sich vorgestellt, dass dort ständig um Geld, Schnaps, Brot und andere Dinge gekämpft wurde. Jetzt begriff er, dass die Wärter zu klug waren, um es so weit kommen zu lassen. Den Häftlingen fehlte die Kraft zum Kämpfen. Sie waren vom Hunger geschwächt, und viele von ihnen hatten auf leeren Magen getrunken. Sabbernd und misstönend vor sich hin summend lehnten sie mit ausgestreckten Beinen an der Wand und nahmen nichts mehr wahr.
Willy wich Richard nicht von der Seite. Er hing an ihm wie eine Klette. Wohin Richard auch ging, Willy folgte ihm heulend. Ich werde noch verrückt, dachte Richard. Das halte ich nicht aus. Trotzdem, ich betrinke mich nicht wieder mit Rum oder dem billigeren Gin. Schließlich ist der Albtraum hier in ein paar Monaten vorbei - eben dann, wenn die Gerichte sich mit mir und Willy befassen. Warum heult Willy bloß die ganze Zeit so jämmerlich? Was nützt ihm das?
Nach einer Stunde wurde Richard müde. Die Eisen um seine Knöchel begannen zu schmerzen. Er suchte sich ein freies Stück Wand, das breit genug für ihn und seinen Schatten war, setzte sich hin und streckte mit einem Seufzer der Erleichterung die Beine aus. Nun verstand er, warum alle Gefangenen so dasaßen. Wenn die Fußfesseln auf dem Boden auflagen, war ihr Gewicht nicht mehr zu spüren. Richard stellte fest, dass seine dicken Stricksocken vom Laufen mit den Fesseln bereits zerschlissen waren. Auch das war ein Grund, warum die meisten sich nicht von der Stelle bewegten.
Er hatte Durst. Aus der Wand, hinter der die Froom vorbeifloss, ragte ein Rohr, aus dem ein dünner Wasserstrahl in einen Pferdetrog plätscherte; ein zinnerner Schöpflöffel diente als Trinkgefäß. Richard starrte den Trog an, und im selben Augenblick blieb eine zerlumpte Gestalt davor stehen, um hineinzupinkeln. Richard sah, dass der Trog direkt neben vier unverkleideten Aborten stand, die für die Bedürfnisse von über zweihundert Männern ausreichen mussten. Wenn Vetter James, der Apotheker, Recht hat, dann sterbe ich, wenn ich dieses Wasser trinke, dachte Richard. Die Männer hier sind alle krank.
In diesem Augenblick erschien wie durch Richards Gedanken beschworen Vetter James im Tor zum Korridor. Einige Schritte hinter ihm folgte Dick.
»Vater!«, rief Richard. »Vetter James!«
Die beiden steuerten auf ihn zu. Das Entsetzen stand ihnen ins Gesicht geschrieben.
Zum ersten Mal sah Richard Dick auf die Knie fallen und zusammenbrechen. Richard strich beruhigend über die zuckenden Schultern seines Vaters und blickte über sie hinweg den Apotheker an.
»Wir haben euch einen Krug Dünnbier mitgebracht«, sagte Vetter James. Er zog den Krug aus einem Beutel. »Und etwas zu essen.«
Willy hatte sich in den Schlaf geweint, er wachte jedoch sofort auf, als Richard ihn schüttelte. Nie hatte etwas so gut geschmeckt wie dieses Bier! Richard reichte Willy den entstöpselten Krug, dann griff er in den Beutel. Im Beutel befanden sich Brot, Käse und ein Dutzend frische Äpfel. Richard befürchtete schon, die apathischen Gefangenen könnten sich beim Anblick der Köstlichkeiten in eine zähnebleckende, rasende Meute verwandeln, doch die Gefangenen blieben ruhig. Sie hatten jede Hoffnung aufgegeben.
Dick erlangte die Fassung wieder und wischte sich Augen und Nase am Hemd ab. »Das ist ja furchtbar! Einfach furchtbar!«
»Es wird nicht ewig dauern, Vater«, sagte Richard, ohne zu lächeln. Er wollte nicht, dass seine Lippe wieder aufplatzte und Dick sich noch mehr Sorgen machte. »Irgendwann wird mein Fall verhandelt und dann komme ich frei.« Er zögerte. »Kann ich gegen Kaution entlassen werden?«
»Das weiß ich noch nicht, aber morgen früh gehe ich als Erstes zu Vetter Henry, dem Anwalt, und dann begeben wir uns in die Höhle des Löwen, in das Büro der Staatsanwaltschaft«, sagte Vetter James eifrig. »Sei guten Mutes, Richard. Die Morgans sind in Bristol bekannt. Du bist ein unbescholtener Bürger aus guter Familie. Ich kenne den Laffen, der Anzeige gegen euch erstattet hat - er treibt sich gewöhnlich in der Nähe des Tolzey herum und schreit iah!, weil er so ein Esel ist.«
»Ich weiß ja nicht, wie die Nachricht sich so schnell verbreiten konnte«, sagte Dick, »aber noch bevor wir zu unserem Besuch hier aufbrachen, erschien Senhor Habitas. Seine älteste Tochter ist mit einem Elton verheiratet, und Sir Abraham Isaac Elton ist ein sehr guter Freund. Senhor Habitas meinte, du könntest sicher sein, dass Sir Abraham Isaac der Richter sein wird, der bei deiner Verhandlung den Vorsitz führt. Er wird dir zwar eine fürchterliche Moralpredigt über die Versuchungen der Lilith halten, doch es fehlt an Beweisen. Alles hängt davon ab, was der Richter seinen Geschworenen rät. Und dieser Ceely Trevillian ist doch eine verächtliche Kreatur - die Geschworenen werden ihn sofort durchschauen und auslachen.«
Die beiden Morgans blieben nicht lange, und wenig später war Richard heilfroh darüber. Die Anspannung und das Dünnbier hatten eine fatale Wirkung auf seine Gedärme. Er musste sich mit heruntergelassenen Hosen auf eine verdreckte Kloschüssel setzen, vor aller Augen, auch wenn das niemanden außer ihn selbst kümmerte. Es war auch kein Lappen da, den er zum Abwischen benutzen und anschließend in einen Waschzuber mit Seifenwasser hätte werfen können. Verschmiert wie er war, musste er aufstehen und die Unterhosen hochziehen. Mit geschlossenen Augen kämpfte er gegen die tiefste Scham, die er je empfunden hatte. Von da an roch er sich selbst stärker als den Gestank seiner Umgebung.
Bei Einbruch der Dunkelheit wurden die Gefangenen von der Gemeinschaftszelle in den Männerschlafsaal verlegt, zu dem eine Treppe hinaufführte. Die Pritschen in dem ebenfalls riesigen Raum reichten längst nicht für alle Insassen. Einige waren mit Kranken belegt, die offenbar den ganzen Tag dort zugebracht hatten. Sie wanden sich in Fieberkrämpfen oder bewegten sich überhaupt nicht mehr. Da Richard und Willy noch neu und deshalb schnell waren, ergatterten sie zwei freie Pritschen. Es gab keine Matratzen, keine Leintücher, keine Kissen und keine Decken, und überall klebten die angetrockneten Spuren von Durchfall und Erbrochenem.
Hier zu schlafen schien unmöglich. Es war eiskalt und feucht, und Richard hatte nur seinen Mantel zum Zudecken. Willy war vom Weinen so erschöpft, dass ihn nicht einmal die Schrecken des Bristol Newgate wach halten konnten. Richard dankte einem mitleidlosen Gott für diese kleine Gnade. Er lag da und lauschte auf das Schnarchen und Stöhnen, ein gelegentliches trockenes Husten, das Würgen von jemandem, der sich erbrach, und das herzzerreißende Weinen eines kleinen Jungen. Nicht alle Gefangenen waren Erwachsene. Richard hatte etwa zwanzig Jungen gezählt, die zwischen sieben und dreizehn Jahre alt sein mochten. Keins dieser Kinder erschien ihm besonders verdorben oder verbrecherisch veranlagt, auch wenn über die Hälfte von ihnen betrunken waren. Sie hatten irgendwo einen Becher Gin oder ein Taschentuch geklaut, und das zornige Opfer hatte sie angezeigt. Im Cooper’s Arms kam es nie so weit, weil Dick es schlicht nicht zuließ. Wenn dort ein Kind von der Straße hereinkam und einem vor sich hin träumenden Gast einen Becher Rum vor der Nase wegstahl, konnte Dick die Gemüter immer beschwichtigen, indem er den Bengel zur Tür hinauswarf und dem Geschädigten einen Rum spendierte. Außerdem kam so etwas höchstens ein- oder zweimal im Jahr vor. In der Broad Street wurden gewöhnlich nur Brieftaschen geklaut oder Verleumdungen eingefädelt.
Im Grunde hatten Dick und Vetter James eine gute Nachricht überbracht. Senhor Habitas war ein unverhoffter Verbündeter - gewiss machte er sich immer noch Vorwürfe, weil er es gewesen war, der Richard Thomas Latimer vorgestellt hatte. Der Arme! Was konnte er dafür? Solche Dinge passieren, dachte Richard schläfrig. Er schloss die Augen und fiel sofort in einen traumlosen Schlaf.
 
Am späten Nachmittag des folgenden Tages erschien Dick allein. Über der Schulter trug er einen Beutel mit Essen und Dünnbier.
»Jim ist immer noch in der Kanzlei von Vetter Henry«, erklärte er. Er hockte sich dicht neben Richard auf den Boden, damit kein anderer außer dem gespannt lauschenden Willy ihn hören konnte.
»Es ist anders gekommen als erwartet«, sagte Richard ausdruckslos.
»Ja.« Dick ballte die Fäuste und biss die Zähne zusammen. »Dein Prozess wird nicht in Bristol stattfinden, Richard. Ceely Trevillian hat seine Klage bei den Behörden von Gloucester eingereicht, mit der Begründung, die Straftat sei in Clifton begangen worden, also außerhalb Bristols. Du bist nur vorübergehend in Newgate in Haft - bis die Klage offiziell angenommen ist und die Zeugenaussagen vorliegen, was immer das bedeutet.« Er gestikulierte aufgebracht mit den Händen. »Mir dröhnt der Kopf vor juristischen Phrasen! Ich verstehe sie nicht, habe sie nie verstanden und werde sie auch nie verstehen!«
Richard lehnte den Kopf an die rußgeschwärzte Wand und starrte über die gebeugte Gestalt seines Vaters weg zu dem verseuchten Pferdetrog und den verdreckten Kloschüsseln. »Egal, Vater«, sagte er schließlich mit zugeschnürter Kehle. »Im Augenblick habe ich sowieso andere Probleme.« Er deutete auf seine Füße. »Vor allem brauche ich dringend Lappen, um diese Eisen zu polstern. Meine Strümpfe sind jetzt, nach einem Tag, schon durchgescheuert. Morgen wird es meine Haut sein und übermorgen mein Fleisch. Wenn ich hier rauskommen will - und ich schwöre dir, ich werde rauskommen! -, muss ich gesund bleiben. Und solange ich Dünnbier trinke und Brot, Käse, Fleisch und Obst oder grünes Gemüse esse, bleibe ich das.«
»Du wirst nach Gloucester Castle verlegt«, sagte Dick. Seine Lippen zuckten. »In Gloucester kenne ich niemanden.«
»Die anderen Morgans kennen wahrscheinlich auch niemanden. Ein durchtriebener Bursche, dieser Ceely Trevillian! Wie er darauf brennt, mich zu vernichten. Warum? Wegen des Steuerbetrugs? Will er seinen Hals retten? Oder weil ich ihn als Mann gedemütigt habe?« Richard schüttelte lächelnd den Kopf. »Wahrscheinlich wegen beidem.«
»Mir kam ein Gerücht zu Ohren«, sagte Dick zögernd.
»Erzähle, Vater«, sagte Richard leise. »Ich bin kein Kind mehr. Du brauchst keine Angst zu haben, dass ich dir Schande bereite.«
Sein Vater wurde rot. »Ich habe das Gerücht von Davy Evans, meinem neuen Rumbrenner - er brennt einen köstlichen Tropfen, Richard! In seiner Branche heißt es, Cave und Thorne seien sofort zu Trevillian gegangen, als sie von deinem Streit in Clifton erfuhren, und hätten ihn gebeten, dich und Willy zu verklagen. Wir beide wissen, dass Trevillian an dem Steuerbetrug beteiligt ist, doch die Spirituosenhändler haben keine Ahnung davon. Sie stellten die Verbindung auf andere Weise her. Laut Davy Evans wollen Cave und Thorne, dass ihr beide verurteilt werdet, bevor die Steuersache zur Verhandlung kommen kann. Dann gibt es keine Verhandlung, weil verurteilte Straftäter nicht aussagen können. Außerdem war Cave beim Leiter der Steuerbehörde, bei John Fisher, dem Bruder deines Benjamin Fisher - es bleibt wie immer in der Familie -, und bot ihm eine Nachzahlung von 1600 Pfund an. Die Fisher-Brüder haben natürlich von deiner und Willys Verhaftung erfahren und wissen ganz genau, was Trevillian damit bezweckt, doch können sie leider nichts beweisen.«
»Wir sollen also verurteilt werden, damit wir nicht aussagen können.«
Willy begann wieder zu heulen wie ein Schlosshund. Richard fuhr zu ihm herum und packte ihn so fest am Arm, dass er einen schrillen Schmerzensschrei ausstieß.
»Schluss jetzt, Willy! Sei endlich still! Noch eine Träne und ich befördere dich trotz meiner Fesseln mit den Füßen ans andere Ende des Raumes. Dann kannst du dort am Fieber verrecken!«
Dick starrte Richard mit offenem Mund an. Willy verstummte.
Vom Eingang steuerte Vetter James auf sie zu. Hinter sich zog er eine Holzkiste von der Größe eines Schrankkoffers her. Gut, dass Vetter James gerade jetzt kommt, dachte der fassungslose Dick. Was hätte er diesem Fremden sonst sagen sollen?
»Hier sind ein paar Sachen für dich, Richard, aber dazu später«, sagte Vetter James und setzte ächzend die Kiste ab. In seinen Augen schimmerten Tränen. »Es sieht immer schlechter für dich aus.«
»Das überrascht mich nicht, Vetter James.«
»Die Gesetze sind so unbegreiflich, Richard! Ich gestehe, dass ich nur die wenigen kenne, die meinen kleinen Bereich betreffen, und ich schätze, das geht allen so, auch den armen Teufeln, die in deine missliche Lage geraten.« Er streckte Richard die Hand hin. Richard ergriff sie und spürte, wie sie sich um seine klammerte. »Du hast kaum Rechte, schon gar nicht außerhalb der Stadtgrenzen. Vetter Henry hat alles versucht, und Reverend James und ich waren bei allen einflussreichen Männern, die wir kennen, aber das Gesetz besagt, dass wir weder Ceelys eidliche Aussage lesen noch die Namen seiner Zeugen erfahren dürfen. Es ist furchtbar, unfassbar! Ich hatte gehofft, Kaution stellen zu können, doch bei schweren Straftaten ist das nicht möglich, und man beschuldigt dich …« - er stockte und schluckte - »… des schweren Diebstahls und der Erpressung! Das sind Kapitalverbrechen und - Richard, du kannst dafür gehängt werden!«
»Ich habe mir das alles selbst zuzuschreiben«, sagte Richard müde.
»Trotzdem wäre es interessant, zu erfahren, was für eine Erpressung Ceely meint. Schließlich hat er einem betrogenen Ehemann als außergerichtlichen Vergleich einen Schuldschein angeboten. Oder behauptet er jetzt, ich sei nicht mit Annemarie verheiratet und hätte ihn unter Vorspiegelung falscher Tatsachen erpresst? Wenn ich Annemarie meine Frau nenne, dann ist sie das nach herkömmlichem Recht auch, sofern ich nicht schon eine Frau habe, und das habe ich nicht. So viel verstehe ich immerhin vom Recht.«
»Leider wissen wir nicht, was er unter Eid ausgesagt hat«, sagte Dick gequält.
»Als Erstes müssen wir Annemarie Latour finden. Sie kann meine Version vor Gericht bestätigen.«
»Du darfst nicht in eigener Sache aussagen, Richard«, sagte Vetter James leise. »Der Angeklagte hat zu schweigen. Er darf zu seiner Verteidigung lediglich Leumundszeugen beibringen und sich einen Anwalt nehmen, der die Zeugen der Anklage ins Kreuzverhör nimmt - wenn er sich einen leisten kann. Sein Anwalt kann ihn weder zur Sache befragen noch neue Beweise vorlegen. Und was die Frau betrifft - sie ist verschwunden. Eigentlich sollte sie als Mitangeklagte im Frauentrakt von Newgate sitzen, aber dort ist sie nicht. Ihre Zimmer in Clifton wurden geräumt, und niemand scheint zu wissen, wohin sie verschwunden ist.«
»Was ist das für ein seltsames Land«, sagte Richard. »Wir lernen die Gesetze, die hier herrschen, erst kennen, wenn wir von ihnen betroffen sind. Darf mein Anwalt den Geschworenen wenigstens eine eidliche Aussage vorlesen?«
»Nein. Du darfst nur reden, wenn der Richter dir eine Frage stellt, und dann darfst du nur die Frage beantworten.«
»Können wir Annemarie nicht über Mrs Barton ausfindig machen?«
»Es gibt gar keine Mrs Barton.«
Willy schluchzte laut auf.
»Nicht doch, Willy«, sagte Richard leise. »Bitte.«
»Das ist ja furchtbar!«, rief Dick.
»Wir wissen also nicht, wie Ceely gerichtlich gegen mich vorgehen will, wer seine Zeugen sind und was sie aussagen werden«, fasste Richard ruhig zusammen. »Und der Prozess findet in Gloucester statt, vierzig Meilen von hier.«
»So sieht es aus«, sagte Vetter James.
Richard saß eine Weile schweigend da und kaute auf seiner Lippe. Er wirkte eher nachdenklich als beunruhigt. Dann zuckte er die Achseln. »Das ist alles noch weit weg«, sagte er. »Bis dahin habe ich ein paar dringende Bedürfnisse. Ich brauche Lappen, um meine Fußfesseln zu polstern, Lappen, um mich zu waschen, und Lappen, um mir den Hintern abzuwischen.« Er machte eine Grimasse. »Letztere werde ich unter dem Wasserrohr waschen und notfalls feucht benutzen. Unsere bedauernswerten Mithäftlinge haben zwar kaum noch die Kraft zum Stehlen, doch wenn ich die Lappen zum Trocknen aufhänge, sind sie wahrscheinlich bald verschwunden. Ich werde einen der Wärter bezahlen müssen, damit er mir die Haare abschneidet. Ich brauche Seife, alle paar Tage etwas Wäsche zum Wechseln - Hemden, Strümpfe, Unterhosen - und saubere Lappen, jede Menge saubere Lappen. Und Geld für Dünnbier. Ich wette, das Wasser da drüben kommt aus der Leitung von Pugsley’s Well und ist ungenießbar. Hier sind so viele krank.« Er holte tief Luft. »Ich weiß, dass ich euch Geld koste, aber ich schwöre euch, sobald ich frei bin, fange ich an, es euch zurückzuzahlen.«
Vetter James öffnete die Holzkiste. »Ich habe bereits an Lappen gedacht«, sagte er und kramte sie hervor. »Pass auf die Kiste auf, so gut es geht. Setz dich drauf oder mach’s wie Dick und binde sie an deinem großen Zeh fest. Der Wärter hat sie natürlich gründlich durchsucht, bevor er mich hereinließ.« Er kicherte. »Keine Feilen oder Metallsägen, das war seine einzige Sorge. Ich finde es zwar befremdlich, aber ein Rasiermesser und eine Schere darfst du haben. Offenbar kümmert es die Wärter nicht, ob ihr euch die Kehlen durchschneidet. Außerdem ein Streichriemen und ein Wetzstein.« Er nahm die Schere heraus und reichte sie Dick. »Fang an zu schneiden, Vetter.«
»Ich soll Richard die Haare abschneiden?«, rief Dick entsetzt. »Das kann ich nicht.«
»Du musst. An Orten wie diesem wimmelt es von Ungeziefer aller Art. Kurze Haare bieten zwar keinen völligen Schutz, aber sie dämmen die Plage zumindest ein. Ich habe auch einen Kamm mit ganz feinen Zähnen mitgebracht, Richard. Schneide auch deine Körperhaare oder zupfe sie aus.«
»Ich habe nur sehr wenige, deshalb wird Schneiden genügen.« Vetter James durchsuchte die Kiste weiter. Er packte einen schweren, sperrigen Gegenstand und zog ihn mühsam heraus. Triumphierend stellte er ihn auf den Boden. »Ist das nicht ein kleines Wunder?«
Richard, Dick und Willy starrten das Ding verständnislos an.
»Bestimmt, Vetter James«, sagte Richard, »aber was ist es denn?«
»Ein Filterstein«, erwiderte Vetter James stolz. »Der unten spitz zulaufende Teil aus Stein bildet, wie du siehst, eine Schale, die ungefähr drei Pint Wasser fasst. Das Wasser sickert durch den Stein und tropft in die Messingschale darunter. Ich weiß nicht, welche magischen Kräfte dem Stein innewohnen, aber das Wasser in der Auffangschale ist so rein und frisch wie das beste Quellwasser.«
»Vetter James«, sagte Richard mit einem Lächeln, aus dem eine tiefe Zuneigung sprach. »Ich könnte dir vor Freude die Hände und die Füße küssen.«
»Nicht notwendig, Richard.« Der Apotheker stand auf und klatschte sich den Staub von den Händen. Dann sagte er ernst: »Ich habe dir die Kiste heute gebracht, weil niemand mir sagen will, wann du nach Gloucester verlegt wirst. Da die nächste Sitzung des Geschworenengerichts nicht vor der Fastenzeit stattfindet, kann das noch dauern. Es kann aber auch schon morgen so weit sein. Vetter James, der Kirchenmann, lässt dir übrigens ausrichten, dass er dich besuchen will.«
»Ich freue mich schon darauf, ihn zu sehen«, sagte Richard und stand auf. Dick hockte noch auf dem Fußboden und klaubte die abgeschnittenen Haare zusammen. »Vater, wasch dir die Hände mit Essig und Teeröl, wenn du heimkommst. Vorher darfst du dir nicht ins Gesicht fassen. Und bring mir bitte saubere Unterhosen und Seife!«
 
Richard wurde nicht am folgenden Tag verlegt. Er und Willy blieben bis Anfang 1785 im Bristol Newgate. Das war einerseits ein Segen - seine Familie konnte ihn mit allem Lebensnotwendigen versorgen -, andererseits ein Fluch - seine Familie bekam das ganze Elend mit, in das er geraten war.
Auch Mag wollte Richard unbedingt besuchen. Doch als sie ihn mit geschorenem Haupt inmitten der zerlumpten Gestalten sah, die mehr tot als lebendig waren, wurde sie vor Schreck ohnmächtig.
Es sollte noch schlimmer kommen. Nach Weihnachten erschien Vetter James, der Apotheker, allein. »Dein Vater hatte einen Schlaganfall, Richard.«
Die Augen, mit denen Richard ihn ansah, waren nicht wieder zu erkennen. Nach dem Tod von William Henry hatten sie noch ab und zu humorvoll aufgeblitzt. Jetzt nicht mehr. Es war zwar noch Leben in ihnen, doch sie nahmen nur noch passiv wahr. »Wird er sterben, Vetter James?«
»An diesem Schlaganfall nicht. Ich habe ihn auf eine strenge Diät gesetzt und hoffe, dass ich einen zweiten und dritten verhindern kann. Sein linker Arm und sein linkes Bein sind in Mitleidenschaft gezogen, doch kann er noch sprechen und klar denken. Er lässt dich grüßen, aber wir sind der Meinung, dass ein Besuch in Newgate ihm nicht gut täte.«
»Was wird nun aus dem Cooper’s Arms? Es wird ihn umbringen, das Lokal aufgeben zu müssen!«
»Das braucht er nicht. Dein Bruder hat seinen ältesten Sohn hingeschickt. Er soll dort Gastwirt lernen - ein tüchtiger Junge und nicht so geldgierig wie William. Ich glaube, der Junge ist froh, sein Elternhaus verlassen zu können. Du weißt ja, wie streng und herrschsüchtig Williams Frau ist.«
»Ich könnte mir vorstellen, dass sie Will strengstens verboten hat, mich im Gefängnis zu besuchen. Sicher bedauert er, dass ihm nun keiner mehr kostenlos die Sägen schränkt.« Richard sagte es ohne Groll. »Und Mutter?«
»Mag ist Mag. Ihre Antwort auf alles ist Arbeit.«
Richard schwieg. Mit ausgestreckten Beinen saß er auf den Fliesen, Willy wie einen Schatten neben sich. Vetter James kämpfte mit den Tränen. Er versuchte sich Richard als Fremden vorzustellen - was ihm in letzter Zeit gar nicht so schwer fiel. Wie war es möglich, dass Richard jetzt so viel besser aussah als früher? Oder war es ihm bisher nur nicht aufgefallen? Die kurz geschorenen Haare, die sich zu kräuseln versuchten, obwohl sie nicht mehr als einen halben Zoll lang waren, brachten den wohlgeformten Schädel und das ebenmäßige, faltenlose Gesicht mit den hervortretenden Backenknochen und der markanten Adlernase stärker zur Geltung. Wenn sich etwas verändert hatte, dann der Mund. Er wirkte trotz der sinnlichen Unterlippe jetzt härter und fester, weniger verträumt. Die schmalen schwarzen Brauen hatten schon immer dicht über den Augen gelegen, doch jetzt wirkten sie geradezu wie ein Teil der Augen, als seien sie eingraviert worden, um die Augen zu betonen.
Richard ist sechsunddreißig, dachte Vetter James, und Gott prüft ihn, wie er Hiob geprüft hat, doch irgendwie dreht Richard den Spieß um, ohne sich von Gott abzuwenden oder ihn zu verfluchen. Im vergangenen Jahr hat er nicht nur seine Frau und sein einziges Kind verloren, sondern auch sein Vermögen, seinen guten Ruf und den Kontakt zu Angehörigen wie seinem egoistischen Bruder. Doch sich selbst hat er nicht verloren. Wie wenig wir doch über Menschen wissen, die wir zu kennen glauben, weil wir das ganze Leben mit ihnen zusammen waren.
Plötzlich leuchteten Richards Augen auf und er lächelte strahlend. »Mach dir um mich keine Sorgen, Vetter James. Das Gefängnis kann mich nicht zerstören. Ich werde es überstehen.«
 
Vielleicht weil nur wenige Sträflinge von Bristol nach Gloucester verlegt wurden, erfuhren Richard und Willy den Termin erst zwei Tage vorher, in der ersten Januarwoche.
»Ihr dürft mitnehmen, was ihr tragen könnt, mehr nicht«, sagte Walter, der Gefängnisaufseher, als sie ihm vorgeführt wurden. »Einen Karren dürft ihr nicht benutzen.«
Er teilte ihnen nicht mit, von wo aus und mit welchem Verkehrsmittel sie aufbrechen würden, und Richard fragte ihn auch nicht danach. Willy hätte gerne gefragt, doch noch bevor er den Mund aufmachen konnte, trat Richard ihm auf den Fuß und er zuckte vor Schmerzen zusammen.
In Wahrheit bedauerte Walter es sehr, dass Richards Zeit in Newgate zu Ende ging. Der Gefangene hatte ihm während seiner dreimonatigen Haft ein hübsches Sümmchen eingebracht. Richards Verwandten versorgten Richard und Insell mit Essen, was für Walter einen Extraverdienst von zwei Pennys am Tag bedeutete. Richards Vater schickte einmal die Woche eine Gallone guten Rum in Walters Büro, und sein Vetter, der Apotheker, drückte Walter regelmäßig eine Krone in die aufgehaltene Hand. Ohne diese Sonderzuwendungen hätte Walter Richard bis zu seiner Verlegung nach Gloucester zur Sicherheit ins St. Peter’s Hospital sperren lassen, denn er hielt ihn für einen unberechenbaren Irren!
Richard wusch sich täglich am ganzen Körper mit Seife und eiskaltem Leitungswasser. Er hielt seinen Hintern über die Kloschüssel, statt sich draufzusetzen, und wischte ihn mit einem Lappen ab, den er anschließend auswusch. Er schnitt sich regelmäßig die Haare ab, ging nie in den Schankraum und las die meiste Zeit Bücher, die sein Vetter, der Pfarrer der St.-James-Kirche, ihm brachte. Doch seine verrückteste Angewohnheit war, dass er jeden Tag eine dicke Steinschale mit Wasser aus der Leitung füllte und nur das trank, was aus dem Stein in die Messingschale darunter tropfte. Als Walter ihn neugierig fragte, was er da mache, antwortete er, er verwandle Wasser in Wein wie Jesus bei der Hochzeit zu Kana. Der litt wirklich unter Wahnvorstellungen!
In den verbleibenden zwei Tagen traf Richard Vorbereitungen, sich den Aufenthalt im Gefängnis von Gloucester zu erleichtern.
Vetter James, der Kirchenmann, brachte ihm einen neuen Mantel. »Wie du siehst, Richard, hat deine Base Elizabeth« - James’ Frau - »ein dickes Wollfutter in den Mantel genäht und dir zwei verschiedene Paar Handschuhe mitgegeben. Die ledernen sind an den Fingerspitzen offen, die gestrickten nicht. Und ich habe die Taschen des Mantels gefüllt.«
Kein Wunder, dass der Mantel so schwer war. Beide Taschen waren mit Büchern voll gestopft.
»Ich habe die Bücher über Sendall in London bestellt«, erklärte Vetter James, der Kirchenmann. »Sie sind auf ganz dünnes Papier gedruckt, und ich habe darauf geachtet, dir nicht zu viel Theologisches zuzumuten. Nur eine Bibel ist dabei und das Gebetbuch der anglikanischen Kirche.« Er zögerte. »Bunyan ist ein Baptist, wenn man das eine Religion nennen kann, aber ich halte Die Pilgerreise für ein großartiges Buch, deshalb habe ich es auch dazugepackt. Und Milton.«
Richard fand außerdem einen Band mit Shakespeares Tragödien, einen zweiten mit seinen Komödien und John Donnes Übersetzung von Plutarchs Heldenleben. Er nahm Reverend James’ Hand und drückte sie mit geschlossenen Augen an seine Wange. Sieben Bücher von handlichem Format, gebunden in biegsames Leinen und gedruckt auf extradünnes Papier. »Mit dem Mantel, den Handschuhen, der Bibel, Bunyan, Shakespeare und Plutarch hast du für meinen Körper, meine Seele und meinen Geist gesorgt. Ich kann dir gar nicht genug danken.«
Vetter James, der Apotheker, nahm sich Richards Gesundheit an. »Hier ist ein neuer Stein für deinen Filterapparat. Wechsle ihn aber erst, wenn es nötig ist - Gott sei Dank ist der Stein kaum schwerer als Bimsstein. Hier haben wir Teeröl und eine neue, besonders ergiebige Seife. Du verbrauchst deine Seife viel zu schnell, Richard! Hier ist etwas von meiner Asphaltspezialsalbe - sie heilt alles vom Geschwür bis zur Schuppenflechte. Tinte und Papier - ich habe den Korken mit Draht festgebunden, damit die Flasche nicht auslaufen kann. Und schau dir das an, Richard!« Die Begeisterung über die neue Erfindung ließ ihn seinen Kummer für einen Augenblick vergessen. »Das sind so genannte ›Schreibfedern‹, weil sie dieselbe Funktion erfüllen wie die Spitze eines angeschnittenen Federkiels. Man steckt sie in die stählerne Fassung am Ende dieses Holzstiels. Ich habe die Federn aus Italien kommen lassen, obwohl sie in Arabien hergestellt werden - Gänse scheint es in Arabien kaum zu geben. Noch ein Rasiermesser, für alle Fälle. Eine große Büchse Malz, falls du zu wenig Obst oder Grüngemüse bekommst - Malz ist gut gegen Skorbut. Und Lappen, jede Menge Lappen. Meine Frau und deine Mutter haben den Stoffhändlern der Nachbarschaft alle Leintücher abgekauft, die sie vorrätig hatten. Dazu eine Mullbinde und ein blutstillendes Mittel. Und eine Flasche von meinem patentierten Stärkungsmittel, dem ich ein Dram Gold beigefügt habe, damit du keine Furunkel bekommst. Falls du Furunkel oder Karbunkel bekommst, wenn du das Stärkungsmittel aufgebraucht hast, dann kaue ein paar Tage lang etwas Schrot. Was nicht mit Lappen ausgestopft ist, ist mit Kleidern ausgestopft.«
Vetter James hatte fast alles in der Kiste untergebracht. Jetzt runzelte er die Stirn. »Ich fürchte, du wirst ein paar Sachen in die Manteltaschen stecken müssen, Richard.«
»Die sind schon voll«, sagte Richard bestimmt. »Reverend James hat mir Bücher gebracht, und auf die kann ich nicht verzichten. Wenn mein Geist verkümmert, nutzt mir ein gesunder Körper nichts mehr, Vetter James. Was meinen Geist in den letzten drei Monaten gesund erhalten hat, war die Möglichkeit zu lesen. Das Schlimmste an der Gefangenschaft ist die erzwungene Untätigkeit. Zu Bunyans Zeit - ja, Bunyans Pilgerreise habe ich dabei - durfte ein Häftling nützliche Arbeiten verrichten und das, was er herstellte, sogar verkaufen, um seine Frau und seine Kinder zu unterstützen, so wie Bunyan es zwölf Jahre lang tat. In Newgate stört es die Wärter schon, wenn wir herumlaufen. Ohne Bücher wäre ich verrückt geworden. Deshalb muss ich sie behalten.«
»Verstehe.«
Nach vielem Ein-, Aus- und Umpacken war schließlich doch alles in der Kiste verstaut, allerdings war sie so voll, dass die beiden massiven Schnappschlösser erst zugingen, als Willy sich auf den Deckel setzte. Den Schlüssel hängte Richard sich an einem Lederriemen um den Hals. Er hob die Kiste hoch. Sie wog mindestens fünfundzwanzig Kilo.
Willy hatte auch eine Kiste erhalten, die allerdings kleiner und leichter war.
»Ich kann nicht in Worte fassen, wie dankbar ich dir bin«, sagte Richard zu Vetter James. Seine Augen strahlten vor Freude und Liebe.
»Ich danke Ihnen ebenfalls«, sagte Willy zu Tränen gerührt.
Dann nahmen sie Abschied voneinander. Sie würden sich erst um die Fastenzeit vor dem Geschworenengericht wieder sehen. Am frühen Morgen des 6. Januar schlurften Richard und Willy mit ihren Kisten durch das Gittertor auf den Korridor. Dort holten Walter und ein Fremder mit einem Knüppel sie ab und stießen sie in den Raum mit den Eisenketten an den Wänden. Richard dachte schon, die Fußfesseln würden ihnen für die Reise abgenommen, und stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Die Kiste war schon schwer genug. Doch er hatte sich zu früh gefreut. Der zerlumpte Verwalter der Schreckenskammer legte ihm ein zwei Zoll breites Eisenband um die Taille und schloss es vorne ab. Außerdem verpasste er ihm Handschellen, die er durch zwei Fuß lange Ketten mit dem Schloss auf Richards Bauch verband. Dann entfernte er die Kette zwischen Richards Füßen und kettete die Fußschellen ebenfalls an den Eisengürtel. An dem Schloss über Richards Bauchnabel liefen damit vier Ketten zusammen. Richard konnte jetzt zwar größere Schritte machen, doch die Ketten schränkten seine Bewegungsfreiheit derart ein, dass er nie hätte fliehen können.
Irgendwie gelang es ihm, seine Kiste hochzuheben. Mit einem seltsamen Gefühl der Genugtuung stellte er fest, dass die Ketten zwischen seinen Handgelenken und dem eisernen Gürtel eine Art Netz bildeten, das die Kiste hielt und ihr Gewicht auf seine Arme und seinen Oberkörper verteilte.
»Wenn du die Kiste so hältst, Willy, lässt sie sich leichter tragen«, sagte er zu seinem Schatten.
»Mund halten!«, bellte Walter.
Die schneidend kalte Luft draußen tat gut und roch himmlisch. Tief einatmend und mit weit offenen Augen schritt Richard vor ihrem Bewacher her, der bisher noch kein Wort gesagt hatte. War er ein Hilfspolizist aus Bristol?
Was für eine Wohltat, aus dem stinkenden Verlies, herauszukommen! Das Gefängnis von Gloucester, einer kleinen Provinzstadt, war vermutlich erträglicher als das von Bristol. Schließlich stand in allen Zeitungen zu lesen, dass auf dem Land viel weniger Straftaten begangen wurden als in den Großstädten. Richard konnte sich auch damit trösten, dass er den größeren Teil seiner Haft bereits hinter sich hatte. Zur Fastenzeit, Ende März, fanden in Gloucester die nächsten Gerichtstage statt.
Endlich frische Luft! Der bedrohlich finstere Himmel verhieß Schnee, doch Richard fror nur an den Ohren, die nicht mehr von Haaren bedeckt wurden. Sein Dreispitz mit der nach oben gebogenen Krempe schützte nur seinen Kopf. Aber was machte das schon? Mit leuchtenden Augen stapfte er die Narrow Wine Street entlang. Bei jedem Schritt klirrten seine Ketten.
Es war noch früh am Morgen, doch die Bürger von Bristol standen zeitig auf. Sie mussten kurz nach Tagesanbruch an ihrer Arbeitsstätte sein. Dort arbeiteten sie im Winter acht, im Frühjahr und Herbst zehn und im Sommer zwölf Stunden. Deshalb sahen viele Menschen die drei Männer durch die Stadt laufen, die beiden Gefangenen voran, der Bewacher hinterher. Erschrecken malte sich auf Gesichtern, Passanten wechselten schnell die Straßenseite - niemand wollte einen Verbrecher streifen.
Die Tore der Wasborough-Messinggießerei standen weit offen. Drinnen herrschte ein Inferno aus Flammen und Lärm - offenbar bekam die Königliche Marine jetzt die flachen Messingketten, die sie für ihre neuen Bilgenpumpen brauchte. Seit Richard sein Geld verloren hatte, war er nicht mehr dort gewesen.
»Dolphin Street«, brummte der Hilfspolizist kurz, als sie die Straßenecke erreichten. Sie gingen also nicht in Richtung Cooper’s Arms, sondern nach Norden, über die Froom. Natürlich, denn an der Kreuzung von Kingsdown Street und Horsefield Street begann die Mautstraße nach Gloucester.
Von der Dolphin Street gelangten sie in deren neu gebaute Verlängerung, die dreißig Fuß breite Union Street. Sie kamen an großen glitzernden Schaufenstern und kunstvoll geschnitzten Türen mit funkelnden Messingbeschlägen vorbei. Der neue Boulevard war dreimal so breit wie die Narrow Wine Street, sodass die Passanten, die vor ihnen auf die andere Straßenseite flohen, sich dreimal so sicher fühlen konnten - vielleicht war das auch gut so, denn hier wohnten feinere Leute.
Schließlich bogen sie nach links ab, in die Broadmead und den Fuhrpark von Michael Henshaw, der mit seinen Pferdefuhrwerken Fracht nach Gloucester, Monmouth, Wales, Oxford, Birmingham und sogar Liverpool beförderte. Dort wurden sie in einen Winkel voller Pferdeäpfel gestoßen und durften ihre Kisten absetzen. Willy keuchte vor Erschöpfung.
Wenigstens haben drei Monate ohne Bewegung mich nicht ganz entkräftet, dachte Richard. Der arme Willy ist völlig erledigt. In drei Monaten bin ich sicher genauso schwach, es sei denn, ich kann im Gefängnis von Gloucester arbeiten und ich bekomme genug zu essen, um arbeiten zu können. Aber wenn ich arbeiten darf, wer bewacht dann meine Kiste vor Dieben? Um Sachen wie das Teeröl und den Filterstein brauche ich mir keine Sorgen zu machen, aber die Lappen und Kleider wären bestimmt schnell weg. Außerdem könnte jemand das Geheimfach mit den Goldstücken entdecken. Und meine Bücher könnten wegkommen! Ich bin sicher nicht der einzige Gefangene in England, der Bücher liest.
Der große Wagen, in den Willy und Richard schließlich stiegen, hatte eine über Eisenbügel gespannte Plane aus Segeltuch. So waren sie vor Wind und Wetter einigermaßen geschützt, auch vor dem aufkommenden Schneesturm, der ihnen außerhalb Bristols mit seinen vielen heißen Schloten sicher heftiger zusetzen würde. Die acht vor den Planwagen gespannten Pferde schienen kräftig genug, um sich durch den Morast der ungepflasterten Mautstraße zu kämpfen. Der Wagen selbst war mit so vielen Fässern und Gepäck beladen, dass die beiden Gefangenen nicht wussten, wo sie ihre Füße hinstellen sollten. Der Fuhrmann wollte ihre Kisten nicht mitnehmen.
»Die Kisten kommen mit, das ist Vorschrift«, beendete der Hilfspolizist die Debatte. Er kletterte in den Wagen, um die Ketten zwischen den Fußfesseln und den Eisengürteln der Gefangenen zu entfernen und die Gefangenen stattdessen an die Eisenbügel der Plane zu ketten. Die beiden konnten sich nur mit ausgestreckten Beinen zwischen die Fracht quetschen. Der Hilfspolizist sprang von der Ladefläche. Richard dachte schon, er würde sie verlassen, doch als der Wagen mit einem Ruck anfuhr, saß ihr Bewacher neben dem Fuhrmann auf dem Kutschbock, über den ebenfalls ein Schutzdach gespannt war.
»Hilf mir mal, Willy«, sagte Richard zu seinem Gefährten, der den Tränen schon wieder gefährlich nahe war. »Lass uns meine Kiste gegen diesen Sack schieben. Dann machen wir dasselbe mit deiner. So können wir uns anlehnen. Und wehe, du heulst! Eine Träne und du bist tot.«
Der Wagen kam auf der völlig aufgeweichten Landstraße nur mühsam voran und versank von Zeit zu Zeit bis zu den Achsen im Matsch. Dann wurden Richard und Willy losgekettet und vom Wagen gescheucht und mussten graben und schieben - zu Richards Belustigung musste auch der entrüstete Hilfspolizist helfen. Es schneite heftig, doch war es nicht so kalt, dass der Matsch gefror. Ohne etwas zu essen oder zu trinken außer ein paar Hand voll Schnee hatten sie gegen Ende des ersten Tages acht der vierzig Meilen zurückgelegt.
Der Fuhrmann war sehr zufrieden. In Almondsbury hielt er vor einer Herberge an.
»Ihr habt euch ein Bett und Decken verdient«, sagte er sehr viel besser gelaunt als am Morgen zu den Gefangenen. »Ohne eure Hilfe hätten wir den Wagen nicht ein halbes Dutzend Mal wieder flottmachen können. Und du, Tom, bekommst einen Quartkrug Ale - das Bier ist gut hier, der Wirt braut es selbst.«
Der Fuhrmann und Tom, der Hilfspolizist, verschwanden, Richard und Willy blieben verwirrt im Wagen zurück. Nach einer Weile kehrte der Hilfspolizist zurück. Er legte den Knüppel in Reichweite auf den Boden, entfernte die Ketten, mit denen er die Gefangenen an die Eisenbügel gefesselt hatte, und führte sie zu einer steinernen Scheune, in der Stroh lag. Dort kettete er sie an einen dicken Balken, in den in Bodennähe einige Eisenkrampen geschlagen waren, dann verschwand er wieder.
»Ich habe solchen Hunger«, wimmerte Willy.
»Dann bete, Willy, aber fang bloß nicht wieder an zu heulen!«
Der Stall roch sauber und das Stroh war trocken. Seit drei Monaten hatten sie kein so ordentliches Lager gehabt. Richard schob das Stroh zurecht. In diesem Augenblick kamen der Wirt und ein stämmiger Bauernbursche herein. Der Wirt trug ein Tablett mit zwei Humpen, Brot, Butter und zwei großen Schalen dampfender Suppe. Der Bauernbursche ging zu einer leeren Pferdebox und kam mit Decken zurück.
»John sagt, ihr hättet ihm auf der Fahrt geholfen«, sagte der Wirt. Er setzte das Tablett in ihrer Reichweite ab und trat schnell einen Schritt zurück. »Habt ihr Geld, um mehr zu zahlen als den Penny, den mir der Hilfspolizist für jeden von euch gibt? Sonst komme ich nicht auf meine Kosten und muss Johns Firma den Rest berechnen. John sagt ja, ihr hättet einen Lohn verdient.«
»Wie viel?«, fragte Richard.
»Mit dem Bier drei Pennys für jeden.«
Richard zog ein Sixpencestück aus seiner Westentasche.
Bei Tagesanbruch erhielten er und Willy für weitere drei Pennys Brot und Dünnbier. Dann ging die Reise weiter. Wieder mussten sie unterwegs aussteigen, um zu graben und den Wagen aus dem Schlamm zu schieben und zu ziehen. Doch ein paar Stunden seliger Schlaf zwischen Stroh und Decken und die nahrhafte warme Mahlzeit hatten Wunder gewirkt und Richard neue Kraft verliehen, auch wenn seine Glieder vor Anstrengung schmerzten. Selbst Willy war munterer und packte beherzter mit an. Es hatte aufgehört zu schneien und war kälter geworden, doch nicht so kalt, dass der Boden gefror. Sie schafften auch am zweiten Tag nur acht Meilen, doch John, der Fuhrmann, war damit vollauf zufrieden, wahrscheinlich weil er bei diesem Reisetempo abends seine gewohnten Nachtquartiere ansteuern konnte.
Richard rechnete sich aus, dass sie am Abend des fünften Tages im Gefängnis von Gloucester eintreffen würden. Doch als sie den Stadtrand von Gloucester erreichten, hielt der Fuhrmann vor einem Gasthaus namens Harvest Moon.
»Ich setze euch doch nicht im Dunkeln an diesem verrufenen Ort ab«, erklärte er. »Ihr habt eure Reisekosten wie Ehrenmänner beglichen, und ihr tut mir wirklich Leid. Das wird jetzt für weiß Gott wie lange die letzte Nacht sein, in der ihr einen anständigen Schlafplatz und ein anständiges Essen im Magen habt. Ich kann nicht glauben, dass ihr Verbrecher seid. Ich wünsche euch viel Glück.«
 
Am frühen Morgen des folgenden Tages rollte der Wagen über die Zugbrücke zum anderen Ufer des Severn und durch das Westtor nach Gloucester hinein. Gloucester erinnerte in vielem an eine mittelalterliche Kleinstadt. Ein Großteil der alten Mauern, Gräben, Zugbrücken und Klöster stand noch. Die größeren Gebäude waren vierstöckige, schwarz-weiße Fachwerkhäuser. Einige Dächer waren mit Schiefer gedeckt, die meisten zu Richards Entsetzen allerdings noch mit Stroh. Richard hatte wie alle Leute aus Bristol Angst vor durch Stroh ausgelösten Feuersbrünsten. Er sah nicht allzu viel von dem Städtchen, da der Planwagen nur hinten offen war. Doch was er sah, bestätigte ihm, dass Gloucester im Vergleich zu Bristol ein Provinznest war.
Der Wagen fuhr auf ein Tor in einer dicken alten Mauer zu. Richard und Willy wurden vom Wagen geholt und zusammen mit Tom, dem Hilfspolizisten, auf ein großes, offenbar bestelltes Feld geführt. Was dort angebaut wurde, würde sich erst im Frühjahr zeigen. Vor ihnen ragte die Burg von Gloucester auf, die gleichzeitig das Gefängnis der Stadt war, ein finsteres Gemäuer mit großen und kleinen Türmen und vergitterten Fenstern, umgeben von einer Mauer und einem Graben. Die Burg hatte zur Zeit Oliver Cromwells zum letzten Mal als Festung gedient und war seitdem stetig verfallen.
Sie gingen nicht zum Eingang der Burg, sondern zu einem großen Steinhaus an der Außenmauer, in dem der Oberaufseher des Gefängnisses wohnte.
Dort kam Richard der Verdacht, dass der Hilfspolizist ihn und Willy nicht deshalb von Bristol nach Gloucester begleitet hatte, um ihre Flucht zu verhindern, sondern um ihre Fesseln und Ketten wieder nach Bristol zurückzubringen. Denn Tom griff nach jedem Stück Eisen, das ihnen abgenommen wurde, wie eine Mutter nach ihrem Neugeborenen und verstaute es sofort in einem Sack. Endlich war alles geregelt und unterzeichnet, und er entfernte sich mit seinem Sack, um mit einer Kutsche nach Bristol zurückzukehren. Ein Wärter legte Richard und Willy ein neues Paar Fußeisen mit einer zwei Fuß langen Kette an - den Oberaufseher sahen sie nicht - und eskortierte sie zur Burg. Ihre kostbaren Kisten trugen sie vor sich her.
Der kleine noch bewohnbare Teil der Burg war so überfüllt mit Häftlingen, dass keiner die Beine ausstrecken konnte. Wer sich hinsetzte, musste die Knie unters Kinn ziehen. Die Gemeinschaftszelle maß genau zwölf auf zwölf Fuß und war mit ungefähr dreißig Männern und zehn Frauen belegt. Der Wärter, der sie hergebracht hatte, brüllte einen unverständlichen Befehl, woraufhin alle, die einen Platz zum Sitzen gefunden hatten, aufstanden. Dann marschierten die Häftlinge und Richard und der heulende Willy mit ihren Kisten im Gänsemarsch auf einen eisigen Hof, auf dem bereits zwanzig andere Männer und Frauen warteten.
Es war Sonntag. Gleich würde Reverend Evans den Insassen des Gefängnisses von Gloucester die Botschaft Gottes verkünden. Die schwache Stimme des betagten Gefängnisgeistlichen wurde vom Wind übertönt, der durch den rechteckigen Hof pfiff, sodass seine Worte über Reue, Glaube und Hoffnung - oder was auch immer - nicht zu verstehen waren. Glücklicherweise betrachtete er eine zehnminütige Andacht und eine zwanzigminütige Predigt als ausreichende Gegenleistung für die vierzig Pfund, die er als Gefängnispfarrer im Jahr verdiente. Schließlich predigte er nicht nur sonntags, sondern auch mittwochs und freitags.
Danach wurden sie in die Gemeinschaftszelle der Sträflinge zurückgescheucht, die viel kleiner war als die der Schuldner, obwohl es doppelt so viele Strafgefangene gab wie Schuldner. Richard schob einen Mithäftling beiseite, um seine Kiste abstellen zu können, und setzte sich darauf.
»So schlimm wie heute ist es unter der Woche nicht«, sagte eine Stimme neben ihm. »Du bist ein stattlicher Mann!«
Eine magere, sehnige Frau von ungefähr dreißig Jahren schaffte sich mit den Ellbogen Platz und ließ sich zu seinen Füßen nieder. Richard fiel auf, dass ihre Kleider zwar vielfach geflickt, aber einigermaßen sauber waren. Die Frau trug einen schwarzen Rock, einen roten Unterrock, eine rote Bluse, eine schwarze Weste und schräg auf dem Kopf einen merkwürdig extravaganten schwarzen Hut mit einer breiten Krempe und einer scharlachrot gefärbten Gänsefeder.
»Gibt es hier keine Kapelle, in der man den Pfarrer versteht?«, fragte Richard mit einem leichten Lächeln. Die Frau hatte etwas Liebenswertes, und solange er sich mit ihr unterhielt, musste er nicht dem jammernden Willy zuhören.
»Doch, aber sie ist nicht groß genug für alle. Das Gefängnis ist zurzeit wirklich voll - es müsste mal wieder Fleckfieber ausbrechen, damit es leerer wird. Ich bin Lizzie Lock.« Sie streckte ihm die Hand hin.
Richard schüttelte sie. »Richard Morgan. Und das ist Willy Insell, mein Schatten, der mich noch um den Verstand bringen wird.«
»Tag, Willy, wie geht’s?«
Wieder strömten die Tränen über Willys Wangen.
»Das geht wie ein Wasserfall«, sagte Richard müde. »Eines Tages erwürge ich ihn noch.« Er sah sich um. »Warum sind Männer und Frauen hier nicht getrennt?«
»Das Gefängnis hat keinen Frauentrakt, Schätzchen. Und auch keinen eigenen Trakt für Schuldner. Deshalb wurden wir vor ungefähr fünf Jahren in John Howards Bericht über die englischen Gefängnisse erwähnt. Deshalb bauen wir gerade ein neues Gefängnis und deshalb ist diese Zelle von Montag bis Samstag nicht so überfüllt wie jetzt, weil die Männer dann auf dem Bau sind.« Lizzie hatte gesprochen, ohne Luft zu holen.
»Wer ist John Howard?«
»Er hat diesen Bericht über die Gefängnisse geschrieben. Das hab ich doch gerade gesagt. Mehr weiß ich nicht, also frag auch nicht weiter. Und das weiß ich auch nur, weil ganz Gloucester sich darüber aufgeregt hat - vor allem der Bischof und sein ehrenwertes Kollegium. Schließlich stimmte das Parlament einem Gesetz über den Bau eines neuen Gefängnisses zu. Es soll in drei Jahren fertig sein, aber da bin ich schon weg.«
»Du rechnest mit einem Freispruch?« Richards Lächeln wurde breiter. Er fand die Frau überhaupt nicht attraktiv, trotzdem mochte er sie, einfach weil in ihren wachen schwarzen Augen noch keine Resignation lag.
»Großer Gott nein!«, erwiderte Lizzie belustigt. »Ich wurde vor zwei Jahren zu sus. per coll. verurteilt.«
»Zu was?«
»Zum Tod durch den Strang, Schätzchen. Sus. per coll., schreibt der Kerl, der dich hängt, in sein offizielles Buch, sobald du aufgehört hast zu strampeln.«
»Doch wie ich sehe, bist du noch am Leben.«
»Ich wurde vorletzte Weihnachten begnadigt. Zu Deportation für sieben Jahre. Noch bin ich hier, aber wahrscheinlich nicht mehr lange.«
»Wie es aussieht, gibt es kein Land, in das man dich deportieren könnte, Lizzie. Obwohl in Bristol Afrika im Gespräch war.«
»Du bist aus Bristol! Das dachte ich mir. Du nuschelst nicht, sondern du näselst.«
»Willy ist auch aus Bristol. Wir kamen heute mit einem Fuhrwerk.«
»Und du bist ein Gentleman«, sagte sie verwundert.
»Nur so etwas Ähnliches, Lizzie.«
Sie zeigte mit dem Finger auf die Holzkiste. »Was ist da drin?«
»Meine Habseligkeiten, aber wer weiß, wie lange noch. Einige hier sehen zwar krank aus, aber die meisten wirken viel munterer als die Häftlinge im Bristol Newgate.«
»Weil sie das neue Gefängnis bauen und wegen der Gemüsebeete des alten Hubbard. Wer arbeitet, bekommt anständig zu essen. Es ist billiger, Häftlinge arbeiten zu lassen, als Arbeiter aus Gloucester anzuheuern - und ein neues Gesetz erlaubt das offenbar. Wir Frauen arbeiten auch, meist im Garten.«
»Wer ist Hubbard?«
»Der Oberaufseher. Hauptsache, man wird nicht krank - dann bekommt man nämlich nur noch eine Viertelration. Besonders gefährlich ist das Fleckfieber. Und über Weihnachten sind acht von dreiundachtzig Häftlingen Opfer der Pocken geworden.« Lizzie strich über die Holzkiste. »Keine Bange, Schätzchen, ich pass auf deine Kiste auf - für eine Gegenleistung.«
»Was für eine Gegenleistung?«, fragte Richard argwöhnisch.
»Schutz. Ich verdiene mir mit Stopfen und Flicken volle Essensrationen und außerdem ein paar Pennys. Ich biete Dienste an, gegen die der Pfarrer nichts einzuwenden hat. Aber die Männer sind dauernd hinter mir her, besonders Isaac Rogers.« Sie deutete auf einen großen kräftigen Burschen mit einem verschlagenen Gesicht. »Ein übler Kerl!«
»Weswegen sitzt er?«
»Straßenraub. Brandy und Tee.«
»Und was hast du verbrochen?«
Lizzie kicherte und tippte an ihren Hut. »Ich habe den tollsten Seidenhut der Welt geklaut. Ich kann nicht anders, Richard - ich liebe Hüte!«
»Soll das heißen, man hat dich zum Tod verurteilt, nur weil du einen Hut gestohlen hast?«
Die schwarzen Augen funkelten. Lizzie senkte den Kopf. »Nicht nur einen. Ich sagte doch, ich liebe Hüte!«
»So sehr, dass du für sie Kopf und Kragen riskierst, Lizzie?«
»An den Galgen dachte ich beim Klauen nicht.«
Richard streckte ihr zum zweiten Mal die Hand hin. »Abgemacht, Mädel. Ich werde dich beschützen. Dafür erwarte ich von dir, dass du meine Kiste mit deinem Leben verteidigst. Und versuche nicht, die Schlösser zu knacken, Lizzie Lock! Ich schwöre dir, es sind keine Hüte drin.« Er drängelte einige Häftlinge zur Seite und stand auf. »Ich würde mich hier gern etwas umsehen, wenn ich in diesem Gedränge überhaupt vom Fleck komme. Pass auf meine Kiste auf.«
Seine Runde dauerte nur eine Viertelstunde. Von der Gemeinschaftszelle gingen ein paar unbeleuchtete kleine Zellen ohne Fenster ab, die leer waren, obwohl in zwei von ihnen Kloschüsseln standen. Eine bröckelnde Treppe führte zu einer Gittertür hinauf, die den Zugang zum oberen Stockwerk versperrte. Eine weitere Gittertür trennte die Gemeinschaftszelle der Sträflinge von der der Schuldner, die zehn auf zwanzig Fuß groß war, aber wie die kleineren Zellen weder Fenster noch Lüftungslöcher hatte und stockfinster gewesen wäre, hätten die Insassen nicht unterhalb der Decke ein Stück Wand herausgebrochen, um etwas Licht und frische Luft hereinzulassen. Dahinter lag der Hof. Obwohl die Schuldner mehr Platz hatten, ging es ihnen schlechter als den Sträflingen. Da sie nicht arbeiteten, mussten sie mit Viertelrationen auskommen. Sie waren wie die Häftlinge im Bristol Newgate abgemagert und apathisch und teilweise nur mit Lumpen bekleidet.
Bei seiner Rückkehr sah Richard, wie Lizzie Lock seine Kiste energisch gegen Isaac Rogers, den Straßenräuber, verteidigte.
»Nimm die Finger von Lizzie und meinen Sachen weg«, sagte er barsch.
»Na los, zeig’s mir doch!«, knurrte Rogers und baute sich kampfbereit vor ihm auf.
»Verschwinde lieber! Einen Dickwanst wie dich lege ich mit einem Schlag um«, entgegnete Richard unbeeindruckt. »Fort mit dir! Ich bin Richard Morgan, ein friedliebender Mensch, und diese Dame steht unter meinem Schutz.« Er legte den Arm um Lizzie, die sich schadenfroh grinsend an ihn lehnte. »Es gibt hier noch andere Frauen. Belästige doch eine von denen.«
Rogers musterte Richard eingehend und beschloss, sich lieber nicht mit ihm anzulegen. Hätte Morgan nur eine Spur von Angst gezeigt, die Sache wäre anders ausgegangen, doch schien der Neue keine Angst zu kennen. Er wirkte vollkommen ruhig und beherrscht. Burschen wie der kämpften verbissen wie Katzen. Rogers zuckte also nur die Achseln und schlurfte davon. Richard hockte sich auf seine Kiste, Lizzie setzte sich auf sein Knie.
»Wann bekommen wir etwas zu essen?«, fragte Richard. Eine gewiefte Frau, diese Lizzie! Sie würde seine Ritterlichkeit ganz gewiss nicht missverstehen. Ein Beschützer, der sie nicht begehrte, kam ihr sehr gelegen.
»Bald ist Mittag«, antwortete sie. »Weil heute Sonntag ist, bekommen wir frisches Brot, Fleisch, ein Stück Käse, Rüben und Kohl. Nicht Butter oder Marmelade, aber genug zu essen. Die Sträflinge haben ihre eigene Küche, dort drüben.« Sie deutete zum anderen Ende des Raumes. »Der Koch gibt jedem ein Holzbrett und einen Zinnbecher. Zum Abendessen gibt es dann noch mal Brot, Dünnbier und Krautsuppe.«
»Gibt es einen Schankraum?«
»Hier drinnen? Du besäufst dich wohl gerne, Schätzchen.«
»Ich trinke nichts außer Dünnbier oder Wasser. Ich wollte es nur wissen.«
»Simmons, ein Wärter - sein Spitzname ist Selig - verkauft Schnaps für einen Penny. Dann musst du dich vor Isaac in Acht nehmen. Ike ist unberechenbar, wenn er getrunken hat.«
»Betrunkene Männer sind ungeschickt. Ich hatte mein Leben lang mit ihnen zu tun.«
 
Ende Februar wusste Richard alles über das Gefängnis von Gloucester und seine Mithäftlinge, mit denen er auf engstem Raum zusammenlebte. Vierzehn von ihnen warteten wie er auf ihre Verhandlung während der Gerichtstage in der Fastenzeit. Die Übrigen waren bereits abgeurteilt, größtenteils zur Deportation. Unter diesen vierzehn befanden sich drei Frauen - Mary Harding, genannt Maisie, die der Hehlerei bezichtigt wurde, Betty Mason, der man vorwarf, aus einem Haus in Henbury eine Geldbörse mit fünfzehn Guineen gestohlen zu haben, und Bess Parker, die in North Nibley in ein Haus eingebrochen und zwei Leinenhemden entwendet haben sollte. Bess Parker hatte inzwischen ein festes Verhältnis mit einem Häftling namens Ned Pugh, der seit 1783 einsaß. Betty Mason hatte einem Wärter namens Johnny den Kopf verdreht. Beide Frauen waren hochschwanger.
Wie schön wir es hier haben!, dachte Richard bitter. Eine Gemeinschaftszelle, in der man kaum aufrecht stehen konnte, und für die Männer ein vor Schmutz starrender Schlafsaal, zu dem einem erst ein Wärter die Tür über der Treppe aufschließen musste. Inzwischen war er allerdings einigermaßen abgebrüht. Er entkleidete und wusch sich vor einer Pumpe in einer fensterlosen Zelle, ohne auf die Frauen zu achten, wusch mit stoischer Ruhe die Lappen aus, mit denen er sich den Hintern abwischte, und filterte weiterhin sein Trinkwasser, unbeirrt von über drei Dutzend Augenpaaren, die ihn und seinen Stein skeptisch beobachteten. Er hatte auch einen gewissen Egoismus entwickelt, denn er bot weder Lizzie noch Willy gefiltertes Wasser an. Der Stein brauchte eine ganze Stunde, um zwei Pints zu produzieren. Auch die Seife und die Lappen teilte er nicht. Die wenigen Pennys, die er ausgab, gingen an Maisie, die ihm dafür seine Unterhosen, Hemden und Socken wusch. Seine übrigen Kleidungsstücke stanken nach Schweiß.
Maisie, die Wäscherin, war die einzige Frau, die keinen Beschützer hatte und nichts von den Männern verlangte, denen sie ihre Gunst gewährte. Zwei oder drei andere Frauen waren für einen Becher Gin zu haben. Wenn die Begierde ein Paar übermannte und es kein freies Plätzchen auf dem Fußboden fand, stellte es sich einfach an die Wand. Es war kein besonders erotischer Akt, da beide die Kleider anbehielten und Neugierige bestenfalls einen flüchtigen Blick auf ein entblößtes Glied und einen behaarten Schamhügel erhaschten. Zu Richards Erstaunen trieben die Paare es nie in einer der angrenzenden kleinen Zellen. Anscheinend graute allen vor der Dunkelheit.
Anfang März wurden Bess Parker und Betty Mason zur Entbindung in den Frauenschlafsaal getragen, nachdem ihnen in der Gemeinschaftszelle das Fruchtwasser abgegangen war. Zwei andere Frauen stillten bereits Babys, die im Gefängnis zur Welt gekommen waren, und Maisie hatte ein kleines Kind ins Gefängnis mitgebracht. Die meisten Säuglinge starben bei oder kurz nach der Geburt. Wenn eines überlebte, war das ein Wunder.
Zum Glück gab es wenigstens genug Arbeit. Richard wurde dazu eingeteilt, Kalksteinblöcke vom Anlegeplatz zum neuen Gefängnis zu schleppen. So kam er an die frische Luft und konnte sich draußen umsehen. Der kleine Hafen von Gloucester lag im Norden des Burggeländes am Ufer des Severn, der bis dorthin für kleine Briggs und große Flussboote befahrbar war. Es gab zwei Gießereien in der Stadt, von denen die eine Kirchenglocken und die andere kleine Eisenartikel für den lokalen Markt herstellte. Der Rauch, der aus ihren Schloten aufstieg, reichte nicht aus, um die Luft zu verpesten. Richard empfand sie als sauber und frisch. Der Severn sah ebenfalls sauber aus, auch wenn das Auftreten von Fleckfieber unter den Gefangenen vermuten ließ, dass die Wasserquelle des Gefängnisses verseucht war. Vielleicht wurde die Krankheit aber auch durch Flöhe oder Läuse übertragen. Richard bekämpfte diese Parasiten, indem er seinen Körper und seine Kleider ständig nach ihnen absuchte und seine verdreckte Pritsche mit Teeröl einrieb. Wie er sich danach sehnte, sauber zu sein, in einer sauberen Umgebung zu leben und nach der Arbeit seine wohlverdiente Ruhe zu haben!
Wenige Tage nach Richards und Willys Ankunft war wieder das Fleckfieber ausgebrochen und hatte die Zahl der Sträflinge von vierzig auf zwanzig reduziert. Da einige wenige Häftlinge neu dazukamen, waren es inzwischen wieder vierzehn, die auf ihre Verhandlung warteten.
Richard hatte die anderen Männer im Lauf der Zeit und durch die gemeinsame Arbeit besser kennen gelernt. Mit drei von ihnen - William Whiting, James Price und Joseph Long - hatte er sich sogar angefreundet. Sie sollten wie er zur Fastenzeit vor Gericht gestellt werden.
Whiting wurde beschuldigt, ausgerechnet aus dem Stall der Herberge in Almondsbury, in der Richard und Willy unterwegs übernachtet hatten, einen Hammel gestohlen zu haben.
»Blödsinn!«, sagte Whiting. Er war ein Spaßvogel, bei dem man nie wusste, ob man ihm glauben sollte. »Warum sollte ausgerechnet ich ein Schaf stehlen? Ich wollte es doch nur ficken. Ich hätte es am nächsten Morgen in den Stall zurückgebracht, und niemand hätte was gemerkt. Aber leider schlief der Schäfer nicht.«
»War es denn so dringend, Bill?«, fragte Richard, ohne zu lächeln.
»Nicht dringend, aber - ich ficke einfach gern, und der Arsch eines Schafs fühlt sich fast so an wie die Möse einer Frau«, erwiderte Whiting vergnügt. »Jedenfalls riecht er genauso und ist sogar noch ein bisschen enger. Außerdem brauchst du mit einem Schaf nicht lange zu diskutieren. Du steckst einfach seine Hinterbeine in deine Stiefel und legst los.«
»Ob es nun Sodomie oder Viehdiebstahl war, ist doch ganz egal, Bill. Dir droht der Strick. Warum musste es gerade Almondsbury sein? Acht Meilen weiter, in Bristol, hättest du tausend Huren beiderlei Geschlechts finden können - mit denen brauchst du auch nicht zu diskutieren.«
»Ich konnte einfach nicht länger warten. Das Schaf hatte ein so liebes Gesicht - es erinnerte mich an einen Pfarrer, den ich kannte.«
Richard gab auf.
Jimmy Price war ein Bauer aus Somerset mit einer Schwäche für Rum. Er war mit einem Kameraden in drei Häuser in Westburyupon-Trim eingestiegen und hatte große Stücke Rind-, Schweineund Hammelfleisch, drei Hüte, zwei Mäntel, eine bestickte Weste, Reitstiefel, eine Muskete und zwei grüne Seidenschirme gestohlen. Sein Komplize, den er Peter nannte, war inzwischen am Fleckfieber gestorben. Jimmy empfand keine Reue, weil er sich keiner Schuld bewusst war. »Ich wollte das nicht - ich kann mich auch an nichts mehr erinnern«, erklärte er. »Was soll ich mit zwei grünen Seidenschirmen anfangen? In Westbury kann man die doch nirgends verkaufen. Hunger hatte ich auch nicht, und keins der Kleidungsstücke hätte mir oder Peter gepasst. Und Schießpulver oder Munition für die Muskete habe ich ja gar nicht mitgenommen.«
Der Dritte des Trios war viel reumütiger. Richard bedauerte ihn zutiefst. Der willensschwache, etwas einfältige Joey Long hatte in Slimbridge eine silberne Uhr gestohlen. »Ich war betrunken und die Uhr gefiel mir so gut«, sagte er nur.
Natürlich wurde auch Richard nach dem Grund seiner Verhaftung gefragt. In der Gemeinschaftszelle der Sträflinge waren vor allem Diebe versammelt. Er gab deshalb immer nur dieselbe kurze Erklärung ab: »Erpressung und schwerer Diebstahl. Ein Schuldschein über fünfhundert Pfund und eine Uhr aus Stahl.« Diese Antwort verschaffte ihm großen Respekt, selbst bei Isaac Rogers.
»Ein vielseitiger Begriff, schwerer Diebstahl«, sagte Richard zu Bill Whiting, während sie Kalksteinblöcke zur Baustelle schleppten. Whiting konnte lesen und schreiben und war intelligent. »Bei mir war es eine Uhr aus Stahl und bei der armen Bess Parker waren es einfache Leinenhemden, die höchstens sechs Pennys wert sind, bei Rogers dagegen vier Gallonen Brandy und fünfundvierzig Kisten mit jeweils über hundert Pfund bestem Hyson-Tee, der im Laden ein Pfund pro Pfund kostet - über 5000 Pfund Beute. Trotzdem werden wir alle wegen schweren Diebstahls angeklagt. Das ist doch absurd.«
»Rogers wird hängen«, lautete Whitings Kommentar.
»Lizzie bekam dieselbe Strafe, weil sie drei Hüte gestohlen hat.«
»Sie ist eine Wiederholungstäterin«, sagte Whiting lachend. »Sie hätte sich bessern müssen, stattdessen ist sie rückfällig geworden. Die meisten von uns waren betrunken. Der Alkohol ist schuld.«
 
Am Montag, dem 21. März, trafen die beiden Vettern James mit einer Mietkutsche in Gloucester ein. Da sie in der Stadt selbst keine anständige Unterkunft fanden, stiegen sie schließlich im Harvest Moon ab, in dessen Stall Richard und Willy die letzte Nacht vor ihrer Einlieferung ins Gefängnis von Gloucester verbracht hatten.
Die Vettern erwarteten wie seinerzeit Richard, dass die Verhältnisse in diesem Gefängnis sehr viel besser sein würden als im vorherigen. Ein übleres Verlies als das Bristol Newgate konnten sie sich gar nicht vorstellen. Entsprechend groß war ihr Entsetzen, als sie die Gemeinschaftszelle für die Sträflinge betraten.
»Zur Zeit ist es hier eigentlich ganz erträglich«, sagte Richard überrascht. »Das Fleckfieber hat für Platz gesorgt.« Er hatte die beiden flüchtig auf den Mund geküsst, wollte sich jedoch nicht von ihnen umarmen lassen. »Ich stinke«, erklärte er.
Nach dem Gottesdienst am Sonntag hatten plötzlich ein Tisch und Bänke in der Zelle gestanden. Der Oberaufseher war gewarnt worden: Die Richter des Bezirksfinanzgerichts wünschten sein Gefängnis womöglich zu besichtigen. Das Parlament beschäftigte sich immer noch eingehend mit John Howards Bericht über die Haftbedingungen von Schuldnern in englischen Gefängnissen. Daraufhin hatte der Aufseher getan, was er konnte.
»Wie geht es Vater?«, fragte Richard als Erstes.
»Schon besser, aber noch nicht gut genug für die Reise hierher«, sagte Vetter James, der Apotheker. »Er wünscht dir alles Gute und Gottes Segen.«
»Und Mutter?«
»Gut. Auch sie lässt dich herzlich grüßen und betet für dich.«
Die Vettern staunten über Richards gutes Aussehen. Sein Mantel, seine Weste und seine Hosen mochten zerschlissen sein und stinken, aber sein Hemd, seine Socken und die Lappen, die er in die Fußfesseln gestopft hatte, waren sauber. Die Haare trug er immer noch kurz, graue Haare hatte er keine. Seine Fingernägel waren gepflegt, sein Gesicht frisch rasiert und faltenlos. Nur sein abwesender, strenger Blick machte den Vettern ein wenig Angst.
»Habt ihr inzwischen etwas von William Henry gehört?«
»Überhaupt nichts, Richard.«
»Dann ist das alles bedeutungslos.«
»Aber nein, keineswegs!«, widersprach Vetter James, der Kirchenmann, energisch. »Wir haben dir einen Anwalt besorgt, leider nicht aus Bristol - Fremde sind bei den Bezirksgerichten nicht gern gesehen. Vetter Henry der Anwalt hat uns beauftragt, einen in Gloucester bekannten Kollegen ausfindig zu machen. Es werden zwei Richter anwesend sein, Sir James Eyre vom Königlichen Finanzgericht und Sir George Nares vom Königlichen Gerichtshof.«
»Habt ihr Ceely Trevillian gesehen?«
»Nein«, sagte Vetter James, der Apotheker, »aber ich hörte, dass er sich im besten Gasthaus der Stadt einquartiert hat. Wie mir erzählt wurde, sind die Gerichtstage für Gloucester ein großes Ereignis, das gebührend gefeiert wird, zumindest an dem Tag, an dem alle durch die Stadt zum Rathaus marschieren, das gleichzeitig das Gericht ist. Die zwei Richter wohnen in besonderen Unterkünften in der Nähe des Rathauses, doch die meisten der Gerichtsdiener, Barrister und Protokollführer steigen in Gasthäusern ab. Morgen tagt das Große Geschworenengericht, aber das ist lediglich eine alte Sitte. Dein Anwalt sagt, dass ihr alle drankommt.«
»Wer ist mein Anwalt?«
»James Hyde aus der Chancery Lane in London, ein Barrister, der mit den Richtern Eyre und Nares den Gerichtsbezirk Oxford bereist.«
»Wann sucht er mich auf?«
»Gar nicht, Richard. Seine Arbeit beschränkt sich auf den Gerichtssaal. Vergiss nicht, dass er deine Version der Geschichte nicht vortragen darf. Er hört sich die Aussagen der Zeugen an, in der Hoffnung, Schwachpunkte darin zu finden, die er im Kreuzverhör aufzeigen kann. Da er die Zeugen nicht kennt und nicht weiß, was sie sagen werden, hätte es keinen Sinn, dich aufzusuchen. Wir haben ihm den Sachverhalt in allen Einzelheiten dargelegt. Er ist sehr erfahren und tüchtig.«
»Was verlangt er?«
»Zwanzig Guineen.«
»Und ihr habt ihn bereits bezahlt?«
»Ja.«
Das Ganze ist eine Farce, dachte Richard, rang sich jedoch ein Lächeln ab und drückte den beiden Vettern freundschaftlich den Arm. »Ihr seid so gut zu mir. Ich kann euch gar nicht sagen, wie sehr ich euch für eure Hilfe danke.«
»Du gehörst doch zur Familie, Richard«, sagte Vetter James, der Kirchenmann, etwas verwundert.
»Ich habe dir einen neuen Anzug und ein neues Paar Schuhe mitgebracht«, verkündete James, der Apotheker. »Und eine Perücke. Du kannst nicht mit geschorenem Schädel vor Gericht erscheinen. Die Frauen - deine Mutter, Arm und Elizabeth - haben mir eine ganze Kiste voller Unterhosen, Hemden, Strümpfe und Lappen für dich mitgegeben.«
Richard schwieg. Seine Familie schien mit dem Schlimmsten zu rechnen, auch wenn sie das Beste hoffte. Denn wenn er in zwei Tagen freigesprochen wurde, wozu brauchte er dann eine ganze Kiste mit neuen Sachen?
Am folgenden Tag feierte Gloucester den Beginn der Gerichtstage. Beim Steineschleppen hörte Richard deutlich das Schmettern von Trompeten und Hörnern, Trommelwirbel, begeistertes Klatschen, die Musik eines Spielmannszuges und den sonoren Singsang von Stimmen, die in fließendem Latein Reden hielten. Ganz Gloucester war in Feststimmung.
Die Stimmung im Gefängnis war gedrückt. Richard konnte den sechzehn anderen Angeklagten - die Zahl war wieder gestiegen - von den Gesichtern ablesen, dass sie einen Schuldspruch erwarteten. Außer ihm konnten sich nur zwei einen Anwalt leisten: Bill Whiting und Isaac Rogers. Ihr Verteidiger war ebenfalls James Hyde, was Richard vermuten ließ, dass gar kein anderer Anwalt zur Wahl stand.
»Hofft denn keiner, dass er freikommt?«, fragte Richard Lizzie.
Seine Freundin, die schon drei Verhandlungen vor dem Bezirksgericht hinter sich hatte, sah ihn verständnislos an. »Wir kommen nicht frei, Richard. Wie sollte das denn gehen? Der Staatsanwalt und die Zeugen liefern die Beweise, und die Geschworenen glauben, was sie hören. Fast alle von uns sind schuldig, obwohl ich auch einige kenne, die Opfer von Verleumdungen wurden. Trunkenheit ist keine Entschuldigung, und wenn wir hochgestellte Freunde hätten, säßen wir nicht in diesem Gefängnis.«
»Gibt es überhaupt keine Freisprüche?«
»Höchstens wenn viele Fälle verhandelt werden.« Lizzie saß auf seinem Knie und strich ihm über die Haare wie einem Kind. »Mach dir keine Hoffnungen, Schätzchen. Dass du als Angeklagter vor ihnen stehst, reicht den Geschworenen schon für eine Verurteilung. Aber setz bitte deine Perücke auf.«
An Händen und Füßen gefesselt schlurfte Richard am frühen Morgen des 23. März aus der Gemeinschaftszelle. Er trug seinen neuen Anzug - eine einfache schwarze Jacke, eine schwarze Weste und eine schwarze Hose - und neue schwarze Schuhe. Hand- und Fußfesseln waren mit sauberen Lappen gepolstert. Nur die Perücke hatte er nicht auf; das Ding hatte sich zu scheußlich angefühlt. Sieben andere brachen mit ihm auf: Willy Insell, Betty Mason, Bess Parker, Jimmy Price, Joey Long, Bill Whiting und Sam Day, ein Siebzehnjähriger aus Dursley, der beschuldigt wurde, einem Weber zwei Pfund Garn gestohlen zu haben.
Die Angeklagten wurden durch eine Hintertür ins Rathaus gebracht und hastig eine Treppe in den Keller hinuntergeführt, ohne einen Blick in den Saal werfen zu können, in dem zwar nur mit Worten gefochten wurde, doch womöglich mit tödlichen Folgen.
»Wie lange dauert das denn?«, fragte Bess Parker Richard flüsternd und mit ängstlich aufgerissenen Augen. Ihr Kind, ein Junge, war zu ihrem großen Kummer zwei Tage nach der Geburt am Fleckfieber gestorben.
»Wahrscheinlich nicht lange. Das Gericht arbeitet höchstens sechs Stunden am Tag und wir sind zu acht. Sie müssen ihre Urteile so schnell produzieren wie ein Metzger seine Würstchen.«
»Ich habe solche Angst!«, heulte Betty Mason. Sie trauerte immer noch um ihr tot geborenes Töchterchen.
Jimmy Price wurde als Erster abgeholt. Er war noch nicht zurück, als Bess Parker an die Reihe kam. Erst als auch Betty Mason nicht mehr erschien, begriffen die anderen, dass die Angeklagten nach der Verhandlung offenbar direkt ins Gefängnis zurückgebracht wurden.
Dann ging Sam Day. Jetzt warteten nur noch Richard, Willy, Joey Long und Bill Whiting. Einige Stunden vergingen.
»Die Herren Richter machen Mittagspause«, sagte Whiting mit unverwüstlichem Humor. Er leckte sich die Lippen. »Gänsebraten, Rinderbraten, Hammelbraten, Flammeris, Kuchen, Torten, Pasteten und Puddings - wir haben Glück, Richard! Die Bäuche der Herren Richter werden voll sein und ihre Köpfe von Bordeaux und Portwein benebelt.«
»Ich glaube nicht, dass das gut ist«, sagte Richard, dem nicht nach Scherzen zu Mute war. »Die Gicht wird ihnen zusetzen und die Verdauung ebenfalls.«
»Du bist ein schöner Tröster in der Not!«
Richard und Willy wurden als Letzte hinaufgebracht, der Uhr an der Wand des Gerichtssaals zufolge um halb vier. Die Treppe führte direkt zur Anklagebank, nur dass dort keine Bank stand und die Angeklagten stehen mussten. Das helle Licht blendete sie. Ein mit einer Hellebarde bewaffneter Mann in mittelalterlicher Aufmachung bewachte sie mit teilnahmsloser Miene. Der Raum war nicht sonderlich groß, hatte aber auf halber Höhe Zuschauergalerien. Die Leute unten im Saal schienen alle irgendwie am Prozess beteiligt. Die beiden Richter trugen pelzbesetzte karmesinrote Roben und Allongeperücken und thronten auf einem hohen Podest. Um sie und unterhalb von ihnen saßen weitere Gerichtsbeamte, andere Amtspersonen liefen im Saal umher. Richard wusste nicht, wer von ihnen sein Anwalt James Hyde war. Die zwölf Geschworenen standen in einer Art Pferch und traten verstohlen von einem Fuß auf den anderen, um ihre müden Beine zu entlasten. Richard wusste, dass die freien Männer vom Tweed bis zum Kanal das Amt des Geschworenen schon deshalb nur ungern ausübten, weil man im Gerichtssaal den ganzen Tag stehen musste und für den Verdienstausfall nicht entschädigt wurde. Das verleitete die Geschworenen dazu, ihre Aufgabe so schnell wie möglich hinter sich zu bringen.
Ceely Trevillian saß neben einem streng dreinblickenden Mann, an dessen Tracht zu erkennen war, dass er ebenfalls in dem Schauspiel mitwirkte - er trug eine Robe, eine Perücke mit nach hinten frisierten Haaren und verschiedene Spangen und Abzeichen. Ceely sah ganz anders aus, als Richard ihn kannte. Er trug einen schlichten Anzug aus feinstem, schwarzem Tuch, eine konservative Perücke und schwarze Glacéhandschuhe und hatte die Miene eines liebenswürdigen Trottels aufgesetzt. Der Ceely, der im Rathaus von Gloucester saß, hatte nichts mehr mit dem affektierten Gockel und dreisten Steuerbetrüger von einst gemein. Er war ganz das naive Opfer eines Verbrechens. Bei Richards Erscheinen war er mit einem ängstlichen Aufschrei näher an seinen Anwalt gerückt. Danach vermied er es, in Richards Richtung zu blicken. Vor Gericht war zwar Ceely der Ankläger, doch überließ er es seinem Anwalt, ihn zu vertreten. Dieser wandte sich nun an die Geschworenen, um ihnen das abscheuliche Verbrechen zu schildern, das die beiden Angeklagten begangen hätten. Richard legte die gefesselten Hände auf das Geländer und stellte sich breitbeinig auf die alten Dielen. Er hörte, wie der Anklagevertreter die Tugenden Mr Trevillians pries und von den Dummheiten sprach, die der harmlose Mann begangen habe, und er begriff, dass heute in Gloucester keine Wunder geschehen würden.
Dann erhielt Ceely das Wort. Er zitterte vor Aufregung, schluchzte und schluckte, machte lange Pausen, um die richtigen Worte zu finden, verdrehte die Augen und schlug immer wieder die Hände vors Gesicht. Endlich war er mit seiner Darstellung fertig. Die Geschworenen, von seiner geistigen Armut nicht weniger beeindruckt als von seinem materiellen Reichtum, schienen fest davon überzeugt, dass er das Opfer einer lasterhaften Frau und ihres wütenden Ehemannes war. Das hieß allerdings noch nicht unbedingt, dass er vorsätzlich betrogen und tatsächlich erpresst worden war, auch wenn er sich genötigt gesehen hatte, einen Schuldschein über fünfhundert Pfund auszuschreiben.
Den Beweis dafür sollten die beiden Zeugen erbringen - die Frau des Friseurs Joice, die an der Wand gelauscht hatte, und Mr Dangerfield aus dem Haus auf der anderen Seite, der durch einen Spalt in der Wand gesehen hatte. Mrs Joice verfügte offenbar über ein phänomenales Gehör, und Mr Dangerfield wollte durch eine Ritze von nur einem Viertelzoll Breite einen Blickwinkel von 360 Grad gehabt haben! Mrs Joice hatte Sätze wie »Du Hure, wo ist denn deine Kerze?« und »Ich schlag dir den Schädel ein, Schurke!« gehört. Mr Dangerfield hatte gesehen, wie Morgan und Insell Ceely mit einem Hammer bedroht und ihn gezwungen hatten, an einem Schreibtisch etwas zu schreiben.
Mr James Hyde, der Richard vertrat, war ein hoch gewachsener, hagerer Mann, der große Ähnlichkeit mit einem Raben hatte. Bei seinem geschickt geführten Kreuzverhör wollte er vor allem darauf hinaus, dass das dreigeteilte Haus in der unmittelbaren Nachbarschaft des Jakobsbrunnens ein Nest von Klatschmäulern beherbergte, die in Wirklichkeit kaum etwas gesehen und gehört hatten und stattdessen Geschichten erfanden, die auf dem beruhten, was Ceely ihnen erzählt hatte. Die Dangerfields hatten Ceely nach dem Streit bei sich aufgenommen, und bei ihnen hielt sich zufällig auch Mrs Joice auf.
In einem Punkt konnte Ceely sich keinen Glauben verschaffen. Beide Zeugen sagten aus, Richard habe durch die Tür geschrien, er werde Mr Trevillian die Uhr zurückgeben, sobald er Genugtuung erhalten habe. Das klang selbst für die Geschworenen sehr nach einem betrogenen Ehemann.
Das ist doch lachhaft!, dachte Richard, als die Zeugen seinen Besuch im Black Horse, wo er etwas zu trinken geholt hatte, auf den darauf folgenden Tag verlegten. Dürften Willy und ich für uns selbst sprechen, dann könnten wir den Beweis erbringen, dass wir zu dieser Zeit beide im Hof des Lamb Inn waren. Es geht nur eine Kutsche nach Bath, und zwar um die Mittagszeit. Selbst Ceely sagt, dass ich nach Bath wollte. Trotzdem behaupten jetzt alle, ich sei in Clifton gewesen!
Mrs Joice wollte außerdem gehört haben, dass Richard und Annemarie im Hausflur Annemaries Verabredung mit Ceely planten - als ob jemand mit kriminellen Absichten solche Gespräche ausgerechnet an einer dünnen Trennwand führen würde. Das Wort »planen« freilich ließ Richter und Geschworene gleichermaßen aufhorchen.
Doch so viel Mühe der Anklagevertreter sich auch gab, die Geschworenen waren immer noch unschlüssig, ob die Tat geplant oder von einem gehörnten Ehemann im Affekt begangen worden war. Ein schwacher Hoffnungsstrahl begann Richards düstere Stimmung aufzuhellen.
Vetter James, der Apotheker, und Vetter James, der Kirchenmann, wurden als Leumundszeugen für Richard aufgerufen. Auch wenn der Anklagevertreter wiederholt auf ihre engen verwandtschaftlichen Beziehungen zum Angeklagten verwies, machten die beiden grundsoliden Männer doch unübersehbar tiefen Eindruck auf die Geschworenen. Unglücklicherweise zog sich Richards Verhandlung, da er von einem Anwalt verteidigt wurde, nun schon fast eine Stunde hin, und die Geschworenen konnten kaum noch stehen. Keiner hatte am Ende eines langen Gerichtstages noch Lust auf ein ewiges Hin und Her, auch die Richter nicht.
Mr Hyde rief Robert Jones als Leumundszeugen auf.
Richard zuckte zusammen. Robert Jones sagte für ihn aus? Der Schleimer, der William Thorne die ganze Zeit hofierte und ihm von Willys Besuch beim Steueramt erzählt hatte?
»Kennen Sie die Angeklagten, Mr Jones?«, fragte Mr Hyde.
»Jawohl, beide.«
»Sind sie ehrbare und gesetzestreue Männer, Mr Jones?«
»Jawohl, in jeder Beziehung.«
»Sind sie, soweit Sie es beurteilen können, je mit dem Gesetz in Konflikt gekommen?«
»Nein, nie.«
»Wissen Sie etwas über die Vorfälle in der Nähe des Jakobsbrunnens am 30. September letzten Jahres - abgesehen von dem Klatsch, der hier verbreitet wurde?«
»Jawohl, Sir.«
»Worauf beziehen sich Ihre Informationen?«
»Wie?«
»Was wissen Sie, Mr Jones?«
»Also, erstens ist Mrs Joice nicht die Frau von Mr Joice, sondern nur eine Nutte, die bei Mr Joice eingezogen ist.«
»Mrs Joice steht nicht unter Anklage. Beschränken Sie sich bitte auf die besagten Vorfälle.«
»Ich habe mit Mrs Joice und mit Mr Dangerfield gesprochen. Mr Dangerfield führte mich in das Zimmer mit der Ritze in der Wand, sagte aber, er hätte nichts hören können und auch kaum etwas gesehen. Mrs Joice sagte, sie hätte überhaupt nichts gehört oder gesehen.«
Der Anklagevertreter runzelte die Stirn. Mr Trevillian, der offizielle Ankläger, blickte drein, als sei das alles viel zu hoch für seinen so jämmerlich beschränkten Verstand.
Der Anklagevertreter nahm Mr Jones ins Kreuzverhör.
»Wann fand Ihr Gespräch mit Mrs Joice und Mr Dangerfield statt, Mr Jones? Seien Sie bitte präzise.«
»Wie?«
»Seien Sie genau.«
»Ach so, ja. Also das war am nächsten Tag, als ich Willy - das heißt Mr Insell, den Angeklagten - besuchte. Er erzählte mir, was passiert war, und ich fragte die Nachbarn, was sie gesehen und gehört hätten. Mrs Joice - die wirklich nicht die Frau von Mr Joice ist - meinte, sie hätte nichts gesehen und gehört. Mr Dangerfield zeigte mir das Zimmer mit der Ritze, aber als ich durchschaute, konnte ich nichts erkennen.«
Mrs Joice wurde erneut in den Zeugenstand gerufen und erklärte, natürlich habe sie bestritten, nebenan etwas gesehen oder gehört zu haben - sie lasse sich doch nicht von Schnüfflern ausfragen!
Auch Mr Dangerfield wurde noch einmal befragt und sagte, er habe nie behauptet, etwas gehört zu haben, er habe nur etwas gesehen.
»Rufen Sie Mr James Hyde in den Zeugenstand!«, rief der Anklagevertreter. Richards Anwalt schreckte hoch. »Nicht Sie, verehrter Herr Kollege. Ich meine Mr James Hyde, den Hausdiener von Mr Trevillians Mutter.«
Dieser James Hyde war ein kleiner rotblonder Mann in den Fünfzigern mit der zurückhaltenden, leicht unterwürfigen Art eines älteren Hausangestellten. Er gab an, Mr Dangerfield habe ihn am ersten Oktober besucht und gesagt, ein gewisser Robert Jones könne ihm für die Summe von fünf Guineen beweisen, dass Morgan und seine Frau geplant hätten, Mr Trevillian auszunehmen.
Die Geschworenen wurden unruhig. Sir James Eyre setzte sich aufrechter hin.
»Er sprach von einem Plan, Mr Hyde?«
»Ja, Sir.«
»War Mr Insell an dem Plan auch beteiligt?«
»Ihn erwähnte Mr Dangerfield nicht, nur Morgan und seine Frau.«
Nochmals befragt, bestätigte Mr Dangerfield, dass er seinen Freund Mr James Hyde in Mrs Maurice Trevillians Haus besucht und ihm von Robert Jones’ Angebot erzählt habe.
Daraufhin wurde auch Mr Robert Jones noch einmal in den Zeugenstand gerufen. Er gab zu, das Angebot gemacht zu haben. Er habe gewusst, dass Mr Dangerfield freundschaftliche Beziehungen zum Personal der Trevillians habe, und da er etwas knapp bei Kasse gewesen sei …
»Und der Plan Morgans und seiner Frau, Mr Trevillian auszunehmen? Gab es ihn?«, fragte der Anklagevertreter.
»Ja sicher«, erwiderte Robert Jones munter. »Aber Willy hatte nichts damit zu tun, das kann ich beschwören.«
»Sie stehen bereits unter Eid, Mr Jones.«
»Ach ja, natürlich!«
»Wie erfuhren Sie von dem Plan?«
»Mrs Morgan erzählte mir davon.«
Wieder horchten die Geschworenen und Richter auf.
»Wann?«
»Um die Mittagszeit oder besser am frühen Nachmittag des Tages, an dem er ausgeführt wurde. Ich wollte Willy besuchen. Er war nicht da, dafür lief mir Mrs Morgan über den Weg. Sie sagte, sie erwarte Mr Trevillian, er würde allerdings erst später kommen, wenn Morgan nach Bath gefahren sei. Sie war richtig gut gelaunt. Sie sagte, wenn Mr Trevillian käme, würde Morgan über ihn herfallen, weil Mr Trevillian ein kleines Techtelmechtel mit ihr hätte - wie eben ein Ehemann, der gerade gemerkt hat, dass er Hörner trägt. Sie sagte, ihr Mann meine, sie könnten aus dem lächerlichen Fatzke fünfhundert Pfund rausholen. Der sei so dämlich.«
Sir James Eyre sah zur Anklagebank. »Morgan, was haben Sie zu dem gemeinsam mit Ihrer Frau ausgeheckten Plan zu sagen?«
»Es gab keinen solchen Plan, Euer Ehren«, beteuerte Richard. »Ich bin unschuldig.«
Der Richter zog die Mundwinkel nach unten. »Wo ist Mrs Morgan?«, fragte er. Die Frage schien an alle Anwesenden gerichtet. »Sie sollte als Angeklagte dort neben Ihrem Mann stehen, so viel ist klar.« Er warf Richard einen grimmigen Blick zu. »Wo ist Ihre Frau, Morgan?«
»Ich weiß es nicht, Euer Ehren«, antwortete Richard mit fester Stimme. »Ich habe sie seit jenem Tag nicht mehr gesehen.«
Der Anklagevertreter kam noch einmal ausführlich auf den angeblichen Plan zu sprechen, ohne sich zur Abwesenheit der Komplizin Mrs Morgan zu äußern. Dann wandte Sir James Eyre sich an die Geschworenen. Auch er maß dem Plan große Bedeutung bei.
Die zwölf ehrbaren Männer sahen einander erleichtert an. Jetzt konnten sie gleich heimgehen. Es war ein langer, anstrengender Tag gewesen. In Gloucester gab es bei weitem nicht genug freie Männer, um für jede Verhandlung eine andere Jury einzuberufen. Eine Beratung fand nicht statt. Richard Morgan wurde von dem Vorwurf freigesprochen, eine Uhr gestohlen zu haben, doch im Hinblick auf die Erpressung des schweren Diebstahls für schuldig erklärt. William Insell wurde in allen Anklagepunkten freigesprochen.
Sir James Eyre fixierte die Angeklagten. Willy Insell war weinend auf die Knie gesunken, der kahl geschorene Richard Morgan - sah er nicht aus wie ein Schurke? - stand regungslos da und starrte auf einen fernen Punkt weit jenseits des Rathauses von Gloucester.
»Richard Morgan, hiermit verurteile ich Sie zu sieben Jahren Deportation nach Afrika. William Insell, Sie sind frei.« Der Richter ließ seinen Hammer niedersausen, um Sir George Nares zu wecken. »Das Gericht tritt morgen Vormittag um zehn Uhr wieder zusammen. Gott schütze den König.«
»Gott schütze den König«, wiederholten die Anwesenden pflichtschuldig.
Der Wächter versetzte den Gefangenen einen Stoß mit der Hellebarde. Richard drehte sich um und stieg die Treppe hinunter, ohne noch einmal in Mr Trevillians Richtung zu blicken. Ceely war für immer aus seinem Leben verschwunden. Die Ceelys waren nicht von Bedeutung.
Auf dem Rückweg zum Gefängnis überkam ihn plötzlich Erleichterung. Ihm war eingefallen, dass er die Heulsuse Willy bald für immer los hatte.
 
Die Sonne stand tief über dem westlichen Horizont, als Richard und Willy, der vermutlich vor Freude immer noch weinte, in Begleitung zweier Gefängniswärter durch das Burgtor marschierten. Drinnen wurde Richard angehalten, Willy durfte weitergehen. War das der erste Unterschied zwischen einem Untersuchungshäftling und einem verurteilten Straftäter? Sein Bewacher deutete zum Haus des Oberaufsehers. Richard setzte sich ohne jeden Protest in Bewegung wie immer, wenn eine Amtsperson etwas von ihm wollte. Er war jetzt seit drei Monaten in Gloucester und kannte alle Wärter, die freundlichen, die unfreundlichen und die gleichgültigen. Er vermied jeden näheren Kontakt mit ihnen und sprach keinen mit seinem Namen an.
Richard wurde in einen Raum geführt, der für gesellige Zusammenkünfte behaglich hergerichtet worden war. An einem Tisch saßen drei Leute: Sein Anwalt Mr Hyde, Vetter James, der Apotheker, und Vetter James, der Kirchenmann. Beide Vettern waren in Tränen aufgelöst, Mr Hyde machte einen niedergeschlagenen Eindruck. Der Wärter verließ das Zimmer und machte die Tür hinter sich zu. Sie sehen schlimmer aus, als ich mich fühle, dachte Richard. Ich war nicht überrascht. Im Grunde meines Herzens wusste ich, dass es so kommen würde. Justitia ist blind, doch nicht in einem romantischen Sinn, wie man es uns in Colstons Schule lehrte. Sie ist blind gegenüber dem einzelnen Menschen und seinen Motiven. Richter und Geschworene glauben das Nächstliegende. Sie sind unfähig, kompliziertere Zusammenhänge zu durchschauen. Die Zeugenaussagen der Anwohner beruhen alle auf Klatsch. Ceely hat lediglich Gerüchte geschürt und sein Scherflein beigesteuert. Robert Jones hat er bezahlt - er hat natürlich alle bezahlt, doch außer im Fall von Jones konnte er seine Zuwendungen als kleine Aufmerksamkeiten und Geschenke an Leute tarnen, die ihn, seine Familie und das Personal kannten. Natürlich begriffen diese Leute, dass er sie bestach! Aber unter Eid befragt, hätten sie es abstreiten können. Jones dagegen war eindeutig gekauft worden. Oder Annemarie hatte ihm das mit der Geschichte gesagt. Dann hätte sie von Anfang an zu Ceely gehört und wäre an der Verschwörung beteiligt gewesen. Sie hätte mich ganz bewusst in eine Falle gelockt, und alles zwischen uns wäre eine einzige Lüge gewesen. Ich wurde auf Grund der Aussage einer Zeugin verhaftet, die gar nicht erschien: Annemarie Latour. Doch der Richter ließ es dabei bewenden, mich zu fragen, wo sie sei.
Während Richard schwieg, hatten seine Vettern Zeit, sich die Tränen abzuwischen und ihre Fassung wiederzuerlangen. Und Mr Hyde hatte Gelegenheit, Richard aus größerer Nähe zu betrachten, als es ihm im Gerichtssaal möglich gewesen war. Ein stattlicher Bursche, groß und schlank - schade, dass er keine Perücke getragen hatte, er hätte vor Gericht einen besseren Eindruck gemacht. In der Verhandlung war es letztlich darum gegangen, ob der Angeklagte ein ehrbarer Mann war, der die Untreue seiner Frau als unerträgliche Beleidigung empfunden hatte, oder ob er aus der Untreue seiner Frau sozusagen Kapital geschlagen hatte. Natürlich wusste Mr Hyde von den Vettern James, dass Annemarie Latour nicht die Frau seines Klienten war, doch hatte er darauf verzichtet, dies vor Gericht richtig zu stellen. Wenn bekannt geworden wäre, dass Annemarie eine Hure war, hätte das Richards Lage nur verschlimmert. Was Richard zum Verhängnis geworden war, war sein angeblicher Vorsatz. Richter waren notorisch voreingenommen gegen Angeklagte, die ihre Straftaten vorsätzlich begingen, und die Geschworenen fällten das Urteil, das der Richter ihnen nahe legte.
Vetter James, der Apotheker, steckte sein Taschentuch ein und brach das lange Schweigen. »Wir haben diesen Raum gemietet und können hier bleiben, solange wir wollen«, sagte er. »Es tut mir so Leid, Richard! Das Ganze war ein abgekartetes Spiel. Die Zeugen gehörten alle zum Kreis um Ceely.«
»Ich wüsste nur gern, warum Mr Benjamin Fisher vom Steueramt nicht als Leumundszeuge für mich auftrat«, sagte Richard. »Dann wäre der Prozess vielleicht ganz anders ausgegangen.«
Der Mund von Reverend James wurde zu einem Strich. »Mr Fisher sagte, er habe keine Zeit für eine Reise von acht Meilen. In Wahrheit ist er damit beschäftigt, mit Thomas Cave einen Handel abzuschließen und schert sich nicht um das Schicksal seines Hauptzeugen.«
»Doch seien Sie versichert, Mr Morgan«, sagte Mr Hyde, der ohne seine Anwaltskluft längst nicht so imposant aussah, »dass ich, wenn ich beim Innenminister Lord Sydney Einspruch gegen das Urteil einlege, ein Schreiben von Mr Fisher beifügen werde.«
»Kann ich denn nicht bei einem Gericht Einspruch einlegen?«, fragte Richard.
»Nein, Sie können nur ein Gnadengesuch an den König richten. Ich werde das Schreiben aufsetzen, sobald ich wieder in London bin.«
»Trinke ein Glas Portwein, Richard«, sagte Vetter James, der Apotheker.
»Lieber nicht, ich habe heute noch nichts gegessen.«
Die Tür ging auf, und eine Frau trug ein Tablett mit Brot, Butter, gegrillten Würstchen, Pastinaken, Kohl und einem großen Humpen herein. Sie setzte es mit ausdruckslosem Gesicht ab, machte einen Knicks vor den Herren und ging wieder.
»Iss, Richard. Der Oberaufseher sagte mir, im Gefängnis sei das Abendessen bereits ausgegeben worden, daher bat ich ihn, etwas zu essen bringen zu lassen.«
»Danke, Vetter James, danke«, sagte Richard gerührt und langte zu. Er schnupperte allerdings lange an dem ersten Stückchen Wurst, das er auf sein Messer spießte, bevor er es vorsichtig probierte. Dann nickte er zufrieden, schluckte und schnitt sich das Nächste ab. »Würste, die für Häftlinge bestimmt sind, werden gewöhnlich aus verdorbenem Fleisch hergestellt«, sagte er mit vollem Mund.
Nach dem Essen nippte Richard an einem Glas Portwein. Er verzog das Gesicht. »Ich habe schon so lange nichts Süßes mehr gegessen oder getrunken, dass ich offenbar den Appetit darauf verloren habe. Wir bekommen keine Butter zum Brot, geschweige denn Marmelade.«
»Ach Richard!«, seufzten die Vettern unisono.
»Ihr braucht mich nicht zu bedauern. Mein Leben ist nicht vorbei, nur weil ich die nächsten sieben Jahre im Gefängnis verbringen muss.« Richard stand auf. »Ich bin jetzt sechsunddreißig und werde nach Verbüßung meiner Strafe dreiundvierzigeinhalb sein. Die Männer unserer Familie leben lange, und ich will gesund und bei Kräften bleiben.« Er wandte sich an Vetter James, den Apotheker. »Die fünfhundert Pfund Belohnung des Steueramts gehören mir, egal was passiert. Ich werde dem gleichgültigen Mr Fisher schreiben, dass er sie an dich auszahlen soll, Vetter James. Nimm dir, was ich dich gekostet habe, und verwende den Rest, um mich weiterhin mit Filtersteinen, Lappen, Kleidern und Schuhen zu versorgen. Und gib Reverend James etwas für Bücher, auch für die, die er mir bereits gebracht hat. Ich arbeite viel, denn das bedeutet, dass ich genug zu essen bekomme. Aber sonntags kann ich lesen. Das ist ein Segen!«
»Denk immer daran, wir lieben dich von Herzen, Richard«, sagte Vetter James, der Apotheker, und umarmte und küsste ihn.
»Und wir beten für dich«, fügte Vetter James, der Kirchenmann, hinzu und umarmte und küsste ihn ebenfalls.
 
Willy Insell war der einzige Angeklagte, der bei den Gerichtstagen in Gloucester im März 1785 freigesprochen wurde. Sechs wurden zum Tod durch den Strang verurteilt: Maisie Harding wegen Hehlerei, Betty Mason wegen Diebstahls von fünfzehn Guineen, Sam Day wegen Diebstahls von zwei Pfund Garn, Bill Whiting wegen Diebstahls eines Schafes, Isaac Rogers wegen Straßenraubs und Joey Long wegen Diebstahls einer silbernen Uhr. Die restlichen zwölf wurden zu sieben Jahren Deportation nach Afrika verurteilt, einem Kontinent, in dem Seine Britannische Majestät offiziell keine Kolonie besaß. Richard wusste, dass auch er zum Tod durch den Strang verurteilt worden wäre, wenn seine beiden Vettern nicht als Leumundszeugen für ihn ausgesagt hätten. Bristol war zwar weit weg, doch konnten Richter und Jury zwei angesehene Bürger dieser Stadt nicht einfach ignorieren.
Das Problem, wie alle Verurteilten in die winzige Zelle passen sollten, löste sich eine Woche später von selbst: Neun der zu sieben Jahren Deportation verurteilten Häftlinge starben an einer heimtückischen Halsentzündung, und mit ihnen die restlichen Kinder und zehn Schuldner aus der Nachbarzelle.
Die Zustände in den englischen Gefängnissen waren eine Katastrophe, was die für Gloucester zuständigen Richter allerdings nicht davon abhielt, drakonische Strafen zu verhängen.
Zwischen 1782 und 1784 hatte man außerdem dreimal versucht, verurteilte Straftäter nach Amerika abzuschieben. Die Swift wurde auf ihrer ersten Reise in Amerika zur Umkehr gezwungen, einigen Deportierten gelang jedoch mithilfe der Amerikaner die Flucht. Im August 1783 brach das Schiff mit 143 Häftlingen an Bord zu einer zweiten Reise auf. Ziel war Neuschottland, doch kam die Swift nur bis Sussex, wo die menschliche Fracht meuterte und das Schiff in der Nähe von Rye auf den Strand setzte. Anschließend zerstreuten die Häftlinge sich in alle Winde. Nur neununddreißig wurden wieder gefasst. Sechs davon wurden gehängt, die Übrigen zu lebenslänglicher Deportation nach Amerika verurteilt, als hätte immer noch die Möglichkeit bestanden, Sträflinge nach Amerika zu deportieren. Die Mühlen der staatlichen Behörden und besonders der Justiz mahlten langsam.
Im März 1784 kam es zum dritten Versuch, Sträflinge nach Amerika zu transportieren. Diesmal hieß das Schiff Mercury, Ziel der Reise war Georgia, das zusammen mit den anderen zwölf seit kurzem vereinigten Staaten in einer an England gerichteten Botschaft unmissverständlich erklärt hatte, dass es unter keinen Umständen bereit sei, deportierte Sträflinge aufzunehmen. Die Mercury brach mit 179 Gefangenen an Bord von London auf. Unter den Gefangenen befanden sich Männer, Frauen und Kinder. Nach einer Meuterei vor der Küste von Devon landete das Schiff in der Nähe von Torbay. Einige Sträflinge wurden noch an Bord wieder gefangen genommen, doch die meisten waren bereits geflohen. Insgesamt 108 wurden wieder gefasst; einige waren bis Bristol gekommen. Viele wurden zum Tod durch den Strang verurteilt, allerdings nur zwei tatsächlich gehängt. Das politische Klima begann sich zu verändern.
Mit der Recovery wurde im Januar 1785 ein letzter planloser Versuch unternommen, in den überfüllten Gefängnissen Englands Platz zu schaffen. Eine Ladung Sträflinge wurde nach Äquatorialafrika verschifft und an einer sumpfigen Küste ausgesetzt - ohne für sie verantwortliche Aufseher und ohne die nötigen Vorräte und Ausrüstungsgegenstände, um in der Wildnis zu überleben. Alle starben auf grauenvolle Weise. Das afrikanische Experiment löste einen Sturm der Entrüstung aus und wurde nie wiederholt. Das neue Kabinett von Premierminister William Pitt dem Jüngeren gelangte zu der Einsicht, dass andere, weniger anstößige Wege gefunden werden mussten, um zur Deportation verurteilte Straftäter loszuwerden. Angesichts der Forderungen John Howards und Jeremy Benthams nach Reformen des Strafvollzugs, der Kampagne der Quäker gegen die Sklaverei und die britische Expansion in Afrika und des wachsenden Einflusses von Thomas Clarkson und William Wilberforce, der wie Bentham ein wichtiger Mann der Whigs in Westminster war, hielt die Regierung es für klüger, diesen und anderen Streitern für soziale Reformen keine weitere Munition zu liefern. Die zusätzlich erhobenen Steuern, notwendig gemacht durch die schlechte Wirtschaftslage, sorgten schon für genug Unzufriedenheit. Und in einem stimmte Mr Pitt mit dem Sträfling Richard Morgan überein: Er wollte noch lange leben. So durfte Jeremy Bentham an den Plänen für das neue Gefängnis in Gloucester mitwirken, und Innenminister Lord Sydney bekam den Auftrag, einen Ort zu finden - ganz egal wo -, an den die vielen überzähligen englischen Sträflinge deportiert werden konnten.
 
Doch noch hatte sich im Gefängnis von Gloucester nichts verändert. Die Häftlinge litten weiterhin unter der Enge und allen möglichen Krankheiten.
Willy Insell, der immer noch bei jeder Gelegenheit heulte, wurde am 5. April entlassen. Am selben Tag schickte Mr James Hyde das Gnadengesuch Richard Morgans zusammen mit einem Schreiben von Mr Fisher, dem Leiter der Steuerbehörde von Bristol, an Lord Sydney. Lord Sydneys fleißiger und gewissenhafter Sekretär Mr Evan Nepean überstellte es am 15. April in das Büro von Sir James Eyre in der Bedford Row. Sir James Eyre, der bei Richards Verhandlung den Vorsitz geführt hatte, sollte den Fall noch einmal überprüfen und Lord Sydney mitteilen, ob Richard Morgan die Gnade des Königs verdiene. Bisher war alles recht schnell gegangen; schließlich hatte die Verhandlung erst am 23. März stattgefunden. Doch in der Bedford Row verstaubte das Gnadengesuch. Richter Eyre war zu beschäftigt, um für derlei Dinge Zeit zu haben.
 
Ende Juli kam ein Brief von Jem Thistlethwaite, der London um dieselbe Zeit verlassen hatte, zu der William Henry verschwunden war. Richard wurde das Herz schwer, als Hubbard ihm den Brief aushändigte. Die alte Wunde öffnete sich wieder, und der ganze Schmerz der Vergangenheit fiel ihn an. Nach seiner Einlieferung ins Bristol Newgate hatte er alle Erinnerungen an William Henry verdrängt. Nur so hatte er, ohne dass es ihm bewusst war, den unbändigen Überlebenswillen aufbringen können und die Disziplin, die Rituale zu befolgen, die er für sich eingeführt hatte - Rituale der Reinigung, durch die er sich von seinen Mithäftlingen absetzte und für sie zu einem Zwischending zwischen einem Heiligen und einem Verrückten wurde. Warum wollte er um jeden Preis überleben und gesund bleiben? Um anschließend die Suche nach William Henry fortsetzen zu können, der tief in seinem Herzen weiterlebte.
Richard, soeben habe ich einen Brief deines Vaters erhalten. Ich bin von der schlimmen Nachricht völlig niedergeschmettert. Vom Rum benebelt, glaubte ich, ich hätte dir von meiner geplanten Flucht geschrieben, aber der Brief wurde entweder nie verfasst oder er ging verloren. Ich war seit Juni letzten Jahres im Ausland - das schöne Italien lockte und ich beeilte mich, dem Lockruf zu folgen. Zum Glück konnte ich nach meiner Rückkehr vor knapp einer Woche wieder mein altes Zimmer mieten, sodass die Zeilen deines Vaters mich erreichten.
Ich habe immer gewusst, dass dein Leben nicht so verlaufen würde, wie du dachtest - erinnerst du dich noch? Du sagtest: »Ich bin in Bristol geboren und ich werde in Bristol sterben.« Schon damals, als du das sagtest - mit dem kleinen William Henry auf dem Schoß -, ahnte ich, dass es anders kommen würde. Ich hatte Angst um dich. Und ich, der ich völlig unfähig bin zu lieben, liebte dich damals, wie ich dich heute liebe, ohne dass ich wüsste, warum - vielleicht weil ich etwas in dir sehe, das du nicht siehst. Über William Henry will ich nicht mehr sagen, als dass du ihn nie finden wirst. Er war nicht für diese Welt bestimmt, aber wo immer er auch ist, Richard, er ist glücklich und hat seinen Frieden. Die wirklich Guten haben auf dieser Welt nichts zu suchen, sie können hier nichts lernen. Also freue dich für Henry.
Blind vor Tränen legte Richard den Brief nieder. Zum ersten Mal konnte er um William Henry weinen. Die anderen Sträflinge, Lizzie eingeschlossen, machten keinen Versuch, sich ihm zu nähern. Stundenlang hockte er auf seiner Kiste und ließ den lange unterdrückten Tränen endlich freien Lauf. Es war schon seltsam, dass ausgerechnet Jem Thistlethwaite den Damm gebrochen hatte. Dabei hatte er Unrecht. William Henry würde eines Tages zurückkommen; er hatte diese Welt nicht für immer verlassen.
Am Abend des folgenden Tages hatte Richard immer noch kein Wort gesagt, und niemand hatte ihn angesprochen. Zur Essenszeit nahm er den Brief wieder zur Hand.
Ich habe unter dem neuen Schlag von Whigs, der sich unter der Regierung eines jungen Mannes wie Pitt herausbilden konnte, eine Nische für mich gefunden. Das Oberhaus wird immer eine Oligarchie bleiben, aber das Unterhaus ist keine mehr. Es gibt dort zurzeit so viele Männer mit neuen Ideen, und Pitt würde alle fördern, wenn er das Geld dazu hätte. Doch um auf dich zurückzukommen: mit deiner Deportation ist nicht zu rechnen. Das afrikanische Experiment war ein Desaster, deshalb hat niemand in Westminster den Mut - oder die Dummheit, so unglaublich es klingt -, es in irgendeiner Form zu wiederholen. Indien wurde vorgeschlagen, doch so schnell wieder verworfen, wie man sich eines Hemdes aus Schlangen entledigen würde. Unsere wenigen Stützpunkte dort sind gefährliche Orte. Doch der eigentliche Grund für die Entscheidung gegen Indien war der Widerstand der Ostindienkompanie. Sie will nicht, dass Sträflinge ihre Unternehmungen in Bengalen und China gefährden. Auf den westindischen Inseln will man nur Schwarze als Arbeiter oder Sklaven, und die Situation in von England beanspruchten Gebieten wie Neuschottland und Neufundland lässt keine Deportation zu. Dort treiben sich die Franzosen herum und weiter südlich die Spanier.
Wie es aussieht, musst du deine Zeit in Gloucester absitzen. Aber ich verspreche dir, ich werde dich unterrichten, sobald ich etwas Neues höre. Dick sagt, du hättest dich in dein Schicksal gefügt - mit »kaltem Zorn«, wie Vetter James, der Apotheker, es ausdrückte.
Richard konnte den Brief erst am Sonntag beantworten. Dazu nahm er das Ende des großen Tisches in Beschlag, den Hubbard kurz vor den Gerichtstagen in die Gemeinschaftszelle gestellt und danach nicht entfernt hatte. Hubbard hatte die Idee gehabt, dass der Tisch sich als zusätzliche Etage nutzen ließ, auf der einige Häftlinge Platz finden konnten, wenn die Zelle überfüllt war. Als ob sie je unterbesetzt gewesen wäre.
Ich wäre lieber in Italien als im Gefängnis von Gloucester, Jem, das kann ich dir versichern.
Über Ceely Trevillian und die Machenschaften in der Rumbrennerei kann ich nicht mehr sagen, als dass ich mich unglücklicherweise mit einem intelligenten Mann aus gutem Hause anlegte, der seine Talente leider für Intrigen und Komplotte missbraucht. Trevillian gehört auf die Bühne, wo er Kemp, Mrs Siddons und Garrick an die Wand gespielt hätte. Mein einziger Trost ist, dass ich meine Schulden zurückzahlen kann, sobald Cave und Thorne sich mit dem Steueramt geeinigt haben. Dann können die Vettern James mit dem Geld mir weitere Sachen kaufen. Ich bin nie ohne ein Buch, auch wenn das Lesen mancher Bücher schmerzhaft ist, weil ich dabei immer wieder an Clifton und die Hotwells denken muss, Orte, an die ich lieber nicht erinnert werden möchte. Weniger wegen William Henry oder Ceely als wegen Annemarie Latour, mit der ich schlimm gesündigt habe. Ich sehe dir von hier aus an, wie du dich über meine Prüderie ärgerst, aber du warst damals nicht da und du hättest den Mann, der ich damals war, bestimmt nicht gemocht. Ich ließ mich zu sehr von meinen Trieben beherrschen. Kannst du das verstehen? Wenn nicht, wie kann ich es dir begreiflich machen? Ich liebte Annemarie nicht, ich besprang sie wie ein brünftiger Stier oder Hengst. Ich verabscheute das Objekt meiner tierhaften Begierde, das auch ein Tier war. Im Gefängnis von Gloucester sind alle zusammengesperrt - Männer, Frauen und Kinder. Allerdings wird hier mehr gevögelt als gestillt. Die meisten Säuglinge sterben, die armen kleinen Geschöpfe. Genauso bedauernswert sind die Mütter, die sie austragen und gebären, nur um sie zu verlieren. Zuerst war ich über die Anwesenheit der Frauen entsetzt. Doch im Laufe der Zeit wurde mir klar, dass sie das Gefängnis von Gloucester erträglich machen. Ohne sie wären wir keine Menschen mehr, sondern rohe Bestien.
Meine Frau heißt Lizzie Lock. Sie sitzt seit Anfang 1783 ein, weil sie Hüte gestohlen hat. Wenn sie einen Hut sieht, der ihr gefällt, klaut sie ihn. Uns verbinden weder romantische Gefühle noch animalische Begierden. Wir führen eine rein platonische Freundschaft. Ich beschütze sie vor den anderen Männern und sie bewacht die Kiste mit meinen Sachen, während ich arbeite. Jem, könntest du, wenn deine finanziellen Mittel es erlauben, einen großen Hut für Lizzie besorgen? Rot oder rot-schwarz und möglichst mit Federn? Sie wäre im siebten Himmel.
Irgendwie sind wir verlorene Seelen aus dem Gefängnis von Gloucester eine Familie. Wir haben ja sonst niemand. Wer verurteilt ist und die vielen Krankheiten überlebt hat, gehört dazu und genießt zur Verblüffung unserer Wärter sogar ein gewisses Ansehen. Es geht hier eben zu wie in einer Kleinstadt. Hubbard, der Oberaufseher, macht ein gutes Geschäft, da der Staat ihm für die arbeitenden Häftlinge dreißig Pennys pro Woche bezahlt. Auch die Frauen arbeiten. Sie bauen Gemüse an, halten Vieh und Geflügel, flicken Kleider und waschen. Andere Häftlinge sind nur vierzehn Pennys wert, wie die Schuldner in der Nachbarzelle. Etwas stimmt nicht an einem Rechtssystem, das einen Menschen ins Gefängnis bringt, weil er einem anderen weniger als ein Pfund schuldet, und ihn dann dort verrotten lässt, weil er nicht arbeiten kann, um das Geld zurückzuzahlen. Dank der Anstrengungen der Frauen sind wir gut genährt, sodass wir Hubbard wenig kosten. In Wirklichkeit verdient er nicht zehn, sondern hundert Pfund im Jahr, selbst nach Abzug der kleinen Zuwendungen an seine Günstlinge. Ich muss Schluss machen. Selbst mein besonderer Status hier drinnen verleiht mir nicht das Recht, den Tisch einen ganzen Sonntagnachmittag lang in Beschlag zu nehmen. Das ist überhaupt das Komischste, Jem. Ich merke, dass ich in dieser kleinen Welt aus irgendeinem Grund Respekt genieße - vielleicht weil ich als verrückt gelte und mangels besserer Vorbilder. Bitte schreib mir ab und zu.
Im August kam Vetter James, der Apotheker, zu Besuch, bepackt mit einem neuen Filterstein, Lappen, Kleidern, Medikamenten und Büchern.
»Aber benutze den alten Filterstein ruhig weiter, Richard, er sieht noch nicht verbraucht aus. Je mehr Steine du in Reserve hast, desto besser. Ich habe dir einen stabilen Sack für die Ersatzsteine mitgebracht. Das Wasser in Gloucester ist viel sauberer als alles, was in Bristol aus der Leitung kommt.« Vetter James war sichtlich unbehaglich zu Mute. Er erzählte alles Mögliche, nur um etwas zu sagen, und wich Richards Blick aus.
»Aber deshalb hättest du doch bei dieser Hitze nicht eigens herkommen müssen, Vetter James«, sagte Richard freundlich. »Lass mich bitte die schlechte Nachricht wissen.«
»Wir haben endlich von Mr Hyde aus der Chancery Lane gehört. Am Neunten des letzten Monats konnte Sir James Eyre sich endlich mit deinem Gnadengesuch befassen. Dieses Datum trägt zumindest sein Schreiben an Lord Sydney. Sir James Eyre sprach sich entschieden dagegen aus, dir Gnade zu gewähren. Für ihn besteht kein Zweifel, dass du zusammen mit dieser Frau geplant hast, Ceely Trevillian auszurauben, auch wenn die Frau seitdem verschwunden ist.«
»Die Belastungszeugin war nicht da«, sagte Richard leise. »Trotzdem glaubte man ihr.«
»So steht es also, mein armer Richard. Wir haben alle Rechtsmittel ausgeschöpft. Die Belohnung ist dir allerdings sicher. Sie kann nicht gepfändet werden, weil sie nichts mit der Straftat zu tun hat, für die du verurteilt wurdest. Ich weiß, dass du noch ein paar Guineen hast, aber bei meinem nächsten Besuch bringe ich dir eine neue Kiste mit, bei der das Geheimfach in die Längsseite eingebaut ist - man sagte mir, dass Deckel und Böden eher überprüft werden als Seitenwände. Das Fach wird in Baumwolle verpackte Goldmünzen enthalten, die nicht klimpern, auch wenn die Kiste noch so gründlich geschüttelt oder abgeklopft wird. Auf Grund der Baumwolle klingt die Seitenwand auch nicht hohl.«
Richard ergriff die Hände von Vetter James und hielt sie fest. »Ich weiß, dass ich mich wiederhole, aber ich kann dir gar nicht genug danken, Vetter James. Was wäre ohne dich aus mir geworden?«
»Ohne ihn wärst du jedenfalls viel dreckiger, Schätzchen«, sagte Lizzie Lock, nachdem Vetter James gegangen war. »Er bringt dir Filtersteine, Seifen, Teeröl und den ganzen Krimskrams für deine Rituale. Du erinnerst mich an einen Priester, der die Messe zelebriert.«
»Sauberkeit geht ihm wirklich über alles«, fügte Bill Whiting neckend hinzu. »Das ist doch gar nicht nötig, Richard, Schätzchen - sieh uns an.«
»Ach übrigens, Bill, ich sah dich neulich um meine Schafe herumschleichen«, sagte Betty Mason, die für Hubbard eine Herde hütete. »Lass sie gefälligst in Ruhe.«
»Ich habe doch sonst niemanden außer Jimmy und Schätzchen Richard.« Schätzchen war inzwischen Richards Spitzname. »Und die wollen nicht mit mir schlafen. Übrigens habe ich gehört, dass unsere ganze Steineschlepperei wohl umsonst ist - der alte Hubbard sagt, es gäbe ganz neue Pläne für das neue Gefängnis.«
»Das habe ich auch gehört.« Richard tunkte ein Stück altbackenes Brot in den Rest seiner Suppe.
Jimmy Price seufzte. »Wir sind wie der Dingsda - wie heißt er gleich? -, der den Felsbrocken immer wieder den Berg hinaufrollen musste, weil er jedes Mal wieder herunterkam. Herrgott, es wäre schön, wenn unsere Plackerei wenigstens einen Sinn hätte.« Er sah zum anderen Ende des Tisches hinüber, den die Alten zäh gegen die Neuen verteidigten. Dort saß in sich zusammengesunken Ike Rogers. »Ike, du musst etwas essen. Sonst bekommt der hungrige Richard deine Suppe. Mir ist nicht aufgefallen, dass die anderen fünf Galgenvögel ebenfalls den Appetit verloren hätten oder sich große Sorgen machen. Iss, Ike, iss! Du wirst nicht hängen, das schwöre ich dir.«
Ike gab keine Antwort. Von dem großmäuligen Rabauken von früher war nichts übrig geblieben. Straßenräuber galten als die Helden unter den Verbrechern, doch Ike konnte sich offenbar weder mit seinem Schicksal abfinden noch die trotzige Haltung der fünf anderen Todeskandidaten teilen.
Richard setzte sich neben ihn auf die Bank und legte ihm den Arm um die Schultern. »Iss, Ike«, sagte er aufmunternd.
»Ich hab keinen Hunger.«
»Jimmy hat Recht. Du endest nicht am Galgen. Seit über zwei Jahren wird in Gloucester keiner mehr gehängt, obwohl viele zum Galgen verurteilt wurden. Hubbard braucht Häftlinge, die für zwei Schillinge und sechs Pennys die Woche arbeiten. Freie Arbeiter aus Gloucester kosten zwölf Schillinge.«
»Ich will nicht sterben!«
»Das wirst du auch nicht, Ike. Jetzt trink deine Suppe.«
»Was für ein Pessimist Ike ist«, sagte Bill Whiting am nächsten Tag beim Steineschleppen. »Er stolziert die ganze Zeit in seinen Reitstiefeln herum, nur damit niemand sie ihm klaut. Herrje, seine Füße müssen vielleicht stinken! Er schläft sogar in ihnen.« Bill fröstelte plötzlich. »Wenn er hängt, dann hänge ich auch. Eigentlich ungerecht, oder? Seine Beute war fünftausend Pfund wert, mein Schaf nur zehn Schillinge.«
Acht der Häftlinge bildeten inzwischen eine verschworene Gemeinschaft: die vier Frauen, Bill, Richard, Jimmy und der einfältige Joey Long. Bei dem Gedanken, dass vier von ihnen den Jahreswechsel vielleicht nicht mehr erleben würden, lief auch Richard ein Schauer über den Rücken.
Doch drei Tage nach Weihnachten wurden alle sechs zum Tode Verurteilten begnadigt. Ihre Strafen wurden in vierzehn Jahre Deportation umgewandelt - nach Afrika, wohin auch sonst? Die Häftlinge brachen in Freudengeschrei aus, doch Ike Rogers war nie wieder der Alte.
 
Richard hatte das Jahr 1785 von Anfang bis Ende im Gefängnis verbracht. An Silvester erhielt er einen Brief von Mr James Thistlethwaite.
Es tut sich was in Westminster, Richard. Es kursieren alle möglichen Gerüchte. Das hartnäckigste, das deine Zukunft betrifft, besagt Folgendes: Zur Deportation nach Afrika verurteilte Häftlinge der Gefängnisse außerhalb Londons sollen auf die Gefangenenschiffe in der Themse verlegt und so bald wie möglich nach Übersee transportiert werden, aber nicht über den Großen Teich, den Oceanus Atlanticus der Landkarten. Stattdessen ist in Gerüchten, die jeden Tag lauter werden, vom östlichen Ozean die Rede - dem so genannten Oceanus Pacificus, von dem es kaum Karten gibt.
Vor gut zehn Jahren schickten die Königliche Akademie der Wissenschaften und die britische Admiralität einen Kapitän namens James Cook nach Tahiti, um den Durchgang der Venus vor der Sonne zu beobachten. Dieser Cook entdeckte auf seinen Forschungsreisen ein Paradies nach dem andern. Für seine Neugier wurde er schließlich auf den nach Lord Sandwich benannten Inseln von Eingeborenen erschlagen. Das Paradies, von dem ich jetzt sprechen will, erinnerte Captain Cook an die Küste von Südwales, daher nannte er es Neusüdwales. Wirklich sehr phantasievoll! Auf Karten ist es als »Terra Incognita« oder »Terra Australis« verzeichnet. Wie weit es sich von Osten nach Westen erstreckt, weiß niemand genau, doch von Norden nach Süden sind es 2000 Meilen. Auf ungefähr demselben Breitengrad, auf dem der neue amerikanische Staat Georgia liegt, allerdings nicht nördlicher, sondern südlicher Breite, entdeckte der ehrgeizige Kapitän eine Bucht, die er »Botany Bay« nannte, weil der Präsident der Königlichen Akademie Sir Joseph Banks dort mit Dr. Solander, einem Schüler des Linnaeus, an Land ging, um für botanische Studien Pflanzen zu sammeln.
Ein Herr korsischer Abstammung namens James Maria Matra hat unsere Behörden als Erster auf die Idee gebracht. Es folgten zahllose Unterredungen mit Sir Joseph Banks, der Autorität auf allen Gebieten von der Geburt Christi bis zur Sphärenmusik - mit dem Ergebnis, dass Mr Pitt und Lord Sydney nun davon überzeugt sind, die Antwort auf die drängende Frage, was mit deinesgleichen geschehen soll, gefunden zu haben: Ihr sollt in die Botany Bay gebracht werden. Allerdings sollt ihr nicht einfach an der Küste ausgesetzt werden, wie es in Afrika geschah. Ihr sollt ein fruchtbares Land, das bisher weder Franzosen noch Holländer noch Spanier betreten haben, mit Engländern bevölkern. Ich habe noch nie gehört, dass ein Land von Sträflingen besiedelt wurde, doch genau das scheint die Regierung Seiner Majestät in der Botany Bay vorzuhaben. Ich bin allerdings nicht sicher, ob »besiedeln« in diesem Zusammenhang das richtige Wort ist. Mr Pitts Wort meint wohl eher »abladen«. Wenn das Experiment funktioniert, kann England die Botany Bay in Zukunft als Sträflingsdeponie benutzen und zwei Ziele gleichzeitig erreichen. Das Erste und weitaus Wichtigere ist, mit der Deportation englischer Sträflinge ans andere Ende der Welt auch die Probleme, die sie hier verursachen, ein für alle Mal loszuwerden. Das Zweite ist die Gründung einer neuen Kolonie, über der der Union Jack weht, auch wenn sie keinen wirtschaftlichen Gewinn verspricht - ein Schachzug, der die Bedenken unserer vielen Weltverbesserer zerstreuen soll.
Sei also darauf gefasst, dass du nicht mehr lange in Gloucester bist, Richard. Ich habe bereits Vetter James, dem Apotheker, geschrieben, dass er dich bald besuchen und mit allem versorgen soll, was du dort zum Leben brauchst. Und mach dich auf einen Schock gefasst. Sobald du die in der Nähe des Königlichen Zeughauses in Woolwich vertäuten Gefangenenschiffe betrittst, bist du in London! Es gibt mehrere solche Schiffe auf der Themse, doch nur drei davon kommen für euch in Frage: die Censor und die Justitia, die schon seit zehn Jahren dort liegen und oft von Mr John Howard inspiziert und beanstandet wurden, und die Ceres, die erst jetzt in Dienst gestellt wird. Die Aufsicht über die Schiffe wurde einem Londoner Spekulanten namens Duncan Campbell übertragen - einem geschäftstüchtigen Schotten natürlich. Leider muss ich dir mitteilen, dass es auf diesen Schiffen keine Frauen gibt, die für das leibliche Wohl der Männer sorgen und einen besänftigenden Einfluss auf sie ausüben könnten. Die Schiffe sind schwimmende Höllen! Ich weiß, das ist eine Hiobsbotschaft, aber du bist ein Hiob, Richard, und besser ein Hiob, der weiß, was ihn erwartet. Gib gut auf dich Acht.
»Ich habe Neuigkeiten«, sagte Richard und legte den Brief hin.
»Was denn für welche?«, fragte Lizzie, die friedlich einen Strumpf stopfte. Es konnten keine schlechten Neuigkeiten sein, denn Richard wirkte ganz ruhig.
Sie ließ den Strumpf sinken und betrachtete Richard liebevoll. Sie wusste nichts über ihn, denn er hatte nichts von sich erzählt. Nur den Grund seiner Verhaftung hatte er genannt. Sie liebte ihn, doch würde sie nie mit ihm schlafen. Sie hatte Angst, schwanger zu werden, denn sie wusste, sie würde es nicht ertragen, ihr Kind sterben zu sehen.
Der neue Hut, eine atemberaubende Kreation aus schwarzer Seide und scharlachroten Straußenfedern, saß schräg auf ihrem Kopf. Richard hatte ihn ihr an Weihnachten überreicht, aber dazu gesagt, das Geschenk sei nicht von ihm, sondern von einem Mr James Thistlethwaite aus London, einem alten Freund. Der Mann sei Satiriker, also jemand, der unbeliebte Politiker, Prälaten und Beamten allein durch die Macht des geschriebenen Wortes klein und lächerlich machen konnte. Lizzie glaubte Richard aufs Wort. Da sie weder lesen noch schreiben konnte, kamen Leute, die mit diesen Fähigkeiten ihren Lebensunterhalt bestreiten konnten, für sie gleich nach Gott.
Sie wandte sich wieder dem Loch in einem Strumpf von Hubbard zu und nahm die Stopfnadel auf.
»Mein Satirikerfreund aus London schreibt, dass alle, die zur Deportation nach Afrika verurteilt wurden, von den Bezirksgefängnissen in die Gefangenenschiffe auf der Themse verlegt werden sollen. Das heißt, nur die männlichen Häftlinge. Er sagt nicht, was mit den Frauen geschehen soll.«
Die Zelle war seit einiger Zeit unterbelegt. Das Scharlachfieber hatte so viele Opfer gefordert, dass um Michaelis keine Gerichtstage abgehalten worden waren. Die nächsten sollten im Januar 1986 um Dreikönig stattfinden - wenn bis dahin genügend Fälle zur Verhandlung anstanden.
So hörten nur ungefähr zwanzig Leute Richards Neuigkeiten. Alle waren wie vom Donner gerührt. Wer noch auf seine Verhandlung wartete, hatte sich bald wieder gefasst, doch die anderen brauchten dazu eine Weile. Sie starrten Richard mit großen Augen an und wollten mehr wissen.
»Warum?«, fragte Bill Whiting.
»Irgendwo auf der Welt - ich weiß nicht genau, wo - gibt es einen Ort mit Namen Botany Bay. Dorthin sollen wir deportiert werden, vermutlich von London aus, weil man uns auf die Gefangenenschiffe in der Themse bringt und nicht nach Portsmouth oder Plymouth. Nur die Männer, wohlgemerkt. Obwohl offenbar auch Frauen in die Botany Bay geschickt werden sollen.«
Bess Parker drückte sich an Ned Pugh, der weiß geworden war, und weinte. »Ned! Man will uns trennen! Was sollen wir bloß tun?«
Alle taten, als hätten sie Bess nicht gehört, denn niemand fiel eine tröstliche Antwort ein. »Liegt die Botany Bay in Afrika?«, fragte Jimmy Price, um das Schweigen zu brechen.
»Nein«, sagte Richard. »Es liegt weiter weg als Afrika oder Amerika. Irgendwo im Osten.«
»Ostindien«, sagte Ike Rogers und schnitt eine Grimasse. »Heiden.«
»Nein, nicht Ostindien. Die Botany Bay liegt tief im Süden und wurde erst vor ein paar Jahren von einem Captain Cook entdeckt. Jem schreibt, es sei ein Paradies, also kann es nicht so schlimm sein.« Richard überlegte. »Es muss auf dem Weg nach Tahiti liegen. Das war Cooks Ziel.«
»Wo liegt Tahiti?«, fragte Betty Mason, die genauso unglücklich war wie Bess. Johnny, der Wärter, würde nicht in die Botany Bay deportiert werden.
»Ich weiß es nicht«, gestand Richard.
 
Am folgenden Tag, dem Neujahrstag 1786, wurden die bereits verurteilten Männer und Frauen in die Gefängniskapelle abkommandiert. Dort warteten bereits der alte Hubbard, Reverend Evans und drei Männer, die sie vom Sehen kannten, weil sie gelegentlich die Handwerksmeister aus London begleiteten, die die Bauarbeiten überwachten. John Nibbet war der Sheriff von Gloucester, die anderen beiden hießen John Jefferies und Charles Cole und wurden als Hilfssheriffs vorgestellt.
Nibbet sprach für die anderen. »Das Innenministerium und Innenminister Lord Sydney haben der Stadt Gloucester in Gloucestershire mitgeteilt, dass einige der Häftlinge, die zur Deportation nach Afrika verurteilt wurden, anderswohin deportiert werden sollen!«
»Er hat kein einziges Mal Luft geholt«, murmelte Whiting.
»Sei still, sonst kriegst du Prügel«, flüsterte Jimmy.
Nibbet fuhr ohne Pause fort. Offenbar brauchte er zum Reden keine Luft. »Darüber hinaus wurde der Stadt Gloucester in Gloucestershire mitgeteilt, dass sie als Sammelstelle für zur Deportation verurteilte Häftlinge aus Bristol, Monmouth und Wiltshire zu dienen habe. Zu den Häftlingen aus vorgenannten Städten stoßen nach ihrer Ankunft bei uns folgende Häftlinge aus dem hiesigen Gefängnis: Joseph Long, Richard Morgan, James Price, Edward Pugh, Isaac Rogers und William Whiting. Sie werden alle nach London und Woolwich verlegt und bleiben bis auf weiteres dort.«
Ein verzweifelter Schrei beendete die Erklärung des Sheriffs. Bess Parker stolperte in ihren Fesseln auf Nibbet zu, warf sich ihm zu Füßen, rang die Hände und schluchzte gottserbärmlich. »Sir, bitte, ich flehe Sie an! Ned Pugh ist mein Mann! Sehen Sie meinen Bauch? Ich erwarte ein Kind von ihm. Es kann jeden Tag kommen! Bitte, Sir, nehmen Sie ihn mir nicht weg!«
»Hör auf mit dem Gewinsel, Frau!« Nibbet wandte sich mit finsterer Miene an Hubbard. »Hat der Häftling Pugh eine feste Beziehung mit der heulenden Frau da?«
»Ja, Mr Nibbet, seit einigen Jahren. Sie hatten schon ein Kind zusammen, aber es starb.«
»Meine Anweisungen von Staatssekretär Nepean lauten, dass nur männliche Häftlinge ohne Frauen oder Lebensgefährtinnen, die mit ihnen inhaftiert sind, nach Woolwich geschickt werden sollen. Also wird Edward Pugh zusammen mit den zur Deportation verurteilten Frauen in Gloucester bleiben.«
»Das ist wirklich sehr rücksichtsvoll«, sagte Hilfssheriff Charles Cole, »auch wenn ich keine Notwendigkeit dafür sehe.«
Hubbard murmelte Nibbet etwas ins Ohr.
»Häftling Morgan, haben Sie eine feste Beziehung mit einer gewissen Elizabeth Lock?«, bellte der Sheriff.
Richard wünschte sich von ganzem Herzen, er hätte die Frage bejahen können, doch würde man seine Papiere überprüfen und feststellen, dass er bereits eine Frau hatte, nämlich Annemarie Latour. Sie beeinflusste sein Schicksal immer noch. »Ich habe eine feste Beziehung mit Elizabeth Lock, Sir, aber sie ist weder meine Ehefrau noch meine Lebensgefährtin. Ich bin bereits verheiratet.«
Lizzie Lock wimmerte.
»Dann kommst du nach Woolwich, Morgan.«
Reverend Evans beendete die Versammlung mit einem Gebet, dann eskortierte Johnny die Häftlinge in die Gemeinschaftszelle zurück. Dort zerrte Lizzie Lock Richard in eine ruhige Ecke.
»Warum hast du mir nicht gesagt, dass du verheiratet bist?«, fragte sie. Die Federn auf ihrem Hut nickten.
»Weil ich gar nicht verheiratet bin.«
»Warum hast du das dann zum Sheriff gesagt?«
»Weil es in meinen Papieren steht.«
»Wie kann das sein?«
»Es ist eben so.«
Lizzie packte Richard an den Schultern und schüttelte ihn. »Verdammt noch mal, Richard, warum erzählst du mir nie etwas? Warum bist du so zugeknöpft?«
»Nicht mit Absicht, Lizzie.«
»Doch! Du sagst mir nie etwas!«
»Du hast nicht gefragt.« Er wirkte überrascht.
Sie schüttelte ihn erneut. »Dann frage ich dich jetzt! Erzähl mir alles über dich, Richard Morgan, alles. Ich will wissen, wie du gleichzeitig verheiratet und nicht verheiratet sein kannst!«
»Dann kann ich es ja gleich allen erzählen.«
Sie versammelten sich um den Tisch und bekamen eine stark gekürzte Version der Geschichte von Annemarie Latour, Ceely Trevillian und der Rumbrennerei zu hören. Von Peg, der kleinen Mary, William Henry und dem Rest seiner Familie sagte Richard nichts. Es hätte zu viele schmerzliche Erinnerungen wachgerufen.
»Dein Freund Willy war gesprächiger«, bemerkte Lizzie anschließend enttäuscht.
»Mehr will ich nicht erzählen«, sagte Richard gequält und wechselte schnell das Thema. »Es sieht so aus, als würden wir schon bald verlegt. Ich hoffe nur, dass mein Vetter James es noch schafft, hierher zu kommen.«
Am 4. Januar stieg die Zahl der Männer in der Gemeinschaftszelle wieder. Vier Männer aus Bristol und zwei aus Wiltshire waren hinzugekommen. Zwei der Häftlinge aus Bristol waren noch sehr jung, die anderen beiden Anfang dreißig und seit ihrer Kindheit eng befreundet.
»Neddy und ich haben uns abends im Swan in der Temple Street betrunken«, erzählte William Connelly und klopfte Edward Perrott freundschaftlich auf die Schulter. »Was dann geschah, weiß ich nicht mehr genau. Jedenfalls landeten wir im Bristol Newgate und wurden vergangenen Februar vom Kriminalgericht zu sieben Jahren Deportation nach Afrika verurteilt. Wir sollen Kleider gestohlen haben.«
»Dafür, dass ihr ein Jahr in diesem Loch zugebracht habt, seht ihr noch ganz gut aus«, sagte Richard. »Ich war drei Monate dort, bevor ich hierher kam.«
»Du kommst auch aus Bristol?«
»Ja, aber mein Prozess fand hier statt, weil meine Straftat in Clifton begangen wurde.«
William Connelly war unübersehbar irischer Abstammung. Er hatte dicke, rostrote Haare, eine kurze Nase und freche blaue Augen. Der stille Edward Perrot hatte die aschblonden Haare, die lange Höckernase und das vorspringende Kinn des echten Engländers.
Die beiden Häftlinge aus Wiltshire, William Earl und John Cross, waren höchstens zwanzig Jahre alt und hatten sich bereits mit den beiden Jugendlichen aus Bristol, Job Hollister und William Wilton, angefreundet. Der einfältige Joey Long fühlte sich gleich zu den jungen Burschen hingezogen, und auch Isaac Rogers schloss sich ihnen an, was Richard zunächst erstaunte. Einige Stunden später wusste er allerdings, warum. In ihrer Gesellschaft konnte der Straßenräuber wieder den starken Mann spielen, der er für seine alten Zellengenossen nicht mehr war, seit er aus Angst vor dem Galgen die Nerven verloren hatte.
Zuletzt traf noch der Häftling aus Monmouth ein, ein gewisser William Edmunds. Mit ihm war das Dutzend voll, das auf den Abtransport nach Woolwich wartete.
»Herrje!«, rief Bill Whiting. »Fünf von den Zwölfen, die nach Woolwich kommen, heißen William! Ich bin Bill, und das bleibe ich auch. Wilton aus Bristol, du erinnerst mich an die Heulsuse Willy Insell, deshalb heißt du ab sofort Willy. Connelly aus Bristol, du bist Will, und du, Early aus Wiltshire, Billy. Aber wie nennen wir den Fünften? Was hast du denn verbrochen, Edmunds?«
»Ich habe in Peterstone ein Kalb gestohlen«, sagte Edmunds im singenden Tonfall der Waliser.
Whiting brüllte vor Lachen und küsste den empörten Waliser auf den Mund. »Noch ein Sodomit, bei Gott! Ich habe mir ein Schaf für die Nacht ausgeborgt - ich wollte es nur ficken. An ein Kalb habe ich noch nie gedacht!«
»Lass das!« Edmunds wischte sich empört den Mund ab. »Du kannst ficken, wen du willst, aber mich nicht!«
»Er ist ein Waliser und ein Dieb«, sagte Richard grinsend. »Wir nennen ihn Taffy.«
»Wurdest du zum Galgen verurteilt?«, fragte Bill Whiting Taffy.
»Ja, schon zweimal.«
»Wegen eines Kalbes?«
»Nein, das zweite Mal wegen eines Fluchtversuchs. Aber in Wales brodelt es zur Zeit und es wäre nicht klug gewesen, einen Waliser zu hängen, auch nicht in Monmouth. Also wurde ich begnadigt und abgeschoben.«
Richard fühlte sich zu Taffy ebenso hingezogen wie zu Bill Whiting und Will Connelly. Taffys walisische Launen waren wie über den Himmel jagende Wolken, zwischen denen immer wieder die Sonne aufleuchtete. Aber Richard hatte ja selbst walisische Wurzeln.
 
Am 5. Januar traf gerade noch rechtzeitig Vetter James, der Apotheker, in Gloucester ein. Er war mit Säcken und Holzkisten bepackt.
»Das Steueramt hat Ende Dezember über fünfhundert Pfund gezahlt«, sagte er und begann in dem Gepäck zu wühlen. »Ich habe sechs neue Filtersteine mitgebracht, fünf davon mit dem dazugehörigen Gestell und der Auffangschale aus Messing, weil ich fand, dass auch deine fünf Freunde gesund bleiben sollten.«
»Wieso fünf Freunde, Vetter James?«, fragte Richard verdutzt.
»Jem Thistlethwaite schrieb mir, die Männer auf den Gefangenenschiffen würden in Sechsergruppen aufgeteilt, die zusammen wohnen und arbeiten.« Vetter James sagte nicht, was Jem ihm sonst noch über die Schiffe geschrieben hatte; er brachte es nicht übers Herz. »Deshalb die fünf neuen Kisten. Alle enthalten dasselbe wie deine, nur in kleineren Mengen. Ich habe auch deine Werkzeugkiste mitgebracht.«
Richard überlegte, dann schüttelte er den Kopf. »Nein, Vetter James, die Werkzeuge nicht. Zwar könnte ich sie in dieser Botany Bay brauchen, doch sagt mir mein Verstand, dass sie bis dahin weg wären. Bewahre sie auf und schick sie mir erst, wenn du weißt, auf welches Schiff ich komme.«
»Hier sind noch ein paar Bücher von Reverend James, diesmal vor allem Reiseberichte und Geographisches. Sie sind schwerer, weil sie auf normales Papier gedruckt und in Leder gebunden sind. Aber der Reverend hofft, dass sie sich als nützlich erweisen und du sie und deine anderen Bücher in die Botany Bay mitnehmen kannst.«
Was die praktischen Dinge betraf, schien nun alles gesagt. Vetter James stand auf. »Die Botany Bay liegt am anderen Ende der Welt, Richard, zehntausend Meilen weit weg, wenn du fliegen könntest. Mit dem Schiff dürften es sogar um die sechzehntausend sein. Ich fürchte, dass wir uns nicht wieder sehen werden, und bin darüber zu Tode betrübt. Wenn man bedenkt, dass du im Grunde gar nichts getan hast! Ich werde jeden Tag für dich beten, solange ich lebe, Richard, und dein Vater, deine Mutter und Reverend James ebenfalls. So viele Gebete bleiben gewiss nicht unerhört. Gott wird dich gewiss beschützen!«
Richard umarmte ihn lange und küsste ihn auf die Wangen. Dann schlich Vetter James gesenkten Hauptes hinaus, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Richard folgte ihm mit den Augen. Der Apotheker ging den Weg zwischen den Gemüsebeeten entlang und durch das Burgtor. Dann bog er um die Ecke und verschwand. Ich werde auch für dich beten, Vetter James, denn ich liebe dich mehr als meinen Vater.
Richard versammelte die anderen um den Tisch der Gemeinschaftszelle. Lizzie Lock legte ihm die Arme um die Schultern.
»Ich will mich nicht zum Anführer aufschwingen«, sagte er zu den Fünfen, die ihm am nächsten standen - Bill Whiting, Will Connelly, Neddy Perrot, Jimmy Price und Taffy Edmunds. »Ich bin zwar siebenunddreißig und damit der Älteste von uns, aber ich bin nicht aus dem Holz geschnitzt, aus dem Anführer geschnitzt sind, das solltet ihr inzwischen wissen. Jeder muss selbst wissen, was er will. Allerdings weiß ich einiges, und ich habe einen Informanten in den politischen Kreisen Londons und in Bristol meinen überaus klugen Vetter James, den Apotheker.«
»Den kenne ich«, sagte Will Connelly nickend. »James Morgan aus der Corn Street. Ich erkannte ihn gleich, als er reinkam, und dachte, bei Gott, dieser Richard Morgan hat wirklich gute Beziehungen.«
»Die habe ich. Ich sage euch jetzt also, dass die Männer auf den Gefangenenschiffen jeweils zu sechst zusammen wohnen und arbeiten. Mein Vorschlag ist, dass wir, die wir sechs sind, eine Gruppe bilden, bevor einer der Wärter auf den Schiffen uns aufteilt. Ist euch das recht?«
Die anderen nickten ernst.
»Es ist unser Glück, dass wir zu zwölft nach London kommen. Die anderen sechs sind jünger, mit Ausnahme von Ike, aber er scheint ihre Gesellschaft der unsrigen vorzuziehen. Deshalb werde ich ihm raten, mit seinen fünf Kameraden ebenfalls eine Gruppe zu bilden. Dann können wir uns auf dem Schiff gegenseitig beschützen.«
»Erwartest du Ärger, Richard?«, fragte Connelly stirnrunzelnd.
»Ich weiß es nicht, Will. Wenn ich gewisse Befürchtungen habe, dann eher wegen dem, was meine Leute mir verschweigen als wegen dem, was sie mir erzählen. Wir kommen alle aus dem Westen des Landes. Das wird auf den Gefangenenschiffen nicht so sein.«
»Verstehe«, sagte Bill Whiting, ernst wie sonst selten. »Lass uns also jetzt gleich beschließen, wie wir vorgehen wollen, sonst ist es womöglich zu spät.«
»Wie viele von uns können lesen oder schreiben?«, fragte Richard.
Connelly, Perrot und Whiting hoben die Hand.
»Vier. Gut.« Richard zeigte auf die fünf Kisten, die neben ihm auf dem Boden standen. »Nun zu etwas anderem. Diese Kisten enthalten Dinge, die wir brauchen, um gesund zu bleiben. Zum Beispiel Filtersteine.«
»Ach Richard!«, rief Jimmy Price ungeduldig. »Du machst ja geradezu eine Religion aus diesen albernen Filtersteinen! Lizzie hat Recht, du führst dich auf wie ein Priester, der die Messe liest.«
»Aber nur, weil ich unbedingt gesund bleiben will«, sagte Richard unbeirrt. Er wandte sich an die beiden Männer aus Bristol. »Will und Neddy, wie habt ihr ein Jahr im Bristol Newgate überstanden, ohne krank zu werden?«
»Wir haben Bier oder Dünnbier getrunken«, sagte Connelly. »Unsere Familien gaben uns Geld für gutes Essen und Bier.«
»Als ich dort war, habe ich Wasser getrunken«, sagte Richard.
»Unmöglich!«, rief Neddy Perrot entsetzt.
»Keineswegs. Ich habe das Wasser vorher durch meinen Filterstein laufen lassen. Diese Steine machen schlechtes Wasser sauber und genießbar, deshalb importiert mein Vetter James sie aus Teneriffa. Wenn ihr auch nur einen Augenblick glaubt, das Wasser aus der Themse wäre besser als das aus dem Avon, seid ihr innerhalb einer Woche tot.« Richard zuckte die Schultern. »Es liegt bei euch. Wenn ihr es euch leisten könnt, Dünnbier zu trinken, soll’s mir recht sein. Aber bedenkt, dass wir in London keine hilfsbereiten Verwandten in der Nähe haben. Und unsere Guineen sollten wir sparen, statt sie für Dünnbier auszugeben. Vielleicht brauchen wir sie noch, um jemanden zu bestechen.«
»Du hast Recht«, sagte Will Connelly und berührte ehrfürchtig den Filterstein auf dem Tisch. »Ich werde mein Wasser filtern, wenn ich es mir nicht leisten kann, Dünnbier zu trinken. Das ist das Vernünftigste.«
Am Ende erklärten sich alle einverstanden, ihr Wasser zu filtern, selbst Jimmy Price.
»Das wäre geregelt«, sagte Richard und ging zu Ike Rogers hinüber, um mit ihm zu sprechen. Es tat ihm zwar Leid, dass er keine zwölf Filtersteine hatte, aber nicht Leid genug, um die sechs, die er hatte, auf zwölf Leute aufzuteilen. Ikes Gruppe würde sich selbst helfen müssen. Wenigstens schien Ike reichlich Geld zu haben.
Wenn wir zwei Gruppen bilden und zusammenhalten, dachte Richard, dann haben wir eine Überlebenschance.