TEIL DREI
Januar 1786 bis Januar 1787
Das Fuhrwerk nach London und Woolwich traf am folgenden Tag, dem 6. Januar, im Morgengrauen ein. Genau ein Jahr seit Beginn meiner letzten Reise, schoss es Richard durch den Kopf. Diesmal fiel ihm der Abschied freilich schwerer. Die Frauen weinten bitterlich.
»Was soll ich bloß ohne dich tun?«, fragte Lizzie Lock, als sie Richard zu Oberaufseher Hubbards Haus folgte.
»Such dir jemand anders«, antwortete Richard, doch in seiner Stimme schwang Mitgefühl. »Du brauchst auf jeden Fall einen Beschützer. Auch wenn es schwierig sein wird, jemanden zu finden, der wie ich darauf verzichtet, mit dir zu schlafen.«
»Das weiß ich doch! Ach Richard, wie werde ich dich vermissen!«
»Ich dich auch, Lizzie. Wer stopft mir jetzt die Strümpfe?«
Sie lächelte unter Tränen und versetzte ihm einen Rippenstoß. »Hör auf! Ich habe dir gezeigt, wie man mit der Nadel umgeht, du kannst sehr gut nähen.«
Zwei Gefängniswärter kamen und führten die Frauen ins Gefängnis zurück. Die Frauen drehten sich in einem fort um und winkten und heulten.
Dann wurden den Gefangenen wieder die Eisengürtel umgelegt, an deren Vorderseiten die vier Ketten zusammenliefen.
 
Von außen glich das Fuhrwerk genau dem, in dem Richard von Bristol nach Gloucester gefahren war. Es wurde von acht großen Pferden gezogen, über die Ladefläche war eine Plane aus Segeltuch gespannt. Innen sah es allerdings ganz anders aus. Auf beiden Seiten verlief eine Bank, die so lang war, dass sechs Menschen bequem darauf sitzen konnten. Die Habseligkeiten der Sträflinge mussten zwischen den Beinen auf dem Boden gestapelt werden. Sie würden jedes Mal, wenn das Fahrzeug sich auf die Seite legte, umfallen und hin und her rutschen, dachte Richard. Welche Straße war schon eben, vor allem in dieser Jahreszeit? Es war mitten im tiefsten Winter und dazu regnete es in Strömen.
Zwei Gefängniswärter begleiteten sie. Sie saßen nicht im Wagen, sondern beim Fuhrmann vorne auf dem Kutschbock, der durch ein Dach gegen den Regen geschützt war. Flucht war trotzdem unmöglich. Sobald die Häftlinge saßen, wurde eine lange Kette durch einen Ring an der linken Fußfessel jedes Häftlings geführt und vorn und hinten am Boden befestigt. Bewegte sich einer der Männer, mussten sich die anderen fünf zwangsläufig auch bewegen.
Die Hackordnung war festgelegt. Richard saß, in seinen warm gefütterten Mantel gehüllt, am offenen Ende des Wagens auf der einen Seite. Ike Rogers, der Anführer der jüngeren Sträflinge, saß ihm gegenüber.
»Wie lange sind wir unterwegs?«, fragte Ike Rogers.
»Wir können froh sein, wenn wir sechs Meilen am Tag schaffen«, antwortete Richard. »Du kennst die Straßen nicht - ich meine, was ihre Eignung zum Reisen betrifft.« Er grinste. »Keine Ahnung, wie lange es dauert. Hängt von der Route ab.«
»Sie führt über Cheltenham und Oxford«, sagte der Straßenräuber, der ihm den Scherz nicht übel nahm. »Wo Woolwich ist, weiß ich allerdings nicht. Ich bin zwar in Oxford gewesen, aber noch nie in London.«
Richard besaß ein Buch über London, und er hatte es bereits genau gelesen. »Woolwich liegt östlich von London am Südufer der Themse. Ich weiß nicht, ob wir den Fluss überqueren müssen - wir fahren ja zu Gefangenenschiffen, die im Fluss ankern. Wenn die Reise über Cheltenham und Oxford geht, sind es ungefähr 120 Meilen bis nach Woolwich.« Richard überlegte kurz. »Bei sechs Meilen am Tag macht das fast drei Wochen.«
»Drei Wochen auf diesen Bänken?«, fragte Bill Whiting bestürzt.
Die Sträflinge, die schon in einem Fuhrwerk gereist waren, brachen in Gelächter aus.
»Keine Angst, du wirst hier nicht untätig herumsitzen, Bill«, sagte Taffy. »Ein halbes Dutzend Mal am Tag müssen wir zum Schaufeln raus.«
So kam es auch tatsächlich. Allerdings begegneten sie unterwegs sehr viel weniger Gastfreundschaft, als Richard und Willy sie auf der Reise nach Gloucester mit Fuhrmann John erlebt hatten. Keine Scheunen öffneten sich für sie, und sie bekamen keine warmen Pferdedecken. Zu essen und zu trinken gab es nur Brot und Dünnbier. Sie mussten auf dem Wagen übernachten. Dazu stellten sie ihr Gepäck auf die Bänke, dann streckten sie sich auf dem Boden aus. Ihre Mäntel dienten als Decken, die Hüte als Kissen. Der heftige Regen drang durch das Verdeck aus Segeltuch, doch wenigstens fiel die Temperatur nicht unter null - ein kleiner Segen für die durchnässten und fröstelnden Häftlinge. Nur Ike besaß Stiefel. Die anderen trugen Schuhe und waren bald bis über die gefesselten Knöchel mit Schlamm bespritzt.
Von Cheltenham und Oxford sahen sie nichts, da der Fuhrmann es vorzog, die beiden Städte mit seiner Fracht zu umfahren. Und High Wycombe bestand lediglich aus einer kurzen Häuserreihe an einem Hang, der so schlüpfrig war, dass die Pferde sich mit den Zugriemen verhedderten und den Wagen fast umwarfen. Die Gefangenen wurden von herumfliegenden Holzkisten getroffen und mussten schließlich aussteigen, um das sich gefährlich zur Seite neigende Gefährt wieder aufzurichten. Ike Rogers, der sich mit Pferden gut auskannte, half mit, die Tiere zu beruhigen und das Geschirr zu entwirren.
Auch von London bekamen sie nichts mit, da einer der Gefängniswärter eine Abdeckung an der offenen Rückseite des Wagens anbrachte, sodass die Insassen überhaupt nicht mehr nach draußen sehen konnten. Das Schaukeln ging jedoch in ein weicheres Rollen über. Sie hatten eine gepflasterte Hauptstraße erreicht und brauchten den Wagen nicht mehr aus dem Schlamm auszugraben. Zahlreiche Geräusche drangen ins Wageninnere: Rufe und Flüche, Wiehern, Grölen, plötzliches Stimmengewirr, vielleicht weil sie an der offenen Tür eines Wirtshauses vorbeifuhren, das Rumpeln einer Maschine und gelegentlich ein Krachen.
Bei Einbruch der Nacht schoben die Gefängniswärter Brot und Dünnbier durch eine Klappe, dann überließen sie die Häftlinge ihrem Schicksal. Wer aufs Klo musste, hatte dafür einen Eimer. Am nächsten Morgen gab es erneut Brot und Dünnbier, dann ging es weiter durch den Lärm, zu dem sich jetzt noch das Geschrei von Verkäufern sowie einige interessante Gerüche gesellten - verfaulter Fisch, verfaultes Fleisch und verfaultes Gemüse. Die Bristoler sahen einander grinsend an, den anderen drohte übel zu werden.
Zwei Tage lang durchquerten sie die Ausläufer der Großstadt, am Nachmittag des dritten Tages - zwanzig Tage nach der Abfahrt von Gloucester - entfernte jemand die Wagenabdeckung. Träge strömte vor ihnen ein mächtiger Fluss dahin, auf dessen Wasser Abfall schwamm. Dem Stand der Sonne nach zu urteilen, einer blassen Scheibe an einem weißlichen Himmel, hatten sie den Fluss überquert und befanden sich nun am südlichen Ufer. Woolwich, dachte Richard. Der Wagen stand an einem Anlegeplatz. Dort war ein morscher Kasten vertäut, der kaum noch Ähnlichkeit mit einem Schiff hatte. Auf einem bronzenen Schild konnte man mit Mühe die Aufschrift »Empfang« entziffern. Sehr passend.
Die Wärter entfernten die Kette, mit der die Häftlinge aneinander gefesselt waren, und befahlen Richard und Ike, den Wagen zu verlassen. Ein wenig wacklig auf den Beinen sprangen sie hinunter, gefolgt von ihren Gefährten.
»Denk dran, zwei Gruppen zu sechs Mann«, sagte Richard leise zu Ike.
Sie wurden über einen hölzernen Steg in das Schiff geführt, noch bevor sie den Fluss oder den darauf schwimmenden Abfall näher betrachten konnten. Drinnen befreite man sie von ihren Ketten, Handschellen, Gürteln und Fußfesseln. Die Gefängniswärter von Gloucester nahmen die abgelegten Sachen in Empfang.
Von Kisten, Säcken und Bündeln umgeben, warteten sie. Sie befanden sich in einer Art demolierten Offiziersmesse, an der Tür standen Wachen. Flucht war unmöglich, es sei denn, sie stürmten zu zwölft gleichzeitig los - aber wie sollte es dann weitergehen?
Ein Mann kam herein. »Plünnen aus!«, brüllte er.
Sie starrten ihn verständnislos an.
»Na los, Plünnen aus!«
Immer noch rührte sich niemand. Der Mann verdrehte die Augen und trat zu Richard, der ihm am nächsten stand. Er riss ihm den Hut herunter und zog heftig an seinem Mantel und dem Rock darunter.
»Ich glaube, wir sollen die Hüte abnehmen und die Mäntel ausziehen.«
Alle gehorchten.
»Los, weiter!«
Wieder starrten sie ihn an.
Der Mann knirschte mit den Zähnen, schloss die Augen und sagte dann überdeutlich: »Hosen auch aus. Hemden anbehalten.«
Alle gehorchten.
»Fertig, Sir!«, rief der Mann.
Ein zweiter Mann kam herein. »Von wo seid ihr?«, wollte er wissen.
»Aus Gloucester«, antwortete Ike.
»Aha, aus dem Westen.« Er sah den ersten Mann an. »Mit denen müssen Sie ganz deutlich sprechen, unseren Dialekt verstehen die nicht.« An die Häftlinge gewandt fuhr er fort: »Ich bin der Arzt. Ist jemand krank?«
Wohl in der Annahme, das allgemeine Gemurmel drücke Verneinung aus, nickte er und seufzte. »Zieht die Hemden hoch. Mal sehen, ob es einige besonders galante Franzosen unter euch gibt.« Er untersuchte ihre Penisse auf Syphilisgeschwüre, und als er keine fand, seufzte er erneut. »Bene«, sagte er zu Matty, dann zu den Häftlingen: »Ihr seid gesund, aber das kann sich schnell ändern.« Im Begriff, die Kajüte zu verlassen, fügte er noch hinzu: »Zieht euch wieder an und wartet.«
Sie zogen sich an und warteten.
Eine Stunde verging. Die Häftlinge setzten sich, den Rücken an die Wand gelehnt. Unter den Beinen spürten sie die sanften Bewegungen des vertäuten Schiffes. Steuerlos, dachte Richard. Wir sind genauso steuerlos wie dieser Kasten, der früher einmal ein Schiff war. Wir sind weiter von zu Hause entfernt als je zuvor und haben keine Ahnung, was uns erwartet. Den Jüngeren hat es die Sprache verschlagen, sogar Ike Rogers ist verunsichert. Und ich habe Angst.
Die Häftlinge hörten Schritte über die Holzplanken näher kommen und das vertraute Klirren von Ketten. Sie zuckten zusammen, warfen sich unbehagliche Blicke zu und standen ungeschickt auf.
»Handschellen für zwölf Landeier!«, rief der erste Mann durch die Tür. »Setzt euch und keine Bewegung.«
Die Ketten waren sechs Zoll länger als die von Bristol und Gloucester und bereits an die Fußfesseln angeschweißt. Die Fußfesseln waren leichter und biegsam. Der muskulöse Schmied konnte sie um die Knöchel des Häftlings biegen und zusammendrücken, bis die Löcher der beiden Enden sich überlappten. Anschließend schob er von innen einen Bolzen durch die Löcher, packte das Bein des Häftlings und schob die lange Zunge eines Ambosses zwischen Bein und Fußfessel. Zwei schwere Schläge mit dem Hammer, und er hatte das andere Ende des Bolzens für immer mit dem Eisenband vernietet.
Diese Fesseln trage ich jetzt sechs Jahre oder noch länger, dachte Richard und rieb sich die schmerzenden Knöchel. Für ein halbes Jahr würde sich der Aufwand ja gar nicht lohnen. Ich habe sie auch noch in der Botany Bay an - so lange, bis ich meine Strafe abgesessen habe.
Ein zweiter Schmied legte mit ebenso großem Geschick den anderen sechs Häftlingen aus Gloucester Fußfesseln an. Binnen einer halben Stunde hatten die beiden ihre Arbeit erledigt, ihre Helfer angewiesen, die Werkzeuge wieder einzupacken, und die Kajüte verlassen. Zwei Wachen blieben zurück. Matty, offenbar der Gehilfe des Arztes, war ebenfalls verschwunden. Doch hatte er die Wärter offenbar über die Verständnisschwierigkeiten mit den Gefangenen informiert, denn der Wärter sprach ebenfalls überdeutlich mit ihnen.
»Ihr esst und schlaft heute Nacht hier«, sagte der Wärter barsch und klopfte mit dem Griff seines kurzen Knüppels auf den Handteller seiner anderen Hand. »Ihr könnt reden und rumlaufen. Hier habt ihr einen Eimer.« Er und sein Begleiter verließen die Kajüte und verriegelten die Tür.
Die zwei Jungen aus Wiltshire wischten sich Tränen aus dem Gesicht. Die anderen hatten trockene Augen. Nach Reden war niemandem zu Mute, bis Will Connelly schließlich aufstand und schlurfend auf und ab ging.
»Die Kette trägt sich angenehmer«, sagte er und hob einen Fuß hoch. »Sie muss an die dreißig Zoll lang sein. Damit kann man gut laufen.«
Richard fuhr mit den Fingern über die Fußfesseln und stellte fest, dass sie abgerundete Kanten hatten. »Und sie werden nicht so scheuern. Da brauchen wir weniger Lappen.«
»Richtig gut zum Arbeiten«, sagte Bill Whiting. »Was das wohl für eine Arbeit sein wird?«
Kurz vor Einbruch der Dunkelheit brachte man ihnen Dünnbier, altbackenes, dunkles Schwarzbrot und ein Gemisch aus gekochtem Kohl und Lauch.
»Für mich nicht.« Ike schob den Topf mit dem Lauch von sich weg.
»Iss, Ike«, befahl Richard. »Mein Vetter James sagt, wir müssen alles Gemüse essen, das wir bekommen, sonst kriegen wir Skorbut.«
Ike war nicht überzeugt. »Mit diesem Zeug ließe sich nicht mal ein Schnupfen kurieren.«
Richard kostete das Gemüse. »Stimmt«, sagte er. »Aber es ist nun mal was anderes als immer nur Brot, und deshalb esse ich es.«
Nach dem Essen legten sie sich schweigend auf den Boden ihrer fensterlosen Zelle, wickelten sich in ihre Mäntel, schoben sich die Hüte als Kissen unter den Kopf und ließen sich von den sanften Wellen des Flusses in den Schlaf wiegen.
 
Am nächsten Morgen wurden sie bei grauem Nieselregen vom Empfangsschiff auf einen offenen Leichter verfrachtet. Bisher war noch nichts wirklich Schlimmes passiert. Die Wärter waren zwar mürrisch und grob, doch solange die Häftlinge ihre Befehle schnell genug befolgten, ließen sie die Knüppel stecken. Die Holzkisten weckten ganz offensichtlich ihre Neugierde, doch niemand inspizierte sie. Am Kai erfuhren sie den Grund dafür. Ein klein gewachsener, rundlicher Herr mit altmodischer Perücke und muffig riechendem Anzug eilte mit ausgestreckten Händen und strahlender Miene auf sie zu.
»Ah, die zwölf aus Gloucester!«, rief er munter mit einem, wie die Häftlinge später erfuhren, schottischen Akzent. »Doktor Meadows hält euch für prächtige Burschen, und ich sehe, er hatte Recht. Ich bin Mr Campbell und ich habe das erfunden.« Seine Hand fegte den Nieselregen in einer großen Geste beiseite. »Schwimmende Gefängnisse! So viel gesünder als das Londoner Gefängnis, ja, als jedes Gefängnis. Ihr habt eure Sachen? Das ist ja ganz vortrefflich. Es steht schlimm um den, der das Recht eines Sträflings auf sein Hab und Gut nicht achtet. Neil! Neil, wo bist du?«
Ein Mann, der aussah wie sein Zwillingsbruder, kletterte eilig vom Bug des Empfangs zur Anlegestelle hinunter und blieb schnaufend vor Mr Campbell stehen. »Hier, Duncan.«
»Ausgezeichnet! Ich dachte, du solltest es nicht versäumen, einen Blick auf diese prächtigen Burschen zu werfen. Mein Bruder hilft mir«, erklärte er, als seien die Gefangenen ganz normale Menschen. »Momentan ist er jedoch für die Justitia und die Censor zuständig - ich bin mit meiner lieben Ceres zu beschäftigt - ein großartiges Schiff! Brandneu! Natürlich kommt ihr auf meine liebe Ceres - wie praktisch, dass ihr ein rundes Dutzend und in so guter Verfassung seid. Zwei Mannschaften für die beiden neuen Baggerboote.« Er trippelte aufgeregt auf der Stelle. »Phantastisch!« Dann eilte er davon. Sein Bruder folgte ihm blökend wie ein verirrtes Lamm.
»Herrje! Was für ein komischer Kauz!«, sagte Will Whiting.
»Ruhe!«, brüllte der Aufseher und ließ den Knüppel auf Whitings Arm niedersausen. »Und jetzt Abmarsch
Das kapierten sie. Vorsichtig stiegen die zwölf Männer eine glitschige Treppe zu dem wartenden Leichter hinunter. Ike Rogers stützte unauffällig den halb ohnmächtigen Whiting.
Durch den gespenstisch grauen Regen tauchten immer wieder Abschnitte eines flachen, sumpfigen Ufers und die Umrisse einzelner Schiffe auf. Die Männer schlugen die Krägen hoch und drehten ihre Hüte so, dass das kaskadenartig herabprasselnde Wasser ihnen nicht in den Hals lief, sondern über die Schultern. Stumm hockten sie zwischen ihren Kisten, Säcken und Bündeln. Zwölf Ruderer, sechs auf jeder Seite, stießen den Leichter ab, wendeten und steuerten mit ausladenden, fließenden Bewegungen, die das ruhig dahinströmende Gewässer kaum aufwirbelten, auf die Mitte des breiten Flusses zu.
Ungefähr dreihundert Meter vom südlichen oder kentischen Ufer entfernt lagen wie vier Kühe in einer Reihe vier Schiffe, gründlicher vertäut, als Richard es je bei einem Schiff gesehen hatte. Jedes Schiff wurde von so vielen Ankern festgehalten - die Anker hingen an Ketten statt der üblichen Trossen -, dass es sich nicht in der Strömung drehen konnte. Das kleinste Schiff lag am weitesten flussaufwärts in Richtung London, das größte bildete gewissermaßen die Nachhut am anderen Ende. Der Abstand zwischen den Schiffen betrug etwa hundert Meter.
»Das Krankenhausschiff Guardian«, sagte eine Wache mit ausgestrecktem Arm. »Dann kommen die Censor, die Justitia und die Ceres
Der Leichter nahm Kurs auf die Censor gegenüber der Anlegestelle, wendete dann und steuerte mit der Ebbe flussabwärts. So hatten die Ruderer weniger Mühe und die Häftlinge konnten einen Blick auf die drei Gefangenenschiffe werfen. Die Schiffe boten ein trauriges Bild. Die Besanmasten waren längst verschwunden, die Großmasten in vierzig Fuß Höhe abgebrochen, die Fockmasten zwar mehr oder weniger intakt, aber ihrer Wanten beraubt. An zwischen Fock- und Großmast gespannten Leinen und an den Seilen, die den Fockmast mit dem stummelartigen Bugspriet verbanden, hingen Kleider zum Trocknen. Auf den Decks standen in heillosem Durcheinander Holzhütten und Anbauten, auf deren Dach sich ein ganzer Wald von in alle Richtungen abstehenden eisernen Kaminen erhob. Weitere Verschläge zierten das Achterdeck, das Vorderdeck und die Achterhütten. Die Censor und die Justitia sahen aus wie Fossilien. Wahrscheinlich waren sie seinerzeit mit Königin Elizabeth’ Flotte gegen die spanische Armada in See gestochen - die Farbe war spurlos verschwunden, die Kupfernägel mit Patina überzogen, die Planken rissig.
Die Ceres dagegen schien erst ein Jahrhundert auf dem Buckel zu haben. Das Schwarz-Gelb der Marine war stellenweise noch zu erkennen, und unter dem Bugspriet sah man die Reste einer Galionsfigur, eine barbusige Frau mit weizenblonden Haaren, der ein Witzbold noch leuchtend rote Brustwarzen verpasst hatte. Die Geschützpforten der Censor und der Justitia waren vernagelt, die der Ceres waren ganz entfernt und durch Gitter aus massiven Eisenstäben ersetzt worden. Die in solchen Dingen erfahrenen Sträflinge aus Bristol schlossen daraus, dass das Schiff unter dem Oberdeck noch zwei weitere Decks hatte, ein Unterdeck und ein Orlopdeck. Die Ceres war einst also ein Linienschiff 2. Ranges mit 90 Kanonen gewesen. Kein Fracht- oder Sklavenschiff hatte so viele Geschützpforten.
Richard überlegte, wie um alles in der Welt sie mit ihren Sachen eine Strickleiter hinaufkommen sollten. Mit den Ketten schien es unmöglich. Doch der ganze Stolz des überschwänglichen Mr Duncan Campbell war eine auf einer schwankenden Plattform angebrachte hölzerne Treppe. Die Kiste in den Armen und zwei Säcke mit weiteren Habseligkeiten über die Schultern geworfen, kletterte Richard hinter einer mit einem Knüppel bewaffneten Wache als Erster über die Bordwand des Leichters und stieg die Stufen bis zu einer Öffnung in der Reling fünf Meter über ihm hinauf. Die Ceres war ein großes Schiff 2. Ranges gewesen.
»Mr’Anks!«, brüllte der Aufseher.
Ein wichtig aussehender, aber schlampig gekleideter Kerl tauchte zwischen zwei Holzschuppen auf, einen Zahnstocher zwischen den Zähnen. Im Hintergrund sah Richard eine Gestalt in einem Rock vorbeihuschen, und er hörte Frauenstimmen. Offenbar wohnten die meisten Wärter in diesen baufälligen Quartieren.
»Ja?«, fragte der wichtig aussehende Kerl.
»Zwölf Sträflinge aus Gloucester, Mr’Anks. Mr Campbell sagt, das sind die neuen Mannschaften für die neuen Baggerboote. Alle kerngesund, meint der Doktor.«
»Wieder Bauern!«, rief Mr Hanks empört. »Fast die Hälfte der Leute an Bord sind mittlerweile Bauern, Mr Sykes.« Er wandte sich den Häftlingen zu. »Ich bin’Erbert’Anks, der Aufseher hier. Bringen Sie die Gefangenen ins Orlopdeck, Mr Sykes. Aber zuerst noch die Gefängnisregeln, also sperrt die Ohren auf und hört zu, sie werden nämlich nicht wiederholt. Besuchszeit ist sonntags nach dem Gottesdienst - Gottesdienst ist Vorschrift. Wir sind hier alle brave Anglikaner, Abweichler gleich welcher Sorte werden nicht geduldet. Alle Besucher werden durchsucht. Ihr Geld müssen sie bei mir deponieren, alle Nahrungsmittel, die sie dabeihaben, werden beschlagnahmt. Warum? Weil die Gauner in ihren Kuchen und Puddings Feilen an Bord schmuggeln.«
Mr Hanks hielt inne und musterte seine Zuhörer mit einer eigenartigen Mischung aus Schadenfreude und Strenge. Seine Ansprache bereitete ihm sichtlich Vergnügen. »An Bord ist das Orlopdeck euer Zuhause. Nur ich kann euch rauslassen, aber das kommt nicht oft vor. Arbeiten, schlafen, arbeiten, schlafen, von Montag bis Samstag. Wenn das Wetter mitmacht, arbeitet ihr, und damit meine ich auch arbeiten. Heute ist kein Tag zum Arbeiten, weil es verdammt noch mal zu stark regnet. Ihr esst, was ihr bekommt, und ich entscheide, was ihr trinkt. Gin ist teuer, und ihr bekommt ihn nur von mir. Ein halbes Pint zu sechs Pennys.«
Wieder folgte eine Pause. Mr Hanks räusperte sich und spuckte den Gefangenen vor die Füße. »Ihr esst zu sechst. Das Essen holt ihr vom Proviantmeister. Sonntags, montags, mittwochs, donnerstags und samstags werden folgende Rationen an jeweils sechs Männer ausgegeben: eine Rinderwange oder -hachse, drei Pint Erbsen, drei Pfund Gemüse, sechs Pfund Brot und sechs Quart Dünnbier. Dienstags und freitags gibt es Haferbrei - Themse-Wasser nach Belieben, drei Pint Hafermehl mit Kräutern, drei Pfund Käse und sechs Pfund Brot. Mehr gibt es nicht. Wer abends alles aufisst, hat am nächsten Morgen Hunger. Mr Campbell sagt, ihr müsst euch jeden Tag waschen und jeden Sonntag rasieren, bevor der Pfaffe an Bord kommt. Wenn ihr zur Arbeit oder zum Gottesdienst heraufkommt, bringt ihr die Nachttöpfe mit und leert sie in den Fluss. Ein Eimer für jede Gruppe. Was ihr in eurer Zelle tut, ist mir und Mr Campbell egal.«
Er grinste. »Aber zuerst muss ich mir eure Kisten und Taschen ansehen.« Er hockte sich hin, während Mr Sykes hinter ihm stehen blieb. »Aufmachen, los!«
Die Sträflinge öffneten die Kisten und breiteten ihre Habe aus.
Mr Herbert Hanks war ein gründlicher Mensch. Er begann mit den Sachen von Ike Rogers und dessen Gruppe. Ihre Kisten waren kleiner, und die beiden Jungen aus Wiltshire hatten überhaupt keine. Lumpen und Kleider interessierten Mr Hanks nicht, trotzdem gab er jedes einzelne Stück an Mr Sykes weiter. Mr Sykes’ Hände glitten über die Stoffe, und er drückte an jeder kleinsten Ausbeulung herum, allerdings ohne fündig zu werden. Auch die anderen Gegenstände boten keine Überraschungen.
»Wo ist euer Geld?«, wollte Mr Hanks wissen.
Ike sah ihn überrascht an. »Sir, wir haben keins. Wir waren ein Jahr lang im Gefängnis. Unser Geld ist aufgebraucht.«
»So?« Mr Hanks wandte sich Richards Gruppe zu. Seine Augen glitzerten. »Alles vertrunken, was?« Aus Richards Kiste und Säcken kamen Kleider, Flaschen und Krüge, der Filterstein mit mehreren Ersatzteilen, zum Auspolstern verwendete Lumpen, Bücher, Papier, Schreibfedern - sehr merkwürdige Dinge! - und zwei Paar Ersatzschuhe. Mr Hanks hielt die Schuhe hoch und betrachtete sie enttäuscht. Achselzuckend sah er den gleichermaßen enttäuschten Mr Sykes an. »Ihr seid wirklich Bauern. Hier hat niemand sonst so große Füße, nicht einmal Long Joyce. Was ist denn das?« Er hielt eine Flasche hoch.
»Teeröl, Mr Hanks.«
»Und das?«
»Ein Filterstein, Sir. Damit filtere ich das Wasser, das ich trinke.«
»Das Wasser hier ist bereits gefiltert. Unter jeder Pumpe hängt ein Sieb. Wie heißt du, Quadratlatsche?«
»Richard Morgan.«
Mr Hanks entriss Mr Sykes eine Liste und überflog sie. Er konnte zwar lesen, doch bereitete es ihm große Mühe. »Jetzt nicht mehr, Morgan. Von jetzt an bist du Sträfling Nummer zweihundertdrei.«
»Jawohl, Sir.«
»Ein belesener Bursche, wie ich sehe.« Mr Hanks blätterte in einem Buch. Er suchte nach obszönen Kupferstichen oder erotischen Passagen. Als er keine fand, klappte er das Buch mit einem Knall wieder zu.
»Und was ist das?«
»Ein Tonikum gegen Furunkel, Sir.«
»Und das?«
»Eine Salbe gegen Schnitte und Geschwüre, Sir.«
»Das ist ja die reinste Apotheke! Warum hast du den ganzen Kram mitgebracht?« Er entkorkte die Flasche mit dem Tonikum und schnüffelte misstrauisch daran. »Igitt! Das stinkt ja so bestialisch, als sei es aus dem Fluss.«
Richard sah mit unbewegter Miene zu, wie der Aufseher die leere Kiste aufhob, sie schüttelte, lauschte, ob etwas darin klapperte, und Wände, Boden und Deckel abklopfte. Anschließend betastete er die Nähte der Säcke. Nichts. Er beschlagnahmte Richards besseres Rasiermesser, den Streichriemen und den Wetzstein sowie sein bestes Paar Strümpfe. Dann nahm er Will Connellys Kiste und Tasche in Augenschein. Richard kniete seelenruhig hin, verkorkte die Flasche mit dem Tonikum wieder und stellte sie beiseite. Ein Blick auf Mr Sykes sagte ihm, dass er seine Sachen jetzt offenbar wieder einpacken konnte. Richard nickte dem bewegungslos verharrenden Rogers zu und machte sich an die Arbeit. Rogers und seine Gruppe folgten Richards Beispiel.
Endlich war Mr Hanks mit allen zwölfen fertig. Er lächelte leutselig. »Also jetzt noch mal, wo ist euer Geld, Freunde? Wo sind eure Silberdollars?«
»Wir haben nichts, Sir«, sagte Neddy Perrott bekümmert. »Wir waren ein Jahr lang im Knast, und da waren Frauen …« Er verstummte.
»Taschen nach außen kehren!«
Doch alle Manteltaschen waren leer, bis auf die von Richard, Bill, Neddy und Will, die mit Büchern voll gestopft waren.
»Klamotten ausziehen!«, bellte Mr Hanks.
Mäntel und Röcke wurden abgelegt. Mr Sykes befühlte sie eingehend. »Nichts«, sagte er schließlich und grinste.
»Filzen, Mr Sykes.«
Offenbar war das der Befehl zu einer Leibesvisitation. Mr Sykes begann auch tatsächlich ihre Körper abzutasten. Mit sichtlichem Vergnügen fummelte er an ihren Genitalien herum. »Fehlanzeige«, sagte er nach einer Weile und sah Mr Hanks erwartungsvoll an.
»Hosen runter und vornüber beugen«, befahl Mr Hanks resigniert.
»Aber ich warne euch! Wenn Mr Sykes Silberdollars in euren Ärschen findet, wascht ihr sie in eurem eigenen Blut.«
Mr Sykes ging brutal vor und ließ sich viel Zeit. Die vier jungen Männer und Joey Long weinten vor Schmerzen und Scham, die anderen ertrugen die Prozedur wortlos. »Nichts, verdammt noch mal«, sagte Mr Sykes. »Fehlanzeige, Mr’Anks.«
»Wir sind aus Gloucestershire«, sagte Richard, während er seine Unterhosen und Breeches hochzog. »Das ist eine arme Gegend.« Und ich habe euch zwei durchschaut, dachte er. Demütigung und Geld. Möge Gott euch verfaulen lassen.
»Runterbringen, Mr Sykes«, schnarrte der Aufseher enttäuscht und verschwand in dem Gewirr von Hütten.
 
An jenem 28. Januar 1786 beherbergte die Ceres 213 Sträflinge. Die zwölf Männer aus Gloucester wurden als die Nummern 202 bis 213 aufgenommen, Richard war die Nummer 203. Doch nur Mr Herbert Hanks aus der Plumstead Road in Woolwich redete sie mit den Nummern an.
Die Gefangenen aus London waren von denen aus dem Hinterland getrennt und auf einem anderen Deck untergebracht, eine weise Entscheidung, die vermutlich die Sträflinge aus London besänftigen sollte, die den Umgang mit Provinzlern hassten. Die Insassen des London Newgate bewohnten das Unterdeck, die Provinzler das Orlopdeck. Vielleicht war die Entscheidung aber auch eine Folge des ständigen Kriegs, der zwischen den Londoner Sträflingen und den Nicht-Londonern auf der Censor und der Justitia tobte. Alle waren irgendwie in diesen Konflikt verwickelt, und nicht einmal Mr Duncan Campbell konnte das Durcheinander entwirren. Auf der Dunkirk in Plymouth sollte er noch weitergehen als auf der Ceres: Er teilte das Schiff nach einem selbst ausgedachten System in sieben Sträflingsabteilungen auf.
 
Das Zwischendeck, in das die Gefangenen gebracht wurden, war sechs Fuß hoch, was bedeutete, dass zwischen Richards Kopf und der Decke aus faulenden Planken nur ein halber Zoll Platz blieb und Ike Rogers gar nicht aufrecht stehen konnte. Die Querbalken, auf denen die Planken auflagen, waren noch einen Fuß niedriger und jeweils im Abstand von sechs Fuß angebracht. Das Gehen wurde dadurch zur Parodie auf eine Mönchsprozession: Alle zwei Schritte mussten die Köpfe ehrfürchtig gesenkt werden.
Der Wind pfiff durch die Eisengitter und den kalten, grellrot gestrichenen Raum, der sich vom Vorschott bis zum Achterschott erstreckte. Alles in allem war der Raum etwa vierzig Fuß breit und hundert Fuß lang. Entlang der Außenwände standen eine Art breite Tische, an denen auf Bänken Männer saßen. Merkwürdigerweise schienen die Tische gleichzeitig als Betten zu dienen. Auf einigen von ihnen lagen Männer, die sich offenbar ausruhten oder an Fieber erkrankt waren. Auch die Breite der Tischplatten von sechs Fuß deutete daraufhin, dass es sich um Betten handelte. Ein weiterer solcher Tisch von sechs Fuß Breite stand in der Mitte. Ungefähr achtzig Männer bewohnten die rote Kammer. Beim Eintreten der zwölf neuen Insassen verstummten die Gespräche und die Männer hoben die Köpfe.
»Von woher?«, fragte ein Mann, der am Mitteltisch in der Nähe des Eingangs saß.
»Gloucester«, antwortete Will Connelly. »Alle zwölf.«
Der Mann stand auf. Er war so kleinwüchsig, dass er unter den Balken durchgehen konnte, ohne anzustoßen. Von der Statur her erinnerte er an einen Jockey. Er hatte das Gesicht eines Mannes, der einen Großteil seines Lebens mit Pferden verbracht hat. Die Haut war zerknittert und ledern, seine Gesichtszüge ähnelten vage einem Pferd. Der Mann mochte zwischen vierzig und sechzig Jahre alt sein.
»Wie geht’s?« Es klang mehr wie eine Feststellung als eine Frage. Er trat auf die Neuankömmlinge zu und streckte ihnen eine kleine Hand entgegen. »William Stanley aus Seend in der Nähe von Devizes in Somerset. Verurteilt wurde ich allerdings in Wiltshire.«
»Die meisten von uns kennen Seend«, sagte Connelly grinsend. Er stellte die anderen vor, dann setzte er seufzend seine Kiste ab. »Und was passiert jetzt, William Stanley aus Seend?«
»Ihr zieht hier ein. Sykes hat euch sicher schon in den Arsch gelangt. Schöne Schwuchtel. Das ist eben seine Art, die Sträflinge von innen kennen zu lernen. Kein Geld, was? Oder hat er es gefunden?«
»Wir haben keins«, sagte Connelly. Er setzte sich auf die Bank und zuckte zusammen. »Nach Mr Sykes kann man ja kaum noch sitzen. Was passiert jetzt?«
»An diesem Ende wohnen die Midlands, der Westen und die Kanalküste«, sagte Stanley. Er holte eine kalte Pfeife aus der Tasche, an der er zog, wenn er sie nicht gerade dazu benutzte, um in eine bestimmte Richtung zu zeigen. »In der Mitte wohnen die Jungs aus Derby, Cheshire, Stafford, Lincoln und Salop und am anderen Ende, vorn am Bug, Durham, Yorkshire, Northumbria und Lancashire. Die Liverpooler sitzen an diesem Ende des mittleren Tisches. Dann gibt es noch ein paar Iren, bis auf einen alle aus Liverpool, und auch vier Neger, aber die sind über uns bei den Londonern. Waliser haben wir nicht, tut mir Leid, Taffy.« Stanley beäugte ihre Kisten und Taschen. »Wenn ihr Wertgegenstände habt, die seid ihr schnell los. Es sei denn«, fügte er bedeutungsvoll hinzu, »ihr trefft ein Arrangement mit mir.«
»Das ist sicher möglich«, sagte Connelly freundlich. »Der Tisch zum Essen dient offenbar gleichzeitig als Schlafstelle?
»So ist es. Stellt euer Zeug an den Mitteltisch, an diesem Ende ist genug Platz für zwölf. Die Matten, auf denen ihr schlaft, liegen unter dem Tisch. Dort könnt ihr auch eure Sachen verstauen. Eine Decke muss für zwei reichen.« Stanley kicherte. »Angezogen im selben Bett, wie nach alter Sitte die Verlobten bei den Yankees - nicht gerade sehr privat, wenn man sich einen runterholen will. Und das müssen wir alle - Arschficken ist bei den Mannschaften nach dem Vorgeschmack durch Mr Sykes nicht sonderlich beliebt. Oben holen sie sonntags die Weiber - sie tun so, als seien es Tanten, Schwestern oder Basen. Das können wir nicht. Wir sind zu weit von zu Hause weg und wer hier Geld hat, gibt es lieber für Hanks’ Sixpence-Gin aus. Dieser Halsabschneider!«
»Wie willst du uns denn helfen, dass unsere Sachen nicht wegkommen, William?«, fragte Bill Whiting. Er litt unter doppelten Schmerzen: zum einen von Mr Sykes Knüppel, zum anderen von dessen Hand und Fingern.
»Ich arbeite nicht«, erwiderte Stanley. »Man wollte mich beim Gemüse einsetzen, aber ich stellte mich an wie sonst wer - sogar den Rüben sträubten sich die Wurzeln. Also gab man es wieder auf. Ich war zu alt und klein, und die Fußfesseln saßen nicht mehr richtig.« Er hob seinen kleinen Fuß hoch und wackelte damit hin und her, bis die Fessel auf seinen Spann rutschte. »Ich bin sozusagen der Hausmeister dieser Anstalt. Ich gehe mit dem Mopp rum, spüle die Nachttöpfe aus, rolle die Matten ein, falte die Decken zusammen und halte die verrückten Iren in Schach, auch wenn unsere Iren aus Liverpool gar nicht so übel sind. Auf der Justitia gibt es allerdings zwei, die nur Gälisch sprechen - sie wurden geschnappt, als sie aus dem Schiff von Dublin sprangen. Kein Wunder, dass sie verrückt wurden. Es ist gefährlich auf unserer Seite der Irischen See, und die Iren sind weiche Menschen. Die fallen auf alles rein und sind nach einem Schluck besoffen.« Stanley lachte leise in sich hinein und seufzte. »Ah, tut das gut, frisches Blut aus dem Westen! Mikey! Komm mal her!«
Ein junger Mann schlurfte herbei. Er hatte dunkle Haare, dunkle Augen und jene verschlossene Miene, an der seine Landsleute den Schmuggler aus Cornwall erkannten. »Nein, nicht Cornwall«, sagte er, ihre Gedanken erratend. »Dorset, Poole. Matrose bei der Zollbehörde. Heiße Dennison.«
»Mikey hilft mir bei der Arbeit. Allein schaffe ich es nicht. Er und ich, wir sind Einzelgänger, wir haben nie den Anschluss an eine Sechsergruppe geschafft. Mikey hat Anfälle - Wahnsinn! Er wird schwarz im Gesicht und beißt sich auf die Zunge. Die alte Schwuchtel Sykes macht sich vor Angst in die Hose.« Stanley musterte die Neuankömmlinge listig. »Ihr seid schon zwei Sechsergruppen, wie?«
»Ja, und der Bursche da, der kein Wort sagt, ist unser Anführer.« Connelly zeigte auf Richard. »Er will es nur nicht zugeben. Bill Whiting und ich müssen die Gespräche führen, und er hört in aller Ruhe zu und trifft dann die Entscheidungen. Ein friedlicher Kerl und sehr klug. Ich kenne ihn noch nicht lange. Früher, als ich ihn noch nicht kannte, hätte ich mich gegen einen wie Sykes gewehrt - aber wofür? Dann hätte ich jetzt obendrein noch Kopfweh und wäre womöglich ausgepeitscht worden.«
»Nicht ausgepeitscht, Will, verprügelt. Mr Campbell ist gegen die neunschwänzige Katze. Er sagt, sie hält zu viele Männer von der Arbeit ab.« William Stanley aus Seend hatte die Augen halb geschlossen. »Dann muss ich also mit dir verhandeln, Richard - wie war der Nachname?«
»Morgan.«
»Waliser.«
»In Bristol geboren und aufgewachsen. Meine Familie lebt schon seit Generationen dort. Connelly hat einen irischen Namen, stammt aber ebenfalls aus Bristol. Nachnamen bedeuten nicht viel.«
»Warum ist hier eigentlich alles rot gestrichen?«, fragte plötzlich Ike Rogers, der sich bisher hauptsächlich umgesehen hatte.
»Wir sind im Orlopdeck des Schiffes«, sagte Mikey Dennison, der Schmuggler aus Poole. »Hier waren die 32-Pfünder untergebracht und außerdem der Operationssaal. Auf Rot sieht man das Blut nicht. Kanoniere können kein Blut sehen.«
William Stanley aus Seend zog eine enorme Taschenuhr aus der Westentasche und warf einen Blick darauf. »In einer Stunde gibt’s Essen«, sagte er. »Von Harry, dem Proviantmeister, bekommt ihr Brettchen und Becher. Heute ist Freitag, also gibt es Haferbrei. Kein Fleisch außer dem, was im Brot und im Käse ist. Hört ihr den Lärm droben?« Er klopfte mit seiner Pfeife gegen die Decke. »In London essen sie schon. Wir kriegen die Reste. Die sind mehr als wir.«
»Was wäre, wenn Mr Hanks beschließen würde, einige Londoner hier unterzubringen?«, fragte Richard neugierig.
Der kleine William Stanley kicherte. »Das würde er nicht wagen! Entweder die Iren würden ihnen nachts die Kehlen durchschneiden oder die aus dem Norden. Wer mag denn London und die Londoner? Erst besteuert man England, bis das Land ausgetrockneter ist als ein Ire bei einem Methodistentreffen. Dann wird das Geld in London und Portsmouth verprasst, in London von Parlament, Armee und Ostindischer Kompanie, in Portsmouth von der Marine.«
»Haferbrei«, sagte Richard und stand lächelnd auf. »Wenn ich mich recht an die Worte des guten Mr Sykes erinnere, bedeutet das, dass wir Themse-Wasser trinken. Liebe Freunde des Filtersteins, ich schlage vor, eine kleine Zeremonie abzuhalten. Du hast mich Anführer genannt, Will, also folge jetzt meinem Beispiel.« Er stellte seine Kiste auf den Tisch und schloss sie mit dem Schlüssel auf, den er stets um den Hals trug. Dann zog er einen großen Lumpen heraus, drapierte ihn sich auf dem kurz geschorenen Schädel und begann eine Melodie zu summen. Händel hätte die Melodie erkannt; auf dem Orlopdeck der Ceres kannte sie niemand. Bill Whiting vergaß seine Schmerzen und legte sich ebenfalls einen Lumpen auf den Kopf. Will, Neddy, Taffy und Jimmy taten dasselbe. Das Summen überließen sie allerdings Richard. Richards Filterstein tauchte aus der Kiste auf, das Summen wurde zu einem langen, an- und abschwellenden »Aaaaah«. Richard ließ die Hände über den Stein gleiten und verbeugte sich vor ihm, bis er ihn mit der Stirn berührte. Dann hob er ihn auf und schritt zur Pumpe, gefolgt von seinen fünf Begleitern, die ebenfalls ihre Filtersteine in den Händen hielten. Taffy hatte die Melodie aufgegriffen und begleitete Richards Bariton mit einem hohen Tenor. Die anderen Gefangenen folgten ihnen gebannt. Nur die Kranken schenkten dem Spektakel keine Beachtung. William Stanley traten schier die Augen aus dem Kopf.
Zum Glück kam das Wasser tröpfelnd und nicht in einem Schwall aus der Pumpe. Es fiel in einen Kupferkessel, in den man ein paar Löcher gestanzt hatte. Mr Campbells Filtriersystem konnte hin und wieder einen größeren Klumpen oder kleinen Fisch aus dem Wasser filtern, zu mehr taugte es nicht. Von dort tropfte das Wasser in die Springluken und lief in die Bilge ab.
Mit einer feierlichen Geste bedeutete Richard Jimmy Price, den Pumpenschwengel zu betätigen, und hielt seinen Tropfstein darunter. Die anderen taten es ihm nach. Bill Whiting verneigte sich tief vor Jimmy, bevor er ebenfalls seinen Tropfstein füllte, während Richards schöne Stimme zu mehreren lauten Hallelujas anschwoll. Dann kehrten sie zum Tisch zurück und setzten ihre sechs Steine mit vielen Gesten genau in der Mitte ab. Richard wies seine Gefolgsleute an, zwei Schritte hinter ihn zu treten, dann breitete er die Hände aus und bewegte die Finger.
»König der Könige! Herr und Gebieter! Halleluja! Halleluja!«, sang er. »Hosianna! Oh Hippokrates, erhöre unser Flehen!« Nach einer letzten ehrfürchtigen Verbeugung nahm er den Lumpen vom Kopf, küsste ihn, faltete ihn zusammen und setzte sich. »Hippokrates!«, brüllte er so plötzlich, dass alle zusammenzuckten.
»Herrgott! Was hat das zu bedeuten?«, rief Stanley.
»Das Ritual der Reinigung«, antwortete Richard feierlich.
Der drahtige kleine Mann musterte ihn plötzlich misstrauisch. »Ist das vielleicht ein Scherz? Wollt ihr mich verkohlen?«
»Glaube mir, William Stanley aus Seend, was wir hier tun, ist kein Scherz. Wir besänftigen Vater Themse, indem wir den großen Gott Hippokrates anrufen.«
»Macht ihr das jedes Mal, wenn ihr Wasser trinkt?«
»Aber nein!«, rief Bill Whiting, der begriffen hatte, worauf Richard mit seinem seltsamen Verhalten hinauswollte. Richard tat so, als hätten sie besondere Fähigkeiten, als seien sie etwas Besonderes. Dadurch wollte er sie und ihre Siebensachen schützen. Er hatte einfach Jimmys und Lizzies Bemerkungen aufgegriffen, er mache aus dem Filtern eine Religion. Sykes würde davon erfahren, denn William Stanley aus Seend war eine Klatschbase und blieb den ganzen Tag auf der Ceres. »Nein«, wiederholte er ernst, »wir halten das Reinigungsritual nur bei besonderen Gelegenheiten ab, etwa wenn wir umziehen. So - so mobilisieren wir Hippokrates.«
»Wir benützen die Steine jedes Mal, wenn wir Wasser trinken, aber nicht mit der ganzen Zeremonie«, fügte Will Connelly hinzu. »Das tun wir nur am Ersten des Monats - und natürlich wenn wir umziehen.«
»Ist das Hexerei?«, fragte Mikey Dennison argwöhnisch.
»Hast du vielleicht Schwefel gerochen?«, fragte Richard heftig. »Hat sich das Wasser in Blut oder Ruß verwandelt? Hexerei ist doch Schwindel. Wir sind ernsthafte Leute.«
»Richtig!«, rief Stanley und seine Miene hellte sich auf. »Habe ich ganz vergessen! Die meisten von euch kommen ja aus Bristol und dort war man schon immer besonders aufgeklärt.«
»Ike«, sagte Richard und stand auf, »auf ein Wort.« Sie traten ein paar Schritte zur Seite; aller Augen folgten ihnen. »Bestätige unsere Geschichte und wenn wir sie das nächste Mal zum Besten geben, singe den Refrain mit. Wenn du uns hilfst, werden wir unsere Sachen behalten - und unser Geld. Wo hast du deins versteckt?«
Rogers grinste. »In den Absätzen meiner Reitstiefel. Von außen sehen sie niedrig aus, aber drinnen - ich stehe wie auf Stelzen. Und du?«
»Die Kisten haben innen an einer Seite ein Geheimfach. Wer von uns Münzen besitzt, kann sie dort aufbewahren. Sie können nicht klimpern, weil das Fach mit Baumwolle ausgestopft ist. Will, Neddy und Bill haben einige Münzen, ich habe eine ganze Menge. Die anderen Kisten sind leer, das heißt wenn einer von uns Geld beschaffen kann, ist genug Platz dafür da. Dieser William Stanley aus Seend ist käuflich, die Frage ist nur, ob er Sykes alles verrät.«
Der Straßenräuber überlegte und schüttelte dann den Kopf. »Ich glaube nicht, Richard. Wenn er singt, bekommt Sykes alles in die Finger. Wir müssen den Jockey überzeugen, dass wir nur wenig haben. Herrgott, ich wünschte, wir hätten einen regelmäßigen Besucher aus London! Hätten wir einen, könnten wir unseren Reichtum damit erklären. Du hast übrigens Recht mit dem Wasser - es ist faulig. Meine Gefährten und ich werden an Haferbreitagen Dünnbier trinken müssen. Ich wette, dieser William Stanley aus Seend kann es uns besorgen.«
Richard schlug sich mit der Hand an den Kopf. »Jem Thistlethwaite!«, rief er. »Ich glaube, das mit dem Besucher kann ich deichseln, Ike. Glaubst du, dass ich über Stanley einen Brief schicken kann?«
»Gegen entsprechendes Entgelt sicher.«
Als Richard und seine Gruppe am nächsten Morgen an Deck geführt wurden, begriffen sie, warum die Verlegung aus dem Orlopdeck in Etappen erfolgte. Der Ceres standen zwar einige Leichter zur Verfügung, doch reichten diese nicht annähernd aus, um alle Männer gleichzeitig an ihre Arbeitsplätze zu transportieren. Wenigstens war kein Arbeitsplatz weiter als fünfhundert Meter von der Ceres entfernt, doch musste die Strecke über Wasser zurückgelegt werden. Die Ruderer legten sich eifrig ins Zeug, weil diese Arbeit erheblich besser war als andere Arbeiten. Als Sträflinge der Censor wurden sie an die Unterseite der Dollborde gekettet. Richard hätte gern gewusst, warum sie nicht einfach ans Ufer ruderten und flohen. Später erfuhr er, dass das früher vorgekommen war, dass man die Sträflinge jedoch immer eingefangen und manchmal sogar gehängt hatte.
Der Hauptvorteil von »Campbells Anstalten«, wie die Gefangenenschiffe von ihren Insassen genannt wurden, lag darin, dass sie von Wasser umgeben waren. Nur wenige Engländer konnten schwimmen. Deshalb blieb auch eine zum Dienst gepresste Mannschaft an Bord eines Schiffes, sobald es ausgelaufen war. Weder Richard noch seine elf Freunde konnten schwimmen. Sie hatten schreckliche Angst vor tiefem Wasser.
Richard hatte Hunger, obwohl er sich Brot und Käse zur Hälfte für morgens aufgehoben hatte. Das mit bitteren Kräutern gewürzte halbe Pint Haferschleim schlürfte er hinunter, sobald er es bekam. Es war zwar schon kalt, aber zwölf Stunden später schmeckte es sicher noch schlechter. Oberaufseher Hubbard hatte wenigstens erkannt, dass hart arbeitende Männer genug essen mussten, um bei Kräften zu bleiben. Richard begriff nach nicht einmal einem Tag auf der Ceres, dass diesem Mr Duncan Campbell, der viel eigenmächtiger schaltete und waltete als Hubbard, die Qualität der Arbeit völlig gleichgültig war.
Die für die Arbeit am Ufer vorgesehenen Sträflinge waren bereits fort, als Richards Leichter ablegte und die Besatzung von vier Baggerbooten eine kurze Strecke flussabwärts und in Richtung Ufer beförderte. Richards Baggerboot, an beiden Enden doppelt mit Ketten vertäut, war das Erste der vier. Das Boot war rechteckig und hatte einen vollkommen flachen Boden. Es besaß weder Bug noch Heck, doch wölbte sich der Rumpf an beiden Enden aus dem Wasser, sodass man es auf Grund setzen und beim Entladen hinaus- und hineinklettern konnte. Da es neu war, war das Bootsinnere leer und die Farbe noch tadellos.
Sie stiegen über das Dollbord des Leichters auf eine anderthalb Meter breite hölzerne Plattform an der Seite des Kahns. Kaum war Jimmy Price als Letzter ausgestiegen, legte der Leichter schon wieder ab und steuerte auf das nächste, rund fünfzig Meter entfernte Baggerboot zu. Mit grüßend erhobener Hand sahen sie Ike und seinen Jungs nach, dann begannen sie, die Umgebung zu inspizieren. Ein Ende des Kahns hatte ein breites Deck, auf dem eine kleine Holzhütte mit einem eisernen Schornstein stand. Der Aufseher hatte die Ankömmlinge schon bemerkt und war aus der Hütte getreten. Er zog an einer Pfeife und hielt einen Knüppel in der Hand.
Er musterte die Sträflinge. »Ihr seid neu auf der Ceres.« Als niemand sich anschickte, die Bemerkung zu kommentieren, sagte er wie zu sich selbst: »Ihr seid nicht mehr die Jüngsten, aber ihr seht sehr kräftig aus. Vielleicht hole ich noch ein paar Tonnen Ballast aus euch raus, bevor eure Kräfte nachlassen. Hat jemand von euch schon einmal auf einem Baggerboot gearbeitet?«
»Nein, Sir«, antwortete Richard.
»Dachte ich mir. Kann jemand schwimmen?«
»Nein, Sir.«
»Lügt nicht, Kameraden.«
»Wir lügen nicht, Sir. Dort, wo wir herkommen, kann fast keiner schwimmen.«
»Muss ich erst einen von euch ins Wasser werfen, um ganz sicher zu sein?« Der Aufseher trat plötzlich auf Jimmy zu, der vor Angst aufschrie, dann machte er dasselbe mit den anderen und sah ihnen dabei in die Augen. »Ich glaube euch«, sagte er schließlich. Er kehrte zu seiner Hütte zurück, verschwand drinnen und kam mit einem Stuhl wieder heraus. Er setzte sich, schlug die Beine übereinander und blies eine köstlich duftende Wolke in ihre Richtung. »Ich heiße Zachariah Partridge, für euch Mister Partridge. Ich bin Methodist, daher der Name, und habe schon als Jugendlicher in Skegness am Wash auf einem Baggerboot gearbeitet. Ich wollte eigentlich Männer aus Lincoln, aber der Westen ist auch nicht übel. Kommt jemand von euch aus Bristol oder Plymouth?«
»Drei kommen aus Bristol, Mr Partridge - ich, Richard Morgan, und Will Connelly und Neddy Perrott.« Richard zeigte auf die beiden Männer. »Taffy Edmunds kommt von der walisischen Küste, Bill Whiting und Jimmy Price sind aus Gloucester.«
»Dann kennt ihr euch ja ein wenig mit der See aus.« Zachariah Partridge lehnte sich zurück. »Ziel dieser Einrichtung hier ist es, mit diesem Eimer« - er deutete mit der Hand auf etwas, das wie eine riesige, weit geöffnete Geldbörse aussah - »Schlamm aus dem Fluss zu baggern und dadurch die Fahrrinne zu vertiefen. Der Eimer läuft an einer Kette. Die Kette liegt jetzt vor euren Füßen, aber mit dem Eimer kommt sie bis zu den Hüften hoch. Sie kann je nach Wassertiefe verkürzt oder verlängert werden. Für hier ist sie genau eingestellt, von mir persönlich.«
Mr Zachariah Partridge genoss seine Rede sichtlich, doch schien er kein boshafter Mensch zu sein. »Ihr fragt euch vielleicht, warum gerade diese Stelle? Weil, Kameraden, das Königliche Zeughaus da drüben die gesamte Armee mit Nachschub versorgt und es bei weitem nicht genug Anlegestellen für die Transportschiffe gibt. Eure Verbrecherkollegen am Ufer bauen die neuen Kais. Sie legen dafür den Sumpf trocken. Wir Baggerarbeiter versorgen sie mit Sand, den sie natürlich mit Steinen, Kies und Kalk mischen müssen, sonst würde alles wieder im Fluss landen.«
»Danke für die Erläuterung, Mr Partridge«, sagte Richard.
»Die meisten erklären nie was, oder?« Mr Partridge zeigte wieder auf den riesigen Geldbeutel. »Der Eimer taucht an meinem Ende ins Wasser ein und kommt am anderen Ende, wo der Davit unten ist, wieder hoch. Wenn ihr eure Arbeit richtig macht, enthält er dann fünfundzwanzig Kilo Schlamm und Unrat - grässlich, was da zum Teil hochkommt! Der Schleppkahn hier fasst siebenundzwanzig Tonnen Ballast, wie wir Baggerarbeiter sagen. Ihr müsst also tausendeinhundert Eimer raufholen, um ihn zu füllen. Da es Winter ist, werdet ihr sechs Stunden arbeiten - zwei Stunden gehen durch das Bringen und Abholen verloren. Ein guter Arbeitstag bringt mir zwanzig Eimer, also eine halbe Tonne. Wenn man die Sonntage abzieht« - er ist gebildet und kann rechnen, dachte Richard - »und einen weiteren Tag pro Woche wegen schlechten Wetters einkalkuliert, zumindest in dieser Jahreszeit, müsstet ihr den Kahn in etwa zehn Wochen voll haben. Wenn er voll ist, wird er zum Ufer geschleppt, wo ihr die Ladung löscht. Dann wird er an eine andere Stelle gezogen und ihr fangt wieder von vorne an.«
Er liebt Fakten und Zahlen. Er ist Methodist, ein Anhänger John Wesleys, er kommt nicht aus London und er hat Freude an seiner Arbeit - vor allem, weil er keinen Finger krumm machen muss. Wie können wir seine Zuneigung gewinnen oder, sollte das nicht gelingen, wenigstens seine Anerkennung? Schaffen wir das Arbeitspensum, das er von uns erwartet? Wenn nicht, wird er uns das womöglich spüren lassen. Aber er ist kein Unmensch.
»Dürfen wir mit Ihnen reden, Mr Partridge? Dürfen wir zum Beispiel Fragen stellen?«
»Gebt mir, was ich von euch verlange, Morgan, und ihr habt von mir nichts zu befürchten. Das heißt aber nicht, dass ich euch mit Samthandschuhen anfasse. Ich könnte dir mit diesem Knüppel den Arm brechen, doch will ich das nicht, aus einem guten Grund. Mr Campbell soll eine gute Meinung vor mir haben, und dazu muss ich Ballast produzieren. Ich habe den neuen Bagger bekommen, weil mein Kahn immer am meisten Ballast produziert hat. Wenn ihr mir helft, helfe ich euch vielleicht auch.« Mr Partridge stand auf. »Jetzt erkläre ich euch, was ihr zu tun habt und wie ihr es tut.«
Es dauerte eine ganze Woche, bis sich die Häftlinge an die Arbeit gewöhnt hatten. In dieser Zeit sah Mr Partridge nicht einmal annähernd die erhoffte halbe Tonne pro Tag. Er rechnete mit einem Eimer alle zwanzig Minuten, die neue Mannschaft benötigte dazu eine Stunde. Doch Mr Partridge sagte und tat nichts. Er saß nur auf seinem Stuhl und zog an seiner Pfeife. Neben seinen Füßen stand ein Krug Rum. Entweder er betrachtete nachdenklich seine schuftende Mannschaft oder der rege Verkehr auf dem großen Fluss beanspruchte seine Aufmerksamkeit. Ein Beiboot war mit einer Fangleine am Kahn befestigt, was vielleicht bedeutete, dass Mr Partridge am Ende des Tages selbst ans Ufer ruderte. Allerdings schien er zumindest einige Nächte an Bord zu verbringen, denn er kaufte von zwei der zahlreichen Proviantboote, die mit ihrer Ware den Fluss befuhren, Holz für seinen Ofen und Vorräte für seine Speisekammer. Rum und Ale stammten von einem dritten Proviantboot.
Es gab diverse Kniffe und Tricks, wie die Mannschaft im Verlauf der Arbeit feststellte. Der Eimer neigte dazu, vom Grund des Flusses abzuheben, und musste mit einer Stange drunten gehalten werden. Diese wiederum musste genau an der richtigen Stelle ansetzen, was viel Fingerspitzengefühl erforderte, da im Wasser wegen des aufgewühlten Schlamms nichts zu sehen war. Drei Männer arbeiteten am Davit, mit dem der Eimer über den Boden gezogen wurde, ein Mann an dem Seil, mit dem der Eimer zuletzt geleert wurde, einer an der Winde, um die die Kette lief, und einer an der Stange, die den Eimer unten hielt. Für den Davit mussten die Männer ihre gesamte Kraft aufbieten, doch auch der Mann an der Stange musste stark und außerdem geschickt sein. Da Mr Partridge keinerlei Anweisungen erteilte, musste Richard die Mannschaft selbst zusammenstellen. Jimmy Price kam an die Winde, die am wenigsten Kraft erforderte. Bill, Will und Neddy bedienten den Davit, Taffy das Seil und Richard selbst die Stange.
Ganz allmählich konnten sie das Tempo steigern und ebenso die Ballastmenge im Eimer. Als sie eine Woche nach Arbeitsbeginn bei zwanzig Eimern am Tag angelangt waren, stiftete Mr Partridge sechs Humpen Dünnbier, ein Stück Butter und sechs frische, je ein Pfund schwere Hefebrotlaibe.
»Ich wusste von Anfang an, dass ihr es schafft. Lass die Leute ihren eigenen Weg finden, sage ich immer. Ich bekomme eine Prämie von fünf Pfund für jede Ladung Ballast, die ich abliefere. Eine Hand wäscht die andere. Liefert mir mehr als zwanzig Eimer am Tag, und ihr bekommt von mir ein Mittagessen - jeder ein Quart Dünnbier und ein Pfund frisches Brot. Ihr habt in der letzten Woche abgenommen, das geht nicht. Es heißt, dass ich mich um meine Leute kümmere.« Er rieb sich nachdenklich die Nase. »Aber ich kann euch nicht jeden Tag ein Mittagessen besorgen.«
»Wir könnten vielleicht was beisteuern«, sagte Richard. »Als Bristoler kenne ich den Tabak, den Sie rauchen - Ricketts. Muss schweineteuer sein in Woolwich, auch in London, möchte ich behaupten. Ich könnte Ihnen den Tabak billiger beschaffen, Mr Partridge, Sie müssen mir nur eine Adresse geben. Denn wenn er an die Ceres geschickt wird, reißt ihn sich Mr Sykes unter den Nagel.«
»Gut, gut!« Mr Partridge schien interessiert. »Gebt mir nur einen Schilling am Tag, und ich sorge für ein Mittagessen. Und schicke den Tabak an das Ducks and Drakes in Plumstead.«
Das Schlimmste an der Arbeit war der Schmutz. Die Männer waren von Kopf bis Fuß von schwärzlichem, stinkendem Schlamm bedeckt.
Der Schlamm klebte auch an der Kette, die in Hüfthöhe entlang der Plattform lief, er tropfte vom Eimer und spritzte überallhin, wenn der Eimer geleert wurde. Am Ende der ersten Woche war der neue Kahn von den alten Kähnen nicht mehr zu unterscheiden.
Wenigstens waschen konnten sie sich, was sie auch jeden Abend gleich nach ihrer Rückkehr auf die Ceres gründlich taten. Für die, die nicht aus Bristol kamen, war der Anblick dessen, was aus der Themse zu Tage gefördert wurde, so fürchterlich, dass sie Richards Beispiel folgten: Sie zogen sich vor der Pumpe aus und wuschen sich mitsamt der schmutzigen Ketten und Fußfesseln. Mit William Stanley aus Seend hatten sie die Vereinbarung getroffen, dass Mikey tagsüber ihre Kleider wusch. Und dank dem gewieften schottischen Unternehmer Mr Duncan Campbell wurden gleich alle Kleider gewaschen.
Der ehrenwerte Mr Campbell hatte nämlich vier Tage nachdem die Männer aus Gloucester eingetroffen waren, an die Bewohner seiner Anstalt neue Kleider ausgegeben, was er ungefähr einmal im Jahr tat: zwei Paar Hosen aus grobem Leinen, zwei karierte Leinenhemden und eine ungefütterte Leinenjacke. Die Hosen kratzten an den Nähten zwar wie Sägeblätter, aber sie bedeckten, wie die Männer aus Gloucester erfreut feststellten, auch die Knöchel, nur Richard und Ike waren sie etwas zu kurz. Ike war recht hager geworden, aber da sie neu auf der Ceres waren, hatte es niemand außer seinen Gefährten aus Gloucester bemerkt. Und als er von Stiefeln auf Schuhe umstellte, verlor niemand ein Wort darüber.
Mit den Hosen brauchten die normal großen Männer ihre Fußfesseln nicht mehr zu polstern. Ebenso wenig mussten sie Strümpfe tragen, um die eisigen Themsewinde fern zu halten. Richard, der dank Lizzie Lock die Kunst des Nähens beherrschte, konnte mit Stoff von Jimmys zu langen Hosenbeinen seine eigenen verlängern. Und Ike zahlte Stanley einen Becher Gin für seine Reste, welche Richard ihm dann annähte. Was für eine großartige Erfindung Hosen doch waren! Die Hosen der Sträflinge waren rostbraun, strapazierfähig, hervorragend zu waschen und anders geschnitten als Breeches, die nur bis zu den Knien reichten. Breeches hatten vorne einen breiten Latz, der von Knöpfen entlang des Hosenbunds gehalten wurde. Hosen dagegen öffnete man an einem vorn angebrachten senkrechten Saum mit Knöpfen, was das Pinkeln ungemein erleichterte.
Mr James Thistlethwaite kam am zweiten Sonntag nach ihrer Verlegung auf die Ceres. An der Tür schüttelte er Mr Sykes herzlich die Hand. Dann trat er über die Schwelle und starrte fassungslos auf das leuchtend rote Gefängnis.
»Jem!«, rief Richard.
Sie umarmten sich ausgiebig und traten dann einen Schritt zurück, um sich gegenseitig zu betrachten. Fast zehn Jahre waren ins Land gezogen, seit sie sich zum letzten Mal gesehen hatten, und in diesen zehn Jahren hatten sich beide Männer stark verändert.
Mr Thistlethwaite machte einen gepflegten, wohlhabenden Eindruck, fand Richard. Sein weinroter Anzug war aus feinstem Tuch, die Knöpfe aus Mohair, auf dem Kopf trug er eine Perücke, den Hut säumte eine goldene Borte, die Uhrenkette bestand ebenso wie die Uhr aus Gold, die kniehohen Stiefel glänzten tiefschwarz. Sein Bauch war nobel gerundet und das Gesicht voller und daher weniger faltig als früher, auch wenn die vom Grog zum Blühen gebrachte Knollennase jetzt purpurrot leuchtete. Der Blick seiner wässrig blauen, blutunterlaufenen Augen war voller Liebe auf sein Gegenüber gerichtet.
Mr Thistlethwaite sah in Richard zwei verschiedene Männer, die jeweils für kurze Augenblicke zum Vorschein kamen. Der alte Richard und der neue, untrennbar miteinander verbunden. Herrgott, wie gut er aussah! Wie hatte er das fertig gebracht? Die Stoppelhaare schienen noch dunkler zu sein als seine früher ohnehin schon dunklen Haare, und die Haut, obgleich tief gebräunt, war so makellos wie Elfenbein. Er war rasiert und sauber, und das an der Brust aufgeknöpfte Sonntagshemd zeigte seinen muskulösen Oberkörper. Spürte er die Kälte nicht? Denn obwohl es in dem blutroten Kerker eiskalt war, trug Richard keinen Mantel und schien sich wohl dabei zu fühlen. Auch seine Schuhe und Strümpfe waren sauber. Nur die Fußfesseln! Ketten an einem so geduldigen und friedfertigen Menschen wie Richard Morgan. Der Gedanke war unerträglich. Am meisten verändert hatten sich die graublauen Augen. Sie waren immer ein wenig verträumt gewesen, sanft und von einem heiteren Ernst beseelt. Davon war nichts mehr zu spüren. Bestimmt und wach sahen sie ihn an.
»Richard, wie erwachsen du geworden bist! Ich hatte mit allen möglichen Veränderungen gerechnet, aber nicht damit.« Mr Thistlethwaite kniff sich in den Nasenrücken und zwinkerte mit den Augen.
»William Stanley, das ist Mr James Thistlethwaite«, sagte Richard zu einem verhutzelten Männlein neben ihm. »Jetzt macht uns Platz und lasst uns einen Augenblick in Ruhe. Ich stelle euch später vor.« An Jem gewandt, fügte er hinzu: »Privatsphäre ist an Bord der Ceres absolute Mangelware, aber nicht unmöglich. Setz dich doch!«
»Du bist ja der Anführer!«, sagte Jem erstaunt.
»Nein, ich weigere mich, es zu sein. Ich muss nur manchmal etwas energisch auftreten, aber das müssen hier alle. Ein Anführer muss reden und auftreten können, und ich bin hier kein größerer Redner als in Bristol. Ich möchte auch gar niemanden anführen außer mir selbst, nur manchmal muss ich es, Jem. Sie sind manchmal wie Schafe und ich will nicht, dass sie geschlachtet werden. Außer Will Connelly, der ebenfalls Colstons Knabenschule besucht hat, sind sie nicht im Stand, ihren Verstand zu gebrauchen. Und für den Unterschied zwischen Will Connelly und mir ist im Grunde Vetter James, der Apotheker, verantwortlich. Hätte ich ihn nicht gekannt und wäre er nicht so gut zu mir gewesen, gäbe es den Richard Morgan nicht, den du vor dir siehst. Ich wäre wie die armen Iren aus Liverpool dort drüben ein Fisch auf dem Trockenen.« Richard lächelte und ergriff Mr Thistlethwaites Hand. »Aber jetzt erzähl mir von dir. Du siehst prächtig aus.«
»Ich kann es mir leisten, prächtig auszusehen, Richard.«
»Hast du reich geheiratet wie ein echter Bristoler?«
»Nein. Doch verdiene ich mein Geld tatsächlich mit Frauen. Vor dir steht ein Mann, der - natürlich unter Pseudonym - Romane zur Erbauung der Damenwelt schreibt. Die Lektüre von Romanen ist die neueste Passion der Frauen, was wohl daher kommt, dass man ihnen das Lesen beibringt, sie aber nichts tun lässt. In Buchläden, Zeitschriften und Leihbüchereien habe ich mit meinen Fortsetzungsromanen erstaunlicherweise mehr Erfolg als seinerzeit mit meinen Satiren. In jedem Pfarrhaus, Gutshaus und Hotel gibt es lesende Damen. Mein Publikum erstreckt sich über ganz Großbritannien, da in Schottland und Irland ebenfalls fleißig gelesen wird. Sogar in Amerika habe ich Leser.« Er schnitt eine Grimasse. »Ich trinke jedoch keinen Cave-Rum mehr, ja eigentlich trinke ich überhaupt keinen Rum mehr, sondern nur noch erstklassigen französischen Kognak.«
»Bist du überhaupt verheiratet?«
»Auch nicht. Ich habe zwei Mätressen, beide mit anderen, unbedeutenderen Männern verheiratet. Aber genug von mir. Ich will von dir hören, Richard.«
Richard zuckte die Achseln. »Da gibt es nicht viel zu berichten, Jem. Ich war drei Monate im Bristol Newgate, dann genau ein Jahr in Gloucester, und jetzt bin ich seit zwei Wochen an Bord der Ceres. Wie lange ich hier bleiben werde, ist ungewiss. In Bristol habe ich hauptsächlich gelesen, in Gloucester Steine geschleppt. Auf der Ceres baggere ich den Themsegrund aus, eine Kleinigkeit für jemanden, der mit dem Schlamm im Hafen von Bristol aufgewachsen ist. Trotzdem ist es für uns alle schlimm, wenn wir die Leiche eines Babys heraufholen.«
Dann kamen sie auf wichtige finanzielle Fragen zu sprechen.
»Sykes wird keine Schwierigkeiten machen«, sagte Jem. »Ich habe ihm eine Guinee zugesteckt, und er machte daraufhin Männchen wie jeder andere Straßenköter. Sei also guten Mutes. Ich werde mit Mr Sykes eine Vereinbarung treffen, damit du dir an Essen und Trinken kaufen kannst, was du brauchst. Dasselbe gilt für deine Freunde. Du siehst zwar gut aus, bist aber dürr wie eine Bohnenstange.«
Richard schüttelte den Kopf. »Kein zusätzliches Essen, Jem, und nur Dünnbier. Hier drinnen leben knapp hundert Männer. Alle beobachten mit Argusaugen, wie viel die Proviantmeister an die anderen Häftlinge ausgeben. Wir sparen unser Geld und werden bei Bedarf auf dich zurückkommen. Immerhin hatten wir das Glück, einem ehrgeizigen Baggerführer zugeteilt zu werden, und die Themse ist voller Proviantboote. Folglich bekommen wir mittags auf unserem Baggerboot für zwei Pennys eine ordentliche Mahlzeit mit gesalzenem Fisch, frischem Obst und Gemüse. Auch Ike Rogers und seine Leute konnten ihren Baggerführer für sich einspannen.«
»Kaum zu glauben«, sagte Jem langsam, »du weißt genau, was du willst, du scheinst geradezu Spaß an deiner Lage zu finden. Das liegt sicher an der Verantwortung, die du hast.«
»Es ist der Glaube an Gott, der mir Kraft gibt. Meinen Glauben habe ich nicht verloren, Jem. Für einen Sträfling habe ich sehr viel Glück gehabt. Eine gewisse Lizzie Lock hat in Gloucester auf meine Sachen aufgepasst und mir das Nähen beigebracht. Sie war übrigens entzückt über den Hut, ich kann dir gar nicht genug danken. Wir vermissen die Frauen, aus den Gründen, die ich dir, wie ich mich entsinne, in einem meiner Briefe erläuterte. Aber ich erfreue mich nach wie vor guter Gesundheit und denke klarer denn je. Und wir konnten uns hier unter lauter verrohten Menschen dank des habgierigen William Stanley und eines ehrgeizigen Baggerführers, der Methodismus mit Rum, Tabak und Faulheit verbindet, eine Nische schaffen. Die beiden sind komische Gesellen, aber ich habe schon schlimmere erlebt.«
Der Filterstein stand auf dem Tisch neben Richard. Wie abwesend streckte Richard die Hand aus und strich über ihn. Gespanntes Schweigen senkte sich über die Sträflinge, die dem Gespräch Richards mit dem Besucher aus einiger Entfernung mit unverhohlener Neugier folgten. Mr Thistlethwaite begriff nicht, wie Richard mit seiner abwesenden Geste eine solche Reaktion hatte auslösen können. Seine Neugier war geweckt.
»Die Habgier ist des Sträflings bester Freund, wenn er kein Geld hat«, fuhr Richard fort und zog die Hand wieder zurück. »Hier sind die Menschen um einiges billiger als dreißig Silberlinge. Am meisten tun mir die Männer aus Northumbria und Liverpool Leid. Sie besitzen zusammen nicht einen einzigen Penny. Deshalb sterben sie meist an Krankheit oder aus Verzweiflung. Mit einigen von ihnen scheint Gott allerdings etwas vorzuhaben - sie überleben. Die Londoner über uns sind erstaunlich zäh und verschlagen wie verhungernde Ratten. Ich habe den Eindruck, sie leben nach ganz anderen Gesetzen. Vielleicht haben große Städte wie Nationen eigene Mentalitäten. Allerdings glaube ich nicht die Hälfte von dem, was auf unserem Deck über die Londoner erzählt wird. Auf unserem Deck wohnt das restliche England. Die Gefängniswärter sind käuflich und haben die seltsamsten Vorlieben. Und dann gibt es noch Leute wie William Stanley aus Seend. Der versucht hier rauszuholen, was rauszuholen ist. Und wir alle, Hanks, Sykes, die großen und kleinen Gauner, Ganoven und Diebe und die armen Teufel, die da drüben auf den Tischen verrecken, wir stehen mit einem Fuß im Grab. Ein falscher Schritt und wir sind weg.« Richard holte Luft. Er war selbst erstaunt, wie viel er redete. »Kein vernünftiger Mensch würde das, was wir tun, als Spiel bezeichnen, doch hat es einiges mit einem Spiel gemein. Man braucht eine gehörige Portion Grips, aber auch Glück, um es zu bestehen. Und ich gehöre offenbar zu den Glücklichen.«
Während Richard sprach, wurde Mr Thistlethwaite plötzlich so manches klar, was er an Richard Morgan nie richtig verstanden hatte. Richard hatte sich in Bristol immer willenlos von anderen herumkommandieren lassen. Daran hatten auch Schicksalsschläge und Katastrophen und sogar William Henrys Tod nichts ändern können, bis Ceely Trevillian ihm den Boden unter den Füßen weggezogen hatte. Im Gefängnis hatte Richard Leidensgenossen kennen gelernt, die gestrauchelt waren wie er, und er hatte sich ihrer angenommen. Das Gefängnis hatte ihm ein Ziel gegeben, und er hatte eine Kraft entwickelt, von der nicht einmal er selbst wusste, dass er sie hatte. Er brauchte jemanden, den er mehr lieben konnte als sich selbst, und so hatte er es auf sich genommen, seine Schicksalsgenossen zu retten, die es mit ihm aus dem Gefängnis von Gloucester in fremde, unwirtliche Gefilde verschlagen hatte.
Richard ist ein außergewöhnlicher Mensch, dachte Mr Thistlethwaite, und so jemand wird aus England verbannt. Obwohl er seine Fähigkeiten in England nie entfalten konnte. Aus dem willenlosen Opfer wurde ein zielstrebiger Kämpfer, und ich werde wahrscheinlich gar nicht mehr erleben, was noch alles aus ihm wird.
 
Richard stellte seinen Freund den anderen Sträflingen vor, dann setzten sich alle vierzehn - einschließlich William Stanley aus Seend und Mikey Dennison -, um zu hören, was Mr James Thistlethwaite ihnen über ihre Zukunft zu erzählen hatte.
»Ursprünglich«, sagte der Unterhalter so vieler gebildeter Damen Großbritanniens, »sollten die Sträflinge an Bord der Ceres nach Lemaine kommen. Das ist meines Wissens eine Insel inmitten eines großen afrikanischen Flusses, ungefähr so groß wie die Insel Manhattan in New York. Dort wärt ihr auch zweifellos innerhalb eines Jahres an einer Seuche gestorben. Ihr habt es Edmund Burke zu verdanken, dass Lemaine und ganz Afrika von der Liste möglicher Deportationsziele gestrichen wurden.
Unterstützt und ermutigt von Lord Beauchamp, attackierte Burke im vergangenen März und April Mr Pitts Pläne, England von seinen Strafgefangenen zu säubern. Es sei besser, behauptete Burke, euch zu hängen, als an einen Ort zu verfrachten, an dem der Tod sehr viel langsamer und qualvoller wäre. Ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss trat zusammen, und Mr Pitt musste seine Afrikapläne begraben, wahrscheinlich für immer. In den Mittelpunkt des Interesses rückte nun der Vorschlag eines Mr James Matra, die Sträflinge in die Botany Bay in Neusüdwales zu schicken. Lord Beauchamp hatte vor allem kritisiert, dass Lemaine sich außerhalb englischen Territoriums befinde und überdies in einem Gebiet, in dem Franzosen, Spanier und Portugiesen auf Sklavenjagd gingen. Die Botany Bay dagegen liegt zwar außerhalb englischen Territoriums, doch gehört sie auch nicht zum Territorium eines anderen Staates. Warum also nicht zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen? Ihr kostet England viel Geld ohne eine entsprechende Gegenleistung. Die Botany Bay wiederum könnte durch euch erst mal einen Gewinn für England abwerfen.«
Richard zog ein Buch heraus und versuchte, der Gruppe auf einer Karte von Captain Cook zu zeigen, wo die Botany Bay lag. Allerdings waren nur wenige Männer so gebildet, dass sie mit der Karte etwas anfangen konnten.
Mr Thistlethwaite kam ihm zu Hilfe. »Wie weit ist es von London nach, sagen wir, Oxford?«
»Ziemlich weit«, meinte Willy Wilton.
»So um die fünfzig Meilen«, sagte Ike Rogers.
»Dann ist die Botany Bay zweihundertmal weiter von London entfernt als Oxford. Wenn ein Fuhrwerk von London nach Oxford eine Woche braucht, würde dasselbe Fuhrwerk für die Reise von Oxford zur Botany Bay zweihundert Wochen brauchen.«
»Aber Fuhrwerke können nicht auf dem Wasser fahren«, warf Billy Earl ein.
»Nein«, sagte Mr Thistlethwaite geduldig, »aber Schiffe können es, und sie sind viel schneller als Fuhrwerke, mindestens viermal so schnell. Das bedeutet, dass ein Schiff von London zur Botany Bay ein Jahr braucht.«
»Wahrscheinlich nicht einmal so lange«, sagte Richard stirnrunzelnd. »Du solltest das aus deiner Zeit in Bristol wissen, Jem. Bei gutem Wind kann ein Schiff an einem einzigen Tag knapp zweihundert Meilen zurücklegen. Selbst unter Berücksichtigung der Zeit, die das Schiff unterwegs in Häfen liegt oder die es durch ungünstige Winde und durch Flauten verliert, dauert die Reise womöglich nur ein halbes Jahr.«
»Haarspaltereien, Richard. Ob die Reise nun ein halbes oder ein ganzes Jahr dauert, die Botany Bay liegt nicht nur am anderen Ende der Welt, sondern auch an deren Unterseite. Und jetzt habe ich genug. Ich muss gehen.« Plötzlich müde geworden, stand Mr Thistlethwaite auf.
Gut, dass sie dem geduldigen Richard zur Last fallen und nicht mir, dachte er. Er schlug laut an die Tür, um hinausgelassen zu werden. Ich hätte schon längst die Partei Edmund Burkes ergriffen und den ganzen Haufen hängen lassen. Was sollen sie in der Botany Bay? Dort können sie doch nur noch verzweifeln.
Der Dienst habende Wärter öffnete die Tür. »Lebt wohl!«, rief Mr Thistlethwaite. »Wir werden uns bald wieder sehen!«
»Ein feiner Mann, dieser Mr Thistlethwaite«, sagte Bill Whiting und setzte sich auf den frei gewordenen Platz neben Richard. »Ist das dein Londoner Informant, Schätzchen?«
Richard zuckte zusammen, als er den alten Spitznamen hörte. »Nenn mich nicht so, Bill«, sagte er ein wenig traurig. »Es erinnert mich an die Frauen im Gefängnis von Gloucester.«
»Tut mir Leid.« Bill hatte viel von seiner früheren Munterkeit verloren. Witzbolde waren auf der Ceres nicht gern gesehen. Etwas anderes fiel ihm ein. »Ich dachte anfangs, Stanley aus Seend würde einer von uns werden, aber er gibt sich nur mit uns ab, weil er scharf auf unser Geld ist.«
»Was erwartest du, Bill? Du und Taffy, ihr habt lebende Tiere geklaut. Stanley aus Seend hat einem toten das Fell abgezogen. Er wird wehrlose Opfer immer nach Kräften schröpfen.«
»Hm«, sagte Bill mit einem nachdenklichen Blick, der schlecht zu seinem aufgeweckten, runden Gesicht passen wollte. »Wenn nur zur Hälfte stimmt, was du und Mr Thistlethwaite gesagt habt, ist es zur Botany Bay eine lange Fahrt. Stanley könnte ein Stück Holz auf den Kopf fallen. Und wäre es nicht eine Genugtuung, wenn Mr Sykes vor unserer Abfahrt einen Unfall hätte?«
Richard packte ihn an den Schultern und schüttelte ihn. »An solche Dinge denkt man nicht, Bill, und sagen tut man sie erst recht nicht! Es gibt für uns nur eine Möglichkeit, dieser Hölle zu entrinnen: Wir müssen sie ertragen, ohne die Aufmerksamkeit derer zu erregen, die unser Elend noch vergrößern könnten. Hasse sie von mir aus, aber ertrage sie. Alles hat irgendwann ein Ende, auch die Ceres und früher oder später die Botany Bay. Wir sind nicht mehr jung, aber auch noch nicht alt. Begreift ihr denn nicht? Wer überlebt, gewinnt! Nur das darf uns interessieren.«
 
Und so verstrich die Zeit. Immer wieder tauchte der Eimer des Baggerbootes in das Wasser der Themse ein. Stinkende Schlammhaufen wuchsen empor. Auch das Orlopdeck der Ceres stank und die Leichen, die einmal in der Woche auf einem Stück Ödland in der Nähe von Woolwich beerdigt wurden, das Mr Duncan Campbell eigens zu diesem Zweck erworben hatte. Neue Gefangene trafen ein, andere starben und wurden zur Beerdigung abtransportiert, darunter allerdings niemand aus Richards oder Ike Rogers’ Gruppe.
Zwischen den Insassen des Orlopdecks entwickelte sich eine gewisse, aus der gemeinsamen Not geborene Kameraderie, am schwächsten ausgeprägt zwischen Gruppen, die sich auf Grund ihrer verschiedenen Dialekte kaum verständigen konnten. Nach sieben Monaten kannte man die anderen Gesichter. Man nickte einander zu und tauschte Klatsch und Neuigkeiten und bisweilen simple Höflichkeiten aus. Es gab Kämpfe, einige davon erbittert, und es gab Denunzianten und Opportunisten wie William Stanley aus Seend, und gelegentlich starb jemand eines gewaltsamen Todes.
Wie in jeder Zwangsgemeinschaft ganz verschiedener Menschen kristallisierte sich nach einer Weile ein Beziehungsgefüge heraus. Richard und Ike Rogers hielten die anderen Gruppen durch ihre monatlich wiederholten händelschen Gesänge und hippokratischen Anrufungen auf Distanz, doch waren sie zugleich nicht unbeliebt. Sie waren weder Schläger und Tyrannen noch ließen sie sich von anderen herumkommandieren. Leben und leben lassen lautete ihre Devise, die für das Leben an Bord gut geeignet schien.
Mr Zachariah Partridge sah keinen Grund, seine Meinung über die Baggermannschaft zu ändern. Als die Tage länger wurden und die Arbeitsstunden zunahmen, bekam er die Prämie von fünf Pfund pro Ladung häufiger, als er sich hatte träumen lassen. Die Sträflinge schienen alles darauf anzulegen, durch Arbeit und richtige Ernährung bei Gesundheit zu bleiben.
Er wusste wie alle auf dem viel befahrenen Fluss, dass die Sträflinge zur Botany Bay deportiert werden sollten, und behandelte sie deshalb großzügig. Schließlich würde er, wenn sie fahren mussten, kaum noch einmal eine auch nur halb so gute Mannschaft bekommen. Der Ricketts-Tabak war zusammen mit einem Fässchen besten Rums eingetroffen. Wenn Richard und seine Männer die Dienste eines der Proviantboote in Anspruch nehmen wollten, die hin und wieder besondere Waren verkauften, ließ er sie gewähren, vorausgesetzt, die Arbeit geriet darüber nicht in Verzug. Fasziniert beobachtete er, wie die Sträflinge Kleider aus Segeltuch, Seife, Schuhe, Scheren, Rasiermesser, Streichriemen, Wetzsteine, Staubkämme, Teeröl, Malzextrakt, Unterhosen, dicke Strümpfe, Salben, Bindfaden und feste Säcke kauften.
»Ihr seid ja verrückt«, bemerkte er. »Die Botany Bay ist doch nicht die Arche Noah.«
»Doch«, antwortete Richard ernst, »das ist ein guter Vergleich. Ich glaube nicht, dass es dort Proviantboote gibt.«
Jem Thistlethwaite besuchte sie, sobald er etwas Neues erfuhr. Ende August konnte er ihnen mitteilen, Lord Sydney habe das Schatzamt in einem offiziellen Schreiben davon in Kenntnis gesetzt, dass 750 Sträflinge in eine neue Kolonie in Neusüdwales gebracht werden sollten, voraussichtlich in die Botany Bay. Die Sträflinge stünden unter Aufsicht der Königlichen Marine Seiner Majestät und würden von drei Kompanien Seesoldaten bewacht, die sich von der Ankunft in Neusüdwales an gerechnet für drei Jahre verpflichten müssten.
»Sie werden euch nicht einfach an der Küste aussetzen«, sagte Mr Thistlethwaite, »so viel scheint sicher. Im Innenministerium wird eure Versorgung minuziös geplant. Doch werden nur männliche Sträflinge deportiert. Frauen sollen von benachbarten Inseln geholt werden, sicher auf dieselbe Weise, wie die Römer sich einst auf dem Quirinal Frauen von den Sabinern beschafften. Was mich daran erinnert, dass ich euch noch die vorliegenden Bände von Gibbons Verfall und Untergang des Römischen Reiches mitgeben muss.«
»Herrje!«, rief Bill Whiting. »Indianerinnen! Was für welche denn? Es gibt sie in allen Variationen von Schwarz über Rot bis Gelb, und schön wie Venus oder hässlich wie Medusa.«
Im Oktober berichtete Mr Thistlethwaite jedoch, dass es keine Indianerinnen geben würde. »Das Parlament war nicht eben erfreut über die Anspielung auf den Raub der Sabinerinnen. Schließlich würden die Indianer ihre Frauen nicht verschenken oder verkaufen. Die Moralapostel jubelten. Weibliche Gefangene werden also ebenfalls verschifft - wie viele, weiß ich nicht. Vierzig Seesoldaten nehmen ihre Frauen und Familien mit, deshalb sollen auch verheiratete Männer und Frauen, die beide im Gefängnis sitzen, zusammen gehen. Solche Fälle gibt es offenbar.«
»Wir kannten ein Paar in Gloucester«, sagte Richard. »Bess Parker und Ned Pugh. Ich habe keine Ahnung, was aus ihnen geworden ist. Wer weiß, vielleicht kommen sie ebenfalls mit, wenn sie noch leben…Doch es wäre gemein, Männer wie Ned Pugh und Frauen wie Lizzie Lock zu deportieren, die nächstes Jahr schon fünf von sieben Jahren abgesessen haben.«
»Mach dir keine Hoffnung auf Lizzie Lock, Richard. Ich habe gehört, dass die zur Deportation bestimmten Frauen aus dem Gefängnis von London geholt werden.«
Alle stöhnten auf.
Eine Woche später war ihr Informant schon wieder da.
»Für Neusüdwales wurden ein Gouverneur und ein Vizegouverneur ernannt, ein gewisser Captain Arthur Phillip von der Königlichen Marine und ein Major Robert Ross von den Seesoldaten. Da ihr unter Aufsicht der Marine steht, werdet ihr Bekanntschaft mit der neunschwänzigen Katze schließen, ohne die es in der Marine nicht zu gehen scheint und die sehr viel unangenehmer ist als ihr vierbeiniger Namensvetter.« Mr Thistlethwaite erschauderte und wechselte das Thema. »Es fanden noch weitere Ernennungen statt. Die Kolonie bekommt keine gewählte Regierung, sondern untersteht dem Seerecht. Es wird mehrere Ärzte geben und natürlich einen Kaplan - wie könntet ihr ohne unseren guten englischen Gott leben? Im Augenblick ist allerdings alles noch streng geheim und nicht offiziell.«
»Wer ist dieser Gouverneur Phillip?«, fragte Richard.
Mr Thistlethwaite brach in schallendes Gelächter aus. »Bisher kennt ihn niemand, Richard. Lordadmiral Howe äußerte sich sehr abschätzig über ihn, aber wahrscheinlich nur deshalb, weil er selbst einen jungen Neffen für dieses Amt mit einem Jahresgehalt von tausend Pfund vorgesehen hatte. Mein Informant ist ein langjähriger Freund, Sir George Rose, Schatzmeister der Königlichen Marine. Er berichtete mir, Lord Sydney habe diesen Phillip nach einem ausführlichen Gespräch mit Mr Pitt persönlich ausgewählt. Für Mr Pitt ist es sehr wichtig, dass das Experiment gelingt, sonst wird die Gefängnisfrage noch zur Fußangel für sein Kabinett - das Problem der vielen Sträflinge, für die nirgends Platz ist und deren Zahl außerdem ständig steigt, drängt immer mehr. Schwierig ist nur, dass die Deportation in den Köpfen der eifernden Moralapostel mit der Sklaverei verknüpft ist. Wenn sie also das eine kritisieren, ist das andere darin oft eingeschlossen.«
»Es gibt Ähnlichkeiten«, bemerkte Richard trocken. »Erzähl mir mehr von diesem Phillip, der über unser Schicksal entscheiden wird.« Mr Thistlethwaite leckte sich die Lippen und dachte sehnsüchtig an ein Gläschen Kognak. »Ein Niemand, wie schon gesagt. Sein Vater, ein gebürtiger Deutscher, unterrichtete in London Sprachen. Seine Mutter war die Witwe eines Kapitäns und eine entfernte Verwandte von Lord Pembroke. Der Junge besuchte eine Knabenschule der Marine ähnlich der Schule Colstons. Die Familie war also arm. Nach dem Siebenjährigen Krieg wurde der junge Mann auf halben Lohn gesetzt und diente mit Auszeichnung einige Jahre in der portugiesischen Marine. Sein wichtigstes Kommando war ein Schiff 4. Ranges der Königlichen Marine, mit dem er allerdings nicht an Kämpfen teilnahm. Er wurde noch einmal verabschiedet und übernahm jetzt das Gouverneursamt. Er ist weder jung noch besonders alt.«
Will Connelly runzelte die Stirn. »Für mich klingt das merkwürdig, Jem.« Er seufzte. »Das hört sich doch danach an, als sei ganz egal, was mit uns in der Botany Bay passiert. Sonst wäre der Gouverneur - na ja - ein Lord oder wenigstens ein Admiral.«
»Nenn mir den Namen eines einzigen Lords oder Admirals, der bereit wäre, für jämmerliche tausend Pfund im Jahr ans andere Ende der Welt zu gehen, Will, und ich biete dir die englische Krone an.« Mr James Thistlethwaite grinste spöttisch, der Satiriker regte sich in ihm. »So jemand macht höchstens eine Erholungsreise zu den Westindischen Inseln. Was ist die Botany Bay denn? Höchstwahrscheinlich eine Todesfalle. Niemand weiß genau, was einen dort erwartet, auch wenn alle von einem Paradies sprechen, weil das nichts kostet. Nur ein Niemand lässt sich als Gouverneur dort hinschicken.«
»Du hast immer noch nicht gesagt, warum ausgerechnet dieser Niemand«, sagte Ike.
»Sir George Rose schlug ihn ursprünglich vor, weil Phillip ein, wie er sagte, tüchtiger und einfühlsamer Mensch sei. Phillip ist auch insofern eine seltene Erscheinung in der Königlichen Marine, als er fließend mehrere Sprachen spricht. Da sein deutscher Vater Sprachlehrer war, hat Phillip das Talent für Fremdsprachen wohl schon mit der Muttermilch eingesaugt. Er spricht französisch, deutsch, holländisch, spanisch und portugiesisch.«
»Was nützen uns diese Sprachen in der Botany Bay?«, fragte Neddy Perrott. »Die Indianer sprechen sie nicht.«
»Gar nichts, aber auf der Fahrt dorthin sind sie sehr hilfreich«, antwortete Mr Thistlethwaite, tapfer bemüht, nicht die Geduld zu verlieren. Wie hielt Richard das bloß aus? »Unterwegs sollen verschiedene Häfen angelaufen werden, und keiner davon ist englisch. Teneriffa ist spanisch, Kap Verde portugiesisch, Rio de Janeiro ebenfalls und das Kap der Guten Hoffnung holländisch. Das ist eine heikle Sache, Neddy. Stell dir doch vor, was da passiert. Eine Flotte von zehn bewaffneten englischen Schiffen läuft ohne Ankündigung in einen Hafen ein und ankert. Der Hafen gehört zu einem Land, gegen das wir Krieg geführt oder in dessen Sklavengebieten wir gewildert haben. Mr Pitt hält es deshalb für unabdingbar, dass die Flotte freundschaftliche Beziehungen zu den Gouverneuren der jeweiligen Häfen herstellen kann. Und englisch spricht man dort nicht.«
»Warum nehmen wir keine Dolmetscher mit?«, fragte Richard.
»Um mit den Portugiesen und Spaniern über einen Mittelsmann niedrigen Ranges zu verkehren? Mit den am stärksten auf Etikette bedachten Völkern der Welt? Und mit den Holländern, die den Teufel übers Ohr hauen würden, wenn sie damit Profit machen könnten? Nein, Mr Pitt besteht darauf, dass der Gouverneur selbst im Stande ist, sich mit sämtlichen Gouverneuren zwischen England und der Botany Bay zu unterhalten. Und da kam nur Captain Arthur Phillip in Frage.« Er lachte boshaft gackernd. »Ha-ha-ha! Auf solche Kleinigkeiten kommt es an, Richard. Denn es sind keine Kleinigkeiten. Wenn alles vorbei ist, sind sie freilich wieder vergessen. Wir stellen uns immer nur Männer wie Sir Walter Raleigh vor - einen Aufschneider, Freibeuter und Freund der Königin. Eine schwungvolle Geste mit dem Spitzentaschentuch, ein Schnuppern an seiner Duftkugel, und alle liegen ihm zu Füßen. Aber diese Zeiten sind vorbei. Unsere heutige Welt ist ganz anders, und wer weiß, vielleicht hat dieser Niemand Captain Arthur Phillip ja genau die Fähigkeiten, auf die es ankommt. Sir George Rose scheint es zu glauben und Mr Pitt und Lord Sydney ebenfalls. Dass Lordadmiral Howe anderer Meinung ist, ist unwichtig. Er mag Erster Seelord sein, aber noch wird England nicht von der Königlichen Marine regiert.«
 
Ende Dezember kam Mr Thistlethwaite mit weiteren Nachrichten. Sein Publikum hatte sich enorm vergrößert, denn auf Grund des ständigen Kontakts der Gefangenen untereinander konnten inzwischen viel mehr Sträflinge Gesprächen folgen, die in einem Englisch geführt wurden, das dem Englisch gedruckter Bücher nahe kam.
»Die Ausschreibungen sind abgeschlossen«, verkündete er seinen Zuhörern. »Und dabei gab es einige Tränen. Mr Duncan Campbell glaubte, mit seinen Anstalten schon genug am Hals zu haben, und gab überhaupt kein Angebot ab. Das billigste Angebot der Herren Turnbull Macaulay und T. Gregory - siebeneindrittel Pennys pro Tag und pro Nase - wurde abgelehnt, ebenso das der Sklavenhändler Camden, Calvert & King. Lord Sydney hielt es für unklug, mit dem ersten Transport eine Sklavenfirma zu beauftragen, obwohl auch ihr Preis sehr günstig war. Den Zuschlag erhielt deshalb ein Freund Mr Campbells namens William Richards junior. Er bezeichnet sich selbst als Schiffsmakler, doch seine Interessen gehen weit darüber hinaus. Er hat natürlich Partner und arbeitet vermutlich eng mit Campbell zusammen. Die Seesoldaten, die euch begleiten, sind übrigens nicht zu beneiden. Denn sie bekommen nicht mehr zu essen als ihr, von einer täglichen Ration Rum und Mehl abgesehen.«
»Wie viele von uns müssen gehen?«, fragte jemand aus Lancaster.
»Fünf Truppentransporter werden rund fünfhundertachtzig männliche und knapp zweihundert weibliche Sträflinge befördern, außerdem zweihundert Seesoldaten plus vierzig Ehefrauen und Kinder. Dazu kommen drei Versorgungsschiffe. Die Königliche Marine ist durch ein Begleitschiff und ein bewaffnetes Schiff vertreten, das als Flaggschiff der Flotte fungieren wird.«
»Truppentransporter?«, fragte ein Mann aus Yorkshire namens William Dring. »Was sind denn das für Schiffe? Ich bin ein Matrose aus Hull, deshalb interessiert es mich.«
»Sie dienen hauptsächlich dazu, Truppen zu Zielorten in Übersee zu befördern«, erklärte Richard ruhig. »Ich glaube, es gibt in der Marine einige davon, allerdings müssen sie inzwischen schon ziemlich alt sein. Sie beförderten die Truppen in den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg und waren schon im Siebenjährigen Krieg im Einsatz. Es gibt auch Transporter für den Küstenverkehr, mit denen Soldaten innerhalb von England, Schottland und Irland verlegt werden, doch die wären viel zu klein. Jem, enthielt die Ausschreibung genauere Angaben zu den Schiffen?«
»Nur dass sie in tadellosem Zustand und für eine längere Fahrt durch unbekannte Gewässer tauglich sein sollten. Sie wurden von der Marine inspiziert, aber ich weiß nicht, wie gründlich.« Mr Thistlethwaite holte tief Luft, dann beschloss er, die volle Wahrheit zu sagen. Was hatte es für einen Sinn, den armen Teufeln falsche Hoffnungen zu machen? »Dazu muss man natürlich sagen, dass nur sehr wenige Angebote eingingen. Lord Sydney hatte mit einem Angebot der Ostindischen Kompanie gerechnet, die die besten Schiffe besitzt. Er wollte die Kompanie sogar damit ködern, dass die Schiffe von der Botany Bay gleich nach Wampoa in China weiterfahren könnten, um dort Tee an Bord zu nehmen. Doch die Kompanie war nicht interessiert. Sie lässt ihre Schiffe lieber über Bengalen nach Wampoa fahren, aus welchem Grund auch immer. Es fehlte also an geeigneten Schiffen, und womöglich bestand die Inspektion der Marine lediglich darin, aus einer Reihe von schlechten Schiffen die besten herauszusuchen.« Mr Thistlethwaite sah, wie sich Bestürzung auf die Gesichter seiner Zuhörer malte, und bereute seine Offenheit. »Ihr braucht deshalb nicht zu fürchten, dass die Schiffe, mit denen ihr fahrt, gleich untergehen werden. Kein Reeder kann es sich leisten, seine Schiffe leichtfertig aufs Spiel zu setzen, auch wenn sie noch so gut versichert sind. Nein, ich wollte damit eigentlich etwas ganz anderes sagen.«
Richard ergriff das Wort. »Ich weiß, was du sagen wolltest, Jem. Dass unsere Transportschiffe Sklavenschiffe sind. Warum auch nicht? Der Sklavenhandel ist zurückgegangen, seit man uns nicht mehr nach Georgia und Carolina reinlässt, von Virginia ganz zu schweigen. Deshalb stehen jede Menge Sklavenschiffe zur Verfügung. Und sie sind bereits für den Transport von Menschen gebaut. In den Häfen von Bristol und Liverpool liegen viele solche Schiffe, und einige von ihnen haben Platz für mehrere hundert Sklaven.«
»So ist es«, sagte Mr Thistlethwaite seufzend. »Ihr werdet in Sklavenschiffen fahren, das heißt die von euch, die für den Transport ausgewählt werden.«
»Ist schon bekannt, wann wir fahren?«, fragte Joe Robinson aus Hull.
»Nein.« Mr Thistlethwaite blickte in die Gesichter der Sträflinge und grinste. »Aber jetzt noch zu etwas anderem. Es ist Weihnachtszeit, und ich habe dafür gesorgt, dass alle Gefangenen auf dem Orlopdeck der Ceres ein halbes Pint Rum erhalten. Unterwegs kriegt ihr keinen, also trinkt langsam und behaltet ihn eine Weile im Mund.«
Er zog Richard beiseite. »Ich habe dir noch ein paar Filtersteine von Vetter James mitgebracht. Sykes wird sie dir geben.« Er umarmte Richard so fest, dass niemand bemerkte, wie der Beutel mit Guineen von seiner Manteltasche in Richards Jackentasche glitt. »Das ist alles, was ich für dich tun kann, mein lieber Freund. Schreibe mir, sobald du kannst, ich bitte dich.«
»Ich spüre ein Prickeln in den Daumen«, sagte Joey Long am 5. Januar 1787 beim Abendessen. Er zitterte.
Die anderen sahen ihn ernst an. Joey war ein einfaches Gemüt, aber er hatte bisweilen Vorahnungen, die sich später bewahrheiteten.
»Und warum, Joey?«, fragte Ike Rogers.
Joey schüttelte den Kopf. »Weiß nicht. Die Daumen prickeln eben.«
Doch Richard wusste es. Der nächste Tag war der 6. Januar, und in den vergangenen zwei Jahren war er immer am 6. Januar zu einem neuen Ort des Leidens aufgebrochen. »Joey spürt, dass eine Veränderung bevorsteht«, sagte er. »Heute Nacht packen wir. Wir waschen uns, schneiden uns die Haare, suchen uns gegenseitig nach Läusen ab und sorgen dafür, dass auf sämtlichen Kleidungsstücken, Säcken, Taschen und Kisten unsere Namen stehen. Morgen geht es auf die Reise.«
Job Hollisters Lippen zuckten. »Vielleicht sind wir ja gar nicht dabei.«
»Möglich. Aber ich glaube, Joeys Daumen sagen, dass wir dabei sind.«
Vielen Dank für das halbe Pint Rum, Jem Thistlethwaite. Während das ganze Orlopdeck der Ceres schnarchte, konnte ich deine Guineen in unseren Kisten verstecken. Außer mir weiß niemand davon.