TEIL DREI
Januar 1786 bis Januar 1787
Das Fuhrwerk nach London und Woolwich traf
am folgenden Tag, dem 6. Januar, im Morgengrauen ein. Genau ein
Jahr seit Beginn meiner letzten Reise, schoss es Richard durch den
Kopf. Diesmal fiel ihm der Abschied freilich schwerer. Die Frauen
weinten bitterlich.
»Was soll ich bloß ohne dich tun?«, fragte Lizzie
Lock, als sie Richard zu Oberaufseher Hubbards Haus folgte.
»Such dir jemand anders«, antwortete Richard, doch
in seiner Stimme schwang Mitgefühl. »Du brauchst auf jeden Fall
einen Beschützer. Auch wenn es schwierig sein wird, jemanden zu
finden, der wie ich darauf verzichtet, mit dir zu schlafen.«
»Das weiß ich doch! Ach Richard, wie werde ich dich
vermissen!«
»Ich dich auch, Lizzie. Wer stopft mir jetzt die
Strümpfe?«
Sie lächelte unter Tränen und versetzte ihm einen
Rippenstoß. »Hör auf! Ich habe dir gezeigt, wie man mit der Nadel
umgeht, du kannst sehr gut nähen.«
Zwei Gefängniswärter kamen und führten die Frauen
ins Gefängnis zurück. Die Frauen drehten sich in einem fort um und
winkten und heulten.
Dann wurden den Gefangenen wieder die Eisengürtel
umgelegt, an deren Vorderseiten die vier Ketten
zusammenliefen.
Von außen glich das Fuhrwerk genau dem, in dem
Richard von Bristol nach Gloucester gefahren war. Es wurde von acht
großen Pferden gezogen, über die Ladefläche war eine Plane aus
Segeltuch gespannt. Innen sah es allerdings ganz anders aus. Auf
beiden Seiten
verlief eine Bank, die so lang war, dass sechs Menschen bequem
darauf sitzen konnten. Die Habseligkeiten der Sträflinge mussten
zwischen den Beinen auf dem Boden gestapelt werden. Sie würden
jedes Mal, wenn das Fahrzeug sich auf die Seite legte, umfallen und
hin und her rutschen, dachte Richard. Welche Straße war schon eben,
vor allem in dieser Jahreszeit? Es war mitten im tiefsten Winter
und dazu regnete es in Strömen.
Zwei Gefängniswärter begleiteten sie. Sie saßen
nicht im Wagen, sondern beim Fuhrmann vorne auf dem Kutschbock, der
durch ein Dach gegen den Regen geschützt war. Flucht war trotzdem
unmöglich. Sobald die Häftlinge saßen, wurde eine lange Kette durch
einen Ring an der linken Fußfessel jedes Häftlings geführt und vorn
und hinten am Boden befestigt. Bewegte sich einer der Männer,
mussten sich die anderen fünf zwangsläufig auch bewegen.
Die Hackordnung war festgelegt. Richard saß, in
seinen warm gefütterten Mantel gehüllt, am offenen Ende des Wagens
auf der einen Seite. Ike Rogers, der Anführer der jüngeren
Sträflinge, saß ihm gegenüber.
»Wie lange sind wir unterwegs?«, fragte Ike
Rogers.
»Wir können froh sein, wenn wir sechs Meilen am Tag
schaffen«, antwortete Richard. »Du kennst die Straßen nicht - ich
meine, was ihre Eignung zum Reisen betrifft.« Er grinste. »Keine
Ahnung, wie lange es dauert. Hängt von der Route ab.«
»Sie führt über Cheltenham und Oxford«, sagte der
Straßenräuber, der ihm den Scherz nicht übel nahm. »Wo Woolwich
ist, weiß ich allerdings nicht. Ich bin zwar in Oxford gewesen,
aber noch nie in London.«
Richard besaß ein Buch über London, und er hatte es
bereits genau gelesen. »Woolwich liegt östlich von London am
Südufer der Themse. Ich weiß nicht, ob wir den Fluss überqueren
müssen - wir fahren ja zu Gefangenenschiffen, die im Fluss ankern.
Wenn die Reise über Cheltenham und Oxford geht, sind es ungefähr
120 Meilen bis nach Woolwich.« Richard überlegte kurz. »Bei sechs
Meilen am Tag macht das fast drei Wochen.«
»Drei Wochen auf diesen Bänken?«, fragte Bill
Whiting bestürzt.
Die Sträflinge, die schon in einem Fuhrwerk gereist
waren, brachen in Gelächter aus.
»Keine Angst, du wirst hier nicht untätig
herumsitzen, Bill«, sagte Taffy. »Ein halbes Dutzend Mal am Tag
müssen wir zum Schaufeln raus.«
So kam es auch tatsächlich. Allerdings begegneten
sie unterwegs sehr viel weniger Gastfreundschaft, als Richard und
Willy sie auf der Reise nach Gloucester mit Fuhrmann John erlebt
hatten. Keine Scheunen öffneten sich für sie, und sie bekamen keine
warmen Pferdedecken. Zu essen und zu trinken gab es nur Brot und
Dünnbier. Sie mussten auf dem Wagen übernachten. Dazu stellten sie
ihr Gepäck auf die Bänke, dann streckten sie sich auf dem Boden
aus. Ihre Mäntel dienten als Decken, die Hüte als Kissen. Der
heftige Regen drang durch das Verdeck aus Segeltuch, doch
wenigstens fiel die Temperatur nicht unter null - ein kleiner Segen
für die durchnässten und fröstelnden Häftlinge. Nur Ike besaß
Stiefel. Die anderen trugen Schuhe und waren bald bis über die
gefesselten Knöchel mit Schlamm bespritzt.
Von Cheltenham und Oxford sahen sie nichts, da der
Fuhrmann es vorzog, die beiden Städte mit seiner Fracht zu
umfahren. Und High Wycombe bestand lediglich aus einer kurzen
Häuserreihe an einem Hang, der so schlüpfrig war, dass die Pferde
sich mit den Zugriemen verhedderten und den Wagen fast umwarfen.
Die Gefangenen wurden von herumfliegenden Holzkisten getroffen und
mussten schließlich aussteigen, um das sich gefährlich zur Seite
neigende Gefährt wieder aufzurichten. Ike Rogers, der sich mit
Pferden gut auskannte, half mit, die Tiere zu beruhigen und das
Geschirr zu entwirren.
Auch von London bekamen sie nichts mit, da einer
der Gefängniswärter eine Abdeckung an der offenen Rückseite des
Wagens anbrachte, sodass die Insassen überhaupt nicht mehr nach
draußen sehen konnten. Das Schaukeln ging jedoch in ein weicheres
Rollen über. Sie hatten eine gepflasterte Hauptstraße erreicht und
brauchten den Wagen nicht mehr aus dem Schlamm auszugraben.
Zahlreiche Geräusche drangen ins Wageninnere: Rufe und Flüche,
Wiehern, Grölen, plötzliches Stimmengewirr, vielleicht weil sie an
der offenen Tür eines Wirtshauses vorbeifuhren, das Rumpeln einer
Maschine und gelegentlich ein Krachen.
Bei Einbruch der Nacht schoben die Gefängniswärter
Brot und Dünnbier durch eine Klappe, dann überließen sie die
Häftlinge ihrem Schicksal. Wer aufs Klo musste, hatte dafür einen
Eimer. Am nächsten Morgen gab es erneut Brot und Dünnbier, dann
ging es weiter durch den Lärm, zu dem sich jetzt noch das Geschrei
von Verkäufern sowie einige interessante Gerüche gesellten -
verfaulter Fisch, verfaultes Fleisch und verfaultes Gemüse. Die
Bristoler sahen einander grinsend an, den anderen drohte übel zu
werden.
Zwei Tage lang durchquerten sie die Ausläufer der
Großstadt, am Nachmittag des dritten Tages - zwanzig Tage nach der
Abfahrt von Gloucester - entfernte jemand die Wagenabdeckung. Träge
strömte vor ihnen ein mächtiger Fluss dahin, auf dessen Wasser
Abfall schwamm. Dem Stand der Sonne nach zu urteilen, einer blassen
Scheibe an einem weißlichen Himmel, hatten sie den Fluss überquert
und befanden sich nun am südlichen Ufer. Woolwich, dachte Richard.
Der Wagen stand an einem Anlegeplatz. Dort war ein morscher Kasten
vertäut, der kaum noch Ähnlichkeit mit einem Schiff hatte. Auf
einem bronzenen Schild konnte man mit Mühe die Aufschrift »Empfang«
entziffern. Sehr passend.
Die Wärter entfernten die Kette, mit der die
Häftlinge aneinander gefesselt waren, und befahlen Richard und Ike,
den Wagen zu verlassen. Ein wenig wacklig auf den Beinen sprangen
sie hinunter, gefolgt von ihren Gefährten.
»Denk dran, zwei Gruppen zu sechs Mann«, sagte
Richard leise zu Ike.
Sie wurden über einen hölzernen Steg in das Schiff
geführt, noch bevor sie den Fluss oder den darauf schwimmenden
Abfall näher betrachten konnten. Drinnen befreite man sie von ihren
Ketten, Handschellen, Gürteln und Fußfesseln. Die Gefängniswärter
von Gloucester nahmen die abgelegten Sachen in Empfang.
Von Kisten, Säcken und Bündeln umgeben, warteten
sie. Sie befanden sich in einer Art demolierten Offiziersmesse, an
der Tür standen Wachen. Flucht war unmöglich, es sei denn, sie
stürmten zu zwölft gleichzeitig los - aber wie sollte es dann
weitergehen?
Ein Mann kam herein. »Plünnen aus!«, brüllte
er.
Sie starrten ihn verständnislos an.
»Na los, Plünnen aus!«
Immer noch rührte sich niemand. Der Mann verdrehte
die Augen und trat zu Richard, der ihm am nächsten stand. Er riss
ihm den Hut herunter und zog heftig an seinem Mantel und dem Rock
darunter.
»Ich glaube, wir sollen die Hüte abnehmen und die
Mäntel ausziehen.«
Alle gehorchten.
»Los, weiter!«
Wieder starrten sie ihn an.
Der Mann knirschte mit den Zähnen, schloss die
Augen und sagte dann überdeutlich: »Hosen auch aus. Hemden
anbehalten.«
Alle gehorchten.
»Fertig, Sir!«, rief der Mann.
Ein zweiter Mann kam herein. »Von wo seid ihr?«,
wollte er wissen.
»Aus Gloucester«, antwortete Ike.
»Aha, aus dem Westen.« Er sah den ersten Mann an.
»Mit denen müssen Sie ganz deutlich sprechen, unseren Dialekt
verstehen die nicht.« An die Häftlinge gewandt fuhr er fort: »Ich
bin der Arzt. Ist jemand krank?«
Wohl in der Annahme, das allgemeine Gemurmel drücke
Verneinung aus, nickte er und seufzte. »Zieht die Hemden hoch. Mal
sehen, ob es einige besonders galante Franzosen unter euch gibt.«
Er untersuchte ihre Penisse auf Syphilisgeschwüre, und als er keine
fand, seufzte er erneut. »Bene«, sagte er zu Matty, dann zu den
Häftlingen: »Ihr seid gesund, aber das kann sich schnell ändern.«
Im Begriff, die Kajüte zu verlassen, fügte er noch hinzu: »Zieht
euch wieder an und wartet.«
Sie zogen sich an und warteten.
Eine Stunde verging. Die Häftlinge setzten sich,
den Rücken an die Wand gelehnt. Unter den Beinen spürten sie die
sanften Bewegungen des vertäuten Schiffes. Steuerlos, dachte
Richard. Wir sind genauso steuerlos wie dieser Kasten, der früher
einmal ein Schiff
war. Wir sind weiter von zu Hause entfernt als je zuvor und haben
keine Ahnung, was uns erwartet. Den Jüngeren hat es die Sprache
verschlagen, sogar Ike Rogers ist verunsichert. Und ich habe
Angst.
Die Häftlinge hörten Schritte über die Holzplanken
näher kommen und das vertraute Klirren von Ketten. Sie zuckten
zusammen, warfen sich unbehagliche Blicke zu und standen
ungeschickt auf.
»Handschellen für zwölf Landeier!«, rief der erste
Mann durch die Tür. »Setzt euch und keine Bewegung.«
Die Ketten waren sechs Zoll länger als die von
Bristol und Gloucester und bereits an die Fußfesseln angeschweißt.
Die Fußfesseln waren leichter und biegsam. Der muskulöse Schmied
konnte sie um die Knöchel des Häftlings biegen und zusammendrücken,
bis die Löcher der beiden Enden sich überlappten. Anschließend
schob er von innen einen Bolzen durch die Löcher, packte das Bein
des Häftlings und schob die lange Zunge eines Ambosses zwischen
Bein und Fußfessel. Zwei schwere Schläge mit dem Hammer, und er
hatte das andere Ende des Bolzens für immer mit dem Eisenband
vernietet.
Diese Fesseln trage ich jetzt sechs Jahre oder noch
länger, dachte Richard und rieb sich die schmerzenden Knöchel. Für
ein halbes Jahr würde sich der Aufwand ja gar nicht lohnen. Ich
habe sie auch noch in der Botany Bay an - so lange, bis ich meine
Strafe abgesessen habe.
Ein zweiter Schmied legte mit ebenso großem
Geschick den anderen sechs Häftlingen aus Gloucester Fußfesseln an.
Binnen einer halben Stunde hatten die beiden ihre Arbeit erledigt,
ihre Helfer angewiesen, die Werkzeuge wieder einzupacken, und die
Kajüte verlassen. Zwei Wachen blieben zurück. Matty, offenbar der
Gehilfe des Arztes, war ebenfalls verschwunden. Doch hatte er die
Wärter offenbar über die Verständnisschwierigkeiten mit den
Gefangenen informiert, denn der Wärter sprach ebenfalls
überdeutlich mit ihnen.
»Ihr esst und schlaft heute Nacht hier«, sagte der
Wärter barsch und klopfte mit dem Griff seines kurzen Knüppels auf
den Handteller seiner anderen Hand. »Ihr könnt reden und rumlaufen.
Hier
habt ihr einen Eimer.« Er und sein Begleiter verließen die Kajüte
und verriegelten die Tür.
Die zwei Jungen aus Wiltshire wischten sich Tränen
aus dem Gesicht. Die anderen hatten trockene Augen. Nach Reden war
niemandem zu Mute, bis Will Connelly schließlich aufstand und
schlurfend auf und ab ging.
»Die Kette trägt sich angenehmer«, sagte er und hob
einen Fuß hoch. »Sie muss an die dreißig Zoll lang sein. Damit kann
man gut laufen.«
Richard fuhr mit den Fingern über die Fußfesseln
und stellte fest, dass sie abgerundete Kanten hatten. »Und sie
werden nicht so scheuern. Da brauchen wir weniger Lappen.«
»Richtig gut zum Arbeiten«, sagte Bill Whiting.
»Was das wohl für eine Arbeit sein wird?«
Kurz vor Einbruch der Dunkelheit brachte man ihnen
Dünnbier, altbackenes, dunkles Schwarzbrot und ein Gemisch aus
gekochtem Kohl und Lauch.
»Für mich nicht.« Ike schob den Topf mit dem Lauch
von sich weg.
»Iss, Ike«, befahl Richard. »Mein Vetter James
sagt, wir müssen alles Gemüse essen, das wir bekommen, sonst
kriegen wir Skorbut.«
Ike war nicht überzeugt. »Mit diesem Zeug ließe
sich nicht mal ein Schnupfen kurieren.«
Richard kostete das Gemüse. »Stimmt«, sagte er.
»Aber es ist nun mal was anderes als immer nur Brot, und deshalb
esse ich es.«
Nach dem Essen legten sie sich schweigend auf den
Boden ihrer fensterlosen Zelle, wickelten sich in ihre Mäntel,
schoben sich die Hüte als Kissen unter den Kopf und ließen sich von
den sanften Wellen des Flusses in den Schlaf wiegen.
Am nächsten Morgen wurden sie bei grauem
Nieselregen vom Empfangsschiff auf einen offenen Leichter
verfrachtet. Bisher war noch nichts wirklich Schlimmes passiert.
Die Wärter waren zwar mürrisch und grob, doch solange die Häftlinge
ihre Befehle schnell genug befolgten, ließen sie die Knüppel
stecken. Die Holzkisten
weckten ganz offensichtlich ihre Neugierde, doch niemand
inspizierte sie. Am Kai erfuhren sie den Grund dafür. Ein klein
gewachsener, rundlicher Herr mit altmodischer Perücke und muffig
riechendem Anzug eilte mit ausgestreckten Händen und strahlender
Miene auf sie zu.
»Ah, die zwölf aus Gloucester!«, rief er munter mit
einem, wie die Häftlinge später erfuhren, schottischen Akzent.
»Doktor Meadows hält euch für prächtige Burschen, und ich sehe, er
hatte Recht. Ich bin Mr Campbell und ich habe das erfunden.« Seine
Hand fegte den Nieselregen in einer großen Geste beiseite.
»Schwimmende Gefängnisse! So viel gesünder als das Londoner
Gefängnis, ja, als jedes Gefängnis. Ihr habt eure Sachen? Das ist
ja ganz vortrefflich. Es steht schlimm um den, der das Recht eines
Sträflings auf sein Hab und Gut nicht achtet. Neil! Neil, wo bist
du?«
Ein Mann, der aussah wie sein Zwillingsbruder,
kletterte eilig vom Bug des Empfangs zur Anlegestelle hinunter und
blieb schnaufend vor Mr Campbell stehen. »Hier, Duncan.«
»Ausgezeichnet! Ich dachte, du solltest es nicht
versäumen, einen Blick auf diese prächtigen Burschen zu werfen.
Mein Bruder hilft mir«, erklärte er, als seien die Gefangenen ganz
normale Menschen. »Momentan ist er jedoch für die Justitia
und die Censor zuständig - ich bin mit meiner lieben
Ceres zu beschäftigt - ein großartiges Schiff! Brandneu!
Natürlich kommt ihr auf meine liebe Ceres - wie praktisch,
dass ihr ein rundes Dutzend und in so guter Verfassung seid. Zwei
Mannschaften für die beiden neuen Baggerboote.« Er trippelte
aufgeregt auf der Stelle. »Phantastisch!« Dann eilte er davon. Sein
Bruder folgte ihm blökend wie ein verirrtes Lamm.
»Herrje! Was für ein komischer Kauz!«, sagte Will
Whiting.
»Ruhe!«, brüllte der Aufseher und ließ den Knüppel
auf Whitings Arm niedersausen. »Und jetzt Abmarsch!«
Das kapierten sie. Vorsichtig stiegen die zwölf
Männer eine glitschige Treppe zu dem wartenden Leichter hinunter.
Ike Rogers stützte unauffällig den halb ohnmächtigen Whiting.
Durch den gespenstisch grauen Regen tauchten immer
wieder
Abschnitte eines flachen, sumpfigen Ufers und die Umrisse
einzelner Schiffe auf. Die Männer schlugen die Krägen hoch und
drehten ihre Hüte so, dass das kaskadenartig herabprasselnde Wasser
ihnen nicht in den Hals lief, sondern über die Schultern. Stumm
hockten sie zwischen ihren Kisten, Säcken und Bündeln. Zwölf
Ruderer, sechs auf jeder Seite, stießen den Leichter ab, wendeten
und steuerten mit ausladenden, fließenden Bewegungen, die das ruhig
dahinströmende Gewässer kaum aufwirbelten, auf die Mitte des
breiten Flusses zu.
Ungefähr dreihundert Meter vom südlichen oder
kentischen Ufer entfernt lagen wie vier Kühe in einer Reihe vier
Schiffe, gründlicher vertäut, als Richard es je bei einem Schiff
gesehen hatte. Jedes Schiff wurde von so vielen Ankern festgehalten
- die Anker hingen an Ketten statt der üblichen Trossen -, dass es
sich nicht in der Strömung drehen konnte. Das kleinste Schiff lag
am weitesten flussaufwärts in Richtung London, das größte bildete
gewissermaßen die Nachhut am anderen Ende. Der Abstand zwischen den
Schiffen betrug etwa hundert Meter.
»Das Krankenhausschiff Guardian«, sagte eine
Wache mit ausgestrecktem Arm. »Dann kommen die Censor, die
Justitia und die Ceres.«
Der Leichter nahm Kurs auf die Censor
gegenüber der Anlegestelle, wendete dann und steuerte mit der Ebbe
flussabwärts. So hatten die Ruderer weniger Mühe und die Häftlinge
konnten einen Blick auf die drei Gefangenenschiffe werfen. Die
Schiffe boten ein trauriges Bild. Die Besanmasten waren längst
verschwunden, die Großmasten in vierzig Fuß Höhe abgebrochen, die
Fockmasten zwar mehr oder weniger intakt, aber ihrer Wanten
beraubt. An zwischen Fock- und Großmast gespannten Leinen und an
den Seilen, die den Fockmast mit dem stummelartigen Bugspriet
verbanden, hingen Kleider zum Trocknen. Auf den Decks standen in
heillosem Durcheinander Holzhütten und Anbauten, auf deren Dach
sich ein ganzer Wald von in alle Richtungen abstehenden eisernen
Kaminen erhob. Weitere Verschläge zierten das Achterdeck, das
Vorderdeck und die Achterhütten. Die Censor und die
Justitia sahen aus wie Fossilien. Wahrscheinlich waren sie
seinerzeit mit Königin
Elizabeth’ Flotte gegen die spanische Armada in See gestochen -
die Farbe war spurlos verschwunden, die Kupfernägel mit Patina
überzogen, die Planken rissig.
Die Ceres dagegen schien erst ein
Jahrhundert auf dem Buckel zu haben. Das Schwarz-Gelb der Marine
war stellenweise noch zu erkennen, und unter dem Bugspriet sah man
die Reste einer Galionsfigur, eine barbusige Frau mit weizenblonden
Haaren, der ein Witzbold noch leuchtend rote Brustwarzen verpasst
hatte. Die Geschützpforten der Censor und der
Justitia waren vernagelt, die der Ceres waren ganz
entfernt und durch Gitter aus massiven Eisenstäben ersetzt worden.
Die in solchen Dingen erfahrenen Sträflinge aus Bristol schlossen
daraus, dass das Schiff unter dem Oberdeck noch zwei weitere Decks
hatte, ein Unterdeck und ein Orlopdeck. Die Ceres war einst
also ein Linienschiff 2. Ranges mit 90 Kanonen gewesen. Kein
Fracht- oder Sklavenschiff hatte so viele Geschützpforten.
Richard überlegte, wie um alles in der Welt sie mit
ihren Sachen eine Strickleiter hinaufkommen sollten. Mit den Ketten
schien es unmöglich. Doch der ganze Stolz des überschwänglichen Mr
Duncan Campbell war eine auf einer schwankenden Plattform
angebrachte hölzerne Treppe. Die Kiste in den Armen und zwei Säcke
mit weiteren Habseligkeiten über die Schultern geworfen, kletterte
Richard hinter einer mit einem Knüppel bewaffneten Wache als Erster
über die Bordwand des Leichters und stieg die Stufen bis zu einer
Öffnung in der Reling fünf Meter über ihm hinauf. Die Ceres
war ein großes Schiff 2. Ranges gewesen.
»Mr’Anks!«, brüllte der Aufseher.
Ein wichtig aussehender, aber schlampig gekleideter
Kerl tauchte zwischen zwei Holzschuppen auf, einen Zahnstocher
zwischen den Zähnen. Im Hintergrund sah Richard eine Gestalt in
einem Rock vorbeihuschen, und er hörte Frauenstimmen. Offenbar
wohnten die meisten Wärter in diesen baufälligen Quartieren.
»Ja?«, fragte der wichtig aussehende Kerl.
»Zwölf Sträflinge aus Gloucester, Mr’Anks. Mr
Campbell sagt, das sind die neuen Mannschaften für die neuen
Baggerboote. Alle kerngesund, meint der Doktor.«
»Wieder Bauern!«, rief Mr Hanks empört. »Fast die
Hälfte der Leute an Bord sind mittlerweile Bauern, Mr Sykes.« Er
wandte sich den Häftlingen zu. »Ich bin’Erbert’Anks, der Aufseher
hier. Bringen Sie die Gefangenen ins Orlopdeck, Mr Sykes. Aber
zuerst noch die Gefängnisregeln, also sperrt die Ohren auf und hört
zu, sie werden nämlich nicht wiederholt. Besuchszeit ist sonntags
nach dem Gottesdienst - Gottesdienst ist Vorschrift. Wir sind hier
alle brave Anglikaner, Abweichler gleich welcher Sorte werden nicht
geduldet. Alle Besucher werden durchsucht. Ihr Geld müssen sie bei
mir deponieren, alle Nahrungsmittel, die sie dabeihaben, werden
beschlagnahmt. Warum? Weil die Gauner in ihren Kuchen und Puddings
Feilen an Bord schmuggeln.«
Mr Hanks hielt inne und musterte seine Zuhörer mit
einer eigenartigen Mischung aus Schadenfreude und Strenge. Seine
Ansprache bereitete ihm sichtlich Vergnügen. »An Bord ist das
Orlopdeck euer Zuhause. Nur ich kann euch rauslassen, aber das
kommt nicht oft vor. Arbeiten, schlafen, arbeiten, schlafen, von
Montag bis Samstag. Wenn das Wetter mitmacht, arbeitet ihr, und
damit meine ich auch arbeiten. Heute ist kein Tag zum Arbeiten,
weil es verdammt noch mal zu stark regnet. Ihr esst, was ihr
bekommt, und ich entscheide, was ihr trinkt. Gin ist teuer, und ihr
bekommt ihn nur von mir. Ein halbes Pint zu sechs Pennys.«
Wieder folgte eine Pause. Mr Hanks räusperte sich
und spuckte den Gefangenen vor die Füße. »Ihr esst zu sechst. Das
Essen holt ihr vom Proviantmeister. Sonntags, montags, mittwochs,
donnerstags und samstags werden folgende Rationen an jeweils sechs
Männer ausgegeben: eine Rinderwange oder -hachse, drei Pint Erbsen,
drei Pfund Gemüse, sechs Pfund Brot und sechs Quart Dünnbier.
Dienstags und freitags gibt es Haferbrei - Themse-Wasser nach
Belieben, drei Pint Hafermehl mit Kräutern, drei Pfund Käse und
sechs Pfund Brot. Mehr gibt es nicht. Wer abends alles aufisst, hat
am nächsten Morgen Hunger. Mr Campbell sagt, ihr müsst euch jeden
Tag waschen und jeden Sonntag rasieren, bevor der Pfaffe an Bord
kommt. Wenn ihr zur Arbeit oder zum Gottesdienst heraufkommt,
bringt ihr die Nachttöpfe mit und leert sie in den Fluss. Ein Eimer
für jede Gruppe. Was ihr in eurer Zelle tut, ist mir und Mr
Campbell egal.«
Er grinste. »Aber zuerst muss ich mir eure Kisten
und Taschen ansehen.« Er hockte sich hin, während Mr Sykes hinter
ihm stehen blieb. »Aufmachen, los!«
Die Sträflinge öffneten die Kisten und breiteten
ihre Habe aus.
Mr Herbert Hanks war ein gründlicher Mensch. Er
begann mit den Sachen von Ike Rogers und dessen Gruppe. Ihre Kisten
waren kleiner, und die beiden Jungen aus Wiltshire hatten überhaupt
keine. Lumpen und Kleider interessierten Mr Hanks nicht, trotzdem
gab er jedes einzelne Stück an Mr Sykes weiter. Mr Sykes’ Hände
glitten über die Stoffe, und er drückte an jeder kleinsten
Ausbeulung herum, allerdings ohne fündig zu werden. Auch die
anderen Gegenstände boten keine Überraschungen.
»Wo ist euer Geld?«, wollte Mr Hanks wissen.
Ike sah ihn überrascht an. »Sir, wir haben keins.
Wir waren ein Jahr lang im Gefängnis. Unser Geld ist
aufgebraucht.«
»So?« Mr Hanks wandte sich Richards Gruppe zu.
Seine Augen glitzerten. »Alles vertrunken, was?« Aus Richards Kiste
und Säcken kamen Kleider, Flaschen und Krüge, der Filterstein mit
mehreren Ersatzteilen, zum Auspolstern verwendete Lumpen, Bücher,
Papier, Schreibfedern - sehr merkwürdige Dinge! - und zwei Paar
Ersatzschuhe. Mr Hanks hielt die Schuhe hoch und betrachtete sie
enttäuscht. Achselzuckend sah er den gleichermaßen enttäuschten Mr
Sykes an. »Ihr seid wirklich Bauern. Hier hat niemand sonst so
große Füße, nicht einmal Long Joyce. Was ist denn das?« Er hielt
eine Flasche hoch.
»Teeröl, Mr Hanks.«
»Und das?«
»Ein Filterstein, Sir. Damit filtere ich das
Wasser, das ich trinke.«
»Das Wasser hier ist bereits gefiltert. Unter jeder
Pumpe hängt ein Sieb. Wie heißt du, Quadratlatsche?«
»Richard Morgan.«
Mr Hanks entriss Mr Sykes eine Liste und überflog
sie. Er konnte zwar lesen, doch bereitete es ihm große Mühe. »Jetzt
nicht mehr, Morgan. Von jetzt an bist du Sträfling Nummer
zweihundertdrei.«
»Jawohl, Sir.«
»Ein belesener Bursche, wie ich sehe.« Mr Hanks
blätterte in einem Buch. Er suchte nach obszönen Kupferstichen oder
erotischen Passagen. Als er keine fand, klappte er das Buch mit
einem Knall wieder zu.
»Und was ist das?«
»Ein Tonikum gegen Furunkel, Sir.«
»Und das?«
»Eine Salbe gegen Schnitte und Geschwüre,
Sir.«
»Das ist ja die reinste Apotheke! Warum hast du den
ganzen Kram mitgebracht?« Er entkorkte die Flasche mit dem Tonikum
und schnüffelte misstrauisch daran. »Igitt! Das stinkt ja so
bestialisch, als sei es aus dem Fluss.«
Richard sah mit unbewegter Miene zu, wie der
Aufseher die leere Kiste aufhob, sie schüttelte, lauschte, ob etwas
darin klapperte, und Wände, Boden und Deckel abklopfte.
Anschließend betastete er die Nähte der Säcke. Nichts. Er
beschlagnahmte Richards besseres Rasiermesser, den Streichriemen
und den Wetzstein sowie sein bestes Paar Strümpfe. Dann nahm er
Will Connellys Kiste und Tasche in Augenschein. Richard kniete
seelenruhig hin, verkorkte die Flasche mit dem Tonikum wieder und
stellte sie beiseite. Ein Blick auf Mr Sykes sagte ihm, dass er
seine Sachen jetzt offenbar wieder einpacken konnte. Richard nickte
dem bewegungslos verharrenden Rogers zu und machte sich an die
Arbeit. Rogers und seine Gruppe folgten Richards Beispiel.
Endlich war Mr Hanks mit allen zwölfen fertig. Er
lächelte leutselig. »Also jetzt noch mal, wo ist euer Geld,
Freunde? Wo sind eure Silberdollars?«
»Wir haben nichts, Sir«, sagte Neddy Perrott
bekümmert. »Wir waren ein Jahr lang im Knast, und da waren Frauen
…« Er verstummte.
»Taschen nach außen kehren!«
Doch alle Manteltaschen waren leer, bis auf die von
Richard, Bill, Neddy und Will, die mit Büchern voll gestopft
waren.
»Klamotten ausziehen!«, bellte Mr Hanks.
Mäntel und Röcke wurden abgelegt. Mr Sykes befühlte
sie eingehend. »Nichts«, sagte er schließlich und grinste.
»Filzen, Mr Sykes.«
Offenbar war das der Befehl zu einer
Leibesvisitation. Mr Sykes begann auch tatsächlich ihre Körper
abzutasten. Mit sichtlichem Vergnügen fummelte er an ihren
Genitalien herum. »Fehlanzeige«, sagte er nach einer Weile und sah
Mr Hanks erwartungsvoll an.
»Hosen runter und vornüber beugen«, befahl Mr Hanks
resigniert.
»Aber ich warne euch! Wenn Mr Sykes Silberdollars
in euren Ärschen findet, wascht ihr sie in eurem eigenen
Blut.«
Mr Sykes ging brutal vor und ließ sich viel Zeit.
Die vier jungen Männer und Joey Long weinten vor Schmerzen und
Scham, die anderen ertrugen die Prozedur wortlos. »Nichts, verdammt
noch mal«, sagte Mr Sykes. »Fehlanzeige, Mr’Anks.«
»Wir sind aus Gloucestershire«, sagte Richard,
während er seine Unterhosen und Breeches hochzog. »Das ist eine
arme Gegend.« Und ich habe euch zwei durchschaut, dachte er.
Demütigung und Geld. Möge Gott euch verfaulen lassen.
»Runterbringen, Mr Sykes«, schnarrte der Aufseher
enttäuscht und verschwand in dem Gewirr von Hütten.
An jenem 28. Januar 1786 beherbergte die
Ceres 213 Sträflinge. Die zwölf Männer aus Gloucester wurden
als die Nummern 202 bis 213 aufgenommen, Richard war die Nummer
203. Doch nur Mr Herbert Hanks aus der Plumstead Road in Woolwich
redete sie mit den Nummern an.
Die Gefangenen aus London waren von denen aus dem
Hinterland getrennt und auf einem anderen Deck untergebracht, eine
weise Entscheidung, die vermutlich die Sträflinge aus London
besänftigen sollte, die den Umgang mit Provinzlern hassten. Die
Insassen des London Newgate bewohnten das Unterdeck, die Provinzler
das Orlopdeck. Vielleicht war die Entscheidung aber auch eine Folge
des ständigen Kriegs, der zwischen den Londoner Sträflingen und den
Nicht-Londonern auf der Censor und der Justitia
tobte. Alle waren irgendwie in diesen Konflikt verwickelt, und
nicht einmal Mr Duncan Campbell konnte das Durcheinander entwirren.
Auf der Dunkirk in Plymouth sollte er noch weitergehen
als auf der Ceres: Er teilte das Schiff nach einem selbst
ausgedachten System in sieben Sträflingsabteilungen auf.
Das Zwischendeck, in das die Gefangenen gebracht
wurden, war sechs Fuß hoch, was bedeutete, dass zwischen Richards
Kopf und der Decke aus faulenden Planken nur ein halber Zoll Platz
blieb und Ike Rogers gar nicht aufrecht stehen konnte. Die
Querbalken, auf denen die Planken auflagen, waren noch einen Fuß
niedriger und jeweils im Abstand von sechs Fuß angebracht. Das
Gehen wurde dadurch zur Parodie auf eine Mönchsprozession: Alle
zwei Schritte mussten die Köpfe ehrfürchtig gesenkt werden.
Der Wind pfiff durch die Eisengitter und den
kalten, grellrot gestrichenen Raum, der sich vom Vorschott bis zum
Achterschott erstreckte. Alles in allem war der Raum etwa vierzig
Fuß breit und hundert Fuß lang. Entlang der Außenwände standen eine
Art breite Tische, an denen auf Bänken Männer saßen.
Merkwürdigerweise schienen die Tische gleichzeitig als Betten zu
dienen. Auf einigen von ihnen lagen Männer, die sich offenbar
ausruhten oder an Fieber erkrankt waren. Auch die Breite der
Tischplatten von sechs Fuß deutete daraufhin, dass es sich um
Betten handelte. Ein weiterer solcher Tisch von sechs Fuß Breite
stand in der Mitte. Ungefähr achtzig Männer bewohnten die rote
Kammer. Beim Eintreten der zwölf neuen Insassen verstummten die
Gespräche und die Männer hoben die Köpfe.
»Von woher?«, fragte ein Mann, der am Mitteltisch
in der Nähe des Eingangs saß.
»Gloucester«, antwortete Will Connelly. »Alle
zwölf.«
Der Mann stand auf. Er war so kleinwüchsig, dass er
unter den Balken durchgehen konnte, ohne anzustoßen. Von der Statur
her erinnerte er an einen Jockey. Er hatte das Gesicht eines
Mannes, der einen Großteil seines Lebens mit Pferden verbracht hat.
Die Haut war zerknittert und ledern, seine Gesichtszüge ähnelten
vage einem Pferd. Der Mann mochte zwischen vierzig und sechzig
Jahre alt sein.
»Wie geht’s?« Es klang mehr wie eine Feststellung
als eine Frage. Er trat auf die Neuankömmlinge zu und streckte
ihnen eine kleine
Hand entgegen. »William Stanley aus Seend in der Nähe von Devizes
in Somerset. Verurteilt wurde ich allerdings in Wiltshire.«
»Die meisten von uns kennen Seend«, sagte Connelly
grinsend. Er stellte die anderen vor, dann setzte er seufzend seine
Kiste ab. »Und was passiert jetzt, William Stanley aus
Seend?«
»Ihr zieht hier ein. Sykes hat euch sicher schon in
den Arsch gelangt. Schöne Schwuchtel. Das ist eben seine Art, die
Sträflinge von innen kennen zu lernen. Kein Geld, was? Oder hat er
es gefunden?«
»Wir haben keins«, sagte Connelly. Er setzte sich
auf die Bank und zuckte zusammen. »Nach Mr Sykes kann man ja kaum
noch sitzen. Was passiert jetzt?«
»An diesem Ende wohnen die Midlands, der Westen und
die Kanalküste«, sagte Stanley. Er holte eine kalte Pfeife aus der
Tasche, an der er zog, wenn er sie nicht gerade dazu benutzte, um
in eine bestimmte Richtung zu zeigen. »In der Mitte wohnen die
Jungs aus Derby, Cheshire, Stafford, Lincoln und Salop und am
anderen Ende, vorn am Bug, Durham, Yorkshire, Northumbria und
Lancashire. Die Liverpooler sitzen an diesem Ende des mittleren
Tisches. Dann gibt es noch ein paar Iren, bis auf einen alle aus
Liverpool, und auch vier Neger, aber die sind über uns bei den
Londonern. Waliser haben wir nicht, tut mir Leid, Taffy.« Stanley
beäugte ihre Kisten und Taschen. »Wenn ihr Wertgegenstände habt,
die seid ihr schnell los. Es sei denn«, fügte er bedeutungsvoll
hinzu, »ihr trefft ein Arrangement mit mir.«
»Das ist sicher möglich«, sagte Connelly
freundlich. »Der Tisch zum Essen dient offenbar gleichzeitig als
Schlafstelle?
»So ist es. Stellt euer Zeug an den Mitteltisch, an
diesem Ende ist genug Platz für zwölf. Die Matten, auf denen ihr
schlaft, liegen unter dem Tisch. Dort könnt ihr auch eure Sachen
verstauen. Eine Decke muss für zwei reichen.« Stanley kicherte.
»Angezogen im selben Bett, wie nach alter Sitte die Verlobten bei
den Yankees - nicht gerade sehr privat, wenn man sich einen
runterholen will. Und das müssen wir alle - Arschficken ist bei den
Mannschaften nach dem Vorgeschmack durch Mr Sykes nicht sonderlich
beliebt. Oben holen sie sonntags die Weiber - sie tun so, als seien
es Tanten,
Schwestern oder Basen. Das können wir nicht. Wir sind zu weit von
zu Hause weg und wer hier Geld hat, gibt es lieber für Hanks’
Sixpence-Gin aus. Dieser Halsabschneider!«
»Wie willst du uns denn helfen, dass unsere Sachen
nicht wegkommen, William?«, fragte Bill Whiting. Er litt unter
doppelten Schmerzen: zum einen von Mr Sykes Knüppel, zum anderen
von dessen Hand und Fingern.
»Ich arbeite nicht«, erwiderte Stanley. »Man wollte
mich beim Gemüse einsetzen, aber ich stellte mich an wie sonst wer
- sogar den Rüben sträubten sich die Wurzeln. Also gab man es
wieder auf. Ich war zu alt und klein, und die Fußfesseln saßen
nicht mehr richtig.« Er hob seinen kleinen Fuß hoch und wackelte
damit hin und her, bis die Fessel auf seinen Spann rutschte. »Ich
bin sozusagen der Hausmeister dieser Anstalt. Ich gehe mit dem Mopp
rum, spüle die Nachttöpfe aus, rolle die Matten ein, falte die
Decken zusammen und halte die verrückten Iren in Schach, auch wenn
unsere Iren aus Liverpool gar nicht so übel sind. Auf der
Justitia gibt es allerdings zwei, die nur Gälisch sprechen -
sie wurden geschnappt, als sie aus dem Schiff von Dublin sprangen.
Kein Wunder, dass sie verrückt wurden. Es ist gefährlich auf
unserer Seite der Irischen See, und die Iren sind weiche Menschen.
Die fallen auf alles rein und sind nach einem Schluck besoffen.«
Stanley lachte leise in sich hinein und seufzte. »Ah, tut das gut,
frisches Blut aus dem Westen! Mikey! Komm mal her!«
Ein junger Mann schlurfte herbei. Er hatte dunkle
Haare, dunkle Augen und jene verschlossene Miene, an der seine
Landsleute den Schmuggler aus Cornwall erkannten. »Nein, nicht
Cornwall«, sagte er, ihre Gedanken erratend. »Dorset, Poole.
Matrose bei der Zollbehörde. Heiße Dennison.«
»Mikey hilft mir bei der Arbeit. Allein schaffe ich
es nicht. Er und ich, wir sind Einzelgänger, wir haben nie den
Anschluss an eine Sechsergruppe geschafft. Mikey hat Anfälle -
Wahnsinn! Er wird schwarz im Gesicht und beißt sich auf die Zunge.
Die alte Schwuchtel Sykes macht sich vor Angst in die Hose.«
Stanley musterte die Neuankömmlinge listig. »Ihr seid schon zwei
Sechsergruppen, wie?«
»Ja, und der Bursche da, der kein Wort sagt, ist
unser Anführer.« Connelly zeigte auf Richard. »Er will es nur nicht
zugeben. Bill Whiting und ich müssen die Gespräche führen, und er
hört in aller Ruhe zu und trifft dann die Entscheidungen. Ein
friedlicher Kerl und sehr klug. Ich kenne ihn noch nicht lange.
Früher, als ich ihn noch nicht kannte, hätte ich mich gegen einen
wie Sykes gewehrt - aber wofür? Dann hätte ich jetzt obendrein noch
Kopfweh und wäre womöglich ausgepeitscht worden.«
»Nicht ausgepeitscht, Will, verprügelt. Mr Campbell
ist gegen die neunschwänzige Katze. Er sagt, sie hält zu viele
Männer von der Arbeit ab.« William Stanley aus Seend hatte die
Augen halb geschlossen. »Dann muss ich also mit dir verhandeln,
Richard - wie war der Nachname?«
»Morgan.«
»Waliser.«
»In Bristol geboren und aufgewachsen. Meine Familie
lebt schon seit Generationen dort. Connelly hat einen irischen
Namen, stammt aber ebenfalls aus Bristol. Nachnamen bedeuten nicht
viel.«
»Warum ist hier eigentlich alles rot gestrichen?«,
fragte plötzlich Ike Rogers, der sich bisher hauptsächlich
umgesehen hatte.
»Wir sind im Orlopdeck des Schiffes«, sagte Mikey
Dennison, der Schmuggler aus Poole. »Hier waren die 32-Pfünder
untergebracht und außerdem der Operationssaal. Auf Rot sieht man
das Blut nicht. Kanoniere können kein Blut sehen.«
William Stanley aus Seend zog eine enorme
Taschenuhr aus der Westentasche und warf einen Blick darauf. »In
einer Stunde gibt’s Essen«, sagte er. »Von Harry, dem
Proviantmeister, bekommt ihr Brettchen und Becher. Heute ist
Freitag, also gibt es Haferbrei. Kein Fleisch außer dem, was im
Brot und im Käse ist. Hört ihr den Lärm droben?« Er klopfte mit
seiner Pfeife gegen die Decke. »In London essen sie schon. Wir
kriegen die Reste. Die sind mehr als wir.«
»Was wäre, wenn Mr Hanks beschließen würde, einige
Londoner hier unterzubringen?«, fragte Richard neugierig.
Der kleine William Stanley kicherte. »Das würde er
nicht wagen!
Entweder die Iren würden ihnen nachts die Kehlen durchschneiden
oder die aus dem Norden. Wer mag denn London und die Londoner? Erst
besteuert man England, bis das Land ausgetrockneter ist als ein Ire
bei einem Methodistentreffen. Dann wird das Geld in London und
Portsmouth verprasst, in London von Parlament, Armee und
Ostindischer Kompanie, in Portsmouth von der Marine.«
»Haferbrei«, sagte Richard und stand lächelnd auf.
»Wenn ich mich recht an die Worte des guten Mr Sykes erinnere,
bedeutet das, dass wir Themse-Wasser trinken. Liebe Freunde des
Filtersteins, ich schlage vor, eine kleine Zeremonie abzuhalten. Du
hast mich Anführer genannt, Will, also folge jetzt meinem
Beispiel.« Er stellte seine Kiste auf den Tisch und schloss sie mit
dem Schlüssel auf, den er stets um den Hals trug. Dann zog er einen
großen Lumpen heraus, drapierte ihn sich auf dem kurz geschorenen
Schädel und begann eine Melodie zu summen. Händel hätte die Melodie
erkannt; auf dem Orlopdeck der Ceres kannte sie niemand.
Bill Whiting vergaß seine Schmerzen und legte sich ebenfalls einen
Lumpen auf den Kopf. Will, Neddy, Taffy und Jimmy taten dasselbe.
Das Summen überließen sie allerdings Richard. Richards Filterstein
tauchte aus der Kiste auf, das Summen wurde zu einem langen, an-
und abschwellenden »Aaaaah«. Richard ließ die Hände über den Stein
gleiten und verbeugte sich vor ihm, bis er ihn mit der Stirn
berührte. Dann hob er ihn auf und schritt zur Pumpe, gefolgt von
seinen fünf Begleitern, die ebenfalls ihre Filtersteine in den
Händen hielten. Taffy hatte die Melodie aufgegriffen und begleitete
Richards Bariton mit einem hohen Tenor. Die anderen Gefangenen
folgten ihnen gebannt. Nur die Kranken schenkten dem Spektakel
keine Beachtung. William Stanley traten schier die Augen aus dem
Kopf.
Zum Glück kam das Wasser tröpfelnd und nicht in
einem Schwall aus der Pumpe. Es fiel in einen Kupferkessel, in den
man ein paar Löcher gestanzt hatte. Mr Campbells Filtriersystem
konnte hin und wieder einen größeren Klumpen oder kleinen Fisch aus
dem Wasser filtern, zu mehr taugte es nicht. Von dort tropfte das
Wasser in die Springluken und lief in die Bilge ab.
Mit einer feierlichen Geste bedeutete Richard Jimmy
Price, den Pumpenschwengel zu betätigen, und hielt seinen
Tropfstein darunter. Die anderen taten es ihm nach. Bill Whiting
verneigte sich tief vor Jimmy, bevor er ebenfalls seinen Tropfstein
füllte, während Richards schöne Stimme zu mehreren lauten
Hallelujas anschwoll. Dann kehrten sie zum Tisch zurück und setzten
ihre sechs Steine mit vielen Gesten genau in der Mitte ab. Richard
wies seine Gefolgsleute an, zwei Schritte hinter ihn zu treten,
dann breitete er die Hände aus und bewegte die Finger.
»König der Könige! Herr und Gebieter! Halleluja!
Halleluja!«, sang er. »Hosianna! Oh Hippokrates, erhöre unser
Flehen!« Nach einer letzten ehrfürchtigen Verbeugung nahm er den
Lumpen vom Kopf, küsste ihn, faltete ihn zusammen und setzte sich.
»Hippokrates!«, brüllte er so plötzlich, dass alle
zusammenzuckten.
»Herrgott! Was hat das zu bedeuten?«, rief
Stanley.
»Das Ritual der Reinigung«, antwortete Richard
feierlich.
Der drahtige kleine Mann musterte ihn plötzlich
misstrauisch. »Ist das vielleicht ein Scherz? Wollt ihr mich
verkohlen?«
»Glaube mir, William Stanley aus Seend, was wir
hier tun, ist kein Scherz. Wir besänftigen Vater Themse, indem wir
den großen Gott Hippokrates anrufen.«
»Macht ihr das jedes Mal, wenn ihr Wasser
trinkt?«
»Aber nein!«, rief Bill Whiting, der begriffen
hatte, worauf Richard mit seinem seltsamen Verhalten hinauswollte.
Richard tat so, als hätten sie besondere Fähigkeiten, als seien sie
etwas Besonderes. Dadurch wollte er sie und ihre Siebensachen
schützen. Er hatte einfach Jimmys und Lizzies Bemerkungen
aufgegriffen, er mache aus dem Filtern eine Religion. Sykes würde
davon erfahren, denn William Stanley aus Seend war eine Klatschbase
und blieb den ganzen Tag auf der Ceres. »Nein«, wiederholte
er ernst, »wir halten das Reinigungsritual nur bei besonderen
Gelegenheiten ab, etwa wenn wir umziehen. So - so mobilisieren wir
Hippokrates.«
»Wir benützen die Steine jedes Mal, wenn wir Wasser
trinken, aber nicht mit der ganzen Zeremonie«, fügte Will Connelly
hinzu. »Das tun wir nur am Ersten des Monats - und natürlich wenn
wir umziehen.«
»Ist das Hexerei?«, fragte Mikey Dennison
argwöhnisch.
»Hast du vielleicht Schwefel gerochen?«, fragte
Richard heftig. »Hat sich das Wasser in Blut oder Ruß verwandelt?
Hexerei ist doch Schwindel. Wir sind ernsthafte Leute.«
»Richtig!«, rief Stanley und seine Miene hellte
sich auf. »Habe ich ganz vergessen! Die meisten von euch kommen ja
aus Bristol und dort war man schon immer besonders
aufgeklärt.«
»Ike«, sagte Richard und stand auf, »auf ein Wort.«
Sie traten ein paar Schritte zur Seite; aller Augen folgten ihnen.
»Bestätige unsere Geschichte und wenn wir sie das nächste Mal zum
Besten geben, singe den Refrain mit. Wenn du uns hilfst, werden wir
unsere Sachen behalten - und unser Geld. Wo hast du deins
versteckt?«
Rogers grinste. »In den Absätzen meiner
Reitstiefel. Von außen sehen sie niedrig aus, aber drinnen - ich
stehe wie auf Stelzen. Und du?«
»Die Kisten haben innen an einer Seite ein
Geheimfach. Wer von uns Münzen besitzt, kann sie dort aufbewahren.
Sie können nicht klimpern, weil das Fach mit Baumwolle ausgestopft
ist. Will, Neddy und Bill haben einige Münzen, ich habe eine ganze
Menge. Die anderen Kisten sind leer, das heißt wenn einer von uns
Geld beschaffen kann, ist genug Platz dafür da. Dieser William
Stanley aus Seend ist käuflich, die Frage ist nur, ob er Sykes
alles verrät.«
Der Straßenräuber überlegte und schüttelte dann den
Kopf. »Ich glaube nicht, Richard. Wenn er singt, bekommt Sykes
alles in die Finger. Wir müssen den Jockey überzeugen, dass wir nur
wenig haben. Herrgott, ich wünschte, wir hätten einen regelmäßigen
Besucher aus London! Hätten wir einen, könnten wir unseren Reichtum
damit erklären. Du hast übrigens Recht mit dem Wasser - es ist
faulig. Meine Gefährten und ich werden an Haferbreitagen Dünnbier
trinken müssen. Ich wette, dieser William Stanley aus Seend kann es
uns besorgen.«
Richard schlug sich mit der Hand an den Kopf. »Jem
Thistlethwaite!«, rief er. »Ich glaube, das mit dem Besucher kann
ich deichseln, Ike. Glaubst du, dass ich über Stanley einen Brief
schicken kann?«
»Gegen entsprechendes Entgelt sicher.«
Als Richard und seine Gruppe am nächsten Morgen an
Deck geführt wurden, begriffen sie, warum die Verlegung aus dem
Orlopdeck in Etappen erfolgte. Der Ceres standen zwar einige
Leichter zur Verfügung, doch reichten diese nicht annähernd aus, um
alle Männer gleichzeitig an ihre Arbeitsplätze zu transportieren.
Wenigstens war kein Arbeitsplatz weiter als fünfhundert Meter von
der Ceres entfernt, doch musste die Strecke über Wasser
zurückgelegt werden. Die Ruderer legten sich eifrig ins Zeug, weil
diese Arbeit erheblich besser war als andere Arbeiten. Als
Sträflinge der Censor wurden sie an die Unterseite der
Dollborde gekettet. Richard hätte gern gewusst, warum sie nicht
einfach ans Ufer ruderten und flohen. Später erfuhr er, dass das
früher vorgekommen war, dass man die Sträflinge jedoch immer
eingefangen und manchmal sogar gehängt hatte.
Der Hauptvorteil von »Campbells Anstalten«, wie die
Gefangenenschiffe von ihren Insassen genannt wurden, lag darin,
dass sie von Wasser umgeben waren. Nur wenige Engländer konnten
schwimmen. Deshalb blieb auch eine zum Dienst gepresste Mannschaft
an Bord eines Schiffes, sobald es ausgelaufen war. Weder Richard
noch seine elf Freunde konnten schwimmen. Sie hatten schreckliche
Angst vor tiefem Wasser.
Richard hatte Hunger, obwohl er sich Brot und Käse
zur Hälfte für morgens aufgehoben hatte. Das mit bitteren Kräutern
gewürzte halbe Pint Haferschleim schlürfte er hinunter, sobald er
es bekam. Es war zwar schon kalt, aber zwölf Stunden später
schmeckte es sicher noch schlechter. Oberaufseher Hubbard hatte
wenigstens erkannt, dass hart arbeitende Männer genug essen
mussten, um bei Kräften zu bleiben. Richard begriff nach nicht
einmal einem Tag auf der Ceres, dass diesem Mr Duncan
Campbell, der viel eigenmächtiger schaltete und waltete als
Hubbard, die Qualität der Arbeit völlig gleichgültig war.
Die für die Arbeit am Ufer vorgesehenen Sträflinge
waren bereits fort, als Richards Leichter ablegte und die Besatzung
von vier Baggerbooten eine kurze Strecke flussabwärts und in
Richtung Ufer beförderte. Richards Baggerboot, an beiden Enden
doppelt mit Ketten vertäut, war das Erste der vier. Das Boot war
rechteckig
und hatte einen vollkommen flachen Boden. Es besaß weder Bug noch
Heck, doch wölbte sich der Rumpf an beiden Enden aus dem Wasser,
sodass man es auf Grund setzen und beim Entladen hinaus- und
hineinklettern konnte. Da es neu war, war das Bootsinnere leer und
die Farbe noch tadellos.
Sie stiegen über das Dollbord des Leichters auf
eine anderthalb Meter breite hölzerne Plattform an der Seite des
Kahns. Kaum war Jimmy Price als Letzter ausgestiegen, legte der
Leichter schon wieder ab und steuerte auf das nächste, rund fünfzig
Meter entfernte Baggerboot zu. Mit grüßend erhobener Hand sahen sie
Ike und seinen Jungs nach, dann begannen sie, die Umgebung zu
inspizieren. Ein Ende des Kahns hatte ein breites Deck, auf dem
eine kleine Holzhütte mit einem eisernen Schornstein stand. Der
Aufseher hatte die Ankömmlinge schon bemerkt und war aus der Hütte
getreten. Er zog an einer Pfeife und hielt einen Knüppel in der
Hand.
Er musterte die Sträflinge. »Ihr seid neu auf der
Ceres.« Als niemand sich anschickte, die Bemerkung zu
kommentieren, sagte er wie zu sich selbst: »Ihr seid nicht mehr die
Jüngsten, aber ihr seht sehr kräftig aus. Vielleicht hole ich noch
ein paar Tonnen Ballast aus euch raus, bevor eure Kräfte
nachlassen. Hat jemand von euch schon einmal auf einem Baggerboot
gearbeitet?«
»Nein, Sir«, antwortete Richard.
»Dachte ich mir. Kann jemand schwimmen?«
»Nein, Sir.«
»Lügt nicht, Kameraden.«
»Wir lügen nicht, Sir. Dort, wo wir herkommen, kann
fast keiner schwimmen.«
»Muss ich erst einen von euch ins Wasser werfen, um
ganz sicher zu sein?« Der Aufseher trat plötzlich auf Jimmy zu, der
vor Angst aufschrie, dann machte er dasselbe mit den anderen und
sah ihnen dabei in die Augen. »Ich glaube euch«, sagte er
schließlich. Er kehrte zu seiner Hütte zurück, verschwand drinnen
und kam mit einem Stuhl wieder heraus. Er setzte sich, schlug die
Beine übereinander und blies eine köstlich duftende Wolke in ihre
Richtung. »Ich heiße Zachariah Partridge, für euch Mister
Partridge. Ich bin Methodist, daher der Name, und habe schon als
Jugendlicher
in Skegness am Wash auf einem Baggerboot gearbeitet. Ich wollte
eigentlich Männer aus Lincoln, aber der Westen ist auch nicht übel.
Kommt jemand von euch aus Bristol oder Plymouth?«
»Drei kommen aus Bristol, Mr Partridge - ich,
Richard Morgan, und Will Connelly und Neddy Perrott.« Richard
zeigte auf die beiden Männer. »Taffy Edmunds kommt von der
walisischen Küste, Bill Whiting und Jimmy Price sind aus
Gloucester.«
»Dann kennt ihr euch ja ein wenig mit der See aus.«
Zachariah Partridge lehnte sich zurück. »Ziel dieser Einrichtung
hier ist es, mit diesem Eimer« - er deutete mit der Hand auf etwas,
das wie eine riesige, weit geöffnete Geldbörse aussah - »Schlamm
aus dem Fluss zu baggern und dadurch die Fahrrinne zu vertiefen.
Der Eimer läuft an einer Kette. Die Kette liegt jetzt vor euren
Füßen, aber mit dem Eimer kommt sie bis zu den Hüften hoch. Sie
kann je nach Wassertiefe verkürzt oder verlängert werden. Für hier
ist sie genau eingestellt, von mir persönlich.«
Mr Zachariah Partridge genoss seine Rede sichtlich,
doch schien er kein boshafter Mensch zu sein. »Ihr fragt euch
vielleicht, warum gerade diese Stelle? Weil, Kameraden, das
Königliche Zeughaus da drüben die gesamte Armee mit Nachschub
versorgt und es bei weitem nicht genug Anlegestellen für die
Transportschiffe gibt. Eure Verbrecherkollegen am Ufer bauen die
neuen Kais. Sie legen dafür den Sumpf trocken. Wir Baggerarbeiter
versorgen sie mit Sand, den sie natürlich mit Steinen, Kies und
Kalk mischen müssen, sonst würde alles wieder im Fluss
landen.«
»Danke für die Erläuterung, Mr Partridge«, sagte
Richard.
»Die meisten erklären nie was, oder?« Mr Partridge
zeigte wieder auf den riesigen Geldbeutel. »Der Eimer taucht an
meinem Ende ins Wasser ein und kommt am anderen Ende, wo der Davit
unten ist, wieder hoch. Wenn ihr eure Arbeit richtig macht, enthält
er dann fünfundzwanzig Kilo Schlamm und Unrat - grässlich, was da
zum Teil hochkommt! Der Schleppkahn hier fasst siebenundzwanzig
Tonnen Ballast, wie wir Baggerarbeiter sagen. Ihr müsst also
tausendeinhundert Eimer raufholen, um ihn zu füllen. Da es Winter
ist, werdet ihr sechs Stunden arbeiten - zwei Stunden gehen durch
das Bringen und Abholen verloren. Ein guter Arbeitstag
bringt mir zwanzig Eimer, also eine halbe Tonne. Wenn man die
Sonntage abzieht« - er ist gebildet und kann rechnen, dachte
Richard - »und einen weiteren Tag pro Woche wegen schlechten
Wetters einkalkuliert, zumindest in dieser Jahreszeit, müsstet ihr
den Kahn in etwa zehn Wochen voll haben. Wenn er voll ist, wird er
zum Ufer geschleppt, wo ihr die Ladung löscht. Dann wird er an eine
andere Stelle gezogen und ihr fangt wieder von vorne an.«
Er liebt Fakten und Zahlen. Er ist Methodist, ein
Anhänger John Wesleys, er kommt nicht aus London und er hat Freude
an seiner Arbeit - vor allem, weil er keinen Finger krumm machen
muss. Wie können wir seine Zuneigung gewinnen oder, sollte das
nicht gelingen, wenigstens seine Anerkennung? Schaffen wir das
Arbeitspensum, das er von uns erwartet? Wenn nicht, wird er uns das
womöglich spüren lassen. Aber er ist kein Unmensch.
»Dürfen wir mit Ihnen reden, Mr Partridge? Dürfen
wir zum Beispiel Fragen stellen?«
»Gebt mir, was ich von euch verlange, Morgan, und
ihr habt von mir nichts zu befürchten. Das heißt aber nicht, dass
ich euch mit Samthandschuhen anfasse. Ich könnte dir mit diesem
Knüppel den Arm brechen, doch will ich das nicht, aus einem guten
Grund. Mr Campbell soll eine gute Meinung vor mir haben, und dazu
muss ich Ballast produzieren. Ich habe den neuen Bagger bekommen,
weil mein Kahn immer am meisten Ballast produziert hat. Wenn ihr
mir helft, helfe ich euch vielleicht auch.« Mr Partridge stand auf.
»Jetzt erkläre ich euch, was ihr zu tun habt und wie ihr es
tut.«
Es dauerte eine ganze Woche, bis sich die Häftlinge
an die Arbeit gewöhnt hatten. In dieser Zeit sah Mr Partridge nicht
einmal annähernd die erhoffte halbe Tonne pro Tag. Er rechnete mit
einem Eimer alle zwanzig Minuten, die neue Mannschaft benötigte
dazu eine Stunde. Doch Mr Partridge sagte und tat nichts. Er saß
nur auf seinem Stuhl und zog an seiner Pfeife. Neben seinen Füßen
stand ein Krug Rum. Entweder er betrachtete nachdenklich seine
schuftende Mannschaft oder der rege Verkehr auf dem großen Fluss
beanspruchte seine Aufmerksamkeit. Ein Beiboot war mit einer
Fangleine am Kahn befestigt, was vielleicht bedeutete, dass
Mr Partridge am Ende des Tages selbst ans Ufer ruderte. Allerdings
schien er zumindest einige Nächte an Bord zu verbringen, denn er
kaufte von zwei der zahlreichen Proviantboote, die mit ihrer Ware
den Fluss befuhren, Holz für seinen Ofen und Vorräte für seine
Speisekammer. Rum und Ale stammten von einem dritten
Proviantboot.
Es gab diverse Kniffe und Tricks, wie die
Mannschaft im Verlauf der Arbeit feststellte. Der Eimer neigte
dazu, vom Grund des Flusses abzuheben, und musste mit einer Stange
drunten gehalten werden. Diese wiederum musste genau an der
richtigen Stelle ansetzen, was viel Fingerspitzengefühl erforderte,
da im Wasser wegen des aufgewühlten Schlamms nichts zu sehen war.
Drei Männer arbeiteten am Davit, mit dem der Eimer über den Boden
gezogen wurde, ein Mann an dem Seil, mit dem der Eimer zuletzt
geleert wurde, einer an der Winde, um die die Kette lief, und einer
an der Stange, die den Eimer unten hielt. Für den Davit mussten die
Männer ihre gesamte Kraft aufbieten, doch auch der Mann an der
Stange musste stark und außerdem geschickt sein. Da Mr Partridge
keinerlei Anweisungen erteilte, musste Richard die Mannschaft
selbst zusammenstellen. Jimmy Price kam an die Winde, die am
wenigsten Kraft erforderte. Bill, Will und Neddy bedienten den
Davit, Taffy das Seil und Richard selbst die Stange.
Ganz allmählich konnten sie das Tempo steigern und
ebenso die Ballastmenge im Eimer. Als sie eine Woche nach
Arbeitsbeginn bei zwanzig Eimern am Tag angelangt waren, stiftete
Mr Partridge sechs Humpen Dünnbier, ein Stück Butter und sechs
frische, je ein Pfund schwere Hefebrotlaibe.
»Ich wusste von Anfang an, dass ihr es schafft.
Lass die Leute ihren eigenen Weg finden, sage ich immer. Ich
bekomme eine Prämie von fünf Pfund für jede Ladung Ballast, die ich
abliefere. Eine Hand wäscht die andere. Liefert mir mehr als
zwanzig Eimer am Tag, und ihr bekommt von mir ein Mittagessen -
jeder ein Quart Dünnbier und ein Pfund frisches Brot. Ihr habt in
der letzten Woche abgenommen, das geht nicht. Es heißt, dass ich
mich um meine Leute kümmere.« Er rieb sich nachdenklich die Nase.
»Aber ich kann euch nicht jeden Tag ein Mittagessen
besorgen.«
»Wir könnten vielleicht was beisteuern«, sagte
Richard. »Als Bristoler kenne ich den Tabak, den Sie rauchen -
Ricketts. Muss schweineteuer sein in Woolwich, auch in London,
möchte ich behaupten. Ich könnte Ihnen den Tabak billiger
beschaffen, Mr Partridge, Sie müssen mir nur eine Adresse geben.
Denn wenn er an die Ceres geschickt wird, reißt ihn sich Mr
Sykes unter den Nagel.«
»Gut, gut!« Mr Partridge schien interessiert. »Gebt
mir nur einen Schilling am Tag, und ich sorge für ein Mittagessen.
Und schicke den Tabak an das Ducks and Drakes in Plumstead.«
Das Schlimmste an der Arbeit war der Schmutz. Die
Männer waren von Kopf bis Fuß von schwärzlichem, stinkendem Schlamm
bedeckt.
Der Schlamm klebte auch an der Kette, die in
Hüfthöhe entlang der Plattform lief, er tropfte vom Eimer und
spritzte überallhin, wenn der Eimer geleert wurde. Am Ende der
ersten Woche war der neue Kahn von den alten Kähnen nicht mehr zu
unterscheiden.
Wenigstens waschen konnten sie sich, was sie auch
jeden Abend gleich nach ihrer Rückkehr auf die Ceres
gründlich taten. Für die, die nicht aus Bristol kamen, war der
Anblick dessen, was aus der Themse zu Tage gefördert wurde, so
fürchterlich, dass sie Richards Beispiel folgten: Sie zogen sich
vor der Pumpe aus und wuschen sich mitsamt der schmutzigen Ketten
und Fußfesseln. Mit William Stanley aus Seend hatten sie die
Vereinbarung getroffen, dass Mikey tagsüber ihre Kleider wusch. Und
dank dem gewieften schottischen Unternehmer Mr Duncan Campbell
wurden gleich alle Kleider gewaschen.
Der ehrenwerte Mr Campbell hatte nämlich vier Tage
nachdem die Männer aus Gloucester eingetroffen waren, an die
Bewohner seiner Anstalt neue Kleider ausgegeben, was er ungefähr
einmal im Jahr tat: zwei Paar Hosen aus grobem Leinen, zwei
karierte Leinenhemden und eine ungefütterte Leinenjacke. Die Hosen
kratzten an den Nähten zwar wie Sägeblätter, aber sie bedeckten,
wie die Männer aus Gloucester erfreut feststellten, auch die
Knöchel, nur Richard und Ike waren sie etwas zu kurz. Ike war recht
hager geworden, aber da sie neu auf der Ceres waren, hatte
es niemand außer seinen Gefährten aus Gloucester bemerkt. Und als
er
von Stiefeln auf Schuhe umstellte, verlor niemand ein Wort
darüber.
Mit den Hosen brauchten die normal großen Männer
ihre Fußfesseln nicht mehr zu polstern. Ebenso wenig mussten sie
Strümpfe tragen, um die eisigen Themsewinde fern zu halten.
Richard, der dank Lizzie Lock die Kunst des Nähens beherrschte,
konnte mit Stoff von Jimmys zu langen Hosenbeinen seine eigenen
verlängern. Und Ike zahlte Stanley einen Becher Gin für seine
Reste, welche Richard ihm dann annähte. Was für eine großartige
Erfindung Hosen doch waren! Die Hosen der Sträflinge waren
rostbraun, strapazierfähig, hervorragend zu waschen und anders
geschnitten als Breeches, die nur bis zu den Knien reichten.
Breeches hatten vorne einen breiten Latz, der von Knöpfen entlang
des Hosenbunds gehalten wurde. Hosen dagegen öffnete man an einem
vorn angebrachten senkrechten Saum mit Knöpfen, was das Pinkeln
ungemein erleichterte.
Mr James Thistlethwaite kam am zweiten Sonntag nach
ihrer Verlegung auf die Ceres. An der Tür schüttelte er Mr
Sykes herzlich die Hand. Dann trat er über die Schwelle und starrte
fassungslos auf das leuchtend rote Gefängnis.
»Jem!«, rief Richard.
Sie umarmten sich ausgiebig und traten dann einen
Schritt zurück, um sich gegenseitig zu betrachten. Fast zehn Jahre
waren ins Land gezogen, seit sie sich zum letzten Mal gesehen
hatten, und in diesen zehn Jahren hatten sich beide Männer stark
verändert.
Mr Thistlethwaite machte einen gepflegten,
wohlhabenden Eindruck, fand Richard. Sein weinroter Anzug war aus
feinstem Tuch, die Knöpfe aus Mohair, auf dem Kopf trug er eine
Perücke, den Hut säumte eine goldene Borte, die Uhrenkette bestand
ebenso wie die Uhr aus Gold, die kniehohen Stiefel glänzten
tiefschwarz. Sein Bauch war nobel gerundet und das Gesicht voller
und daher weniger faltig als früher, auch wenn die vom Grog zum
Blühen gebrachte Knollennase jetzt purpurrot leuchtete. Der Blick
seiner wässrig blauen, blutunterlaufenen Augen war voller Liebe auf
sein Gegenüber gerichtet.
Mr Thistlethwaite sah in Richard zwei verschiedene
Männer,
die jeweils für kurze Augenblicke zum Vorschein kamen. Der alte
Richard und der neue, untrennbar miteinander verbunden. Herrgott,
wie gut er aussah! Wie hatte er das fertig gebracht? Die
Stoppelhaare schienen noch dunkler zu sein als seine früher ohnehin
schon dunklen Haare, und die Haut, obgleich tief gebräunt, war so
makellos wie Elfenbein. Er war rasiert und sauber, und das an der
Brust aufgeknöpfte Sonntagshemd zeigte seinen muskulösen
Oberkörper. Spürte er die Kälte nicht? Denn obwohl es in dem
blutroten Kerker eiskalt war, trug Richard keinen Mantel und schien
sich wohl dabei zu fühlen. Auch seine Schuhe und Strümpfe waren
sauber. Nur die Fußfesseln! Ketten an einem so geduldigen und
friedfertigen Menschen wie Richard Morgan. Der Gedanke war
unerträglich. Am meisten verändert hatten sich die graublauen
Augen. Sie waren immer ein wenig verträumt gewesen, sanft und von
einem heiteren Ernst beseelt. Davon war nichts mehr zu spüren.
Bestimmt und wach sahen sie ihn an.
»Richard, wie erwachsen du geworden bist!
Ich hatte mit allen möglichen Veränderungen gerechnet, aber nicht
damit.« Mr Thistlethwaite kniff sich in den Nasenrücken und
zwinkerte mit den Augen.
»William Stanley, das ist Mr James Thistlethwaite«,
sagte Richard zu einem verhutzelten Männlein neben ihm. »Jetzt
macht uns Platz und lasst uns einen Augenblick in Ruhe. Ich stelle
euch später vor.« An Jem gewandt, fügte er hinzu: »Privatsphäre ist
an Bord der Ceres absolute Mangelware, aber nicht unmöglich.
Setz dich doch!«
»Du bist ja der Anführer!«, sagte Jem
erstaunt.
»Nein, ich weigere mich, es zu sein. Ich muss nur
manchmal etwas energisch auftreten, aber das müssen hier alle. Ein
Anführer muss reden und auftreten können, und ich bin hier kein
größerer Redner als in Bristol. Ich möchte auch gar niemanden
anführen außer mir selbst, nur manchmal muss ich es, Jem. Sie sind
manchmal wie Schafe und ich will nicht, dass sie geschlachtet
werden. Außer Will Connelly, der ebenfalls Colstons Knabenschule
besucht hat, sind sie nicht im Stand, ihren Verstand zu gebrauchen.
Und für den Unterschied zwischen Will Connelly und mir ist im
Grunde Vetter James, der Apotheker, verantwortlich. Hätte ich ihn
nicht gekannt und wäre er nicht so gut zu mir gewesen, gäbe es den
Richard Morgan nicht, den du vor dir siehst. Ich wäre wie die armen
Iren aus Liverpool dort drüben ein Fisch auf dem Trockenen.«
Richard lächelte und ergriff Mr Thistlethwaites Hand. »Aber jetzt
erzähl mir von dir. Du siehst prächtig aus.«
»Ich kann es mir leisten, prächtig auszusehen,
Richard.«
»Hast du reich geheiratet wie ein echter
Bristoler?«
»Nein. Doch verdiene ich mein Geld tatsächlich mit
Frauen. Vor dir steht ein Mann, der - natürlich unter Pseudonym -
Romane zur Erbauung der Damenwelt schreibt. Die Lektüre von Romanen
ist die neueste Passion der Frauen, was wohl daher kommt, dass man
ihnen das Lesen beibringt, sie aber nichts tun lässt. In Buchläden,
Zeitschriften und Leihbüchereien habe ich mit meinen
Fortsetzungsromanen erstaunlicherweise mehr Erfolg als seinerzeit
mit meinen Satiren. In jedem Pfarrhaus, Gutshaus und Hotel gibt es
lesende Damen. Mein Publikum erstreckt sich über ganz
Großbritannien, da in Schottland und Irland ebenfalls fleißig
gelesen wird. Sogar in Amerika habe ich Leser.« Er schnitt eine
Grimasse. »Ich trinke jedoch keinen Cave-Rum mehr, ja eigentlich
trinke ich überhaupt keinen Rum mehr, sondern nur noch
erstklassigen französischen Kognak.«
»Bist du überhaupt verheiratet?«
»Auch nicht. Ich habe zwei Mätressen, beide mit
anderen, unbedeutenderen Männern verheiratet. Aber genug von mir.
Ich will von dir hören, Richard.«
Richard zuckte die Achseln. »Da gibt es nicht viel
zu berichten, Jem. Ich war drei Monate im Bristol Newgate, dann
genau ein Jahr in Gloucester, und jetzt bin ich seit zwei Wochen an
Bord der Ceres. Wie lange ich hier bleiben werde, ist
ungewiss. In Bristol habe ich hauptsächlich gelesen, in Gloucester
Steine geschleppt. Auf der Ceres baggere ich den Themsegrund
aus, eine Kleinigkeit für jemanden, der mit dem Schlamm im Hafen
von Bristol aufgewachsen ist. Trotzdem ist es für uns alle schlimm,
wenn wir die Leiche eines Babys heraufholen.«
Dann kamen sie auf wichtige finanzielle Fragen zu
sprechen.
»Sykes wird keine Schwierigkeiten machen«, sagte
Jem. »Ich habe ihm eine Guinee zugesteckt, und er machte daraufhin
Männchen wie jeder andere Straßenköter. Sei also guten Mutes. Ich
werde mit Mr Sykes eine Vereinbarung treffen, damit du dir an Essen
und Trinken kaufen kannst, was du brauchst. Dasselbe gilt für deine
Freunde. Du siehst zwar gut aus, bist aber dürr wie eine
Bohnenstange.«
Richard schüttelte den Kopf. »Kein zusätzliches
Essen, Jem, und nur Dünnbier. Hier drinnen leben knapp hundert
Männer. Alle beobachten mit Argusaugen, wie viel die
Proviantmeister an die anderen Häftlinge ausgeben. Wir sparen unser
Geld und werden bei Bedarf auf dich zurückkommen. Immerhin hatten
wir das Glück, einem ehrgeizigen Baggerführer zugeteilt zu werden,
und die Themse ist voller Proviantboote. Folglich bekommen wir
mittags auf unserem Baggerboot für zwei Pennys eine ordentliche
Mahlzeit mit gesalzenem Fisch, frischem Obst und Gemüse. Auch Ike
Rogers und seine Leute konnten ihren Baggerführer für sich
einspannen.«
»Kaum zu glauben«, sagte Jem langsam, »du weißt
genau, was du willst, du scheinst geradezu Spaß an deiner Lage zu
finden. Das liegt sicher an der Verantwortung, die du hast.«
»Es ist der Glaube an Gott, der mir Kraft gibt.
Meinen Glauben habe ich nicht verloren, Jem. Für einen Sträfling
habe ich sehr viel Glück gehabt. Eine gewisse Lizzie Lock hat in
Gloucester auf meine Sachen aufgepasst und mir das Nähen
beigebracht. Sie war übrigens entzückt über den Hut, ich kann dir
gar nicht genug danken. Wir vermissen die Frauen, aus den Gründen,
die ich dir, wie ich mich entsinne, in einem meiner Briefe
erläuterte. Aber ich erfreue mich nach wie vor guter Gesundheit und
denke klarer denn je. Und wir konnten uns hier unter lauter
verrohten Menschen dank des habgierigen William Stanley und eines
ehrgeizigen Baggerführers, der Methodismus mit Rum, Tabak und
Faulheit verbindet, eine Nische schaffen. Die beiden sind komische
Gesellen, aber ich habe schon schlimmere erlebt.«
Der Filterstein stand auf dem Tisch neben Richard.
Wie abwesend streckte Richard die Hand aus und strich über ihn.
Gespanntes
Schweigen senkte sich über die Sträflinge, die dem Gespräch
Richards mit dem Besucher aus einiger Entfernung mit unverhohlener
Neugier folgten. Mr Thistlethwaite begriff nicht, wie Richard mit
seiner abwesenden Geste eine solche Reaktion hatte auslösen können.
Seine Neugier war geweckt.
»Die Habgier ist des Sträflings bester Freund, wenn
er kein Geld hat«, fuhr Richard fort und zog die Hand wieder
zurück. »Hier sind die Menschen um einiges billiger als dreißig
Silberlinge. Am meisten tun mir die Männer aus Northumbria und
Liverpool Leid. Sie besitzen zusammen nicht einen einzigen Penny.
Deshalb sterben sie meist an Krankheit oder aus Verzweiflung. Mit
einigen von ihnen scheint Gott allerdings etwas vorzuhaben - sie
überleben. Die Londoner über uns sind erstaunlich zäh und
verschlagen wie verhungernde Ratten. Ich habe den Eindruck, sie
leben nach ganz anderen Gesetzen. Vielleicht haben große Städte wie
Nationen eigene Mentalitäten. Allerdings glaube ich nicht die
Hälfte von dem, was auf unserem Deck über die Londoner erzählt
wird. Auf unserem Deck wohnt das restliche England. Die
Gefängniswärter sind käuflich und haben die seltsamsten Vorlieben.
Und dann gibt es noch Leute wie William Stanley aus Seend. Der
versucht hier rauszuholen, was rauszuholen ist. Und wir alle,
Hanks, Sykes, die großen und kleinen Gauner, Ganoven und Diebe und
die armen Teufel, die da drüben auf den Tischen verrecken, wir
stehen mit einem Fuß im Grab. Ein falscher Schritt und wir sind
weg.« Richard holte Luft. Er war selbst erstaunt, wie viel er
redete. »Kein vernünftiger Mensch würde das, was wir tun, als Spiel
bezeichnen, doch hat es einiges mit einem Spiel gemein. Man braucht
eine gehörige Portion Grips, aber auch Glück, um es zu bestehen.
Und ich gehöre offenbar zu den Glücklichen.«
Während Richard sprach, wurde Mr Thistlethwaite
plötzlich so manches klar, was er an Richard Morgan nie richtig
verstanden hatte. Richard hatte sich in Bristol immer willenlos von
anderen herumkommandieren lassen. Daran hatten auch
Schicksalsschläge und Katastrophen und sogar William Henrys Tod
nichts ändern können, bis Ceely Trevillian ihm den Boden unter den
Füßen weggezogen hatte. Im Gefängnis hatte Richard Leidensgenossen
kennen
gelernt, die gestrauchelt waren wie er, und er hatte sich ihrer
angenommen. Das Gefängnis hatte ihm ein Ziel gegeben, und er hatte
eine Kraft entwickelt, von der nicht einmal er selbst wusste, dass
er sie hatte. Er brauchte jemanden, den er mehr lieben konnte als
sich selbst, und so hatte er es auf sich genommen, seine
Schicksalsgenossen zu retten, die es mit ihm aus dem Gefängnis von
Gloucester in fremde, unwirtliche Gefilde verschlagen hatte.
Richard ist ein außergewöhnlicher Mensch, dachte Mr
Thistlethwaite, und so jemand wird aus England verbannt. Obwohl er
seine Fähigkeiten in England nie entfalten konnte. Aus dem
willenlosen Opfer wurde ein zielstrebiger Kämpfer, und ich werde
wahrscheinlich gar nicht mehr erleben, was noch alles aus ihm
wird.
Richard stellte seinen Freund den anderen
Sträflingen vor, dann setzten sich alle vierzehn - einschließlich
William Stanley aus Seend und Mikey Dennison -, um zu hören, was Mr
James Thistlethwaite ihnen über ihre Zukunft zu erzählen
hatte.
»Ursprünglich«, sagte der Unterhalter so vieler
gebildeter Damen Großbritanniens, »sollten die Sträflinge an Bord
der Ceres nach Lemaine kommen. Das ist meines Wissens eine
Insel inmitten eines großen afrikanischen Flusses, ungefähr so groß
wie die Insel Manhattan in New York. Dort wärt ihr auch zweifellos
innerhalb eines Jahres an einer Seuche gestorben. Ihr habt es
Edmund Burke zu verdanken, dass Lemaine und ganz Afrika von der
Liste möglicher Deportationsziele gestrichen wurden.
Unterstützt und ermutigt von Lord Beauchamp,
attackierte Burke im vergangenen März und April Mr Pitts Pläne,
England von seinen Strafgefangenen zu säubern. Es sei besser,
behauptete Burke, euch zu hängen, als an einen Ort zu verfrachten,
an dem der Tod sehr viel langsamer und qualvoller wäre. Ein
parlamentarischer Untersuchungsausschuss trat zusammen, und Mr Pitt
musste seine Afrikapläne begraben, wahrscheinlich für immer. In den
Mittelpunkt des Interesses rückte nun der Vorschlag eines Mr James
Matra, die Sträflinge in die Botany Bay in Neusüdwales zu schicken.
Lord Beauchamp hatte vor allem kritisiert, dass Lemaine
sich außerhalb englischen Territoriums befinde und überdies in
einem Gebiet, in dem Franzosen, Spanier und Portugiesen auf
Sklavenjagd gingen. Die Botany Bay dagegen liegt zwar außerhalb
englischen Territoriums, doch gehört sie auch nicht zum Territorium
eines anderen Staates. Warum also nicht zwei Fliegen mit einer
Klappe schlagen? Ihr kostet England viel Geld ohne eine
entsprechende Gegenleistung. Die Botany Bay wiederum könnte durch
euch erst mal einen Gewinn für England abwerfen.«
Richard zog ein Buch heraus und versuchte, der
Gruppe auf einer Karte von Captain Cook zu zeigen, wo die Botany
Bay lag. Allerdings waren nur wenige Männer so gebildet, dass sie
mit der Karte etwas anfangen konnten.
Mr Thistlethwaite kam ihm zu Hilfe. »Wie weit ist
es von London nach, sagen wir, Oxford?«
»Ziemlich weit«, meinte Willy Wilton.
»So um die fünfzig Meilen«, sagte Ike Rogers.
»Dann ist die Botany Bay zweihundertmal weiter von
London entfernt als Oxford. Wenn ein Fuhrwerk von London nach
Oxford eine Woche braucht, würde dasselbe Fuhrwerk für die Reise
von Oxford zur Botany Bay zweihundert Wochen brauchen.«
»Aber Fuhrwerke können nicht auf dem Wasser
fahren«, warf Billy Earl ein.
»Nein«, sagte Mr Thistlethwaite geduldig, »aber
Schiffe können es, und sie sind viel schneller als Fuhrwerke,
mindestens viermal so schnell. Das bedeutet, dass ein Schiff von
London zur Botany Bay ein Jahr braucht.«
»Wahrscheinlich nicht einmal so lange«, sagte
Richard stirnrunzelnd. »Du solltest das aus deiner Zeit in Bristol
wissen, Jem. Bei gutem Wind kann ein Schiff an einem einzigen Tag
knapp zweihundert Meilen zurücklegen. Selbst unter Berücksichtigung
der Zeit, die das Schiff unterwegs in Häfen liegt oder die es durch
ungünstige Winde und durch Flauten verliert, dauert die Reise
womöglich nur ein halbes Jahr.«
»Haarspaltereien, Richard. Ob die Reise nun ein
halbes oder ein ganzes Jahr dauert, die Botany Bay liegt nicht nur
am anderen Ende der Welt, sondern auch an deren Unterseite. Und
jetzt habe
ich genug. Ich muss gehen.« Plötzlich müde geworden, stand Mr
Thistlethwaite auf.
Gut, dass sie dem geduldigen Richard zur Last
fallen und nicht mir, dachte er. Er schlug laut an die Tür, um
hinausgelassen zu werden. Ich hätte schon längst die Partei Edmund
Burkes ergriffen und den ganzen Haufen hängen lassen. Was sollen
sie in der Botany Bay? Dort können sie doch nur noch
verzweifeln.
Der Dienst habende Wärter öffnete die Tür. »Lebt
wohl!«, rief Mr Thistlethwaite. »Wir werden uns bald wieder
sehen!«
»Ein feiner Mann, dieser Mr Thistlethwaite«, sagte
Bill Whiting und setzte sich auf den frei gewordenen Platz neben
Richard. »Ist das dein Londoner Informant, Schätzchen?«
Richard zuckte zusammen, als er den alten
Spitznamen hörte. »Nenn mich nicht so, Bill«, sagte er ein wenig
traurig. »Es erinnert mich an die Frauen im Gefängnis von
Gloucester.«
»Tut mir Leid.« Bill hatte viel von seiner früheren
Munterkeit verloren. Witzbolde waren auf der Ceres nicht
gern gesehen. Etwas anderes fiel ihm ein. »Ich dachte anfangs,
Stanley aus Seend würde einer von uns werden, aber er gibt sich nur
mit uns ab, weil er scharf auf unser Geld ist.«
»Was erwartest du, Bill? Du und Taffy, ihr habt
lebende Tiere geklaut. Stanley aus Seend hat einem toten das Fell
abgezogen. Er wird wehrlose Opfer immer nach Kräften
schröpfen.«
»Hm«, sagte Bill mit einem nachdenklichen Blick,
der schlecht zu seinem aufgeweckten, runden Gesicht passen wollte.
»Wenn nur zur Hälfte stimmt, was du und Mr Thistlethwaite gesagt
habt, ist es zur Botany Bay eine lange Fahrt. Stanley könnte ein
Stück Holz auf den Kopf fallen. Und wäre es nicht eine Genugtuung,
wenn Mr Sykes vor unserer Abfahrt einen Unfall hätte?«
Richard packte ihn an den Schultern und schüttelte
ihn. »An solche Dinge denkt man nicht, Bill, und sagen tut man sie
erst recht nicht! Es gibt für uns nur eine Möglichkeit, dieser
Hölle zu entrinnen: Wir müssen sie ertragen, ohne die
Aufmerksamkeit derer zu erregen, die unser Elend noch vergrößern
könnten. Hasse sie von mir aus, aber ertrage sie. Alles hat
irgendwann ein Ende, auch die Ceres und früher oder später
die Botany Bay. Wir sind nicht
mehr jung, aber auch noch nicht alt. Begreift ihr denn nicht? Wer
überlebt, gewinnt! Nur das darf uns interessieren.«
Und so verstrich die Zeit. Immer wieder tauchte
der Eimer des Baggerbootes in das Wasser der Themse ein. Stinkende
Schlammhaufen wuchsen empor. Auch das Orlopdeck der Ceres
stank und die Leichen, die einmal in der Woche auf einem Stück
Ödland in der Nähe von Woolwich beerdigt wurden, das Mr Duncan
Campbell eigens zu diesem Zweck erworben hatte. Neue Gefangene
trafen ein, andere starben und wurden zur Beerdigung
abtransportiert, darunter allerdings niemand aus Richards oder Ike
Rogers’ Gruppe.
Zwischen den Insassen des Orlopdecks entwickelte
sich eine gewisse, aus der gemeinsamen Not geborene Kameraderie, am
schwächsten ausgeprägt zwischen Gruppen, die sich auf Grund ihrer
verschiedenen Dialekte kaum verständigen konnten. Nach sieben
Monaten kannte man die anderen Gesichter. Man nickte einander zu
und tauschte Klatsch und Neuigkeiten und bisweilen simple
Höflichkeiten aus. Es gab Kämpfe, einige davon erbittert, und es
gab Denunzianten und Opportunisten wie William Stanley aus Seend,
und gelegentlich starb jemand eines gewaltsamen Todes.
Wie in jeder Zwangsgemeinschaft ganz verschiedener
Menschen kristallisierte sich nach einer Weile ein Beziehungsgefüge
heraus. Richard und Ike Rogers hielten die anderen Gruppen durch
ihre monatlich wiederholten händelschen Gesänge und hippokratischen
Anrufungen auf Distanz, doch waren sie zugleich nicht unbeliebt.
Sie waren weder Schläger und Tyrannen noch ließen sie sich von
anderen herumkommandieren. Leben und leben lassen lautete ihre
Devise, die für das Leben an Bord gut geeignet schien.
Mr Zachariah Partridge sah keinen Grund, seine
Meinung über die Baggermannschaft zu ändern. Als die Tage länger
wurden und die Arbeitsstunden zunahmen, bekam er die Prämie von
fünf Pfund pro Ladung häufiger, als er sich hatte träumen lassen.
Die Sträflinge schienen alles darauf anzulegen, durch Arbeit und
richtige Ernährung bei Gesundheit zu bleiben.
Er wusste wie alle auf dem viel befahrenen Fluss,
dass die Sträflinge zur Botany Bay deportiert werden sollten, und
behandelte sie deshalb großzügig. Schließlich würde er, wenn sie
fahren mussten, kaum noch einmal eine auch nur halb so gute
Mannschaft bekommen. Der Ricketts-Tabak war zusammen mit einem
Fässchen besten Rums eingetroffen. Wenn Richard und seine Männer
die Dienste eines der Proviantboote in Anspruch nehmen wollten, die
hin und wieder besondere Waren verkauften, ließ er sie gewähren,
vorausgesetzt, die Arbeit geriet darüber nicht in Verzug.
Fasziniert beobachtete er, wie die Sträflinge Kleider aus
Segeltuch, Seife, Schuhe, Scheren, Rasiermesser, Streichriemen,
Wetzsteine, Staubkämme, Teeröl, Malzextrakt, Unterhosen, dicke
Strümpfe, Salben, Bindfaden und feste Säcke kauften.
»Ihr seid ja verrückt«, bemerkte er. »Die Botany
Bay ist doch nicht die Arche Noah.«
»Doch«, antwortete Richard ernst, »das ist ein
guter Vergleich. Ich glaube nicht, dass es dort Proviantboote
gibt.«
Jem Thistlethwaite besuchte sie, sobald er etwas
Neues erfuhr. Ende August konnte er ihnen mitteilen, Lord Sydney
habe das Schatzamt in einem offiziellen Schreiben davon in Kenntnis
gesetzt, dass 750 Sträflinge in eine neue Kolonie in Neusüdwales
gebracht werden sollten, voraussichtlich in die Botany Bay. Die
Sträflinge stünden unter Aufsicht der Königlichen Marine Seiner
Majestät und würden von drei Kompanien Seesoldaten bewacht, die
sich von der Ankunft in Neusüdwales an gerechnet für drei Jahre
verpflichten müssten.
»Sie werden euch nicht einfach an der Küste
aussetzen«, sagte Mr Thistlethwaite, »so viel scheint sicher. Im
Innenministerium wird eure Versorgung minuziös geplant. Doch werden
nur männliche Sträflinge deportiert. Frauen sollen von benachbarten
Inseln geholt werden, sicher auf dieselbe Weise, wie die Römer sich
einst auf dem Quirinal Frauen von den Sabinern beschafften. Was
mich daran erinnert, dass ich euch noch die vorliegenden Bände von
Gibbons Verfall und Untergang des Römischen Reiches mitgeben
muss.«
»Herrje!«, rief Bill Whiting. »Indianerinnen! Was
für welche
denn? Es gibt sie in allen Variationen von Schwarz über Rot bis
Gelb, und schön wie Venus oder hässlich wie Medusa.«
Im Oktober berichtete Mr Thistlethwaite jedoch,
dass es keine Indianerinnen geben würde. »Das Parlament war nicht
eben erfreut über die Anspielung auf den Raub der Sabinerinnen.
Schließlich würden die Indianer ihre Frauen nicht verschenken oder
verkaufen. Die Moralapostel jubelten. Weibliche Gefangene werden
also ebenfalls verschifft - wie viele, weiß ich nicht. Vierzig
Seesoldaten nehmen ihre Frauen und Familien mit, deshalb sollen
auch verheiratete Männer und Frauen, die beide im Gefängnis sitzen,
zusammen gehen. Solche Fälle gibt es offenbar.«
»Wir kannten ein Paar in Gloucester«, sagte
Richard. »Bess Parker und Ned Pugh. Ich habe keine Ahnung, was aus
ihnen geworden ist. Wer weiß, vielleicht kommen sie ebenfalls mit,
wenn sie noch leben…Doch es wäre gemein, Männer wie Ned Pugh und
Frauen wie Lizzie Lock zu deportieren, die nächstes Jahr schon fünf
von sieben Jahren abgesessen haben.«
»Mach dir keine Hoffnung auf Lizzie Lock, Richard.
Ich habe gehört, dass die zur Deportation bestimmten Frauen aus dem
Gefängnis von London geholt werden.«
Alle stöhnten auf.
Eine Woche später war ihr Informant schon wieder
da.
»Für Neusüdwales wurden ein Gouverneur und ein
Vizegouverneur ernannt, ein gewisser Captain Arthur Phillip von der
Königlichen Marine und ein Major Robert Ross von den Seesoldaten.
Da ihr unter Aufsicht der Marine steht, werdet ihr Bekanntschaft
mit der neunschwänzigen Katze schließen, ohne die es in der Marine
nicht zu gehen scheint und die sehr viel unangenehmer ist als ihr
vierbeiniger Namensvetter.« Mr Thistlethwaite erschauderte und
wechselte das Thema. »Es fanden noch weitere Ernennungen statt. Die
Kolonie bekommt keine gewählte Regierung, sondern untersteht dem
Seerecht. Es wird mehrere Ärzte geben und natürlich einen Kaplan -
wie könntet ihr ohne unseren guten englischen Gott leben? Im
Augenblick ist allerdings alles noch streng geheim und nicht
offiziell.«
»Wer ist dieser Gouverneur Phillip?«, fragte
Richard.
Mr Thistlethwaite brach in schallendes Gelächter
aus. »Bisher kennt ihn niemand, Richard. Lordadmiral Howe äußerte
sich sehr abschätzig über ihn, aber wahrscheinlich nur deshalb,
weil er selbst einen jungen Neffen für dieses Amt mit einem
Jahresgehalt von tausend Pfund vorgesehen hatte. Mein Informant ist
ein langjähriger Freund, Sir George Rose, Schatzmeister der
Königlichen Marine. Er berichtete mir, Lord Sydney habe diesen
Phillip nach einem ausführlichen Gespräch mit Mr Pitt persönlich
ausgewählt. Für Mr Pitt ist es sehr wichtig, dass das Experiment
gelingt, sonst wird die Gefängnisfrage noch zur Fußangel für sein
Kabinett - das Problem der vielen Sträflinge, für die nirgends
Platz ist und deren Zahl außerdem ständig steigt, drängt immer
mehr. Schwierig ist nur, dass die Deportation in den Köpfen der
eifernden Moralapostel mit der Sklaverei verknüpft ist. Wenn sie
also das eine kritisieren, ist das andere darin oft
eingeschlossen.«
»Es gibt Ähnlichkeiten«, bemerkte Richard trocken.
»Erzähl mir mehr von diesem Phillip, der über unser Schicksal
entscheiden wird.« Mr Thistlethwaite leckte sich die Lippen und
dachte sehnsüchtig an ein Gläschen Kognak. »Ein Niemand, wie schon
gesagt. Sein Vater, ein gebürtiger Deutscher, unterrichtete in
London Sprachen. Seine Mutter war die Witwe eines Kapitäns und eine
entfernte Verwandte von Lord Pembroke. Der Junge besuchte eine
Knabenschule der Marine ähnlich der Schule Colstons. Die Familie
war also arm. Nach dem Siebenjährigen Krieg wurde der junge Mann
auf halben Lohn gesetzt und diente mit Auszeichnung einige Jahre in
der portugiesischen Marine. Sein wichtigstes Kommando war ein
Schiff 4. Ranges der Königlichen Marine, mit dem er allerdings
nicht an Kämpfen teilnahm. Er wurde noch einmal verabschiedet und
übernahm jetzt das Gouverneursamt. Er ist weder jung noch besonders
alt.«
Will Connelly runzelte die Stirn. »Für mich klingt
das merkwürdig, Jem.« Er seufzte. »Das hört sich doch danach an,
als sei ganz egal, was mit uns in der Botany Bay passiert. Sonst
wäre der Gouverneur - na ja - ein Lord oder wenigstens ein
Admiral.«
»Nenn mir den Namen eines einzigen Lords oder
Admirals, der bereit wäre, für jämmerliche tausend Pfund im Jahr
ans andere
Ende der Welt zu gehen, Will, und ich biete dir die englische
Krone an.« Mr James Thistlethwaite grinste spöttisch, der Satiriker
regte sich in ihm. »So jemand macht höchstens eine Erholungsreise
zu den Westindischen Inseln. Was ist die Botany Bay denn?
Höchstwahrscheinlich eine Todesfalle. Niemand weiß genau, was einen
dort erwartet, auch wenn alle von einem Paradies sprechen, weil das
nichts kostet. Nur ein Niemand lässt sich als Gouverneur dort
hinschicken.«
»Du hast immer noch nicht gesagt, warum
ausgerechnet dieser Niemand«, sagte Ike.
»Sir George Rose schlug ihn ursprünglich vor, weil
Phillip ein, wie er sagte, tüchtiger und einfühlsamer Mensch sei.
Phillip ist auch insofern eine seltene Erscheinung in der
Königlichen Marine, als er fließend mehrere Sprachen spricht. Da
sein deutscher Vater Sprachlehrer war, hat Phillip das Talent für
Fremdsprachen wohl schon mit der Muttermilch eingesaugt. Er spricht
französisch, deutsch, holländisch, spanisch und
portugiesisch.«
»Was nützen uns diese Sprachen in der Botany Bay?«,
fragte Neddy Perrott. »Die Indianer sprechen sie nicht.«
»Gar nichts, aber auf der Fahrt dorthin sind sie
sehr hilfreich«, antwortete Mr Thistlethwaite, tapfer bemüht, nicht
die Geduld zu verlieren. Wie hielt Richard das bloß aus? »Unterwegs
sollen verschiedene Häfen angelaufen werden, und keiner davon ist
englisch. Teneriffa ist spanisch, Kap Verde portugiesisch, Rio de
Janeiro ebenfalls und das Kap der Guten Hoffnung holländisch. Das
ist eine heikle Sache, Neddy. Stell dir doch vor, was da passiert.
Eine Flotte von zehn bewaffneten englischen Schiffen läuft ohne
Ankündigung in einen Hafen ein und ankert. Der Hafen gehört zu
einem Land, gegen das wir Krieg geführt oder in dessen
Sklavengebieten wir gewildert haben. Mr Pitt hält es deshalb für
unabdingbar, dass die Flotte freundschaftliche Beziehungen zu den
Gouverneuren der jeweiligen Häfen herstellen kann. Und englisch
spricht man dort nicht.«
»Warum nehmen wir keine Dolmetscher mit?«, fragte
Richard.
»Um mit den Portugiesen und Spaniern über einen
Mittelsmann niedrigen Ranges zu verkehren? Mit den am stärksten auf
Etikette
bedachten Völkern der Welt? Und mit den Holländern, die den Teufel
übers Ohr hauen würden, wenn sie damit Profit machen könnten? Nein,
Mr Pitt besteht darauf, dass der Gouverneur selbst im Stande ist,
sich mit sämtlichen Gouverneuren zwischen England und der Botany
Bay zu unterhalten. Und da kam nur Captain Arthur Phillip in
Frage.« Er lachte boshaft gackernd. »Ha-ha-ha! Auf solche
Kleinigkeiten kommt es an, Richard. Denn es sind keine
Kleinigkeiten. Wenn alles vorbei ist, sind sie freilich wieder
vergessen. Wir stellen uns immer nur Männer wie Sir Walter Raleigh
vor - einen Aufschneider, Freibeuter und Freund der Königin. Eine
schwungvolle Geste mit dem Spitzentaschentuch, ein Schnuppern an
seiner Duftkugel, und alle liegen ihm zu Füßen. Aber diese Zeiten
sind vorbei. Unsere heutige Welt ist ganz anders, und wer weiß,
vielleicht hat dieser Niemand Captain Arthur Phillip ja genau die
Fähigkeiten, auf die es ankommt. Sir George Rose scheint es zu
glauben und Mr Pitt und Lord Sydney ebenfalls. Dass Lordadmiral
Howe anderer Meinung ist, ist unwichtig. Er mag Erster Seelord
sein, aber noch wird England nicht von der Königlichen Marine
regiert.«
Ende Dezember kam Mr Thistlethwaite mit weiteren
Nachrichten. Sein Publikum hatte sich enorm vergrößert, denn auf
Grund des ständigen Kontakts der Gefangenen untereinander konnten
inzwischen viel mehr Sträflinge Gesprächen folgen, die in einem
Englisch geführt wurden, das dem Englisch gedruckter Bücher nahe
kam.
»Die Ausschreibungen sind abgeschlossen«,
verkündete er seinen Zuhörern. »Und dabei gab es einige Tränen. Mr
Duncan Campbell glaubte, mit seinen Anstalten schon genug am Hals
zu haben, und gab überhaupt kein Angebot ab. Das billigste Angebot
der Herren Turnbull Macaulay und T. Gregory - siebeneindrittel
Pennys pro Tag und pro Nase - wurde abgelehnt, ebenso das der
Sklavenhändler Camden, Calvert & King. Lord Sydney hielt es für
unklug, mit dem ersten Transport eine Sklavenfirma zu beauftragen,
obwohl auch ihr Preis sehr günstig war. Den Zuschlag erhielt
deshalb ein Freund Mr Campbells namens William Richards junior. Er
bezeichnet sich selbst als Schiffsmakler, doch seine Interessen
gehen weit darüber hinaus. Er hat natürlich Partner und arbeitet
vermutlich eng mit Campbell zusammen. Die Seesoldaten, die euch
begleiten, sind übrigens nicht zu beneiden. Denn sie bekommen nicht
mehr zu essen als ihr, von einer täglichen Ration Rum und Mehl
abgesehen.«
»Wie viele von uns müssen gehen?«, fragte jemand
aus Lancaster.
»Fünf Truppentransporter werden rund
fünfhundertachtzig männliche und knapp zweihundert weibliche
Sträflinge befördern, außerdem zweihundert Seesoldaten plus vierzig
Ehefrauen und Kinder. Dazu kommen drei Versorgungsschiffe. Die
Königliche Marine ist durch ein Begleitschiff und ein bewaffnetes
Schiff vertreten, das als Flaggschiff der Flotte fungieren
wird.«
»Truppentransporter?«, fragte ein Mann aus
Yorkshire namens William Dring. »Was sind denn das für Schiffe? Ich
bin ein Matrose aus Hull, deshalb interessiert es mich.«
»Sie dienen hauptsächlich dazu, Truppen zu
Zielorten in Übersee zu befördern«, erklärte Richard ruhig. »Ich
glaube, es gibt in der Marine einige davon, allerdings müssen sie
inzwischen schon ziemlich alt sein. Sie beförderten die Truppen in
den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg und waren schon im
Siebenjährigen Krieg im Einsatz. Es gibt auch Transporter für den
Küstenverkehr, mit denen Soldaten innerhalb von England, Schottland
und Irland verlegt werden, doch die wären viel zu klein. Jem,
enthielt die Ausschreibung genauere Angaben zu den Schiffen?«
»Nur dass sie in tadellosem Zustand und für eine
längere Fahrt durch unbekannte Gewässer tauglich sein sollten. Sie
wurden von der Marine inspiziert, aber ich weiß nicht, wie
gründlich.« Mr Thistlethwaite holte tief Luft, dann beschloss er,
die volle Wahrheit zu sagen. Was hatte es für einen Sinn, den armen
Teufeln falsche Hoffnungen zu machen? »Dazu muss man natürlich
sagen, dass nur sehr wenige Angebote eingingen. Lord Sydney hatte
mit einem Angebot der Ostindischen Kompanie gerechnet, die die
besten Schiffe besitzt. Er wollte die Kompanie sogar damit ködern,
dass die Schiffe von der Botany Bay gleich nach Wampoa in China
weiterfahren könnten, um dort Tee an Bord zu nehmen. Doch die
Kompanie war nicht interessiert. Sie lässt ihre Schiffe lieber
über Bengalen nach Wampoa fahren, aus welchem Grund auch immer. Es
fehlte also an geeigneten Schiffen, und womöglich bestand die
Inspektion der Marine lediglich darin, aus einer Reihe von
schlechten Schiffen die besten herauszusuchen.« Mr Thistlethwaite
sah, wie sich Bestürzung auf die Gesichter seiner Zuhörer malte,
und bereute seine Offenheit. »Ihr braucht deshalb nicht zu
fürchten, dass die Schiffe, mit denen ihr fahrt, gleich untergehen
werden. Kein Reeder kann es sich leisten, seine Schiffe
leichtfertig aufs Spiel zu setzen, auch wenn sie noch so gut
versichert sind. Nein, ich wollte damit eigentlich etwas ganz
anderes sagen.«
Richard ergriff das Wort. »Ich weiß, was du sagen
wolltest, Jem. Dass unsere Transportschiffe Sklavenschiffe sind.
Warum auch nicht? Der Sklavenhandel ist zurückgegangen, seit man
uns nicht mehr nach Georgia und Carolina reinlässt, von Virginia
ganz zu schweigen. Deshalb stehen jede Menge Sklavenschiffe zur
Verfügung. Und sie sind bereits für den Transport von Menschen
gebaut. In den Häfen von Bristol und Liverpool liegen viele solche
Schiffe, und einige von ihnen haben Platz für mehrere hundert
Sklaven.«
»So ist es«, sagte Mr Thistlethwaite seufzend. »Ihr
werdet in Sklavenschiffen fahren, das heißt die von euch, die für
den Transport ausgewählt werden.«
»Ist schon bekannt, wann wir fahren?«, fragte Joe
Robinson aus Hull.
»Nein.« Mr Thistlethwaite blickte in die Gesichter
der Sträflinge und grinste. »Aber jetzt noch zu etwas anderem. Es
ist Weihnachtszeit, und ich habe dafür gesorgt, dass alle
Gefangenen auf dem Orlopdeck der Ceres ein halbes Pint Rum
erhalten. Unterwegs kriegt ihr keinen, also trinkt langsam und
behaltet ihn eine Weile im Mund.«
Er zog Richard beiseite. »Ich habe dir noch ein
paar Filtersteine von Vetter James mitgebracht. Sykes wird sie dir
geben.« Er umarmte Richard so fest, dass niemand bemerkte, wie der
Beutel mit Guineen von seiner Manteltasche in Richards Jackentasche
glitt. »Das ist alles, was ich für dich tun kann, mein lieber
Freund. Schreibe mir, sobald du kannst, ich bitte dich.«
»Ich spüre ein Prickeln in den Daumen«, sagte Joey
Long am 5. Januar 1787 beim Abendessen. Er zitterte.
Die anderen sahen ihn ernst an. Joey war ein
einfaches Gemüt, aber er hatte bisweilen Vorahnungen, die sich
später bewahrheiteten.
»Und warum, Joey?«, fragte Ike Rogers.
Joey schüttelte den Kopf. »Weiß nicht. Die Daumen
prickeln eben.«
Doch Richard wusste es. Der nächste Tag war der 6.
Januar, und in den vergangenen zwei Jahren war er immer am 6.
Januar zu einem neuen Ort des Leidens aufgebrochen. »Joey spürt,
dass eine Veränderung bevorsteht«, sagte er. »Heute Nacht packen
wir. Wir waschen uns, schneiden uns die Haare, suchen uns
gegenseitig nach Läusen ab und sorgen dafür, dass auf sämtlichen
Kleidungsstücken, Säcken, Taschen und Kisten unsere Namen stehen.
Morgen geht es auf die Reise.«
Job Hollisters Lippen zuckten. »Vielleicht sind wir
ja gar nicht dabei.«
»Möglich. Aber ich glaube, Joeys Daumen sagen, dass
wir dabei sind.«
Vielen Dank für das halbe Pint Rum, Jem
Thistlethwaite. Während das ganze Orlopdeck der Ceres
schnarchte, konnte ich deine Guineen in unseren Kisten verstecken.
Außer mir weiß niemand davon.