TEIL VIER
Januar 1787 bis Januar 1788
Bei Tagesanbruch wurden die Sträflinge
ausgesondert, insgesamt sechzig Mann in den üblichen
Sechsergruppen, während die dreiundsiebzig anderen, die verschont
blieben, zutiefst erleichtert dreinschauten. Wer die zehn Gruppen,
die das Orlopdeck der Ceres verlassen sollten, ausgewählt
hatte und nach welchen Kriterien, wusste niemand. Man wusste nur,
dass Mr Hanks und Mr Sykes eine Liste hatten und nach ihr
verfuhren. Das Alter der Ausgesonderten schwankte zwischen fünfzehn
und sechzig. Die meisten hatten, wie alle alten Hasen wussten,
keinen Beruf, und einige waren sogar krank. Doch Überlegungen
dieser Art lagen Mr Hanks und Mr Sykes fern. Sie hatten ihre Liste,
und das genügte ihnen offenbar.
William Stanley aus Seend und Mikey Dennison, der
Epileptiker, hüpften vor Freude, da ihre Namen nicht auf der Liste
standen. Auf der Ceres ließ es sich aushalten, zumal sie
bald frische Decken bekommen sollten.
»Sieh dir die Arschlöcher an«, zischte Bill
Whiting, »wie sie feixen.«
Die Tür schwang auf, und vier neue Sträflinge
wurden hereingestoßen. Will Connelly und Neddy Perrott
protestierten lautstark.
»Crowder, Davis, Martin und Morris aus Bristol«,
erklärte Connelly. »Die hat man wohl eigens aus Bristol
hergebracht.«
Bill Whiting zwinkerte Richard zu. »Mr Hanks!«,
rief er. »Oh, Mr Hanks!«
»Was gibt’s?«, fragte Herbert Hanks, der James
Thistlethwaite gegen ein Trinkgeld versprochen hatte, sich nach
Kräften für Richards und Ikes Gruppen einzusetzen, falls sie unter
den Ausgesonderten
sein sollten. Er beabsichtigte auch durchaus, sein Versprechen zu
halten, denn Mr Thistlethwaite hatte ihm weitere Großzügigkeiten in
Aussicht gestellt sowie er von seinen Spionen erfuhr, dass
tatsächlich alles Menschenmögliche getan worden war. »Red schon,
Kamerad!«
»Sir, diese vier Männer sind aus Bristol. Kommen
sie mit?«
»Freilich«, antwortete Hanks müde.
Der alte Witzbold Whiting warf einen Seitenblick
auf Richard, dann nahm sein rundes Gesicht den Ausdruck demütiger
Bescheidenheit an. »Sir, sie sind nur zu viert. Die Sache ist
nämlich die, dass wir nur ungern von Stanley und Dennison getrennt
werden wollen, Mr Hanks, Sir, und da habe ich mir gedacht …«
Mr Hanks zog seine Liste zu Rate. »Die Sträflinge
aus Bristol waren ursprünglich zu sechst, doch sind gestern zwei
gestorben. Wir haben also vier zu viel oder zwei zu wenig, je
nachdem, von welcher Seite man es betrachtet. Stanley und Dennison
würden das halbe Dutzend voll machen. Gut, sie kommen mit.«
»Zu früh gefreut!«, kicherte Whiting
schadenfroh.
»Danke, du Arschloch!«, zischte Ike. »Ich war schon
froh, dass Stanley und Dennison hier bleiben.«
Neddy Perrott kicherte ebenfalls. »Glaub mir, Ike,
Crowder und Davis sind mit allen Wassern gewaschen. Die werden mit
William Stanley aus Seend allemal fertig.«
»Außerdem brauchen wir noch ein paar Leute zum
Deckschrubben und Waschen, Ike«, fügte Whiting hinzu und lächelte
engelsgleich.
Den ausgesonderten Häftlingen wurden Eisengürtel
und Handschellen angelegt, aber keine Kette zu den Fußknöcheln.
Stattdessen wurde eine lange Kette von Hüfte zu Hüfte gezogen, die
jeweils sechs miteinander verband. Stanley und Dennison heulten,
als sie an die vier Neuen aus Bristol gekettet wurden, da ihnen
nicht genügend Zeit blieb, um alle ihre Habseligkeiten
zusammenzuraffen.
»Damit sind wir sechsundsechzig Mann in elf
Gruppen«, bemerkte Richard.
Ike zog eine Grimasse. »Und mindestens noch einmal
so viele aus London.«
Ein Irrtum, wie sie später feststellen sollten. Von
oben wurden nur sechs Sechsergruppen ausgewählt, und keineswegs nur
schwere Jungs aus dem London Newgate. Die meisten stammten aus dem
Londoner Umland, und viele davon aus Kent an der Themse,
insbesondere aus Deptford. Warum, wusste niemand, nicht einmal Mr
Hanks, der sich einfach an seine Liste hielt. Die ganze Expedition
war allen, die mit ihr in Berührung kamen, Teilnehmern wie
Zurückbleibenden, ein Rätsel.
Zwei große Leichter lagen längsseits. Die drei
Gruppen aus dem Westen und die beiden aus Yorkshire wurden in den
ersten verfrachtet, die sechs restlichen Gruppen mussten sich in
den zweiten zwängen. Gegen zehn an diesem schönen, kühlen Morgen
pullten die Bootsgasten die Themse hinunter, die hier, direkt
östlich von Woolwich, eine halbe Meile breit war und eine große
Biegung machte. Auf dem Fluss herrschte wenig Verkehr, doch die
Neuigkeit hatte sich herumgesprochen, und so winkten, pfiffen und
johlten die Besatzungen von Proviantbooten, Ketschen und anderen
kleinen Fahrzeugen herüber, und die Häftlinge in dem überladenen
zweiten Leichter beteten, dass ihnen kein Schiff zu nahe kam und
eine Welle erzeugte, die ihnen gefährlich werden konnte.
Hinter der Biegung lag Gallion’s Reach, ein
Ankerplatz für Großschiffe. An diesem Tag ankerten hier nur zwei
Fahrzeuge, das eine davon mehr als doppelt so groß wie das andere.
Richard erschrak. Das größere Schiff hatte sich kein bisschen
verändert - eine voll getakelte Bark, die offenbar noch keine
Fracht an Bord genommen hatte, denn ihr Schanzkleid stand gut vier
Meter über dem Wasser. Sie besaß weder Achterhütte noch Back,
lediglich ein Achterdeck und eine Kombüse hinter dem Vormast. Ganz
auf Schnelligkeit und Kampfkraft ausgelegt.
Er tauschte mit Connelly und Perrott einen Blick.
»Die Alexander«, sagte Neddy Perrott tonlos.
Richard kniff den Mund zusammen. »Ja, das ist
sie.«
»Ihr kennt sie?«, fragte Ike.
»Und ob«, knurrte Connelly. »Ein Sklavenschiff aus
Bristol und
ehemaliger Freibeuter. Die Matrosen und Sklaven sind gestorben wie
die Fliegen.«
Ike schluckte. »Und das andere Schiff?«
»Kenne ich nicht, kann also nicht aus Bristol
sein«, antwortete Richard. »Am Heck ist bestimmt eine Bronzetafel
angebracht, wir müssten sie nachher sehen können. Wir kommen
nämlich auf die Alexander.«
Das andere Schiff hieß Lady Penrhyn.
»Aus Liverpool und speziell für den
Sklaventransport gebaut«, erklärte Aaron Davis, einer der
Neuankömmlinge aus Bristol. »Sieht nagelneu aus. Schöne
Jungfernfahrt! Lord Penrhyn muss das Wasser bis zum Hals
stehen.«
»Ich sehe niemand an Bord gehen«, meinte Bill
Whiting.
»Keine Sorge, die wird schon noch voll«, sagte
Richard.
Sie mussten mit ihren Habseligkeiten eine vier
Meter hohe Strickleiter erklimmen, die mittschiffs zu einer Pforte
im Schanzkleid führte. Die Gruppe vor ihnen brauchte keine Kisten
zu schleppen, doch selbst als ihre Ketten sich in den Sprossen
verhedderten, steckte niemand den Kopf durch die Öffnung über
ihnen, um zu helfen.
Zum Glück lief die Kette, die sie miteinander
verband, frei durch die Ringe. So konnten sie den Abstand zum
Vorder- und Hintermann nach Bedarf vergrößern oder verkleinern.
»Rückt zusammen und gebt mir die gesamte Kette«, sagte Richard, als
sie an die Reihe kamen. Er warf seine beiden Säcke hinauf, klemmte
seine Kiste zwischen die Handfesseln und erklomm rasch die wenigen
Meter, ehe einer von denen, die bereits oben waren, auf die Idee
kam, ihm einen Sack zu klauen. An Deck angekommen, sammelte er
seine Sachen ein und nahm die Kisten entgegen, die ihm die
Gefährten heraufreichten.
Die beiden Langboote und die Jolle der
Alexander waren ins Wasser abgefiert worden, um Platz zu
schaffen. Richard führte seine drei Gruppen auf die Seite. An Deck
herrschte ein heilloses Durcheinander. Gruppen von rotberockten
Seesoldaten standen mit finsteren Mienen herum, zwei Offiziere mit
Schärpen und zwei Unteroffiziere
bewachten eine auf der Achterdeckreling montierte Drehbasse, und
zahlreiche Matrosen hingen in den Wanten und hockten auf Aufbauten
wie Schaulustige bei einem Boxkampf auf freiem Feld.
»Und was jetzt?« Leider war niemand da, den man
fragen konnte. Richard sah zu, wie das Durcheinander immer größer
wurde. Lange bevor alle elf Sträflingsgruppen an Bord waren,
ähnelte das Deck einer Menagerie - ein Eindruck, der durch dutzende
von Ziegen, Schafen, Schweinen, Gänsen und Enten noch verstärkt
wurde, die, von einem Dutzend hechelnder Hunde verfolgt, überall
herumrannten. Richard fühlte sich beobachtet. Als er den Kopf hob,
erblickte er eine große orangefarbene Katze, einen Kater, der
bequem auf einer Spiere lag und mit einem Ausdruck spöttischer
Langeweile zu ihm heruntersah. Von ihren Wärtern war keiner zu
sehen. Sie waren für die Sträflinge nicht mehr verantwortlich und
deshalb auf der Ceres geblieben.
»Soldaten«, flüsterte Billy Earl aus dem ländlichen
Wiltshire.
»Seesoldaten«, verbesserte Neddy Perrott. »Ihre
Uniformaufschläge sind weiß. Beim Heer haben sie gelbe
Aufschläge.«
Ein Offizier der Marineinfanterie stieg zackig vom
Achterdeck herab und blickte mit boshaften, blassblauen Augen in
die Runde. »Ich bin Oberleutnant James Shairp«, bellte er. »55.
Kompanie, Portsmouth! Die Gefangenen unterstehen meinem Kommando.
Wir haben die Aufgabe, euch zu verpflegen und dafür zu sorgen, dass
ihr keinen Ärger macht. Ihr tut, was man euch sagt, und redet nur,
wenn ihr gefragt werdet.« Er deutete auf eine gähnende Luke hinter
dem Großmast. »Ihr nehmt euren Plunder und steigt gruppenweise da
runter. Sergeant Knight und Corporal Flannery werden vorausgehen
und euch zeigen, wo ihr untergebracht seid, aber vorher möchte ich
noch ein paar Dinge klarstellen. Ihr nehmt die Kojen, die der
Sergeant euch zuweist. Plätzetauschen ist nicht erlaubt. Wir lassen
jeden Tag durchzählen, mit Namen und Nummer. Jedem Mann steht ein
halber Meter zu, nicht mehr und nicht weniger - wir müssen auf
engstem Raum 210 Mann unterbringen. Wer Streit mit Mithäftlingen
anfängt, bekommt die Peitsche. Wer Verpflegungsrationen stiehlt,
bekommt die Peitsche. Wer aufbegehrt,
bekommt die Peitsche. Wer unverschämt wird, bekommt die Peitsche.
Corporal Sampson ist der Auspeitscher der Kompanie und stolz auf
seine Arbeit. Wer sich hinlegen will, und mehr werdet ihr nicht tun
können, sollte sich einen blutigen Rücken ersparen. Und jetzt
Abmarsch.« Shairp machte auf dem Absatz kehrt und stapfte zu der
Drehbasse auf dem Achterdeck zurück.
Schotten unter den Sträflingen waren selten. Shairp
dagegen war, seinem Akzent nach zu schließen, Schotte, wie auch die
meisten anderen Offiziere der Seesoldaten.
Sergeant Knight und Corporal Flannery verschwanden
in der Luke, doch die Sträflinge zögerten noch. Dann nickte Richard
entschlossen seinen drei Gruppen zu und trat an die zwei Meter
breite Öffnung im Oberdeck. Gott stehe uns bei! Er reichte dem
hinter ihm stehenden Bill Whiting seine Kiste, warf seine beiden
Säcke in die Luke und spähte hinein. Vier Fuß unter ihm stand ein
schmaler Holztisch. Richard hockte sich auf den Lukenrand und glitt
vorsichtig auf den Tisch, ließ sich die Kiste heruntergeben und
wartete, bis die Kette so viel Spiel hatte, dass Bill ihm folgen
konnte. Als alle sechs unten waren, stiegen sie von dem Tisch auf
eine Bank und von dort auf den Fußboden. Sie fanden sich in einem
schmalen Gang wieder, den ein weiterer Tisch mit Bänken begrenzte.
Das Mobiliar war offenbar am Fußboden festgeschraubt, denn es
bewegte sich keinen Millimeter, wenn sie dagegen stießen.
»Hier rüber!«, bellte der Sergeant.
Sie gehorchten und traten in einen weiteren Gang,
der etwa sechs Fuß breit war. Sie befanden sich auf der linken, der
Backbordseite, und spähten nach vorn in die Dunkelheit. Entlang der
Bordwand waren Bettkästen angebracht, ähnlich wie auf der
Ceres, nur dass sie zweistöckig waren. Die Kästen ruhten auf
Pfosten, passten sich der geschwungenen Form des Rumpfes an und
machten einen ziemlich stabilen Eindruck. Niemand würde sie in
einem Tobsuchtsanfall zerlegen. Sie waren jeweils zehn Fuß lang.
Die obere Etage lag etwas mehr als zwei Fuß unter dem Oberdeck, die
untere wenig mehr als zwei über dem Fußboden, und die lichte Höhe
zwischen den Etagen betrug ebenfalls gut zwei Fuß. Da zwischen
den Decksbalken sogar Ike Rogers bequem aufrecht stehen konnte,
schätzte Richard die Höhe des Zwischendecks auf annähernd sieben
Fuß. Seine Kopffreiheit im Stehen betrug einen halben Zoll.
»Das sind eure Kojen«, sagte der Sergeant, ein
abstoßender Kerl. Wenn er grinste, waren seine verfaulten Zähne zu
sehen - die Zähne eines Mannes, der gern und kräftig dem Rum
zusprach. »Erste Gruppe nach oben, erste Koje am Achterschott. Ich
brauche eure Namen und Nummern. Corporal Flannery ist Ire und
schreibt mit. Los!«
»Richard Morgan, Nummer 203«, rief Richard. Er
stellte einen Fuß auf die untere Pritsche und stemmte sich mit
seinem Gepäck nach oben. Die anderen fünf folgten. Ikes Gruppe
bekam die obere »Koje« daneben zugewiesen, abgeteilt durch eine
dünne Trennwand. Stanley, Mikey Dennison und die vier Nachzügler
aus Bristol bezogen die Koje unter ihnen, die Koje unter Ike
belegten die sechs Nordlichter, darunter William Dring und Joe
Robinson, die beiden Matrosen aus Hull.
»Gemütlich«, gluckste Bill Whiting. »Ich wollte
schon immer mal mit dir zusammen schlafen, Richard,
Schätzchen.«
»Halt den Mund, Bill! An Deck gibt es jede Menge
Schafe!«
Sechs Männer quetschten sich in eine Koje, die zehn
Fuß breit, sechs Fuß tief und etwas mehr als zwei Fuß hoch war.
Außer liegen konnte man hier nur zusammengekrümmt sitzen. Wie
bucklige Zwerge saßen sie da und kämpften gegen die bleierne
Verzweiflung an. Ihre Kisten und Säcke nahmen Platz weg, Platz, der
ihnen fehlte. Jimmy Price begann zu weinen, und in der Nachbarkoje
jammerten Joey Long und Willy Wilton. Mein Gott, was sollten sie
tun?
An der Steuerbordwand, drei Tische und sechs Bänke
von ihnen entfernt, waren ebenfalls zweistöckige Verschläge
angebracht. Sonst konnten sie kaum etwas erkennen, so sehr sie sich
auch die Hälse verrenkten und in die Dunkelheit spähten. Unablässig
sprangen Männer in Ketten auf den mittleren Tisch herab, wurden in
den Gang getrieben und in eine Koje gepfercht. Als sechs der elf
Gruppen auf der Backbordseite untergebracht waren, schickte
Sergeant Knight die Männer nach Steuerbord. Auch dort wurden die
Kojen vom Achterschott nach vorn aufgefüllt - oben, oben, unten,
unten.
Richard beherrschte sich mühsam. Wenn er sich gehen
ließ, würden alle zu heulen anfangen, und das konnte er nicht
ertragen. »Gut«, sagte er forsch, »mal sehen, wo wir unsere Kisten
unterbringen. Fürs Erste stapeln wir sie an der Bordwand, dann
haben wir so viel Platz, dass wir dazwischen unsere Füße
ausstrecken können. Ein Glück, dass wir die festen Gegenstände in
die Kisten getan und Kleider und Lappen in Säcke gestopft haben.
Die können wir jetzt als Kopfkissen benutzen.« Er befühlte die
grobe Matte, auf der sie saßen, und erschauderte. »Decken haben wir
nicht, aber wir können uns ja warm anziehen. Jimmy, hör bitte auf
zu heulen! Tränen helfen uns nicht weiter.« Er beäugte den
Querbalken, an dem die Trennwand zwischen ihrer und Ikes Koje
befestigt war. »Wir müssen uns einen Schraubenzieher und Haken
besorgen, dann können wir an dem Balken Sachen aufhängen. Nur Mut,
es wird schon werden.«
»Ich möchte mit dem Kopf an der Wand schlafen«,
schniefte Jimmy.
»Kommt nicht in Frage«, blaffte Will Connelly. »Wir
legen uns so hin, dass wir beim Kotzen den Kopf über den Rand
strecken können. Vergiss nicht, wir stechen in See, und eine Zeit
lang werden wir ganz gehörig kotzen.«
Bill Whiting lachte gequält. »Da haben wir ja noch
mal Glück gehabt. Wir kotzen auf die da unten, aber sie können
nicht zu uns heraufkotzen.«
»Gut beobachtet«, sagte Neddy Perrott und steckte
den Kopf hinaus. »He, Tommy Crowder!«
Crowders Kopf erschien. »Was gibt’s?«
»Wir kotzen auf euch runter.«
»Nur zu, dann lernt ihr mich kennen.«
»Seht doch«, rief Richard dazwischen, »an dem
Balken ist Platz bis rüber zu den Steuerbordkojen. Vielleicht
können wir auf jeder Seite eine Art Regal anbringen und Sachen
darin verstauen, vielleicht sogar unsere Kisten, auf jeden Fall
aber die Büchersäcke und
die Filtersteine, die wir in Reserve haben. Dieser Sergeant Knight
sieht mir ganz so aus, als wäre er einer Sonderration Rum nicht
abgeneigt. Vielleicht können wir ihn dazu überreden, ein paar
Planken, Bretter und Taue zu besorgen. Es wird schon werden,
Jungs.«
»Du hast Recht, Richard«, meinte Ike und lugte um
die Trennwand. »Es wird schon werden. Besser hier als am
Galgen.«
»Genau, der Henkersstrick ist das Ende, aber das
hier wird nicht ewig dauern«, sagte Richard, froh, dass Ike und
seine Jungs auf ihn hörten.
Nur durch die offene Luke im Oberdeck drang etwas
Licht in das dunkle Gefängnis, und es stank fürchterlich nach
verrottetem Fisch, faulem Fleisch und Exkrementen. Stunden
verstrichen, wie viele, vermochte niemand zu sagen. Dann wurde die
Luke mit einer Gräting aus Eisen verschlossen, die noch weniger
Licht durchließ, und am vorderen Ende des Raums wurde eine Luke
geöffnet. Doch auch diese zusätzliche Lichtquelle klärte sie nicht
über die genaue Beschaffenheit des Gefängnisses auf. Weitere
Sträflinge strömten herein. Viele weinten, ein paar schrien, wurden
aber augenblicklich zum Schweigen gebracht, wie und von wem,
konnten Richard und seine Kameraden nicht erkennen. Aber sie
spürten, dass die anderen dasselbe empfanden wie sie.
»Mein Gott«, rief Will Connelly verzweifelt. »Hier
kann man nicht mal lesen! Ich werde verrückt!«
»Unsinn«, sagte Richard streng. »Wenn wir uns
eingewöhnt und unsere Sachen vernünftig verstaut haben, überlegen
wir, wie wir uns die Zeit vertreiben können. Wir haben ja noch
unsere Stimmen. Taffy und ich können singen, und andere bestimmt
auch. Wir stellen einen Chor zusammen. Und wir können uns
gegenseitig Rätsel aufgeben oder Geschichten und Witze erzählen.«
Er hatte mit seinen Männern die Plätze getauscht, sodass er an der
Trennwand zu Ikes Koje saß. »Hört mir zu, alle, die mich hören
können! Wir werden lernen, uns die Zeit mit Dingen zu vertreiben,
an die wir bisher nicht im Traum gedacht haben. Hier wird keiner
durchdrehen. Wir werden uns an den Gestank und die
Dunkelheit gewöhnen. Wenn wir überschnappen, haben die anderen
gewonnen, und das darf nicht sein. Wir lassen uns nicht
unterkriegen!«
Lange Zeit sprach niemand ein Wort, doch es weinte
auch keiner mehr. Sie werden es schaffen, dachte Richard. Sie
werden es schaffen.
Zwei Seesoldaten kamen von der vorderen Luke nach
achtern und nahmen den Häftlingen die Eisengürtel und die Kette ab,
die sie miteinander verband, nicht aber die Handschellen. Sobald
Richard sich frei bewegen konnte, glitt er von der Pritsche und
suchte nach den Nachttöpfen. Wie viele waren da? Wie oft wurden sie
geleert?
»Sie stehen unter der Pritsche«, sagte Thomas
Crowder. »Jeweils einer für sechs Mann. Was sind das nur für
Verschläge, in denen wir hier hausen müssen. Prokrustes wäre auf
eine solche Erfindung stolz gewesen!«
»Du bist ja gebildet«, sagte Richard, hockte sich
auf die Kante der unteren Pritsche und streckte stöhnend die Beine
aus.
»Ja. Aaron auch. Er ist aus Bristol, ich nicht. Ich
wurde nur in Bristol geschnappt, als ich von der Mercury
geflohen bin. Ich hab dort ein paar Dinger gedreht. Unser Komplize
- Aaron war auch dabei - hat uns verpfiffen. Wir wollten ein paar
Leute schmieren, und in London hätte das wohl auch geklappt, in
Bristol leider nicht. Zu viele Quäker und andere
Moralapostel.«
»Du bist aus London?«
»Und du aus Bristol, wie ich aus deinem Akzent
schließe. Connelly, Perrott, Wilton und Hollister kenne ich, aber
dich habe ich im Bristol Newgate nie gesehen, Kamerad.«
»Ich heiße Richard Morgan. Ich stamme aus Bristol,
bin aber in Gloucester abgeurteilt worden.«
»Ich habe gehört, was du vorhin gesagt hast, von
wegen, dass wir uns irgendwie beschäftigen müssen. Wir sind dabei,
wenn wir nur genug Licht zum Kartenspielen haben.« Crowder seufzte.
»Und ich dachte, die Mercury sei eine Höllenfähre! Wir
werden auf der Alexander eine schlimme Zeit durchmachen,
Richard!«
»Hast du etwas anderes erwartet? Diese Kähne wurden
für den
Sklaventransport gebaut, und man hat uns genauso eng
zusammengepfercht wie Sklaven. Der einzige Unterschied ist, dass
wir die drei langen Tische haben und deshalb wohl im Sitzen essen
dürfen.«
Crowder rümpfte die Nase. »Marinefraß!«
»Was erwartest du denn? Eine gepflegte Küche wie im
Bush Inn?« Richard kletterte wieder nach oben, berichtete von den
Nachttöpfen und holte die Filtersteine hervor. »Wir müssen das
Wasser hier unbedingt filtern, aber dafür brauchen wir nicht zu
befürchten, dass uns jemand den Platz streitig macht oder Sachen
stiehlt.« Er lächelte, und seine weißen Zähne blitzten. »Du hast
übrigens Recht gehabt, was Crowder und Davis angeht, Neddy.
Richtige Schlingel.«
Zwei Seesoldaten mit verdrossenen Gesichtern
begannen, im Schein von Laternen Näpfe auszuteilen. Obwohl die
Tische vierzig Fuß lang waren, waren die sechs schmalen Bänke voll
besetzt. Richard zählte die Köpfe und kam zu dem Ergebnis, dass die
Alexander an diesem 6. Januar 1787 ungefähr 180 Männer an
Bord genommen hatte, 30 weniger, als Leutnant Shairp an Deck
verkündet hatte. Und nicht alle kamen von der Ceres. Einige
stammten von der Censor und noch mehr von der
Justitia. Die Sträflinge von der Justitia konnten
sich allerdings nicht alle an die Tische schleppen. Unter ihnen
grassierte eine Krankheit, die sich durch leichtes Fieber und
Gliederschmerzen äußerte. Wenigstens hatten sie nicht das
Fleckfieber. Obwohl es natürlich auch Fälle von Fleckfieber gab,
denn die gab es immer.
Jeder Mann erhielt einen Holznapf, einen Zinnlöffel
und einen Zinnbecher, der reichlich zwei Quart fasste, die
Tagesration Wasser für jeden. Zu essen gab es steinhartes, dunkles
Brot und ein kleines Stück gepökeltes Rindfleisch. Wer schlechte
Zähne hatte, war schlimm dran und musste versuchen, das Brot mit
dem Löffel zu zerkleinern.
Es hatte gewisse Vorteile, dass ihre Kojen so nahe
an der Achterluke lagen. Richard beschloss, die Peitsche zu
riskieren. Er stand auf und bot den beiden jungen Seesoldaten, die
mit ihrer Aufgabe offensichtlich überfordert waren, seine Hilfe
an.
»Kann ich euch helfen?«, fragte er mit
respektvollem Lächeln. »Ich war früher Schankwirt.«
Das mürrische Gesicht des einen, der ihm näher
stand, wirkte zunächst verdutzt, dann hellte es sich auf. »Da sagen
wir nicht Nein. Zwei Leute sind nicht genug, um zweihundert Männer
zu füttern, so viel steht fest.«
Richard verteilte eine Zeit lang schweigend Näpfe
und Becher, und bald arbeiteten er, der junge Seesoldat, den er
angesprochen hatte, und dessen ebenso junger Kamerad einander gut
zu. »Ihr Seesoldaten wirkt so unzufrieden«, sagte er leise. »Warum
eigentlich?«
»Wegen unserer Quartiere - sie liegen noch unter
euren und sind fast genauso überfüllt. Und die Verpflegung ist auch
nicht besser. Schiffszwieback und Pökelfleisch. Der einzige
Unterschied ist, dass wir Mehl und ein halbes Pint trinkbaren Rum
kriegen.«
»Aber ihr seid doch keine Sträflinge!«
»Auf diesem Schiff«, knurrte der andere, »macht man
zwischen Sträflingen und Seesoldaten keinen großen Unterschied. Die
Matrosen sind da untergebracht, wo eigentlich wir sein sollten.
Tageslicht und Frischluft bekommen wir nur durch eine Luke im
Fußboden ihres Quartiers - die Matrosen schlafen hinter dem Schott
da im Zwischendeck, und wir darunter im Laderaum. Die
Alexander ist angeblich ein Zweidecker, nur hat man
verschwiegen, dass das zweite Deck als Laderaum genutzt wird, weil
die Alexander keinen Laderaum im eigentlichen Sinn
hat.«
»Sie ist ein Sklavenschiff«, erwiderte Richard,
»deshalb braucht sie keinen richtigen Laderaum. Der Kapitän
verstaut die Fracht normalerweise im Orlopdeck und die Sklaven
hier, wo wir jetzt sind. Die Matrosen schlafen im Achterschiff. Das
Achterdeck ist dem Kapitän vorbehalten.« Sein Blick wurde
neugierig. »Ich nehme an, er hat eure Offiziere im Achterdeck
einquartiert.«
»Ja, aber in einem winzigen Kabuff«, erwiderte
derjenige, der Pökelfleisch und Brot austeilte. »Sie dürfen seine
Kombüse nicht benützen, deshalb müssen sie mit uns essen. Sie
dürfen nicht einmal in die große Kajüte - die hat er für sich und
seinen Ersten Offizier reserviert. So etwas habe ich noch nie
erlebt. Aber ich bin auch noch nie auf einem Schiff gefahren, das
nicht der Marine gehört.«
»Dann rutscht ihr ja unter die Wasserlinie, wenn
erst mal die Fracht an Bord ist«, sagte Richard nachdenklich. »Und
die Alexander wird eine Menge Fracht transportieren. Für
eine zweimonatige Etappe dürfte sie allein schon zwanzigtausend
Gallonen Trinkwasser bunkern.«
»Für einen Schankwirt kennst du dich aber gut mit
Schiffen aus«, sagte der Bursche, der Wasser ausgab.
»Ich stamme aus Bristol, dort dreht sich alles um
Schiffe. Ich heiße übrigens Richard. Darf ich eure Namen
erfahren?«
»Ich heiße Davy Evans, und das ist Tommy Green«,
antwortete der Wasserschöpfer. »Im Moment können wir an unserer
Situation nicht viel ändern, aber nächste Woche kommen wir nach
Portsmouth, und dann wird Major Ross Captain Duncan Sinclair den
Marsch blasen.«
»Ach ja, der Vizegouverneur und Kommandeur der
Seesoldaten.«
»Woher weißt du das?«
»Von einem Freund.«
Später, als Richard sein Wasser filterte, dachte er
über die Antworten nach, die er auf seine Fragen bekommen hatte.
Die Schiffseigner, die sich den Auftrag geangelt hatten, hatten ein
paar Details bezüglich der Alexander verschwiegen und
beschlossen, den Umstand zu ignorieren, dass sie neben den
Sträflingen auch Seesoldaten unterbringen mussten. Diese jungen
Burschen hatten Recht - die Eigner machten zwischen Seesoldaten und
Sträflingen keinen Unterschied. Nächste Woche segelten sie also
nach Portsmouth, und der Kapitän hieß Duncan Sinclair und war
demnach mit Sicherheit ebenso Schotte wie Robert Ross, der
Befehlshaber der Seesoldaten. Dass die beiden sich streiten würden,
war abzusehen.
Weder in dieser noch in den beiden darauf
folgenden Wochen segelte die Alexander nach Portsmouth. Erst
am 10. Februar nahm sie unter dem Gestöhn und Gewimmer derer, die
seekrank zu werden fürchteten, Fahrt auf. Doch sie lief lediglich
bis Tilbury, und auch das nur im Schlepp eines Tenders, sie blieb
also in den geschützten
Gewässern der Themse und geriet kaum einmal ins Schaukeln.
Mittlerweile befanden sich 190 Sträflinge an Bord,
obwohl ein paar gestorben waren. Leutnant Shairp hatte in dem
Bemühen, die unbekannte Krankheit einzudämmen, die oberen Etagen
einiger Verschläge in der Mitte des Raums herunternehmen und hinter
den Tischen als Pritschen für die Kranken aufstellen lassen.
Die Männer murrten, weil sie noch immer Handfesseln
tragen mussten, doch Sergeant Knight, der sich bei der Beschaffung
von Brettern, Stützen und anderen nützlichen Dingen gegen ein
Trinkgeld sehr kooperativ zeigte - Richards Männer waren beileibe
nicht die Einzigen, die den Durst des Sergeants zu nutzen wussten
-, lehnte es ab, ihnen die lästigen Eisen abzunehmen. Jedenfalls
bis zu jenem Tag, an dem einer der Sträflinge begnadigt und
freigelassen wurde und die Übrigen ihrem Unmut durch Klopfen,
Brüllen und Hämmern Luft machten. Es war zum Verrücktwerden. Als
die beiden Seesoldaten wieder herunterkamen, um die Essens- und
Wasserrationen zu verteilen, montierten ihre Kameraden die
Drehbasse am Lukenrand und nahmen mit Musketen um das Loch
Aufstellung. Dabei wurde ihnen klar, wie wenig sie waren, um 190
aufgebrachte Männer in Schach zu halten.
Duncan Sinclair ließ daraufhin den Sträflingen die
Handschellen abnehmen und erteilte ihnen die Erlaubnis, sich jeden
Tag ein paar Minuten in Zwölfergruppen an Deck die Beine zu
vertreten. Da er jedoch für jeden entflohenen Sträfling 40 Pfund
aus der eigenen Tasche bezahlen musste, ließ er Beiboote mit
Seesoldaten und einigen Matrosen bemannen und ständig um die
Alexander herumpullen.
Die wenigen Minuten an Deck gehörten zum Schönsten,
was Richard jemals erlebt hatte. Die Fesseln kamen ihm federleicht
vor, die kühle Luft roch süßer als Veilchen und Goldlack, der
angeschwollene Fluss erschien ihm wie ein Band aus flüssigem
Silber, und der Anblick der Tiere, die auf dem Deck herumtollten,
war ein lustvolleres Vergnügen, als mit Annemarie Latour zu
schlafen. Anscheinend besaß mindestens die Hälfte der Seesoldaten
und auch ein Teil der Mannschaft einen Hund. Richard sah Jagdhunde,
Bulldoggen,
Spaniels, Terrier und jede Menge Bastarde. Der große orangefarbene
Kater hatte mit einer Schildpattkatze sechs Junge gezeugt, und auch
die meisten Schafe und Schweine waren trächtig. Enten und Gänse
watschelten umher, und nur die Hühner waren neben der
Mannschaftskombüse in einen Stall gesperrt.
Nach dem ersten Spaziergang fand Richard den
Gefängnismief etwas erträglicher, und den anderen ging es ähnlich.
Der Aufruhr war in dem Augenblick vorbei, als die Handfesseln
fielen und die Gefangenen an Deck gehen durften.
Beim dritten Spaziergang bekam Richard endlich
Captain Sinclair zu Gesicht. Ein selten fetter Kerl! Richard
glaubte nicht richtig zu sehen. Wie konnte der Mann eigentlich
pinkeln, wo er doch mit den Armen unmöglich seinen Hosenstall
erreichte? Klirrend schlurfte Richard unter dem Achterdeck vorbei,
auf dem Captain Sinclair stand.
Eine Sekunde lang blickte er in zwei verschlagene,
graue Augen. Er senkte ehrerbietig den Kopf und ging weiter. Der
Mann ist zwar dick, dachte Richard, aber nicht zu unterschätzen. Er
mag faul und träge sein, aber wenn es hart auf hart geht, steht er
gewiss seinen Mann. Er und Major Ross werden in Portsmouth sicher
aneinander geraten, wenn es darum geht, wo die Seesoldaten künftig
ihre Hängematten aufzurren dürfen. Schade, dass ich den Auftritt
nicht miterleben darf, wenngleich ich das Ergebnis natürlich
erfahren werde. Davy Evans und Tommy Green werden es mir brühwarm
erzählen.
Ende Januar drehten zwei weitere Schiffe vor
Tilbury Fort bei, ein großes Linienschiff 6. Ranges und eine
schmucke Slup. Beim nächsten Ausflug an Deck trat Richard sofort an
die Bugreling und sah sich die beiden Fahrzeuge an, deren Ankunft
sich im Gefängnis bereits herumgesprochen hatte. Richard und seine
fünf Gefährten hatten vereinbart, sich an Deck zu trennen, um die
kurze Zeitspanne dazu zu nutzen, sich von der ständigen Nähe der
anderen zu erholen. Da Fluchtversuche bislang ausgeblieben waren,
nahmen es die Seesoldaten mit der Bewachung nicht mehr ganz so
genau und ließen die Gefangenen in Ruhe, solange sie manierlich
ihre Runden drehten. Richard stand also allein an der Reling und
blickte übers Wasser, nicht ahnend, dass er den scharfen Augen
eines Besatzungsmitglieds aufgefallen war.
»Das ist die Eskorte, die uns zur Botany Bay
begleiten wird«, sagte eine Stimme neben ihm, eine angenehme,
sympathische Stimme. Richard wandte den Kopf und erblickte den
Mann, der, wie er sich hatte sagen lassen, den Posten des vierten
Maats bekleidete. Er war groß und schlank, sah gut aus, für den
Geschmack des einen oder anderen vielleicht zu feminin, und hatte
dunkle Haare, fröhliche blaue Augen und tiefschwarze Wimpern.
»Stephen Donovan aus Belfast«, stellte er sich
vor.
»Richard Morgan aus Bristol.« Richard trat ein
wenig zurück, damit nicht der Eindruck zu großer Vertraulichkeit
entstand, und lächelte. »Was können Sie mir über die Schiffe sagen,
Mr Donovan?«
»Das große ist die Berwick, ein ehemaliges
Versorgungsschiff der Marine. Sie wurde frisch überholt und zu
einer Art Linienschiff umgebaut. Sie heißt jetzt Sirius,
nach einem südlichen Stern der ersten Klasse. Sie ist mit sechs
Karronaden und vier Sechspfündern bestückt, obgleich ich gehört
habe, dass Gouverneur Phillip unbedingt vierzehn Sechspfünder haben
will. Und ich kann es ihm nachfühlen, wenn ich daran denke, dass
die Alexander über vier Zwölfpfünder und eine Drehbasse
verfügt.«
»Die Alexander«, sagte Richard vorsichtig,
»ist nicht nur ein Sklavenschiff aus Bristol. Sie war früher ein
Freibeuter mit sechzehn Zwölfpfündern. Selbst mit vier
Zwölfpfündern ist sie fast jedem Schiff überlegen, das sie
aufzubringen versucht, sofern es sie überhaupt einholt. Bei
günstigem Wind macht sie annähernd zweihundert Seemeilen am
Tag.«
»Ich mag Männer aus Bristol«, sagte Mr Donovan.
»Sind Sie Seemann?«
»Nein, Gastwirt.«
Die leuchtend blauen Augen ruhten geradezu zärtlich
auf Richards Gesicht. »Sie sehen mir aber gar nicht wie ein
Gastwirt aus.«
»Es liegt in der Familie«, sagte Richard. »Mein
Vater ist auch Wirt.«
»Ich kenne Bristol. Welches Wirtshaus?«
»Das Cooper’s Arms in der Broad Street. Mein Vater
führt es noch.«
»Und sein Sohn wird als Sträfling in die Botany Bay
verbannt. Ich frage mich, warum. Sie sehen mir nicht wie ein
Trinker aus und sind obendrein ein gebildeter Mensch. Sind Sie
sicher, dass Sie ein gewöhnlicher Wirt sind?«
»Aber ja. Doch erzählen Sie mir mehr über die
beiden Schiffe.«
»Die Sirius verdrängt knapp sechshundert
Tonnen und hat die meisten Leute an Bord - Ehefrauen von Seeleuten
und so weiter. Sie hat einen eigenen Kapitän, einen gewissen John
Hunter, der sie im Augenblick allein befehligt. Phillip weilt in
London und verhandelt mit dem Innenministerium und dem Hof von St.
James. Wie ich höre, hat der Bordarzt einen Doktor der Musik zum
Vater und ein eigenes Pianoforte mit an Bord gebracht. Ja, sie ist
ein gutes altes Mädchen, die Sirius, aber nicht die
Schnellste.«
»Und die Slup?«
»Die Supply ist fast dreißig Jahre alt, ein
betagtes Mädchen, das gewissermaßen schon die Letzte Ölung bekommen
hat. Ihr Kommandant ist Leutnant Harry Ball. Der Supply
steht eine schwierige Fahrt bevor - sie ist noch nie über Plymouth
hinausgekommen.«
»Haben Sie vielen Dank für die Auskünfte, Mr
Donovan.« Richard grüßte nach Marineart und schlurfte davon.
Ein Mann, der gern zur See fährt, aber nie mehr als
zwei Fahrten auf demselben Schiff macht, dachte Richard. Ein Mann,
der mit der See verheiratet ist.
Zurück im dunklen Gefängnis, berichtete Richard den
anderen von der militärischen Eskorte. »Deshalb vermute ich, dass
es jeden Tag losgehen kann, zumindest bis nach Plymouth.«
Auch Ike Rogers konnte mit einer Neuigkeit
aufwarten. »In der Botany Bay bekommen wir Frauen«, sagte er mit
großer Genugtuung. »Die Lady Penrhyn befördert nur Frauen -
hundert Stück, heißt es.«
»Eine halbe für jeden Mann von der
Alexander«, sagte Bill Whiting. »Bei meinem Pech kriege ich
bestimmt die Hälfte, die sprechen kann. Da halte ich mich doch
lieber an die Schafe.«
»In Plymouth sollen noch mehr Frauen aus Dünkirchen
dazukommen.«
»Und noch mehr Schafe und Kälber, was,
Taffy?«
Am ersten Februartag setzten die vier Schiffe
endlich Segel. Bei ruhiger Fahrt legten sie die sechzig Seemeilen
nach Margate Sands in vier Tagen zurück. Noch ehe sie North
Foreland umrundet und die Straße von Dover erreicht hatten, wurden
die ersten Männer seekrank. In Richards Koje waren alle wohlauf,
doch kaum bekam die Alexander leichte Querseen, lag auch Ike
Rogers flach. Als sie einige Stunden später vor Margate Anker
warfen, fühlte er sich sterbenselend.
»Merkwürdig«, sagte Richard, als er ihm gefiltertes
Wasser zu trinken gab. »Ich hätte nicht gedacht, dass die See einem
Reiter so zusetzen kann. Im Sattel wird man doch auch
durchgeschüttelt.«
»Rauf und runter, ja, aber nicht hin und her«,
stöhnte Ike. Er war dankbar für das Wasser, denn etwas anderes
konnte er nicht bei sich behalten. »Mein Gott, Richard, das
überlebe ich nicht.«
»Unsinn! Das geht vorüber, irgendwann wirst du
seefest.«
»Das bezweifele ich. Ich bin eben kein richtiger
Bristoler.«
»In Bristol gibt es viele wie mich, die noch nie
auf einem schwimmenden Schiff waren. Ich weiß nicht, wie es mir
ergehen wird, wenn wir die offene See erreichen. Jetzt iss den
Brei. Ich habe etwas Brot in Wasser eingeweicht. Er wird nicht
wieder hochkommen, das verspreche ich dir.«
Doch Ike drehte den Kopf weg.
Neddy Perrott hatte mit Crowder und Davis in der
unteren Etage eine Abmachung getroffen. Sowie sich oben einer
erbrach, würde er einen Warnruf ausstoßen, und als Gegenleistung
sollten William Stanley aus Seend und Mikey Dennison die
Schweinerei aufwischen und die Nachttöpfe leeren. Am Achterschott
stand ein 200-Gallonen-Fass mit Meerwasser zum Waschen und Putzen.
Die Nachttöpfe mussten in die bleiverkleideten Springluken geleert
werden. Sie liefen unter den Verschlägen am Rumpf entlang und
führten in die Bilgen, die eigentlich jeden Tag leer gepumpt werden
sollten. Doch wer etwas von Schiffen verstand wie Mikey
Dennison schwor, dass die beiden Bilgepumpen der Alexander
mit Abstand die miserabelsten waren, die er jemals erlebt
hatte.
Den ganzen Januar über mussten sie mithilfe der
leeren, mit Wasser aufgefüllten Nachttöpfe die Exkremente die
Springluken hinunterspülen, sodass ihnen zum Waschen keine größeren
Gefäße als ihre Trinkbecher blieben. Als Leutnant Shairp das
Gefängnis inspizierte, war er über die Zustände dort so empört,
dass er jeder Koje einen zusätzlichen Nachttopf nebst Schwabber und
Scheuerbürsten bewilligte. Nun hatten die Gefangenen einen
Nachttopf zum Verrichten der Notdurft und zum Putzen und einen
zweiten, um sich und ihre Kleider zu waschen.
»Aber das ändert nichts am Zustand der Bilgen«,
sagte Mikey Dennison. »Igitt-igitt!« Dring und Robinson aus Hall
pflichteten ihm aus tiefster Seele bei.
Wenn es draußen hell war, stahlen sich ein paar
schwache Lichtstrahlen durch die Gitter auf den Luken, doch die
übrige Zeit verbrachten die 190 Sträflinge der Alexander in
völliger Dunkelheit. Außerdem verbot ihnen Leutnant Shairp, das
Oberdeck zu betreten, solange sie auf See waren. Nur die Fahrt
sorgte für etwas Abwechslung. Die Alexander krängte in
schwerer See, als sie Dover und Folkstone passierten, Dungeness
umrundeten und in den Ärmelkanal einliefen. Einen Tag lang litt
Richard unter Übelkeit. Er würgte sogar zweimal. Doch er erholte
sich rasch wieder und fühlte sich alles in allem erstaunlich gut
für einen Mann, der seit über einem Monat praktisch nur von
Schiffszwieback und Pökelfleisch lebte. Bill und Jimmy litten am
meisten, Will und Needy dagegen waren nur etwas blasser um die Nase
als Richard. Und Taffy, der Waliser, geriet regelrecht in
Verzückung, weil sie jetzt wenigstens Fahrt machten.
Ikes Zustand verschlimmerte sich zusehends. Die
Gefährten und besonders Joey Long pflegten ihn aufopferungsvoll,
aber nichts schien den entkräfteten Straßenräuber von der
Seekrankheit kurieren zu können.
»Eastbourne liegt bereits achteraus, als Nächstes
kommt Brighton«, sagte der Seesoldat Davy Evans in der dritten
Woche auf See zu Richard.
Am 12. Februar starben die ersten Sträflinge an
einer rätselhaften Krankheit, die niemand kannte.
Sie begann mit Fieber, laufender Nase und Taubheit
auf einem Ohr, dann schwoll eine Kinnbacke an wie bei einem Kind,
das Mumps hatte. Der Kranke konnte zwar ohne Beschwerden schlucken
und atmen, doch die weiche Schwellung war sehr schmerzhaft.
Irgendwann ging sie zurück, doch dafür schwoll jetzt die andere
Seite an, und zwar noch dicker. Nach zwei Wochen klang auch die
zweite Schwellung ab, und der Kranke wähnte sich schon auf dem Weg
der Besserung, da schwollen seine Hoden auf das Vierfache der
normalen Größe an und bereiteten ihm so unsägliche Schmerzen, dass
er nur noch wimmernd dalag und sich nicht zu rühren wagte.
Gleichzeitig stieg das Fieber wieder. Einige genasen etwa eine
Woche später, die anderen starben einen qualvollen Tod.
Dann erreichten sie endlich Portsmouth! Am 22.
Februar ankerten die vier Schiffe eine Bootsfahrt von der Küste
entfernt in der Mother Bank. Mittlerweile hatte die heimtückische
Krankheit auf die Seesoldaten übergegriffen und auch einen Matrosen
niedergestreckt. Nach wie vor war unklar, um was es sich handelte -
jedenfalls nicht um Fleckfieber, Typhus, Scharlach oder die
Blattern. Schon ging das Gerücht, es sei der schwarze Tod - bekamen
die Kranken nicht widerwärtige Beulen?
Drei Matrosen desertierten beim ersten Landgang,
und die Seesoldaten gerieten so in Panik, dass Leutnant Shairp
unverzüglich seine Vorgesetzten, Major Robert Ross und Oberleutnant
John Johnstone von der in Plymouth stationierten 39.
Marineinfanteriekompanie, aufsuchte. Drei Seesoldaten wurden ins
Hospital eingeliefert, andere zeigten erste Symptome.
Am nächsten Tag kam Leutnant Johnstone, der
ebenfalls Schotte war, in Begleitung eines Arztes aus Plymouth an
Bord. Der Doktor warf einen Blick auf die Kranken, hielt sich ein
Taschentuch vor die Nase und wich zurück. Die Krankheit sei
bösartig und unheilbar, erklärte er und wies weitere Seesoldaten
ins Krankenhaus ein. Er nahm das Wort »Pest« nicht in den Mund,
doch gerade diese Unterlassung ließ keinen Zweifel an seiner
heimlichen
Diagnose. Er empfahl, Besatzung und Häftlinge mit frischem Fleisch
und Gemüse zu verköstigen. Mehr könne er nicht tun.
Es ist wie im Gefängnis von Gloucester, dachte
Richard. Wenn zu viele Menschen auf engstem Raum zusammenleben,
bricht eine Krankheit aus und lichtet die Reihen.
»Uns wird nichts geschehen, wenn wir in dem Teil
des Decks bleiben, den wir geschrubbt haben, wenn wir unsere Näpfe
und Becher mit Teeröl auswischen, unser Wasser filtern und
regelmäßig einen Löffel Malzextrakt einnehmen. Für mich steht fest,
dass die Leute von der Justitia die Krankheit eingeschleppt
haben, und die sind im Vorschiff untergebracht.«
Zum Abendessen bekamen sie wie gewöhnlich Hartbrot
mit Rindfleisch, doch diesmal war das Fleisch frisch und nicht
gepökelt, und als Beilage gab es Kohl und Lauch. Das Gemüse
schmeckte wie Ambrosia.
Danach gerieten sie in Vergessenheit. Niemand wagte
sich in ihre Nähe, nur zwei verängstigte junge Seesoldaten - Davy
Evans und Tommy Green waren fort - brachten ihnen frisches Fleisch
und Gemüse. Die Tage verstrichen in dumpf brütender Stille, nur
unterbrochen vom Stöhnen der Kranken und gelegentlichen kurzen
Gesprächen. Der Februar verging und der März schleppte sich dahin.
Weitere Kranke starben und wurden einfach liegen gelassen.
Als endlich jemand die vordere Luke öffnete,
geschah dies nicht, um die Leichen zu entfernen. Fünfundzwanzig
neue Sträflinge wurden in das stinkende kalte Gefängnis
getrieben.
»Himmeldonnerwetter«, fluchte die Stimme John
Powers. »Sind die noch ganz bei Trost, diese Schwachköpfe? Hier
unten ist alles krank, und die stopfen die Bude wieder voll!
Herrgott noch mal!«
Ein interessanter Mann, dieser John Power, dachte
Richard. Er sorgt vorn unter den schweren Jungs aus dem London
Newgate für Ordnung. Jetzt gebietet er nicht nur über das
Krankenrevier, sondern auch über eine neue Gruppe von Insassen.
Armer Hund. Unsere Zahl war von 200 auf 185 geschrumpft, jetzt sind
wir 210.
Bis zum 13. März starben weitere drei Männer. Auf
den Pritschen
des Krankenreviers lagen sechs Leichen, mehrere davon seit über
einer Woche. Niemand kam herunter, um sie fortzuschaffen.
Mittlerweile war es ein offenes Geheimnis, dass sie die Pest an
Bord hatten. Am 13. März öffnete sich kurz nach Tagesanbruch die
vordere Luke, und Seesoldaten mit Handschuhen und vermummten
Gesichtern kamen herunter und trugen die sechs Leichen
hinauf.
»Warum?«, fragte Will Connelly. »Nicht dass ich
etwas dagegen hätte, Gott bewahre. Aber warum gerade jetzt?«
»Vermutlich steht uns hoher Besuch ins Haus«, sagte
Richard. »Putzt euch heraus, Jungs, ihr müsst vor Gesundheit nur so
strotzen.«
Und tatsächlich, kaum waren die Leichen fort,
erschien Major Ross in Begleitung von Leutnant Johnstone, Leutnant
Shairp und einem Fremden, der, nach seinem Auftreten zu urteilen,
Arzt war. Ein schlanker Mann mit langer Nase und großen blauen
Augen, dem eine hübsche blonde Locke in die blasse breite Stirn
fiel. Sie brachten Laternen und eine Eskorte von zehn Seesoldaten
mit, die sich in den Gängen auf der Backbord- und Steuerbordseite
verteilten und aussahen wie Männer, die ins Verderben geschickt
wurden - jung genug, um sich einschüchtern zu lassen, und alt
genug, um zu wissen, was für ein Gespenst hier unten umging.
Weiches goldenes Licht erfüllte den Raum, und
endlich sah Richard die Schreckenskammer in allen Einzelheiten. Die
Kranken belegten inzwischen alle vierunddreißig Pritschen, die,
abgetrennt von den anderen, in der Mitte des Raums vor den Tischen
standen. Dahinter, in der Nähe des Bugs, wo der Vormast das Deck
durchbohrte, befand sich ein Schott, das viel schmaler war als das
hinter Richards Koje. Die zweistöckigen Bettkästen liefen ohne
Unterbrechung rings um den ganzen Raum. So also stellen sie es an,
dachte Richard! So schaffen sie es, 210 arme Teufel in einen Raum
zu pferchen, der an der breitesten Stelle ganze 35 Fuß misst und
keine 70 Fuß lang ist. Wir liegen hier wie Flaschen in einem Regal.
Kein Wunder, wenn wir sterben. Im Vergleich hiermit ist Gloucester
ein Paradies - dort kommt man wenigstens an die frische Luft und
darf arbeiten. Hier gibt es nur Dunkelheit und Gestank,
Untätigkeit und Wahnsinn. Unablässig predige ich meinen Leuten,
dass wir durchhalten müssen, aber wie sollen wir hier überleben?
Mein Gott, es ist zum Verzweifeln.
Alle drei Offiziere waren ihrem Akzent nach
Schotten. Ross war ein mürrischer Rotblonder, schmächtig und mit
einem nichts sagenden Gesicht bis auf den schmalen, energischen
Mund und die kalten hellgrauen Augen.
Zunächst unternahm er, an Steuerbord beginnend,
einen Rundgang durch das Gefängnis. Er ging gemessenen Schrittes
wie bei einer Beerdigung und drehte den Kopf mit der
Gleichmäßigkeit eines Uhrwerks von einer Seite auf die andere. Bei
den Pritschen der Kranken blieb er stehen, nahm ohne jedes
Anzeichen von Furcht die Kranken in Augenschein und tuschelte mit
dem Arzt, der mehrfach energisch den Kopf schüttelte. Dann setzte
er seine Runde fort, schritt an den Bettkästen am Vormast entlang
und kam den Gang auf der Backbordseite wieder herunter.
Vor Dring und dem über ihm liegenden Issac Rogers
blieb er abermals stehen, blickte zu Boden, winkte einem der
Seesoldaten und befahl ihm, die Nachttöpfe hervorzuziehen. Sie
waren geleert und ausgespült. Sein Blick fiel auf Ike, der
zitterte, obwohl sein Kopf in Joey Longs Schoß lag.
»Dieser Mann ist krank«, sagte er mehr zu Johnstone
als zum Doktor. »Lassen Sie ihn zu den anderen bringen.«
»Mit Verlaub, Sir«, sagte Richard, vor Schreck jede
Vorsicht vergessend. »Es ist nicht so, wie Sie denken. Hier bei uns
hat sich niemand angesteckt. Er ist nur halb tot vor Seekrankheit,
das ist alles.«
Auf dem Gesicht des Majors mischten sich Entsetzen
und Mitgefühl. Er ergriff Ikes Hand und drückte sie. »Ich weiß aus
eigener Erfahrung, was du durchmachst. Da hilft nur eins:
Schiffszwieback und Wasser.«
Ein Major der Marineinfanterie, der unter
Seekrankheit litt!
Die hellgrauen Augen ruhten kurz auf Richard,
wanderten weiter zu seinen Gefährten in den letzten beiden oberen
Kojen, registrierten die kurz geschorenen Haare, die feuchten
Kleider und Lappen auf den Leinen, die zwischen den Balken gespannt
waren,
die frisch rasierten Gesichter, die ihn mit einem gewissen Stolz
anblickten, der nichts mit Aufsässigkeit zu tun hatte. »Bei euch
ist alles sehr sauber«, sagte er und zupfte an der Matte.
»Wirklich, sehr ordentlich.«
Niemand antwortete.
Major Ross drehte sich um und stieg unterhalb der
Luke, durch die ein frischer Luftzug hereinwehte, auf die Bank. Er
hatte keinerlei Ekel vor den übel riechenden Dünsten gezeigt, die
durch das Gefängnis waberten, doch da oben fühlte er sich sichtlich
wohler.
»Ich bin Major Robert Ross«, rief er mit
Kasernenhofstimme, »Kommandeur der Marineinfanterie bei dieser
Expedition und Vizegouverneur von Neusüdwales. Ich gebiete über
euch und euer Leben. Gouverneur Phillip hat sich um andere
Angelegenheiten zu kümmern. Für euch bin ich allein zuständig. Die
Zustände auf diesem Schiff sind alles andere als zufrieden
stellend. Männer sterben an Bord, und ich werde herausfinden,
warum. Das ist Mr William Balmain, der Schiffsarzt der
Alexander. Er tritt morgen seinen Dienst an. Leutnant
Johnstone ist der befehlshabende Offizier an Bord, Leutnant Shairp
sein Stellvertreter. Wie es scheint, habt ihr in den letzten zwei
Monaten kaum frische Lebensmittel bekommen. Das wird sich ändern,
solange das Schiff im Hafen liegt. Wir werden dieses Deck
ausschwefeln, deshalb müssen wir einen Großteil von euch verlegen.
Nur die zweiundsiebzig Mann am Achterschott bleiben an Bord und
packen mit an.«
Er winkte den beiden Leutnants. Sie setzten sich zu
seinen Füßen auf den Tisch und holten Papier, Tinte und Federkiel
aus einer Schreibmappe, die Leutnant Shairp mitgebracht hatte. »Ich
werde nun eine Zählung vornehmen«, rief der Major. »Wenn ich auf
einen Mann deute, nennt er mir seinen Namen und den Namen des
Gefangenenschiffs, von dem er kommt. Fangen wir an.« Er deutete auf
Jimmy Price.
Die Prozedur zog sich in die Länge. Major Ross war
ein gründlicher Mensch, doch seine beiden Helfer taten sich schwer.
Schreiben war offensichtlich nicht ihre Stärke. Nach dem
zwanzigsten Namen kletterte der Major vom Tisch und sah nach, was
sie zu Papier gebracht hatten.
»Ihr Hornochsen! Analphabeten! Wollt ihr eure
Beförderung in den Wind schreiben? Hohlköpfe! Idioten! Zu blöd, um
in einem Bordell eine Hure zu finden!«
Puh, dachte Richard, was für ein jähzorniger
Mensch! Er putzt seine jungen Offiziere ohne Bedenken vor den
Sträflingen herunter.
Als die Seesoldaten wieder abzogen, war die
Dunkelheit nur schwer zu ertragen. Ein Schleier hatte sich gelüftet
und die ganze monströse Scheußlichkeit des Gefängnisses enthüllt,
doch das goldene Licht war angenehm gewesen, und irgendwie hatte
der Anblick der vielen Männer, die mit Eulenaugen in ihren Kojen
hockten, das Grauen auf ein menschliches Maß gestutzt. Als die
letzte Laterne fort war, wuchs es wieder. Es war Nacht geworden.
Major Ross hatte ihnen frische Lebensmittel versprochen, doch
dachte niemand daran, ihnen etwas zu essen zu bringen.
Das Ausschwefeln bestand darin, dass man in jedem
Winkel unter dem Oberdeck Schwarzpulver zur Explosion brachte und
dann rasch die Luken verschloss.
In der Frage, ob die an Bord zurückgebliebenen
Sträflinge Handschellen tragen sollten oder nicht, gerieten
Johnstone und Shairp aneinander. Johnstone setzte seinen Willen
durch, und die Hände blieben frei. Der unterlegene Shairp stieg in
die Jolle und besuchte einen Kameraden an Bord eines anderen
Schiffes, das in die Botany Bay segeln sollte. Es waren inzwischen
noch einige Schiffe dazugestoßen, eins davon fast so groß wie die
Alexander.
»Das ist die Scarborough«, erklärte Stephen
Donovan, der vierte Maat, und kraulte den orangefarbenen Kater auf
seinem Arm. »Und das da drüben sind die Lady Penrhyn - Sie
kennen sie - und noch die Prince of Wales, weil man auf den
fünf Truppentransportern nicht alle untergebracht hat. Die
Charlotte und die Friendship sind nach Plymouth
gesegelt, um das Kontingent aus Dünkirchen zu holen.«
»Und die drei da drüben an der Küste, die gerade
Fracht von den Leichtern übernehmen?«, fragte Richard. Er wandte
den Kopf und schickte einen drohenden Blick in Richtung Bill
Whiting, dem
die relative Freiheit offenbar die Zunge löste und der drauf und
dran war, einen Tuntenwitz zu reißen, der Stephen Donovan nicht
sonderlich gefallen dürfte.
»Das sind die Versorgungsschiffe Borrowdale,
Fishburn und Golden Grove. Wir nehmen so viele Vorräte
an Bord, dass wir in der Botany Bay drei Jahre damit auskommen«,
sagte Mr Donovan. Er sah Richard wieder zärtlich an.
»Und wie lange brauchen wir für die Fahrt in die
Botany Bay nach Meinung der Admiralität?«, fragte Tommy
Crowder.
Crowder war nicht nach Mr Donovans Geschmack, und
so richtete er seine Antwort lieber an Richard Morgan, der ihn
zutiefst faszinierte. Nicht so sehr wegen seines Äußeren, obwohl er
zweifellos blendend aussah, sondern wegen seiner reservierten Art,
weil er den Eindruck eines Mannes machte, der seine Gedanken gerne
für sich behielt. Eine Führernatur, aber von einem ganz anderen
Schlag als Johnny Power, der als Themse-Schiffer mit der Besatzung
in gutem Einvernehmen stand.
»Nach Einschätzung der Admiralität vier bis sechs
Monate«, antwortete Mr Donovan, ohne Crowder eines Blickes zu
würdigen.
»Das wird nicht reichen«, sagte Richard.
»Ganz meine Meinung. Die Admiralität geht bei ihren
Berechnungen immer davon aus, dass der Wind günstig steht, dass nie
ein Mast bricht, nie eine Spiere über Bord geht, nie ein Segel
zerreißt oder eine Gording lose wird.« Er kraulte die schnurrende
Katze unterm Kinn.
»Haben Sie auch einen Hund?«, fragte Richard.
»Mistviecher. Rodney ist die Bordkatze der
Alexander und nimmt es mit jedem Köter hier auf, deswegen
legt sich keiner mit ihm an. Er ist nach Admiral Rodney benannt,
unter dem ich in Westindien gedient habe. Dort haben wir vor
Jamaika die Franzosen verprügelt.« Eine Bulldogge schlich um sie
herum, und Donovan schürzte verächtlich die Lippen. Rodney folgte
seinem Beispiel, und die Bulldogge suchte schleunigst das Weite.
»Wir haben siebenundzwanzig Hunde an Bord, und alle gehören
Seesoldaten. Die Spaniels und Terrier sind ja gar nicht so übel,
sie jagen Ratten,
aber die Jagdhunde sind bloßes Haifischfutter. Hunde gehen über
Bord, Katzen nie.« Wie um seine Behauptung zu untermauern, küsste
er Rodney auf den Kopf und setzte ihn auf die Reling. Unbeeindruckt
vom Plätschern in der Tiefe, legte sich Rodney hin, zog die
Vorderpfoten ein und schnurrte weiter.
»Wohin hat man eigentlich die anderen Sträflinge
gebracht?«, fragte Will Connelly.
»Einige auf die Firm, andere auf die
Fortunee, die Kranken in ein Hospital und den Rest auf den
Leichter da drüben.« Donovan deutete übers Wasser.
»Für wie lange?«
»Für mindestens ein bis zwei Wochen, möchte ich
meinen.«
»Aber auf dem Leichter werden die Männer
erfrieren.«
»Keineswegs. Sie werden jeden Abend in Handschellen
und aneinander gekettet in ein Lager an Land gebracht. Besser auf
einem Leichter als auf einem Gefangenenschiff.«
Tags darauf kam William Balmain, der Schiffsarzt
der Alexander, mit zwei Kollegen an Bord, offenkundig um
nun, da die Kranken fort waren, das Schiff zu inspizieren. Der eine
Kollege war John White, der ranghöchste Arzt der Expedition, wie
Stephen Donovan den Sträflingen zuraunte, der andere der ihnen
bereits bekannte Doktor aus Portsmouth, den Leutnant Shairp gleich
nach dem Einlaufen der Alexander geholt hatte.
Da den Sträflingen noch keine Arbeit zugeteilt
worden war, lungerten sie in unmittelbarer Nähe der Ärzte herum und
spitzten die Ohren. Auch die Besatzung platzte vor Neugier, war
allerdings zu beschäftigt, um dem Gespräch der Doktoren zu
lauschen, da just in diesem Augenblick Leichter mit Fracht
längsseits gingen.
Der Arzt aus Portsmouth äußerte die Überzeugung,
dass es sich bei der Krankheit um eine seltene Form der Beulenpest
handele, doch White und Balmain widersprachen.
»Sie ist bösartig«, rief der Arzt. »Es ist die
Beulenpest!«
»Gutartig!«, hielten die Schiffsärzte dagegen. »Es
ist nicht die Beulenpest!«
Doch hinsichtlich der Präventivmaßnahmen herrschte
Einigkeit
: Die Zwischendecks sollten ein zweites Mal ausgeschwefelt, dann
sorgfältig mit Teeröl geschrubbt und schließlich dick mit Tünche
gestrichen werden, einem Gemisch aus ungelöschtem Kalk,
Kreidepulver, Kleister und Wasser.
Stephen Donovan, der an Bord geblieben war, um das
Verstauen der Fracht zu überwachen, war davon nicht angetan. An
Deck stapelten sich Säcke, Kisten, Tonnen, Pakete und Fässer jeder
Größe.
»Ich muss das Zeug unter Deck schaffen«, fuhr er
White und Balmain an. »Wie soll das gehen, wenn Sie die Decks
ausschwefeln und den ganzen Tag die Luken geschlossen halten? Das
Einzige, was der Alexander helfen könnte, sind bessere
Bilgepumpen!«
»Der Gestank kommt von den Leichen«, meinte Balmain
hochnäsig, »gründlich ausschwefeln, dann verfliegt er nach ein oder
zwei Wochen auf See.«
White war nach achtern gegangen, um festzustellen,
wie sich die Fracht unter Deck schaffen ließ. Ein Blick durch die
Gefängnisluke klärte ihn darüber auf, dass die Tische und Bänke
entfernt worden waren. Darunter waren sechs Fuß breite Luken zum
Vorschein gekommen, die direkt unter denen im Oberdeck lagen,
sodass selbst die riesigen Wassertonnen mit Davits binnenbords
gefiert und direkt in die Orloplast gesenkt werden konnten.
Geschäftig kehrte er ins Vorschiff zurück, schob Balmain und
Donovan beiseite und erteilte Befehle.
Die sechsunddreißig Steuerbordsträflinge wurden ins
Gefängnis beordert, um das Deck zu schrubben und den gesamten Raum
mit Essig zu reinigen, bevor er mit Schwarzpulver ausgeschwefelt
werden sollte. Die Backbordinsassen eilten mit demselben Auftrag
ins Logis der Seesoldaten im Frachtraum.
»Du meine Güte«, kreischte Taffy Edmunds dort. »Der
arme Davy Evans hatte Recht - im Vergleich hiermit leben wir ja wie
im Paradies, obwohl es himmlisch wäre, in einer Hängematte zu
schlafen.«
Der Fußboden des Frachtraums war mit Bilgewasser
überflutet, das Ekel erregend stank und zudem Dämpfe freisetzte,
die die Zinnknöpfe an den roten Röcken der Seesoldaten schwarz
anlaufen
ließen. Der Raum war nur knapp sechs Fuß hoch, sodass man unter
den Decksbalken den Kopf einziehen musste wie auf der
Ceres.
Dort wurden Richard und die Backbordinsassen zu
Zeugen eines denkwürdigen Streits zwischen Major Ross und Captain
Sinclair. Er begann in dem Augenblick, als der Major die Holzleiter
vom darüber liegenden Mannschaftslogis herunterkam.
»Bewegen Sie sich mal hier runter, Sie schlaffer
Sack«, brüllte Ross. »Sehen Sie sich diese Schweinerei an.«
Vor den faszinierten Blicken der sechsunddreißig
Sträflinge erschien mit besudelten Stiefeln Captain Sinclair auf
der Leiter. Er tropfte förmlich an ihr herunter wie Sirup an einer
Schnur. »Niemand«, keuchte er, als er endlich unten anlangte, »darf
so mit mir sprechen, Major! Ich bin nicht nur der Kapitän dieses
Schiffes, ich bin auch einer seiner Eigner.«
»Umso schwerer wiegt Ihre Schuld! Los, schauen Sie
sich um. Sehen Sie sich an, wie die Seesoldaten Seiner Majestät
seit Monaten hausen müssen! Fast drei Monate! Die Soldaten sind
krank und verängstigt, und wer kann es ihnen verdenken! Ihre Hunde
haben es besser, und genauso die Schweine und Schafe, die Sie an
Bord halten, um sich den Bauch voll zu schlagen! Sie thronen da
oben wie der Gockel auf dem Mist, haben eine Kabine für die Nacht
und eine für den Tag und eine große Kajüte ganz für sich allein.
Meine Offiziere dagegen hausen in einem stickigen Kabuff und müssen
mit den Mannschaften essen! Das wird sich ändern, Sie voll
gefressener Strumpf, oder ich werfe Sie eigenhändig in diese
Jauchegrube!« Ross legte die Hand auf den Säbelknauf, und seine
Miene ließ keinen Zweifel daran, dass er festen Willens war, die
Drohung wahr zu machen.
»Ihre Männer bleiben hier, ich habe keine andere
Unterkunft für sie«, entgegnete Sinclair. »Um die Wahrheit zu
sagen, nehmen sie nur wertvollen Platz weg, den meine Firma
dringend für Fracht benötigt, die wertvoller ist als eine Bande
nichtsnutziger Trinker, die für die Marine zu dumm und für das Heer
zu arm sind! Sie sind der Abschaum der Welt, Ross, Sie und Ihre
Seesoldaten! Kein Wunder, dass die Seesoldaten für Tagediebe
gelten. Sie stellen die
Kombüse meiner Leute auf den Kopf, und ihre Köter scheißen vom
Bugspriet bis zur Heckreling das Deck voll - sehen Sie sich meine
Stiefel an! Hundekacke, Ross, widerliche Hundekacke. Zwei von
meinen Hennen sind tot, außerdem vier Enten und eine Gans! Nicht zu
reden von dem Mutterschaf, das ich erschießen musste, weil eine
räudige Bulldogge sich in dem Tier verbissen hatte und nicht mehr
auslassen wollte. Jawohl, aber zuerst habe ich dem Köter eins
übergebrannt, Sie schottischer Hinterwäldler!«
»Wer ist hier ein Hinterwäldler, Sie Hurensohn aus
Glasgow?«
Eine Pause trat ein, in der die Streithähne
fieberhaft nach neuen, tödlichen Beleidigungen suchten und die
Sträflinge aus Angst, man könnte sie bemerken und an Deck schicken,
keinen Mucks machten.
»Die Lords der Admiralität haben den Tender der
Firma Walton akzeptiert, und der ist genauso ausgestattet wie die
Alexander«, sagte Sinclair, die Augen zwei funkelnde
Schlitze. »Beschweren Sie sich bei Ihren Vorgesetzten, Ross, nicht
bei mir! Als ich erfuhr, dass ich neben 210 Sträflingen auch noch
40 Seesoldaten an Bord nehmen sollte, war ich alles andere als
erfreut. Ihre Leute bleiben hier, ob es Ihnen passt oder
nicht.«
»Es passt mir nicht, Sie Elefantenarsch! Sie werden
meine Leute ins Zwischendeck umquartieren und meine Offiziere
standesgemäß unterbringen, oder ich beschwere mich an höherer
Stelle über Sie, und wenn ich damit zu Lord Sydney und Mr Pitt
laufen muss! Sie haben zwei Möglichkeiten, Sinclair. Entweder Sie
lassen meine Leute und Ihre Mannschaft die Quartiere tauschen, oder
Sie verlegen das Achterschott im Gefängnis um fünfundzwanzig Fuß
nach vorn und schaffen so Platz für meine Leute. Jetzt, wo sich die
Prince of Wales der Flotte angeschlossen hat, kann sie die
verlegten Sträflinge aufnehmen. Und damit basta.« Ross schlug die
weiß behandschuhten Hände zusammen.
»Mitnichten«, zischte Sinclair, dessen in Wallung
geratene Fettberge einen homerischen Anblick boten. »Laut Vertrag
soll die Alexander 210 Sträflinge befördern, nicht 140
Sträflinge und 40 Seesoldaten! Der Zweck dieser Expedition besteht
nicht darin, eine Bande verlotterter Seesoldaten zu verwöhnen,
sondern möglichst
viele Schwerverbrecher aus England ans andere Ende der Welt zu
expedieren. Ich behalte die volle Anzahl von Sträflingen und
übernehme mit Ihrer gütigen Erlaubnis mit meiner Mannschaft die
volle Verantwortung für ihre Bewachung. Die Sache ist doch ganz
einfach, Major Ross. Ziehen Sie Ihre Seesoldaten von der
Alexander ab. Ich sperre die Sträflinge für die Dauer der
Überfahrt ins Gefängnis und lasse sie durch die Lukengitter
versorgen, dann sind Ihre Leute überflüssig.«
»Lord Sydney und Mr Pitt werden das nicht
zulassen«, erwiderte Ross überzeugt. »Das sind fortschrittlich
denkende Männer, denen daran gelegen ist, dass die Sträflinge bei
der Ankunft in der Botany Bay in einer besseren Verfassung sind als
die Sklaven, die Sie auf Barbados abliefern! Wenn Sie die Männer
ein Jahr lang einsperren, ist die Hälfte bei der Ankunft tot und
die andere reif fürs Tollhaus. Deshalb kommen Sie nicht darum
herum, innerhalb des nächsten Monats eine Achterhütte und eine Back
zu bauen. Dann können Sie ein Deck höher ziehen und meinen
Offizieren Ihr Achterdeck überlassen. Vergessen Sie nicht, dass Sie
auch den Schiffsarzt, den Marineagenten und den Firmenagenten
unterbringen müssen, und die haben alle Achterdeckrang. Die werden
auch ohne Sie den ganzen Platz brauchen, Sie elender Wicht! Und
Ihre Matrosen stecken Sie gefälligst dorthin, wo sie hingehören, in
eine Back. Dann können meine Unteroffiziere und Mannschaften ins
Zwischendeck ziehen, und ich sorge dafür, dass sie einen Herd
bekommen, auf dem sie für sich und die Gefangenen kochen
können.«
Hatten die grauen Augenschlitze des Majors zu
Beginn der Rede noch Zorn versprüht, so funkelten sie jetzt listig.
»Das«, entgegnete Sinclair, »würde die Firma Walton mindestens
tausend Pfund kosten.«
Major Ross drehte sich um und erklomm die Leiter.
»Schicken Sie die Rechnung an die Admiralität«, sagte er und
verschwand. Captain Sinclair glotzte die Leiter an, dann schien er
zum ersten Mal die Männer zu bemerken, die ihn schweigend
umringten. »Ihr bildet eine Eimerkette und schafft die Brühe raus«,
sagte er barsch zu Ike Rogers. »Und wenn ihr schon dabei seid,
öffnet die Luke da
vorn und schöpft die Steuerbordbilge aus. Die anderen nehmen sich
die Backbordbilge vor. Ich kann den Gestank auf dem Achterdeck
riechen.« Er blickte wieder zur Leiter. »Du, du und du«, sagte er
zu Taffy, Will und Neddy, die alle groß gewachsen waren, »ihr nehmt
mich auf die Schultern und schiebt mich die Leiter rauf.«
So geschah es. Kaum waren Sinclairs Schritte oben
verklungen, brachen die Sträflinge in kreischendes Gelächter
aus.
»Einen Moment lang dachte ich, du tunkst ihn mit
der Fresse ins Bilgewasser, Neddy«, japste Ike.
»Ich hätte nicht übel Lust dazu gehabt«, erwiderte
Neddy und wischte sich die Tränen aus den Augen. »Aber er ist der
Kapitän, und mit dem Kapitän legt man sich besser nicht an. Major
Ross dagegen ist es egal, mit wem er sich anlegt, so viel ist
sicher.« Er kicherte. »Elefantenarsch! Sehr treffend! Ich wäre fast
krepiert, als wir ihn die Leiter raufwuchten mussten.«
»Major Ross ist als Sieger aus dem Gefecht
hervorgegangen«, sagte Aaron Davis nachdenklich, »aber er hat sich
weit aus dem Fenster gelehnt. Wenn Captain Sinclair die Achterhütte
und die Back tatsächlich baut, wird die Admiralität sich weigern,
die Rechnung zu bezahlen, und Major Ross in den Hintern
treten.«
»Das kann ich mir nicht vorstellen«, sagte Richard.
»Er hat doch Recht. Ohne Achterhütte und Back kann die
Alexander nicht so viele Leute aufnehmen.« Er seufzte. »Wer
beteiligt sich an der Eimerkette? Das heißt, wenn wir Leutnant
Johnstone dazu bewegen können, uns mehr Eimer zu bringen, denn ich
möchte die faulige Brühe nicht mit unseren Nachttöpfen ausschöpfen.
Jimmy, lauf zu dem Leutnant und schwatze ihm ein paar Eimer
ab.«
Captain Sinclair ließ die Umbauten vornehmen,
allerdings für erheblich weniger als tausend Pfund. Während die
Sträflinge, die noch an Bord waren, sich mit Teeröl und Tünche
abrackerten, ging die Beladung des Schiffs weiter, sodass sie einen
guten Überblick bekamen, was wo verstaut wurde. Die Ersatzmasten
wurden unter den Booten am Oberdeck festgelascht, während Spieren,
Segeltuch und Tauwerk unter Deck wanderten. Die 160 Gallonen
fassenden Wassertonnen, die mit Abstand schwersten Objekte,
wurden jeweils zu mehreren zwischen anderer, leichterer Fracht
verstaut. Fass um Fass mit Pökelfleisch kam an Bord, Sack um Sack
mit Hartbrot, Trockenerbsen, Kichererbsen und Reis, dazu Fässchen
mit Mehl, unzählige, in grobes Tuch eingeschlagene Pakete, die mit
dem Namen des Eigentümers beschriftet waren, und ballenweise
Kleidung, die offenbar für die Sträflinge bestimmt war, wenn sie
ihre augenblicklichen Kittel abgetragen hatten.
Jedermann wusste, dass auch Fässer mit Rum an Bord
waren. Kein Matrose und kein Seesoldat würde die Reise ohne einen
Tropfen durchstehen. Rum machte die quälende Enge in den Quartieren
und die miserable Verpflegung erträglich, deshalb durfte er nicht
fehlen. Doch er wurde nicht in den Lagerräumen unter dem Gefängnis
oder im Zwischendeck gelagert.
»Er ist nicht auf den Kopf gefallen, unser fetter
Kapitän«, grinste William Dring aus Hull. »Vorn im Bug sind noch
zwei Laderäume. Der obere ist fürs Brennholz, der untere hat eine
Eisenluke, und dort ist der Rum. Vom Gefängnis aus kommt man nicht
an ihn heran, denn das Bugschott ist zu dick und obendrein mit
Nägeln beschlagen, genau wie das Achterschott. Ebenso wenig von der
Brennholzlast aus, jedenfalls nicht ohne einen Heidenlärm zu
machen. Das angebrochene Fass wird auf dem Achterdeck unter
Verschluss gehalten, und der Kapitän übernimmt die Verteilung
höchstpersönlich. Diebstahl ist ausgeschlossen, denn Trimmings
passt auf.«
»Trimmings?«, fragte Richard. »Sinclairs
Steward?«
»Ja, und dem Captain treu ergeben. Spioniert und
schnüffelt überall herum.«
»Der Captain lässt die Umbauten übrigens von den
eigenen Leuten vornehmen«, sagte Joe Robinson, Drings Freund, der
als Seemann mit der Mannschaft Bekanntschaft geschlossen hatte.
»Außerdem hat er von dem Leichter und der Fortunee fünf Sträflinge
holen lassen, die mit einem Hammer umgehen können. In die
Achterhütte sind ein paar hübsche Mahagoni-Paneele hinaufgewandert.
Der Kapitän hat das komplette Kajütenmobiliar mitgenommen, sodass
Major Ross das Achterdeck neu einrichten muss, worüber er nicht
glücklich sein dürfte.«
Nein, glücklich war Major Ross nicht. Und es waren
beileibe nicht nur Captain Sinclair und die Alexander, die
ihm Verdruss bereiteten. Klatsch war an Bord der Hauptzeitvertreib,
und so erfuhren die Sträflinge von den Seesoldaten, dass Ross
erneut einen Streit vom Zaun gebrochen hatte, weil er keinen Reis
an Bord nehmen wollte. Bedauerlicherweise enthielt der Kontrakt mit
Mr William Richards junior einen Passus, der dem geschäftstüchtigen
Lebensmittellieferanten erlaubte, einen bestimmten Teil des
Weizenmehls durch Reis zu ersetzen. Reis war billig, und Richards
hatte ein Lagerhaus voll davon, außerdem beanspruchte Reis wenig
Stauraum, weil er beim Kochen aufging. Das Problem war nur, dass
Reis im Gegensatz zu Weizenmehl keinen Schutz vor Skorbut
bot.
»Das verstehe ich nicht«, sagte Stephen Martin,
einer der beiden wortkargen Männer aus Bristol, die mit Crowder und
Davis nach unten geschickt worden waren. »Wenn Mehl gut gegen
Skorbut ist, warum dann nicht auch Brot? Brot ist doch aus
Mehl.«
Richard besann sich, was sein Vetter James, der
Apotheker, zu dem Thema einst gesagt hatte. »Vielleicht hängt es
mit der Backmischung zusammen«, meinte er. »Unser Brot ist hart.
Schiffszwieback. Es enthält ebenso viel Gerste und Roggen wie
Weizen, wenn nicht sogar mehr. Gemüse und Obst sind natürlich am
besten, auf See aber nicht zu kriegen. Mein Vetter importiert für
ein paar Seekapitäne eingestampftes, gegorenes Weißkraut aus
Bremen. Das ist billiger als Malzextrakt und ebenfalls sehr gut
gegen Skorbut. Das Dumme ist nur, dass Seeleute kein Sauerkraut
mögen und mit der Peitsche gezwungen werden müssen, es zu
essen.«
»Was weißt du eigentlich nicht?«, fragte Joey Long,
dem Richard wie ein wandelndes Lexikon vorkam.
»Ich selbst weiß nicht viel, Joey. Mein Vetter ist
der Quell des Wissens. Ich brauchte ihm nur zuzuhören.«
»Und darin bist du ein Meister«, sagte Bill
Whiting. Er trat zurück und begutachtete das Ergebnis ihrer Arbeit,
die fast getan war. »Ein Gutes hat die Tünche ja. Es wird hier
unten viel heller, selbst bei vergitterten Luken.« Er legte Will
Connelly den Arm um
die Schulter. »Wenn wir uns direkt unter der Luke an den Tisch
setzen, haben wir sogar genug Licht zum Lesen.«
Anfang April waren die Sträflinge wieder
vollzählig an Bord, und die Arbeiten an Back und Achterhütte
schritten rasch voran. Captain Sinclair hatte beschlossen, das neue
Quartier für die Mannschaft Binnenbords zu errichten, sodass auf
beiden Seiten ein schmaler Durchgang frei blieb, der etwa drei Fuß
breit war und einen leichten Zugang zum Bug ermöglichte, wo sich
die Mannschaftslatrinen befanden. Für die Sträflinge, die während
der Hygienemaßnahmen an Bord geblieben waren, war es ein Segen: Die
Luken standen offen, und so konnten sie auf den Abtritt gehen und
brauchten nicht die Nachttöpfe zu benutzen. Über der Luke vor dem
Vormast wölbte sich nun ein hundehüttenähnlicher Aufbau, damit der
Koch auch bei Regen trockenen Fußes in die Brennholzlast gelangen
konnte, und auch die hintere Luke, die direkt vor dem Achterdeck
ins Zwischendeck führte, war überdacht. Dagegen blieben die beiden
Gefängnisluken einfache, mit einer Gräting aus Eisen versehene
Deckluken, die bei Bedarf mit einem schweren Deckel verschalkt
werden konnten.
Sobald die ersten Brecher das Deck überfluten,
dachte Richard, werden sie die Luken verschließen, und dann sitzen
wir für die Dauer des Unwetters im Dunkeln. Ohne Tageslicht, ohne
Frischluft.
Obwohl die Sträflinge jeden Tag frisches Fleisch
und Gemüse bekamen und sich am Oberdeck die Beine vertreten
durften, stieg die Zahl der Kranken an Bord. Willy Wilton starb,
wenn auch nicht an der mumpsartigen Krankheit. Er war das erste
Opfer unter den Sträflingen aus dem Westen. Er hatte sich bei dem
scheußlichen Wetter eine Erkältung zugezogen, die sich ihm auf die
Brust legte. Bordarzt Balmain verordnete ihm heiße Umschläge, die
den Schleim lösen sollten, das einzige Mittel gegen
Lungenentzündung, doch Willy starb. Ike Rogers verwand seinen Tod
nicht. Er war schon längst nicht mehr der großmäulige Rabauke, den
Richard in Gloucester kennen gelernt hatte.
Auch andere starben. Die Zahl der Todesfälle im
April erhöhte sich bis Ende des Monats auf zwölf. Und wieder griff
die Krankheit
auf die Seesoldaten über - Fieber, Lungenentzündung, Delirium,
Bewusstlosigkeit. Drei verängstigte Seesoldaten desertierten, ein
vierter am Letzten des Monats. Ein Sergeant, ein Trommler und
vierzehn Soldaten kamen ins Hospital. Ersatz war nur schwer zu
finden. Innerhalb der Flotte galt die Alexander mittlerweile
als Todesschiff, und sie sollte diesem Ruf gerecht werden. Von Zeit
zu Zeit wurden alle bis auf die ursprünglichen Insassen - 71 Mann
seit Willy Wiltons Tod - von Bord gebracht, damit die Decks mit
Essig gereinigt, ausgeschwefelt, mit Teeröl geschrubbt und getüncht
werden konnten. Und jedes Mal fand Richards Backbordgruppe faulige
Bilgen vor.
»Als hätte das Schiff überhaupt keine Pumpen«,
sagte Mikey Dennison angewidert. »Sie funktionieren nicht.«
Drei weitere Männer starben. Damit stieg die
Verlustliste seit dem 1. April auf 15, während die Gesamtzahl der
Sträflinge von 210 auf 195 schrumpfte.
Am 11. Mai, über vier Monate nach Verlegung der
Sträflinge auf das Todesschiff, traf die Nachricht ein, dass
Gouverneur Phillip endlich an Bord seines Flaggschiffs
Sirius gegangen sei und dass die aus elf Fahrzeugen
bestehende Flotte am folgenden Tag Segel setzen würde. Doch nichts
geschah. Die Matrosen des Versorgungsschiffs hatten ihre Löhnung
nicht erhalten und rührten keinen Finger, solange sie nicht bezahlt
wurden. Die Sträflinge auf der Alexander lagen meist in
ihren Kojen und schliefen. Sie hatten endlich Decken bekommen,
allerdings nur jeweils eine für zwei Mann.
Am 13. Mai, etwa eine Stunde nach Tagesanbruch - da
die Sommersonnenwende näher rückte, wurde es früh hell -, stellte
Richard beim Aufwachen fest, dass die Alexander Fahrt
machte. Er hörte das Knarren der Spanten und das leise Streichen
des Wassers an der Bordwand. Für Ike war das leichte Rollen schon
zu viel. Er musste sich übergeben, doch seine Gefährten hatten
Vorsorge getroffen und ihm den Essnapf des toten Willy gegeben, den
Joey Long, wann immer nötig, in den Nachttopf leerte.
Robert Jefferies aus Devizes starb noch am selben
Tag an Lungenentzündung. Für ihn und viele andere waren die Decken
zu spät gekommen.
Noch am selben Tag passierten sie die Needles am
Westzipfel der Isle of Wight. Die Alexander bewegte sich
lebhafter als je zuvor auf der gemächlichen Fahrt von Tilbury nach
Portsmouth. Sie stampfte leicht und rollte so heftig, dass die
meisten Sträflinge seekrank wurden und in die Kojen flüchteten.
Auch Richard verspürte einen Brechreiz, doch er verflog drei
Stunden später wieder. Ob Leute aus Bristol automatisch »Seebeine«
bekamen, wie es unter Matrosen hieß? Den anderen Bristolern -
Connelly, Perrott, Davis, Crowder, Martin und Morris - erging es
ähnlich. Die Jungs vom Land hatte es offensichtlich am schlimmsten
erwischt, aber keinen so schlimm wie Ike Rogers.
Am nächsten Tag kamen Leutnant Shairp und Bordarzt
Balmain durch die hintere Luke, etwas wackliger zwar als in ruhiger
See, aber doch noch würdevoll genug, um Eindruck zu machen. Zwei
Seesoldaten schafften den toten Robert Jefferies fort, während
Shairp und Balmain sich an den Verschlägen den schwankenden Gang
entlanghangelten, wobei der Leutnant geflissentlich darauf achtete,
nicht in Erbrochenes zu fassen. Ihre Befehle lauteten wie immer:
raus und Deck reinigen, raus und Nachttöpfe leeren, raus und Kojen
putzen, einerlei wie seekrank die Männer waren. Wer seine Decke
verschmutzt hatte, musste sie reinigen, wer sich besudelt hatte,
musste sich waschen.
»Hoffentlich tun sie das jeden Tag«, sagte
Connelly. »Denn dann bleibt es hier unten sauber.«
»Mach dir keine falschen Hoffnungen«, sagte
Richard. »Das hat sich Balmain ausgedacht, nicht Shairp, und
Balmain geht nicht methodisch vor. Mindestens die Hälfte der Leute
hier unten hat sich in ihrem ganzen Leben noch nie gewaschen. Wenn
wir hier bei uns auf Sauberkeit achten und die anderen mitziehen,
so haben wir das meinem Vetter James und dem Umstand zu verdanken,
dass ich jedem, der mich hören kann, so lange in den Ohren liege,
bis er sich aus lauter Angst vor mir lieber wäscht.« Er grinste.
»Haben sie sich erst mal ans Waschen gewöhnt, werden sie Gefallen
daran finden, sauber zu sein.«
»Du bist ein komischer Vogel, Richard«, sagte Will
Connelly. »Du kannst sagen, was du willst, aber auf der
Backbordseite bist
du unbestreitbar der Chef.« Er schloss die Augen und horchte in
seine Gedärme hinein. »Mir geht es gut, also werde ich ein wenig
lesen.« Er setzte sich mit seinen drei Bänden Robinson
Crusoe direkt unter der Luke an den mittleren Tisch, schlug den
ersten Band auf und war bald, ohne auf die Bewegung des Schiffs zu
achten, in die Lektüre vertieft.
Richard rutschte mit seinem geografischen
Weltalmanach neben ihn. Die getünchten Wände hatten alles
verändert.
Zu dem Zeitpunkt, als die Alexander Plymouth
passierte, hatten alle bis auf Ike Rogers und ein paar andere
»Seebeine«. War man erst einmal daran gewöhnt, dass sich das Deck
unter den Füßen hob und senkte, konnte man sogar den Gang
entlangspazieren. Und so kam es, dass Richard bei einem Spaziergang
dieser Art mit John Power, dem Chef im Bug, Bekanntschaft
schloss.
Power war ein gut aussehender junger Mann,
geschmeidig und behänd wie eine Katze, mit dunklen Augen, grimmigem
Blick und der merkwürdigen Angewohnheit, beim Reden wild mit den
Händen zu fuchteln wie ein Franzose oder Italiener. Überhaupt
machte er den Eindruck eines Mannes, der ständig unter Hochspannung
stand, freilich nicht weil er besorgt oder gereizt gewesen wäre,
sondern weil er vor Energie strotzte und ein überschäumendes
Temperament besaß. Und seine Augen verrieten, dass er das Risiko
liebte.
»Richard Morgan!«, rief er, als Richard an seiner
Koje am oberen Ende vorbeischlurfte, dort, wo Bugschott und
Steuerbordwand zusammentrafen. »Willkommen in Feindesland.«
»Ich bin nicht dein Feind, John Power. Ich bin ein
friedliebender Mensch, der sich nur um seine eigenen
Angelegenheiten kümmert.«
»Und dazu gehört die ganze Backbordseite. Sehr
sauber und ordentlich, wie ich höre. Alles in tadellosem
Zustand.«
»Du kannst uns ja mal besuchen und dich selbst
überzeugen.« Power glitt aus der Koje und folgte Richard. »Aus der
Nähe betrachtet, bist du ja schon ziemlich alt, Morgan.«
»Im September bin ich achtunddreißig geworden, aber
bis jetzt spüre ich mein Alter nicht übermäßig. Die fünf Monate auf
der Alexander haben an meinen Kräften gezehrt, aber in
Portsmouth
durften wir arbeiten, das hat gut getan. Beim Bilgedienst müssen
immer wir Bristoler ran - unsere Nasen halten den penetrantesten
Gestank aus. Wo wart ihr in dieser Zeit eigentlich? Auf dem
Leichter, der Firm oder der Fortunee?«
»Auf dem Leichter. Ich komme mit der Besatzung der
Alexander gut aus, deshalb sind meinen Männern die
Gefangenenschiffe in Portsmouth erspart geblieben.« Power stieß
einen tiefen Seufzer aus. »Ich gedenke, auf der Alexander so
bald wie möglich als Seemann zu arbeiten. Mr Bones, der dritte
Maat, hat es mir versprochen. Dann bin ich bald wieder der
Alte.«
»Ich dachte, wir müssten die ganze Fahrt über unter
Deck bleiben.«
»Nicht, wenn es stimmt, was Mr Bones sagt.
Gouverneur Phillip will nicht, dass wir hier unten vor die Hunde
gehen. Er braucht in der Botany Bay Leute, die arbeiten
können.«
Sie waren an der Salzwassertonne am
Steuerbordschott angekommen und drehten wieder um. Power blickte
verstohlen zu Will Connelly hinüber, der über seinen Defoe gebeugt
am Tisch saß. »Können bei euch eigentlich alle lesen?«, fragte er
mit einem Anflug von Neid.
»Sechs ja, und fünf davon stammen aus Bristol -
Crowder, Davis, Connelly da drüben, Perrott und ich. In Bristol
gibt es viele Armenschulen.«
»In London so gut wie keine. Früher habe ich es
immer für Zeitverschwendung gehalten, Bücher zu lesen, schließlich
hängt über jedem Laden ein Schild, das Auskunft darüber gibt, was
einen drinnen erwartet.« Er breitete die Hände aus. »Heute bin ich
anderer Meinung. Mit Lesen könnte man sich die Zeit
vertreiben.«
»Wenn du erst in der Takelage bist, fehlt dir das
Lesen nicht mehr. Bist du verheiratet?«
»Ich doch nicht!« Power drehte die Daumen nach
unten. »Frauen sind Gift.«
»Nein, sie sind wie wir - es gibt gute, schlechte
und durchschnittliche.«
»Wie viele von jeder Sorte kennst du denn?« Power
grinste und entblößte gesunde weiße Zähne. Er war also kein
Trinker.
»Mehr gute als schlechte, und keine
durchschnittlichen.«
»Und Ehefrauen?
»Laut meiner Akte zwei.«
»Wie ich von Leutnant Johnstone erfahren habe,
befinden sich keine Gerichtsakten an Bord!« Power ballte
schadenfroh die Fäuste. »Hält man das für möglich? Das
Innenministerium ist nicht in der Lage, Phillip eine Liste der
Gefangenen zu schicken, deshalb weiß hier keiner, weshalb man uns
verknackt hat und wie lange wir noch brummen müssen. Das werde ich
ausnutzen, sobald wir in der Botany Bay sind.«
»Dann ist das Innenministerium anscheinend ebenso
tüchtig wie das Bristoler Steueramt«, erwiderte Richard. Sie
standen wieder vor Powers Koje, und Power schwang sich hinauf. So
geschmeidig wie Stephen Donovan, dachte Richard, der nun, da sie
wieder unter Deck eingesperrt waren, die Gesellschaft des vierten
Maats vermisste. Donovan mochte ein warmer Bruder sein, aber er war
belesen und kein Sträfling, deshalb konnte man sich mit ihm über
andere Dinge unterhalten als das Gefängnis.
Nachdenklich kehrte Richard zu seiner Koje zurück.
Er hatte von Power eine interessante Neuigkeit erfahren! Die
Expeditionsführung hatte keine Ahnung, was die Sträflinge
verbrochen und welche Reststrafe sie noch zu verbüßen hatten …
Vielleicht konnte Power daraus Kapital schlagen. Andererseits war
nicht auszuschließen, dass der Gouverneur das Strafmaß aller
Gefangenen eigenmächtig auf vierzehn Jahre festsetzen würde.
Schließlich konnte niemand daran gelegen sein, dass in der Botany
Bay plötzlich alle Sträflinge behaupteten, sie hätten nur noch
sechs oder zwölf Monate zu verbüßen.
Am 20. Mai, als die Alexander bei starkem
Seegang durch strömenden Regen fuhr, brachte man die Sträflinge
gruppenweise an Deck. Dort sollten ihnen die Fußeisen abgenommen
werden. Die Kranken machten den Anfang, und auch Ike Rogers musste
hinauf, obwohl es ihm so elend ging, dass Bordarzt Balmain ihm
zweimal täglich ein Glas starken Madeirawein verordnet hatte.
Als Richard an die Reihe kam, stürmte es heftig.
Die Sichtweite
betrug nur wenige Meter. Jemand drückte ihn auf die Planken und
spreizte ihm die Beine. Zwei Seesoldaten saßen nebeneinander auf
Hockern. Einer schob einen Meißel unter die Fußfessel, der andere
schmetterte seinen Hammer auf das dicke Ende. Ein stechender
Schmerz fuhr Richard ins Bein, doch er achtete nicht darauf. Er
streckte das Gesicht in den strömenden Regen, und sein Geist
schwang sich empor zu den grauen Wolkenfetzen. Ein zweiter Schmerz,
und das andere Bein war frei, und da saß er nun, triefend vor Nässe
und trunken vor Glück.
Irgendjemand - er hatte keine Ahnung, wer - reichte
ihm die Hand und half ihm auf. Benommen taumelte er fort, und es
dauerte eine Weile, ehe er begriff, dass er nun, nach
dreiunddreißig Monaten in Eisen, endlich von den Fesseln befreit
war.
Kaum zurück im Gefängnis, begann er zu frösteln. Er
schlüpfte aus den Kleidern, wrang das saubere Wasser in seinen
Filterstein und hängte die nassen Sachen an die Leine, die sie
zwischen der Salzwassertonne und einem Balken gespannt hatten. Dann
trocknete er sich mit einem Lappen ab und zog neue Sachen an. Zur
Feier des Tages.
Abends, als er zwischen fünf Männern lag, die
ebenso glücklich waren wie er, und die Alexander, England
hinter sich lassend, den Golf von Biscaya durchpflügte, schrieb er
in Gedanken einen Brief an einen Menschen, der sehr wenig von
seinem Vater, etwas mehr von Jem Thistlethwaite, sehr viel von
Vetter James, dem Apotheker, und am meisten von William Henry
hatte.
Ich vermag dir nicht zu sagen, was für ein Mensch
ich geworden bin, noch welche Ursachen die Veränderung bewirkt
haben. Die Haft und die Entbehrungen, die Misshandlungen und die
Demütigungen waren es jedenfalls nicht. Denn ich glaube, dass der
Mann, der ich heute bin, immer da war und nur auf eine Gelegenheit
gewartet hat, in Erscheinung zu treten. Ich habe mir fest
vorgenommen, zu überleben, doch das Überleben hat längst nicht mehr
Vorrang. Es ist, als spürte ich hinter allem eine Absicht, einen
Willen, der viel größer ist als meiner. Ich bin jetzt so wenig ein
Schmetterling, wie ich vorher
eine Raupe war. Doch wie sonst, wenn nicht mit diesem Bild, kann
ich erklären, was mit mir geschehen ist? Mit meinem Geist, ja, mit
meiner Seele. Der Mensch, der ich geworden bin, ist nicht
bedeutender, nicht wertvoller, nicht edler, nicht besser. Aber er
ist anders.
Ich habe in den vergangenen dreiunddreißig Monaten
sehr viel gelesen, und schon das hat mich verändert. So hatte ich,
obwohl in Ketten und der Niedrigste unter den Niedrigen, das große
Glück, die Gedanken von Männern kennen zu lernen, gegen die ich ein
bloßes Staubkorn bin. Ich habe die Früchte ihres Geistes geerntet
und dadurch meinen eigenen Garten bestellt. Wäre dem nicht so,
könnte ich jetzt nicht sehen, was ich sehe, könnte ich die
Veränderung nicht erkennen.
Bei Shakespeare heißt es: Morgen und Morgen und
dann wieder Morgen kriecht so mit kleinem Schritt von Tag zu Tag,
zur letzten Silb auf unserm Lebensblatt; und alle unsre Gestern
führten Narrn den Pfad des stäub’gen Tods. Wie könnte ich es
auch nur annähernd so gut ausdrücken? Obgleich ich es anders meine,
denn ich bin kein Macbeth. Ich möchte dir sagen, dass … Gestern war
ich ein Narr auf dem Pfad des stäub’gen Tods. Heute bin ich nichts.
Aber morgen, wenn denn zwei Hammerschläge auf hoher See eine so
tiefe und unwiderrufliche Veränderung bewirken können, morgen wird
der Mann, der ich heute bin, wieder nach vorn blicken. Teuerste
Freunde, Blut von meinem Blut, mein Sohn, den ich über den Tod
hinaus liebe, ich werde nie wieder nach Hause kommen. Ich wusste es
in dem Augenblick, als die Eisen fielen. Auf irgendeine
unergründliche Weise habt ihr mir Kraft gegeben, und diese Kraft
muss ich in ein Land tragen, an dessen Existenz wir nicht im Traum
gedacht haben, und dort etwas tun, ohne noch zu wissen, was. Nicht
als König oder Gouverneur, nicht als Offizier, ja, nicht einmal als
freier Mann. Und wenn ich eines Tages sterbe, werde ich wohl immer
noch nicht wissen, was ich tun muss, doch ich werde es getan haben.
Es ist ein Geheimnis, ein Geheimnis, das zu
groß ist, als dass ich es ergründen könnte. Doch wenn es mir
gelingt, dann euretwegen.
Ich habe meinen Frieden gefunden. Was gestern war,
gehört für immer der Vergangenheit an, und während ich hier liege,
in schwankender, tiefschwarzer Nacht, ist das Heute für mich ohne
Bedeutung. Das Morgen bedeutet Hartbrot und Pökelfleisch. Doch das
Morgen ist alles, was ich habe, und es ist genug.
Am Morgen betrachtete er seine Gefährten und
versuchte, jeden so zu sehen, wie er sich selbst gesehen hatte. Was
empfanden sie? Was hielten sie von diesem unerhörten, großartigen
Experiment? Hatte einer von ihnen begriffen, dass sie die Heimat
wahrscheinlich nie wieder sehen würden? Hatten sie noch Träume?
Noch Hoffnung? Und wenn ja, was erträumten, was erhofften sie sich?
Er würde es nie erfahren, denn keiner von ihnen wusste es. Hätte er
sie darauf angesprochen, sie hätten geantwortet, was Männer immer
antworteten: Geld, Reichtum, Liebe, Frau und Kinder, ein langes,
bequemes, sorgenfreies Leben. Gewiss, auch er träumte von diesen
Dingen, doch das meinte er nicht. Es gehörte nicht zu dem
blendenden Lichtstrahl, der ihn inmitten der Trümmer seines Lebens
getroffen hatte.
Er las Vertrauen und Zuneigung in den Blicken der
anderen, und das war ein Anfang, aber eben nur ein Anfang.
Irgendwie musste jedem von ihnen begreiflich gemacht werden, dass
sie sich nicht auf Richard Morgan verlassen durften, dass sie ihr
Schicksal selbst in die Hand nehmen mussten. Der Anführer auf der
Backbordseite konnte ihnen vielleicht ein Vater sein, niemals aber
eine Mutter.
Die Gefangenen erhielten wieder die Erlaubnis, an
Deck zu gehen, solange sie nicht alle gleichzeitig erschienen und
der Mannschaft nicht im Weg standen. John Power war überglücklich.
Zusammen mit Willy Dring und Joe Robinson durfte er ab sofort als
Matrose arbeiten. Allerdings waren keineswegs alle Sträflinge
darauf erpicht, nach oben zu gehen, wie Richard mit Befremden
feststellte. Bei den Seekranken mochte es noch verständlich sein -
der
Golf von Biscaya hatte auch einige hingestreckt, die bislang
verschont geblieben waren -, nicht aber bei den anderen, die,
obwohl von ihren Eisen befreit, nur faul in ihren Kojen lagen oder
am Tisch Karten spielten. Gewiss, die See war noch rau, doch die
Alexander war nicht umsonst ein mächtiges Sklavenschiff. Es
bedurfte schon größerer Brecher, um die Decks zu überspülen.
Die Sträflinge waren gerade mit dem unvermeidlichen
Hartbrot, Pökelfleisch und scheußlichen Wasser aus Portsmouth
verköstigt worden, als Leutnant Johnstone das Oberdeck freigab.
Sechs Seesoldaten kamen mit Eimern ins Gefängnis herunter und
kippten Salzwasser in die Tonnen, und gleich darauf erschien der
gestrenge Leutnant Shairp, stapfte steifbeinig durch die Gänge und
befahl nachlässigen Kojenbelegschaften, das Deck und ihre Pritschen
zu reinigen. Im Vertrauen darauf, dass es bei ihnen nichts zu
beanstanden gab, hievten sich Richard und seine Freunde durch die
Luke an Deck. Nur Ike und Joey Long blieben zurück.
Sie traten an die Reling, um sich zum ersten Mal
den Ozean anzusehen. Das Grau der See war mit einem stählernen Blau
übergossen und trug noch viele Schaumkronen, doch sie konnten den
Horizont sehen und somit auch die anderen Schiffe, einige an
Backbord, andere an Steuerbord und zwei so weit achteraus, dass ihr
Rumpf unter der Kimm stand und nur die Masten zu sehen waren. Ganz
in der Nähe befand sich das andere große Sklavenschiff, die
Scarborough, die mit ihren geblähten Segeln, ihren
auswehenden Flaggen und ihrem stumpfen, die Wogen zerteilenden Bug
einen prachtvollen Anblick bot. Sie hatte größere Deckaufbauten als
die Alexander, was möglicherweise der Grund war, warum
Zachariah Clark, der Firmenagent, es vorgezogen hatte, auf ihr zu
fahren. Auch der Marineagent, Leutnant John Shortland, war
abtrünnig geworden: Er hatte sich auf dem Versorgungsschiff
Fishburn einquartiert, obwohl einer seiner beiden Söhne
zweiter Maat auf der Alexander war. Der andere diente auf
der Sirius. Der Nepotismus regierte.
Wie in Tilbury trennten sich Richards Männer, sowie
sich die Gelegenheit bot, um ein wenig allein zu sein. Richard
kletterte auf eines der Langboote, das kieloben auf den
Ersatzmasten lag, und
zählte die Schiffe. Eine Brigg, halb so groß wie die
Alexander, segelte an der Spitze des Feldes, gefolgt von der
Scarborough und der Alexander und schließlich der
Supply, einer Slup, die an der Sirius hing wie ein
Kind am Rockzipfel der Mutter. Das nächste Schiff war vermutlich
die Lady Penrhyn, dann kamen die drei Versorgungsschiffe und
ganz am Ende die beiden, von denen er nur die Masten sah. Also elf
Schiffe, sofern keines ganz hinter der Kimm stand.
»Ich wünsche einen guten Tag, Richard Morgan aus
Bristol«, sagte Stephen Donovan. »Was machen die Beine?«
Einerseits wollte Richard allein sein, andererseits
freute er sich sehr, den schönen Donovan zu sehen, den er für zu
intelligent hielt, um nicht zu merken, dass er seine sexuelle
Neigung nicht teilte. Also lächelte er und nickte mit der gebotenen
Höflichkeit. »Spielen Sie auf die Seekrankheit an oder auf die
Eisen?«, fragte er.
»Die See macht Ihnen nicht zu schaffen, das sieht
man. Ich meine die Eisen.«
»Sie müssten sie dreiunddreißig Monate lang
getragen haben, um nachempfinden zu können, wie ich mich jetzt
fühle, Mr Donovan.«
»Dreiunddreißig Monate! Was haben Sie verbrochen,
Richard?«
»Ich soll von jemandem 500 Pfund erpresst
haben.«
»Wie viel hat man Ihnen aufgebrummt?«
»Sieben Jahre.«
Donovan runzelte die Stirn. »Das verstehe ich
nicht. Von Rechts wegen hätte man Sie hängen müssen. Sind Sie
begnadigt worden?«
»Nein. Ich wurde gleich zu sieben Jahren
Deportation verurteilt.«
»Die Jury war sich ihrer Sache wohl nicht
sicher.«
»Dafür aber der Richter. Er wollte keine Gnade
walten lassen.«
»Sie scheinen ihm nicht zu grollen.«
Richard zuckte die Schultern. »Warum sollte ich? Es
war ja meine eigene Schuld.«
»Was haben Sie mit den 500 Pfund angestellt?«
»Ich habe den Wechsel nicht eingelöst, folglich
konnte ich nichts davon ausgeben.«
»Ich habe gleich gewusst, dass Sie ein
interessanter Mann sind.«
Das Gespräch weckte in Richard unangenehme
Erinnerungen, deshalb wechselte er das Thema. »Sagen Sie mir,
welche Schiffe wir sehen, Mr Donovan.«
»Das Schiff querab ist die Scarborough, das
an der Spitze die Friendship - ein flotter kleiner Segler.
Sie wird den anderen die ganze Fahrt über davonlaufen.«
»Warum? Ich bin kein Seemann.«
»Weil sie tipptopp in Schuss ist und mit ihren
Zusatzsegeln jederzeit Fahrt machen kann, bei einem lauen Lüftchen
ebenso wie in einem Sturm.« Donovan deutete mit ausgestrecktem Arm
auf die Supply. »Die Slup da drüben ist wie eine Brigg
getakelt, aber das bekommt ihr nicht gut. Sie fährt zwei Masten,
deshalb wäre Harry Ball besser beraten, sie wie eine Schnau zu
takeln. In schwerer See ist sie eine lahme Ente, weil sie sehr tief
im Wasser liegt und nicht genug Segel beisetzen kann. Mit schwachem
Wind läuft sie am besten. Ihr Zuhause ist der Ärmelkanal. Harry
Ball muss auf gutes Wetter hoffen.«
»Und dort hinter den beiden Schiffen der
Königlichen Marine, ist das die Lady Penrhyn?«
»Nein, die Prince of Wales, der zusätzliche
Truppentransporter. Dahinter sehen Sie die Golden Grove, die
Fishburn und die Borrowdale. Die beiden Schnecken am
Schluss sind die Lady Penrhyn und die Charlotte. Ohne
sie wären wir schon viel weiter, doch der Kommodore hat den
strikten Befehl gegeben, dass alle Schiffe in Sichtkontakt bleiben
müssen. Deshalb kann die Friendship keine Bramsegel setzen
und wir keine Royals. Ach, es ist schön, wieder auf See zu sein!«
Die leuchtend blauen Augen erblickten Leutnant Johnstone, der
soeben auf dem Achterdeck erschien. Stephen Donovan sprang lachend
vom Boot. »Es wird sich nicht vermeiden lassen, dass wir uns in
Bälde wieder sehen, Richard.« Und damit eilte er dem
befehlshabenden Offizier der Seesoldaten entgegen, mit dem er
offenbar auf gutem Fuß stand.
Zwei vom gleichen Schlag?, fragte sich Richard,
ohne seinen Platz zu verlassen. Sein Magen knurrte. Die frische
Luft machte Appetit, aber mehr als die üblichen Rationen war nicht
zu bekommen.
Pro Tag ein Pfund Hartbrot, schlecht gewogen, und ein
Dreiviertelpfund Pökelfleisch, noch schlechter gewogen, dazu zwei
Quart Portsmouth-Wasser. Nicht annähernd genug. Oh, wie er sich
nach den Proviantbooten auf der Themse und einem guten Essen
sehnte!
Von den Kranken abgesehen, litten die Sträflinge
ständig unter quälendem Hunger. Während Richard und seine Gefährten
von der Backbordseite an Deck weilten, hatten ein paar Männer von
der Steuerbordseite mit einem Eisenbolzen vom Großmast die Luken
unter dem Gefängnis aufgebrochen. Rum fanden sie nicht, dafür aber
eine Proviantlast mit Brot. Doch wie immer hielt einer nicht dicht,
und so stiegen wenig später ein Dutzend Seesoldaten durch die
hintere Luke und ertappten die Diebe dabei, wie sie die steinharten
kleinen Laibe unter den Hungerleidern verteilten.
Sechs Männer wurden an Deck gezerrt und den
Leutnants Johnstone und Shairp vorgeführt.
»Zwanzig Peitschenhiebe und wieder in Eisen legen«,
befahl Johnstone knapp und nickte Corporal Sampson zu, der soeben
aus dem Niedergang im Achterschiff getreten war. In der Hand hielt
er eine Katze, die sehr viel unangenehmer war als ihr vierbeiniger
Namensvetter, wie Mr Thistlethwaite es einst ausgedrückt hatte, ein
Instrument mit einem dicken Griff aus Tau, das um einen Kern
gewickelt war, und neun dünnen, in regelmäßigen Abständen mit
Knoten versehenen Schnüren, an deren Ende eine bleifarbene Perle
saß.
Richard wollte ins Gefängnis unter Deck flüchten,
musste aber feststellen, dass alle Mann nach oben getrieben wurden,
um der Züchtigung beizuwohnen.
Die sechs Männer mussten die Oberkörper freimachen
- die Entblößung des Hinterteils lohnte sich bei zwanzig
Peitschenhieben nicht -, und das erste Opfer wurde an den
hüttenartigen Aufbau über der Achterluke gebunden. Das pfeifende
Ding ließ sich ohne große Mühe handhaben. Die Haut platzte schon
beim ersten Hieb auf, und wo die kleinen Bleikugeln trafen,
entstanden augenblicklich große, tiefrote Schwellungen. Corporal
Sampson verstand sein Handwerk, denn auch Seesoldaten bekamen die
Katze, gewöhnlich zwölf Hiebe, bisweilen aber auch viel mehr. Ein
Hieb
lag dicht neben dem anderen, und nach dem zwanzigsten zierte den
Rücken ein Muster aus blutigen Streifen und Schwellungen von der
Größe einer Kinderfaust. Am Ende wurde dem Opfer ein Eimer
Salzwasser über den Rücken geschüttet, was ihm spitze Schreie
entlockte, dann nahm der Nächste seinen Platz ein. Während Corporal
Sampson sich die sechs Delinquenten der Reihe nach vorknöpfte - mit
unbeteiligter Miene, denn er schien seine Arbeit weder zu hassen
noch zu lieben -, legte man denjenigen, die er abgefertigt hatte,
Fußfesseln und eine lange Kette an wie auf der Ceres.
Niemand schickte sie unter Deck. Leutnant Johnstone nickte nur kurz
und ließ seinen Zuchtmeister und die zwölf bleichen Seesoldaten
wegtreten.
Richard war speiübel. Er sprang von dem Langboot,
stürzte zur Reling, beugte sich über die Seite und würgte, doch
sein Magen war leer, und so starrte er nur in das Wasser drei Meter
unter ihm. Das Wasser war so klar, dass er die durchscheinenden
Quallen, die in der Dünung trieben, deutlich sah. Wie luftige
Geister kamen sie ihm vor, eingehüllt in hauchdünne Seide, mit
gekrausten Rändern und langen, glänzenden Tentakeln.
Ein Geräusch ließ ihn zusammenzucken. Ein
länglicher, schillernder Körper schoss aus dem Wasser, flog im
hohen Bogen durch die Luft und fiel klatschend in die See zurück.
Ein Delfin? Ein Tümmler? Das Tier war nicht allein. Ein ganzer
Trupp tummelte sich fröhlich im Wasser und spielte mit der
schmutzigen, altersschwachen Alexander Fangen.
Tränen liefen Richard über die Wangen, doch er
wischte sie nicht weg. Dies alles gehörte dazu. Die Schönheit
Gottes und die Hässlichkeit des Menschen. Welchen Platz konnte der
Mensch in einer so wunderbaren Welt einnehmen?
Die Alexander lief die Kanarischen Inseln
an, doch die neunschwänzige Katze hatte alle ernüchtert. Außerdem
hatte John Power von seinem Freund, Mr Bones, erfahren, dass ein
gewisser Nicholas Greenwell, ein Sträfling, den er flüchtig kannte,
am Tag, bevor die Flotte Portsmouth verlassen hatte, begnadigt und
heimlich von Bord geschmuggelt worden war.
»Zuerst ist mir gar nicht aufgefallen, dass das
Arschloch fehlt, und dann habe ich ihn für tot gehalten«, sagte
Power zu Richard und Mr Donovan auf dem windigen Oberdeck. »Dieser
blöde Hund! Zum Teufel, mich hätten sie begnadigen sollen, nicht
Greenwell!«
Power beteuerte unablässig seine Unschuld. Er sei
nicht der Mann gewesen, der bei Charles Young, über dessen Verbleib
nichts bekannt war, im Boot gesessen habe, als eine Vierteltonne
Edelhölzer der Ostindischen Kompanie von einem Londoner Kai
verschwunden sei. Der Nachtwächter hatte Young wieder erkannt, aber
er hatte nicht beschwören wollen, dass Power der zweite Mann
gewesen sei. Die Geschworenen gingen wie üblich auf Nummer sicher
und sprachen Power schuldig. Der Richter schloss sich ihnen an und
verurteilte ihn zu sieben Jahren Deportation.
»Mich hätten sie begnadigen sollen«, brüllte Power
unglücklich. »Greenwell war schlicht und einfach ein Räuber! Aber
ich habe eben keine Beziehungen, nur einen kranken Vater, für den
ich jetzt nicht mehr sorgen kann! Sollen sie doch zum Teufel gehen,
diese Arschlöcher!«
»Na, na, regen Sie sich nicht auf«, beschwichtigte
ihn Donovan. »Jammern nützt jetzt auch nichts mehr. Denken Sie an
die Katze und fahren Sie nach Hause, wenn Sie Ihre Strafe abgebüßt
haben.«
»Bis dahin ist mein Vater tot.«
»Das können Sie nicht wissen. Und jetzt gehen Sie
wieder an die Arbeit, sonst dürfen Sie wieder Däumchen
drehen.«
Powers Wut verrauchte, seine Niedergeschlagenheit
blieb. Er musterte den vierten Maat mit Tränen in den Augen, dann
entfernte er sich.
»Ich wundere mich, dass Sie ihn nicht mögen«, sagte
Richard, der fand, dass es höchste Zeit war, gewisse Dinge
anzusprechen. »Wieso einen sehnigen, alten Kerl wie mich?«
Das schöne Gesicht heuchelte Erstaunen, doch die
Augen funkelten. »Wenn ich Sie mag, Richard, so bleibt es doch eine
unerwiderte Liebe. Wie sagt das Sprichwort: Die Katze sieht den
Bischof an und er ist ein geweihter Mann.«
»Irischer Bauer!«
»Schlammspringer.«
»Was ist denn ein Schlammspringer?«, fragte Richard
verdutzt.
»Ein merkwürdiger Fisch mit amphibischer
Lebensweise, von dem ich mal gelesen habe. Ich glaube, bei Sir
Joseph Banks, ich weiß nicht mehr genau. Jedenfalls läuft der Fisch
über Schlamm.«
Weitere Männer starben und die Zahl der Sträflinge
an Bord der Alexander schrumpfte auf 188.
Etwa um dieselbe Zeit, als Thomas Gearing aus
Oxford im Sterben lag, tauchte Teneriffa aus dem Nebel und
Sprühregen auf. Die See war so ruhig, dass die Gefangenen, die man
unter Deck geschickt hatte, kaum bemerkten, wie ihr Schiff im Hafen
vor Anker ging.
Die Seesoldaten, die drei Wochen lang nichts
anderes zu tun gehabt hatten, als die Häftlinge zu füttern und mit
ihrem Schicksal zu hadern, versahen ihren Dienst nun wieder mit
größerem Ernst. Ihre lästigste Aufgabe war die Kocherei. Sergeant
Knight oblag es, das gekochte Pökelfleisch mithilfe einer Waage,
die Leutnant Shortland, der Marineagent, höchstpersönlich überprüft
hatte, zu portionieren. Da Shortland dieser Prozedur fernblieb,
zerlegte Sergeant Knight das Fleisch in ungleiche Stücke: ein
halbes Pfund für jeden Sträfling, anderthalb Pfund für jeden
Seesoldaten. Auch mit den Erbsen und dem Hafermehl, das den
Sträflingen zustand, nahm es Sergeant Knight nicht genau. Er
beglückte sie damit nur sonntags nach dem Gottesdienst. Er war es
leid, für dieses Verbrechergesindel das Kindermädchen zu spielen -
wiegen, sonst noch was? Selbst wenn Leutnant Shairp
herunterkam und ihm auf die Finger sah, machte Knight keine
Anstalten, das Fleisch vorschriftsmäßig zu portionieren, und Shairp
sagte kein Wort. Da hielt man sich besser raus!
Natürlich blieben Spannungen nicht aus, wenn
vierzig Männer auf engstem Raum zusammenleben mussten, doch dies
war nicht der einzige Grund, warum die Seesoldaten grollten. Der
Umzug ins Zwischendeck hätte sie eigentlich versöhnen sollen, doch
er tat es nicht. Gewiss, in diesem merkwürdig geschnittenen Raum,
der
unter der Decke viel breiter war als am Boden, ließ es sich
aushalten, auch wenn die Ruderpinne, die an der Decke entlanglief,
quietschte, kreischte und rasselte und gelegentlich, wenn der
Rudergänger das Ruder umlegte, gegen einen Mann stieß, der in
seinem Schwingbett unter der Decke schlief. Durch mehrere Luken
kamen Frischluft und Tageslicht, der Mief war erträglich, und die
Matrosen waren so anständig gewesen, das Zwischendeck einigermaßen
sauber zu hinterlassen.
Doch all diese Verbesserungen vermochten einen
Verlust nicht aufzuwiegen: Die Soldaten bekamen nicht die volle
Ration Rum, die ihnen täglich zustand, nämlich ein halbes Pint.
Captain Sinclair, der den Schnaps ausgab, hatte sich darauf
verlegt, den Rum mit Wasser zu so genanntem »Grog« zu verdünnen. In
Portsmouth hatte es deshalb einen Aufschrei der Empörung gegeben,
und in den Tagen danach war der Rum so ausgeschenkt worden, wie es
sich gehörte, nämlich unverdünnt. Doch seit den Scilly-Inseln
wurden die Soldaten wieder mit Grog abgespeist, und das sorgte für
böses Blut. Rum war für die Matrosen und Seesoldaten Anfang und
Ende aller irdischen Freuden auf See, entsprechend groß war ihr
Zorn auf den Kapitän. Sinclair freilich kümmerte das nicht. Er
thronte oben in seiner Achterhütte, die er zu einer Festung
ausgebaut hatte, und beabsichtigte, den Rum, den er jetzt hortete,
später Gewinn bringend zu verkaufen. Wenn die Bande unbedingt
unverdünnten Rum wollte, sollte sie gefälligst dafür bezahlen.
Irgendjemand musste schließlich die neue Achterhütte finanzieren,
denn die Admiralität würde dafür keinen Penny herausrücken.
Umso größer war die Freude der Männer, als sie im
Hafen von Santa Cruz ankerten. Endlich konnten sie an Land gehen
und sich so viel Rum beschaffen, wie sie nur trinken konnten. Doch
in diesem Augenblick gab Major Ross den Befehl, den Urlaub der
Seesoldaten auf ein Minimum zu beschränken! Leutnant Johnstone
teilte ihnen in seinem schleppenden Tonfall mit, dass tagsüber eine
volle Wache gestellt werden müsse, da Gouverneur Phillip nicht
wünsche, dass man die Gefangenen ewig unter Deck einsperre.
Außerdem werde der Gouverneur mit seinem Adjutanten, Leutnant King,
dem Schiff einen unangemeldeten Besuch abstatten, solange
es vor Teneriffa liege. Also wehe dem Seesoldaten, den er ohne
vorschriftsmäßigen Lederkragen oder Gamaschen antreffe! Das Schiff
sei mit verzweifelten Kriminellen voll gestopft und die Nähe
Englands dulde kein Nachlassen in der Wachsamkeit. Sergeant Knight,
der wegen seiner Proteste gegen die Ausgabe von Grog einem
Kriegsgerichtsverfahren entgegensah, war von all dem ebenso wenig
erbaut wie seine Untergebenen.
Dass kein höherer Offizier auf der Alexander
weilte, machte alles noch schlimmer. Nun, da die Leutnants
Johnstone und Shairp bequeme Kabinen auf dem Achterdeck bezogen
hatten, waren sie, was ihr leibliches Wohl anging, in keinster
Weise mehr auf ihren Untergebenen angewiesen. Sie hatten eigene
Stewards und eine eigene Kombüse, durften Vieh an Bord halten und
konnten, solange die Alexander auf See war, jederzeit nach
Belieben mit einem Beiboot Freunde auf den anderen Schiffen
besuchen. Und was die Mannschaften, die Trommler, die
Unteroffiziere und den einsamen Sergeant anging, so hatten sie ihre
Aufgabe, annähernd zweihundert Verbrecher zu füttern und zu
bewachen, unterschätzt. Sie waren davon ausgegangen, dass man die
Gefangenen in den Häfen unter Deck sperren würde. Nun mussten sie
erfahren, dass dieser Spinner von Gouverneur darauf pochte, sie
sogar im Hafen an Deck herumspazieren zu lassen!
Natürlich kam der Rum in dem Moment an Bord, als
die Besatzung Landgang erhielt. Matrosen und Soldaten hatten
zusammengelegt und auf diese Weise sichergestellt, dass auch
diejenigen, die Wache hatten, sich mit Hochprozentigerem als
Sinclairs Grog die trockenen Kehlen anfeuchten konnten. Und dies
eine Mal war ihnen auch das Glück hold, denn die Alexander
war das erste Schiff, das der Gouverneur am späten Nachmittag des
4. Juni inspizierte. Sogar der Captain bequemte sich aus seiner
Achterhütte und plauderte höflich mit dem Gouverneur, während die
Sträflinge in Reih und Glied auf dem Oberdeck standen, bewacht von
den Dienst tuenden Seesoldaten, die zwar blutunterlaufene Augen und
Schnapsfahnen hatten, aber die vorschriftsmäßigen Kragen und
Gamaschen trugen.
»Was für ein Jammer«, klagte Phillip beim Rundgang
durch das
Gefängnis, »dass wir uns keine besseren Unterkünfte für diese
Leute leisten können. Wie ich sehe, sind vierzehn Mann so krank,
dass sie nicht antreten können. Ich bezweifle außerdem, dass sich
in diesen Gängen mehr als vierzig Männer gleichzeitig die Beine
vertreten können. Aus diesem Grund müssen wir die Gefangenen so oft
wie möglich an Deck lassen. Wenn es Ärger gibt«, fügte er an Major
Robert Ross und die Leutnants der Alexander gewandt hinzu,
»legen Sie die Übeltäter ein paar Tage lang in Ketten.«
Richard stand mit den anderen an Deck und
beobachtete den klein gewachsenen Gouverneur, der sehr jüdisch
aussah mit seiner langen, schnabelartigen Nase, den beiden
senkrechten Sorgenfalten, die den Rücken dieser Nase rahmten,
seinen dunklen Augen, seinen vollen sinnlichen Lippen und seinen
langen Haaren, die sich oben stark lichteten und über den Ohren
kräuselten, ehe sie sich im Nacken zu einem Zopf vereinigten. Man
hätte ihn glatt für Senhor Tomas Habitas’ Bruder halten können.
Phillips Äußeres war die Antwort auf viele Fragen Richards, und
hatte Mr Thistlethwaite nicht erwähnt, dass Phillips Vater Jakob
hieß? Sir George Rose, der selbst Jude war, hatte Phillip wärmstens
empfohlen. Ein Glück, dachte Richard, dass unsere Expedition in die
Botany Bay in den Händen eines Mannes liegt, der einer alten und
hochkultivierten Rasse angehört, eines Mannes, der Unmenschlichkeit
verurteilt und in Kriminellen ganz normale, wenn auch
bedauernswerte Menschen sieht.
Leutnant Philip Gidley King, Phillips Adjutant und
Günstling, war noch keine dreißig, ein Engländer, in dessen Adern
offenbar viel keltisches Blut floss, denn er redete ununterbrochen
und hatte sichtlich Mühe, sein Temperament zu zügeln. Der Engländer
in ihm offenbarte sich in der akribischen Aufzählung von Fakten,
Zahlen, Statistiken, als die Gruppe an Deck ihre Runde machte.
Major Ross war anzumerken, dass er King für einen Schwätzer
hielt.
So wurde es Dienstag, ehe sich den Sträflingen
erstmals Gelegenheit bot, einen Blick auf Santa Cruz und jenen Teil
Teneriffas zu werfen, der von ihrem Liegeplatz aus zu sehen war. Zu
Mittag hatten sie frisches Ziegenfleisch, gekochten Kürbis,
eigenartiges,
aber durchaus genießbares Brot und rohe saftige Zwiebeln bekommen.
Viele verschmähten das Gemüse, doch Richard biss in seine Zwiebel
wie in einen Apfel und kaute so heftig darauf herum, dass ihm der
Saft übers Kinn lief und sich mit den Tränen vermischte, die ihm
die scharfen Dünste in die Augen trieben.
Die kleine Stadt, in der es keine Bäume gab, machte
einen verschlafenen Eindruck und lag in einer zerklüfteten,
trockenen Landschaft. Der Berg, den Richard so sehnlichst zu sehen
wünschte, seit er von ihm gelesen hatte, verschwand in einer grauen
Wolkendecke, die nur über der Insel zu liegen schien, denn draußen
auf See war blauer Himmel. Ein Esel mit Hut, den Richard am Kai
stehen sah, war der erste wirklich neue Eindruck, den er von der
Welt außerhalb Englands bekam. Proviantboote waren nicht zu sehen.
Entweder gab es keine oder sie wurden von den Langbooten
zurückgeschickt, die zwischen den vertäuten Transportschiffen
patrouillierten. Die Alexander lag zwischen zwei
Ankertrossen, die mithilfe schwimmender Fässer gespannt wurden.
Richard erfuhr von einem der noch relativ nüchternen Matrosen, dass
der Boden des Hafenbeckens mit scharfkantigen Eisenklumpen übersät
war, die spanische Schiffe als Ballast mitführten und einfach ins
Wasser kippten, wenn sie Fracht aufnahmen. Die Trossen wurden
gespannt, damit sie sich an den Eisenstücken nicht
durchscheuerten.
Wie monoton die Landschaft auch aussehen mochte,
Richard liebte sie auf den ersten Blick. Von dieser kargen,
offensichtlich vulkanischen Insel stammten seine kostbaren
Filtersteine. Wie gern hätte er Vetter James, dem Apotheker, von
Teneriffa erzählt.
Ihr Besuch fiel in eine günstige Jahreszeit, erfuhr
Richard von einem anderen Matrosen, der die Insel bereits mehrmals
besucht hatte. Es war warm, aber weder heiß noch schwül. Im Oktober
war es hier unerträglich, und von Juli bis November wehten aus
Afrika glühend heiße Winde herüber, die beißenden Sand mitbrachten.
Und das, obwohl Afrika hunderte von Meilen entfernt war! Komisch,
dachte Richard. Er hatte immer angenommen, in Afrika gebe es nur
vor Feuchtigkeit dampfenden Dschungel. Offenbar nicht in diesen
Breiten.
Am Mittwoch kam Stephen Donovan kurz nach
Tagesanbruch ins Gefängnis herunter.
»Morgan«, sagte er barsch, »ich brauche Sie und
Ihre Männer. Zehn genügen, aber machen Sie schnell.«
Ike Rogers ging es mit jedem Tag, den sie vor Anker
lagen, etwas besser. Am Vortag hatte er seine Zwiebel mit solchem
Genuss verspeist, dass einige Kameraden ihm ihre schenkten. Auch
den Kürbis hatte er verschlungen, nur auf Fleisch oder Brot schien
er keinen Appetit zu haben. Er war Besorgnis erregend abgemagert.
Das vormals volle Gesicht war eingefallen, an seinen Handgelenken
standen die Knochen hervor. Joey Long wollte nicht von seiner Seite
weichen, und so beschloss Richard, stattdessen Peter Morris aus
Tommy Crowders Koje mitzunehmen.
»Wieso nicht mich?«, fragte Crowder gereizt.
»Weil der vierte Maat keinen Schreiber sucht. Er
braucht Leute, die zupacken können.«
»Dann nimm meinetwegen Peter«, sagte Crowder
beruhigt. Er stand mitten in schwierigen Verhandlungen mit Sergeant
Knight, die ihm zu einem Schluck Rum verhelfen konnten, wenn auch
zu einem überhöhten Preis.
Donovan stapfte mit finsterer Miene auf und ab, als
die zehn Sträflinge an Deck kamen. »Über die Seite ins Langboot«,
bellte er. »Ich habe gerade genug nüchterne Männer, um die leeren
Wassertonnen nach oben zu fieren, aber niemand, der die Tonnen zum
Kai bringen und füllen kann. Das übernehmt ihr. Lademeister Dicky
Floan wird euch befehligen. Ihr geht allein, weil nicht genug
nüchterne Seesoldaten zu eurer Bewachung da sind. Wer von euch kann
pullen?«
Nur die vier Bristoler konnten pullen, und das
genügte nicht. Mr Donovan, der selbst nicht trank, sah noch
verdrießlicher drein. »Dann müsst ihr geschleppt werden, nur weiß
ich nicht, wo ich einen Leichter hernehmen soll, der das
übernimmt.« Er erspähte den zweiten Maat, den Sohn des
Marineagenten. »Mr Shortland, ich brauche einen Schleppleichter für
das Boot mit den Wassertonnen. Irgendeinen Vorschlag?«
Shortland dachte kurz und angestrengt nach, dann
beschloss er,
seine Beziehungen spielen zu lassen, und signalisierte der
Fishburn, auf der sein Vater fuhr. Die Fishburn
antwortete prompt, und schon eine halbe Stunde später wurde das
Langboot der Alexander mit den aufrecht stehenden Tonnen in
Richtung Kai geschleppt.
Obwohl eine trockene und unwirtliche Insel, hatte
Teneriffa ausgezeichnetes Wasser. Es stammte aus einer Quelle in
der Nähe der Stadt Laguna und wurde in den üblichen, vermutlich aus
Spanien importierten Ulmenrohren zum Hafenkai geleitet, wo es aus
einer Reihe von Leitungen sprudelte und sich, wenn nicht gerade ein
Schiff seine Tonnen füllte, ungenutzt ins Hafenbecken ergoss. Seit
Portsmouth hatte die Alexander 4000 Gallonen verbraucht,
daher mussten 26 der 160 Gallonen fassenden Behälter gefüllt
werden, was jeweils zweieinhalb Stunden in Anspruch nahm.
Es war bereits nach acht, als die letzte Tonne
gefüllt war und die zehn Sträflinge völlig erschöpft auf die
Alexander zurückkehrten. Bei Einbruch der Nacht war der
Hafen zum Leben erwacht. Unzählige kleine Fischerboote mit
blinkenden Lampen tummelten sich auf dem Wasser, und wenn sie ihre
Netze einholten, schimmerte darin eine wogende Masse.
»Ihr habt gute Arbeit geleistet«, sagte Donovan,
nachdem Richard als Letzter die Jakobsleiter erklommen hatte.
»Kommt mit.« Er führte sie zur Mannschaftsmesse in der Back. »Rein
mit euch«, rief er. »Ich weiß, dass ihr noch nichts zu essen
bekommen habt, und von den Seesoldaten ist keiner so nüchtern, dass
er euch etwas kochen könnte, ohne das Schiff in Brand zu setzen.
Dasselbe gilt für die Matrosen, aber Mr Kelly, der Koch, hat euch
freundlicherweise etwas hingestellt, ehe er sich mit einer Buddel
in seine Koje zurückgezogen hat.«
Solche Köstlichkeiten hatten sie seit sechs Monaten
nicht mehr bekommen: kaltes Hammelfleisch, und zwar gebraten, nicht
gekocht, Kürbiseintopf mit Zwiebeln und Kräutern, frische Brötchen,
dick mit Butter bestrichen, und dazu Dünnbier zum
Runterspülen.
Mit vollem Bauch wankten sie in ihre Kojen und
schliefen durch bis zum Angelusläuten. Kurz nach dem Aufwachen gab
es wieder
etwas zu essen, diesmal Ziegenfleisch, frisches Maisbrot und rohe
Zwiebeln.
Richard gab Ike das frische Butterbrötchen, das er
am Vorabend unter dem Hemd versteckt hatte mitgehen lassen.
»Versuch, das zu essen, Ike. Die Butter wird dir gut tun.«
Ike aß es. Nach drei Tagen und vier Nächten im
Hafen bekam er langsam wieder etwas Farbe.
Job Hollister steckte den Kopf durch die Luke.
»Kommt rauf, das müsst ihr euch ansehen«, rief er aufgeregt.
»Ist sie nicht großartig?«, fragte er, als Richard
neben ihn an die Reling trat. »In Bristol habe ich kein Schiff
gesehen, das auch nur halb so groß gewesen wäre.«
Es war ein holländischer Ostindienfahrer von 800
Tonnen, der selbst die Sirius in den Schatten stellte,
obwohl er recht tief im Wasser lag. Bestimmt auf der Heimreise,
dachte Richard, voll beladen mit Gewürzen, Pfeffer und Teakholz,
Gütern, die im holländischen Ostindien im Überfluss produziert
wurden. Und die Stahlkassette in der Kajüte des Kapitäns enthielt
wahrscheinlich eine Schatulle mit kostbaren Saphiren, Rubinen und
Perlen.
»Ich wette, die haben auf der Heimreise eine Menge
Seeleute verloren«, sagte John Power und hielt kurz inne. »Bei
unseren Ostindienfahrern ist das jedenfalls so.« Mr Bones winkte
und Power eilte davon.
Da keine Wiederholung der offiziellen Inspektion zu
erwarten war, hatten die Seesoldaten es sich gemütlich gemacht und
tranken, zumal Sergeant Knight bei der eher improvisierten
Verhandlung vor dem Kriegsgericht mit einer leichten
Disziplinarstrafe davongekommen war. Gemeine Soldaten wie Elias
Bishop und Joseph McCaldren, die an der »Grogrebellion« auf der
Alexander beteiligt gewesen waren, hatten hundert Hiebe mit
der neunschwänzigen Katze befürchtet und waren heilfroh, dass die
Offiziere ihnen mehr Sympathien entgegenbrachten als Captain
Sinclair. Die beiden Leutnants ließen sich nur selten an Bord
blicken. Sie waren vollauf damit beschäftigt, mit Kameraden auf
bequemeren Schiffen zu speisen, auf dem Markt von Santa Cruz um
Gänse und Hühner zu feilschen oder Ausflüge ins Innere der Insel
zu unternehmen und die Sehenswürdigkeiten des fruchtbaren
Tafellands an der Bergflanke zu besichtigen.
Auch einige Sträflinge hatten sich erfolgreich Rum
beschafft. Die Scarborough verkaufte außerdem holländischen
Gin aus einem Fass, das sie vor den Scilly-Inseln aus dem Meer
gefischt hatte, ein für englische Gaumen sehr scharfes und bitteres
Getränk. Englischer Gin war süß wie Rum und im Übrigen der
Hauptgrund, warum so viele Trinker verfaulte Zähne hatten. Tommy
Crowder, Aaron Davis und ihre Kameraden schnarchten in der unteren
Koje, nachdem sie dem von Sergeant Knight erstandenen Rum
zugesprochen hatten. Überhaupt war das Schnarchen, das aus dem
Gefängnis der Alexander drang, lauter als jemals zuvor seit
ihrer Einschiffung. Am Freitag weilten nur Männer wie Richard, die
ihr Geld lieber für wichtigere Dinge sparten, an Deck.
Am Samstag kam fünf Stunden nach Sonnenaufgang
William Aston Long, der hochnäsige erste Maat, herunter und fragte
nach John Power.
Power lag nicht in seiner Koje. Die Überraschung
auf den Gesichtern der Gefangenen war nicht gespielt, und so zog
Long mit grimmiger Miene wieder ab.
Mehrere Seesoldaten, noch benebelt vom Alkohol,
brüllten durch die Luke, die Häftlinge sollten gefälligst an Deck
erscheinen, aber dalli! Bestürzt krochen die Männer aus ihren Kojen
oder sprangen von den Tischen auf, wo sie auf das Essen gewartet
hatten.
Captain Duncan Sinclair kam missmutig aus seiner
Achterhütte gewatschelt.
»Mein Vater hatte eine Sau, die sah genauso aus wie
Captain Sinclair«, sagte Bill Whiting so laut, dass die gut dreißig
Umstehenden ihn hören konnten. »Mir ist noch nie ein Keiler oder
ein Stier untergekommen, der diesem Miststück das Wasser reichen
konnte. Die Sau beherrschte alles, den Hof, die Scheune, den
Hühnerstall, den Weiher, die Tiere und uns. Ein Ausbund von
Bosheit! Selbst der Teufel hätte einen großen Bogen um sie gemacht.
Beim geringsten Anlass griff sie an, und sie fraß sogar ihre
Ferkel, nur
um uns eins auszuwischen. Der Eber bibberte vor Angst, wenn er sie
decken sollte. Sie hieß Esmeralda.«
Von diesem Tag an wurde Captain Sinclair von
jedermann auf der Alexander nur noch »Esmeralda«
genannt.
Die verkaterten Seesoldaten erhielten den Befehl,
das Gefängnis auf den Kopf zu stellen. Als ihre Suche ergebnislos
blieb, stellten sie das gesamte Schiff auf den Kopf, ja, sie
suchten sogar in den aufgetuchten Segeln, doch John Power blieb
spurlos verschwunden und mit ihm die Jolle der Alexander,
deren Fehlen allerdings erst viel später bemerkt wurde, als jemand
auf die Idee kam, nachzusehen.
Im Verlauf des Nachmittags kam Major Ross an Bord.
Die bedauernswerten Seesoldaten sahen mittlerweile wieder halbwegs
nüchtern aus, und die Leutnants Johnstone und Shairp waren umgehend
von der Lady Penrhyn zurückbeordert worden, wo sie mit
Captain James Campbell und seinen beiden Leutnants gespeist hatten.
Nach der »Grogrebellion« war Ross fest entschlossen, auf der
Alexander, die ihm von allen elf Schiffen der Flotte am
meisten Unannehmlichkeiten bereitete, keinen weiteren Ärger zu
dulden. Das Sterben unter den Sträflingen ging weiter, die
Seesoldaten waren der unzufriedenste Haufen, den er je erlebt
hatte.
»Finden Sie den Mann«, sagte er zu Captain
Sinclair, »sonst wird Ihre Geldbörse um vierzig Pfund leichter. Ich
habe den Gouverneur von dem Vorfall unterrichtet, und er ist nicht
erfreut. Finden Sie ihn!«
Sie fanden ihn, freilich erst am Sonntagmorgen kurz
nach Tagesanbruch, als die Flotte bereits Anstalten zum Auslaufen
machte. Nachforschungen an Bord des holländischen Ostindienfahrers
hatten ergeben, dass Power allein in der Jolle der Alexander
hinübergepullt war und seine Dienste als Seemann angeboten hatte.
Da er dieselbe Kluft trug wie viele Sträflinge, die der
holländische Kapitän auf englischen Schiffen gesehen hatte, wurde
er höflich abgewiesen und aufgefordert, sich zu entfernen, was er
dann auch tat, allerdings nicht ohne vorher von einem Matrosen, der
beim Anblick seiner kummervollen Miene Mitleid bekam, mit einem
großen Becher Gin getröstet worden zu sein.
Es war die Jolle, die die Suchtrupps der
Alexander als Erstes fanden. Sie war in einer einsamen Bucht
mit der Fangleine an einen Felsen gebunden. Power, von Kummer und
holländischem Gin übermannt, schnarchte hinter einem Steinhaufen
und ergab sich widerstandslos. Sinclair und Long wollten ihn mit
zweihundert Peitschenhieben bestrafen, doch der Gouverneur
übermittelte den Befehl, ihn in Ketten zu legen und für
vierundzwanzig Stunden ans Deck zu heften. Wie lange er die Eisen
tragen sollte, stand noch nicht fest und lag im Ermessen des
Gouverneurs.
Die Alexander stach in See. Chips, der
Schiffszimmermann, heftete John Power mit dem Gesicht nach unten an
Deck, indem er seine Handfesseln und Fußeisen an die Planken
schraubte. Laut Befehl durfte niemand sich ihm nähern, bei
Zuwiderhandlung drohte die Peitsche. Doch kaum senkte sich die
Nacht über das Schiff, schlich Mr Bones zu ihm und gab ihm Wasser,
das er aufleckte wie ein Hund.
Das Wetter war schön, die Sonne schien, und es
wehte eine sanfte Brise, als die Flotte am Morgen aus dem Hafen der
wolkenverhangenen Insel auslief. Diesmal blieb Teneriffa volle drei
Tage in Sicht und der 3700 Meter in den Himmel ragende und von
einem grauen Wolkenband umgebene Pico de Teide, auf dessen Gipfel
Schnee glitzerte, bot einen unvergesslichen Anblick.
Am 15. Juni überquerten sie den Wendekreis des
Krebses, ein Ereignis, das feierlich begangen wurde. Jeder Mann an
Bord, der noch nie südlich dieser Linie geweilt hatte, musste
keinem geringeren als Neptun persönlich vorgeführt werden. Das Deck
war mit Muscheln, Netzen und Seetang geschmückt, und mitten drin
stand eine große, mit Meerwasser gefüllte Kupferwanne. Zwei
Seeleute bliesen auf Conchmuscheln, und im nächsten Moment wurde
eine Furcht einflößende Gestalt aus der Back getragen, die auf
einem Fass thronte und sich erst beim zweiten Hinsehen als Stephen
Donovan entpuppte. Donovan trug eine Krone, die aus einem gezackten
Messingring und Seetang bestand, und einen Bart aus Seegras. Sein
Gesicht, seine nackte Brust und seine Arme waren blau angemalt, und
von der Hüfte abwärts steckte er in dem Schwanz
eines Schwertfisches, den man tags zuvor gefangen und ausgehöhlt
hatte. In der einen Hand hielt er einen Dreizack, der nichts
anderes war als die Harpune der Alexander - ein
dreizackiges, mit Widerhaken versehenes Gerät, mit dem die Matrosen
große Fische aufspießten. Zwei blau angemalte, mit Seetang behängte
Matrosen führten jeden Mann nach vorn, fragten ihn, ob er die Linie
schon einmal überquert habe, und wenn er verneinte, tauchten sie
ihn in die Kupferwanne. Danach bespritzte Neptun ihn mit blauer
Farbe und entließ ihn. Am lautesten johlten die Zuschauer bei der
Taufe der Leutnants Johnstone und Shairp, obgleich die beiden in
Kenntnis der Zeremonie vorsorglich alte Hosen angezogen
hatten.
Es gab Rum für alle, auch für die Sträflinge.
Hornpipes wurden hervorgeholt, und die Matrosen begannen, auf ihre
eigentümliche Weise zu tanzen. Sie hüpften mit verschränkten Armen
auf und ab, drehten sich im Kreis und wippten von einem Fuß auf den
anderen. Danach sangen sie einige Shantys und forderten schließlich
auch die Sträflinge auf, ein oder zwei Lieder zum Besten zu geben.
Richard und Taffy trugen eine Weise von Thomas Tallis vor, stimmten
als nächstes »Greensleeves« an und brachten die Übrigen dazu, mit
ihnen Wirtshauslieder zu schmettern. Jeder erhielt eine randvolle
Schüssel mit Mr Kellys Schwertfischsuppe, die selbst dem
Schiffszwieback ein wenig Geschmack verlieh, wenn man ihn
hineintunkte. Bei Einbruch der Dunkelheit wurden Laternen
angezündet, dann sang man weiter, bis Captain Sinclair gegen zehn
durch Trimmings, seinen Steward, ausrichten ließ, dass alle
Seeleute bis auf die Wache gefälligst in ihren Kojen verschwinden
sollten.
Die Nordostpassate trugen die Schiffe in flotter
Fahrt nach Westen und Süden. Kein voll getakeltes Schiff konnte
direkt vor dem Wind laufen. Ideal war ein Wind, der achterlicher
als querab einkam, also schräg von hinten. Da die natürlichen Winde
und Strömungen die Schiffe im Atlantik unweigerlich von der
afrikanischen Küste fort und in Richtung Brasilien trugen, war
jedermann klar, dass sie früher oder später in Rio de Janeiro
landen würden. Die viel diskutierte Frage war nur, wann? Obwohl man
in Teneriffa die
Wassertonnen aufgefüllt hatte, hielt es Gouverneur Phillip für
ratsam, die Kapverden anzulaufen und abermals Wasser zu bunkern.
Die Inseln befanden sich in portugiesischem Besitz und lagen
ziemlich genau westlich von Dakar.
Am 18. Juni zogen bei windigem, diesigem Wetter die
ersten Kapverdischen Inseln vorüber: Sal, Boa Vista und Maio. Die
Alexander flog nur so dahin und legte 165 Seemeilen am Tag
zurück. Diese Zahl entsprach noch nicht einmal den tatsächlich
gesegelten Meilen, sondern nur der in der gewünschten Richtung
zurückgelegten Strecke. Ein Seetag dauerte von Mittag zu Mittag, da
man mittags, wenn die Sonne am höchsten stand, mit dem Sextanten
die geografische Breite bestimmen konnte. Die exakte geografische
Länge wurde mithilfe von Chronometern ermittelt, allerdings hatte
nur das Flaggschiff Sirius welche an Bord. Sobald die
Besatzung der Sirius die Länge errechnet hatte,
signalisierte sie das Ergebnis den anderen zehn Schiffen, indem sie
entsprechende Flaggen hisste.
Am Morgen des 19. Juni kam die große und bergige
Insel São Tiago in Sicht. Alles ging gut, bis die Flotte im
geschlossenen Verband die Südostspitze umrundete, um in Praia vor
Anker zu gehen. Dann war es auf einmal vollkommen windstill. Kein
Lüftchen regte sich bis auf so genannte Katzenpfoten, leichte
Windstöße aus allen Richtungen. Zu allem Überfluss herrschte ein
starker Seegang, der die Schiffe auf die Küste zutrieb. Als der
Gouverneur nach mehreren vergeblichen Manövern sah, dass die
Scarborough und die Alexander nur noch eine halbe
Meile von der Brandung entfernt waren, gab er der Flotte den
Befehl, wieder offene See zu gewinnen. Es wurde kein zusätzliches
Frischwasser gebunkert.
Solange die Nordostpassate bliesen, machte die
Flotte gute Fahrt, doch Ende Juni flaute der stetige Wind ab und
das Fortkommen hing nun davon ab, ob sich eine Brise finden ließ.
Dies erforderte häufiges Überstaggehen und Warten. Der Rudergänger
legte das Schiff auf einen anderen Bug, und dann warteten alle ab,
ob dies dem Schiff einen Wind bescherte, der es in die gewünschte
Richtung schob. Blieb der erhoffte Wind aus, wurde das Schiff
erneut
gewendet, und die Warterei begann von vorn. Wenden und warten,
wenden und warten … Richard war dem Angelkommando zugeteilt worden,
nicht weil er eine glückliche Hand als Fischer hatte, sondern weil
er geduldig war. Wenn Männer wie Bill Whiting ihre Angel auswarfen,
erwarteten sie, dass innerhalb einer Minute etwas anbiss. Sie
hatten nicht die Geduld, nur an der Reling zu lehnen und, wenn
nötig, stundenlang zu warten. Wenn die Sonne senkrecht vom Himmel
brannte, war es an Deck nicht sehr angenehm, schon gar nicht für
einen hellhäutigen Engländer. In dieser Hinsicht blieb Richard das
Glück treu. Auf der Fahrt nach Teneriffa hatte er eine rosige Farbe
angenommen, die danach in ein tiefes Braun übergegangen war.
Dasselbe galt für Taffy, den schwarzhaarigen Waliser, und andere,
dunklere Typen. Für blonde und sommersprossige Männer wie Bill
Whiting und Jimmy Price brach hingegen eine schwere Zeit an. Ein
ums andere Mal mussten sie unter Deck flüchten, sich die
schmerzenden Sonnenbrände mit Richards Salbe einreiben oder
Bordarzt Balmain um Hilfe bitten, der ihnen ohne viel Zartgefühl
Zinkpaste auf die Haut klatschte.
Umso größer war Richards Freude, als er sah, dass
die Matrosen zwischen Stagen und Wanten oder anderen Teilen des
stehenden Guts Sonnensegel spannten, wobei sie geflissentlich
darauf achteten, dass die Toppgasten nicht beim Aufentern behindert
wurden.
»Ich staune«, sagte er zu Stephen Donovan.
»Esmeralda ist offenbar daran gelegen, dass wir keinen Sonnenbrand
bekommen.«
Donovan lachte schallend. »Richard! Das ist
Esmeralda scheißegal! Nein, mit den Sonnensegeln soll Regenwasser
gesammelt werden. Man stellt eine Tonne darunter, um es
aufzufangen. Es ist eine Kunst, das Tuch so zu spannen, dass nur an
einer Stelle ein Trichter entsteht. Ich glaube, wir haben den
Passat verloren, und Esmeralda glaubt das offensichtlich
auch.«
»Warum sind Sie eigentlich nur vierter Maat, Mr
Donovan? Wenn ich an Deck herumgehe, habe ich den Eindruck, dass
Sie fast genauso viel Verantwortung tragen wie Mr Long, und mit
Sicherheit mehr als Mr Shortland oder Mr Bones.«
Die Winkel der blauen Augen legten sich in Falten,
und ein Lächeln
umspielte den Mund, doch auf Richard wirkte es ein wenig bitter.
»Tja, Richard, ich bin aus Ulster und deshalb so etwas wie ein Ire,
und obwohl ich in Westindien unter Admiral Rodney gedient habe,
gehöre ich der Handelsmarine an. Esmeralda hat mich als zweiten
Maat angeheuert, doch der Marineagent wollte ein Pöstchen für
seinen Sohn. Esmeralda war sehr ungehalten, als er erfuhr, dass Mr
Shortland als zweiter Maat an Bord kommen sollte - er und der
Vater, Leutnant Shortland, sind einander spinnefeind. Am Ende zog
Leutnant Shortland es vor, auf die Fishburn zu wechseln.
Sein Sohn freilich blieb. Und da Mr Bones den Posten des dritten
Maats partout nicht räumen wollte, wurde ich eben vierter. Somit
haben wir jetzt einen für jede Wache, wenn Sie so wollen.«
Richard runzelte die Stirn. »Ich dachte, der
Kapitän sei der Herr über sein Schiff und habe das letzte
Wort.«
»Nicht wenn er mit der Königlichen Marine
zusammenarbeitet. Die Firma Walton hofft auf weitere Aufträge,
deshalb kommandiert Captain Francis Walton, einer aus der Familie,
die Friendship. Esmeralda Sinclair ist Teilhaber von Walton
& Company. Bei genauerer Betrachtung werden Sie feststellen,
dass fast alle Kapitäne von Truppentransportern und
Versorgungsschiffen Teilhaber ihrer Reedereien sind.« Donovan
zuckte die Schultern. »Wenn das Experiment in der Botany Bay
klappt, wird der Sträflingstransport ein einträgliches
Geschäft.«
»Schön zu wissen«, grinste Richard, »dass wir armen
Teufel einigen Leuten zu Wohlstand verhelfen.«
»Speziell Leuten wie William Richards junior. Er
ist der Vertragspartner der Marine - und der Mann, dem Sie den Fraß
verdanken, den Sie bekommen. Soll ihn der liebe Gott in der Hölle
braten lassen. Und bitte, lieber Gott, schicke uns ein oder zwei
Fische!«
Die Schnur in Richards Hand zuckte, ebenso die von
Donovan, und von achtern ertönte der Freudenschrei eines Matrosen.
Sie waren unversehens in einen Tunfischschwarm geraten und
wuchteten die großen Fische in einem solchen Tempo an Bord, dass
die Umstehenden aufgefordert wurden, Köder auf die Haken zu
spießen,
damit sie die Leinen wieder auswerfen konnten, ehe der Schwarm
verschwand. Am Ende dieses kurzen Ausbruchs erfrischender
Betriebsamkeit zappelten und zuckten über fünfzig große Tunfische
auf den Planken, und die Matrosen und Seesoldaten wetzten ihre
Messer und machten sich daran, sie zu schuppen, auszunehmen und zu
zerlegen. Eine Arbeit, die den Sträflingen wegen der Messer
untersagt war.
»Heute Abend gibt es jede Menge Fischsuppe«, sagte
Richard zufrieden. »Im Übrigen bin ich froh, dass wir nicht mehr
mittags essen. Mit vollem Magen schläft es sich besser. Ich weiß,
unsere Leutnants beklagen, dass diese herrlichen Geschöpfe durstig
machen, aber das Fleisch ist frisch!«
Das Meer war ein unterhaltsamer Gesellschafter,
denn irgendetwas passierte immer. Richard hatte sich an den Anblick
der großen Tümmler und der etwas kleineren Delfine zwar schon
gewöhnt, die fischten, spielten und weit aus dem Wasser sprangen,
doch seine Begeisterung war ungebrochen. Seinen ersten Hai und den
ersten Wal sah er an einem Tag, als nahezu völlige Windstille
herrschte und die langen Wellen der Dünung zu sanft waren, um sich
zu brechen und Schaumkronen zu bilden. Richard sehnte sich danach,
in dem kristallklaren Wasser zu schwimmen, und fragte sich, ob Mr
Donovan oder einer der anderen Seeleute es ihm irgendwann auf der
langen Fahrt beibringen würde. Er wunderte sich, warum sie nie ins
Wasser gingen, nicht einmal an Tagen wie diesem, an denen man ohne
Mühe wieder an Bord klettern konnte.
Dann kam er, der gefürchtete Hai. Doch Richard
verstand nicht, warum sein bloßer Anblick ihm das Blut in den Adern
gefrieren lassen sollte, denn der Hai war schön. Zuerst sah Richard
die Rückenflosse, die wie ein Messer durchs Wasser schnitt. Der Hai
steuerte auf die blutigen Tunfischabfälle zu, die neben dem Schiff
und im Kielwasser trieben. Wie ein dunkler Schatten glitt er
vorüber und schien für immer verschwunden. Er war gut
fünfundzwanzig Fuß lang und in der Mitte so rund wie ein Fass,
verjüngte sich vorn aber zu einem spitzen Maul und endete hinten in
einem langen, spitz zulaufenden Schwanz mit einer gegabelten Flosse
als Ruder. Ein stumpfes schwarzes Auge saß tellergroß in dem
massigen
Kopf. In dem Augenblick, in dem er das Fischgedärm erreichte,
wälzte er sich auf die Seite und schöpfte es in seinen mit Furcht
erregenden Zähnen bewehrten Rachen. Sein Bauch blitzte weiß auf,
dann waren die Abfälle verschwunden. Er verschlang alles, was er
finden konnte, dann schwamm er in Richtung der achteraus stehenden
Schiffe, wo vielleicht weitere Leckerbissen auf ihn warteten.
Mein Gott! Richard hatte von Walen gehört und von
Haien. Er wusste, dass Haie groß waren, aber dass sie fast an die
Größe von Walen heranreichten, hätte er nicht im Traum gedacht. Und
das Auge des Tieres verriet, dass es keine Seele besaß.
Der Wal tauchte etwa eine Kabellänge querab so
plötzlich aus dem Meer auf, dass nur die Männer, die wie Richard an
Steuerbord angelten, sahen, wie das Wasser förmlich explodierte und
das mächtige Geschöpf die Oberfläche durchbrach. Ein
schnabelförmiger Kopf, ein kleines intelligentes Auge, ein
getüpfeltes Flossenpaar - gut zwölf Meter lang wölbte sich der
prächtige, blau-graue Rücken aus dem Wasser. Dann fiel er zurück
und verschwand in einer Wolke von Gischt. Einen Augenblick
herrschte atemlose Spannung, dann stieg die herrliche Schwanzflosse
in die Höhe, schwebte kurz in der Luft wie ein Banner und klatschte
mit einem Donnerschlag mitten in den regenbogenfarbenen
schillernden Schaum. Der Koloss des Meeres, großartiger als jedes
Linienschiff.
Andere Wale tauchten auf, versprühten Fontänen aus
Luft und Wasser, schwammen majestätisch neben den Schiffen her oder
vollführten an der Oberfläche ihren gravitätischen Tanz. Eine Zeit
lang tollte ein Muttertier mit Kalb um die Alexander herum.
Die Mutter war schrecklich vernarbt und bewachsen, das Kalb
makellos. Richard wäre am liebsten auf die Knie gesunken, um Gott
für diese Gnade zu danken, doch er konnte den Blick nicht von den
Walen abwenden. Wohin sie wohl unterwegs waren?
Nicht lange nach dem Abflauen des Windes setzten
die ersten Böen ein und mussten ausgenutzt werden. Wolken zogen am
Himmel auf und wuchsen unter bedrohlichem Grollen rasch zu
dunkelblauen Gebirgen mit weißen Spitzen. Dann brach ein Sturm los.
Die See geriet in Aufruhr, Regen peitschte, Blitze zuckten, Donner
rollte. Eine Stunde später war der Himmel wieder blau und das
Schiff lag bewegungslos in der Dünung.
Einige Sträflinge und Seesoldaten schliefen an
Deck, doch Richard wunderte sich, dass es nicht mehr waren.
Zumindest die Gefangenen waren es doch gewöhnt, auf harten Planken
zu schlafen. Sobald es freilich Nacht wurde, was in diesen Breiten
erstaunlich rasch geschah, entschieden sich die meisten für das
stinkende Gefängnis. Eine Hängematte bot natürlich einen gewissen
Komfort, wie stickig und schwül es unten auch sein mochte. Doch das
Verhalten seiner Kameraden ließ nur einen Schluss zu: Offenbar
fürchteten sie die Elemente.
Richard nicht. Er suchte sich ein Plätzchen an
Deck, wo er den Matrosen nicht im Wege war, und wenn ein Gewitter
über sie hinwegzog, bewunderte er das hinreißende Spiel der Blitze,
spürte, wie sein Herzschlag stockte, wenn Blitz und Donner
unmittelbar aufeinander folgten, und wartete, bis er völlig
durchnässt war. Der Regen war das Beste von allem. Richard nahm
jedes Mal seine Seife mit und stopfte seine Kleider unter eins der
Langboote. Er genoss das Prickeln des Seifenschaums auf der Haut,
wohl wissend, dass der Regen lange genug anhalten würde, um ihn
wieder abzuwaschen. Alles Waschbare trug er nach oben - Matten,
Kleider, selbst die Decken, obwohl sie zusehends einliefen und die
anderen lautstark dagegen protestierten.
»Du schleppst alles, was nicht niet- und nagelfest
ist, nach oben und wäschst es«, rief Bill Whiting empört. »Wie
hältst du es da oben nur aus? Wenn das Schiff vom Blitz getroffen
wird und untergeht, möchte ich lieber hier unten sein.«
»Die Decken können nicht weiter einlaufen, Bill,
deshalb verstehe ich nicht, warum du dich so aufregst. In einer
Stunde ist alles wieder trocken. Du bist so mit Schnarchen
beschäftigt, dass du nicht mal merkst, wenn ich die Sachen
hole.«
Dass Bill wieder munterer und frecher wurde, hatte
sicher damit zu tun, dass sie in diesen Gewässern häufig Fisch zu
essen bekamen, ein Aspekt, den Richard vor der Fahrt über den
großen Teich nicht bedacht hatte. Das Brot war mittlerweile in
einem beklagenswerten
Zustand. Es wimmelte von fetten Maden, sodass die meisten beim
Essen die Augen schlossen. Es war auch weicher geworden, was
offensichtlich dem Umstand zu verdanken war, dass die widerlichen
Dinger sich munter vermehrten. Das Pökelfleisch blieb naturgemäß
verschont, doch auch Erbsen und Hafermehl beherbergten Untermieter.
Zu allem Überfluss ging in Richards Gruppe das Malzextrakt zur
Neige.
»Mr Donovan«, sagte er zu dem vierten Maat, der de
facto zweiter Maat war, »könnten Sie mir einen Gefallen tun, wenn
wir Rio de Janeiro anlaufen? Ich behellige Sie nur damit, weil ich
Vertrauen zu Ihnen habe und sonst keinen Landgänger kenne, dem ich
trauen kann.«
Das stimmte. In den vielen gemeinsamen Angelstunden
war zwischen ihnen eine Freundschaft gewachsen, die so eng war wie
die zwischen Richard und seinen Gefährten oder sogar noch enger.
Stephen Donovan war ein ernster und doch heiterer Mensch,
empfindsam und von beißendem Humor, und er erriet mit untrüglichem
Gespür Richards Gedanken. Er war ihm ein Bruder, mehr als William
es je gewesen war, und irgendwie spielte es keine Rolle mehr, dass
Donovan nicht nur brüderliche Gefühle für ihn empfand. Anfangs
hatten die Mitgefangenen über Richards seltsame Freundschaft
gewitzelt, und seine häufigen Übernachtungen auf dem Oberdeck
hatten der Angelegenheit eine pikante Note verliehen. Doch Richard
schenkte den Anzüglichkeiten keine Beachtung und stellte sich taub.
Er wusste, dass es klüger war, sich nicht zu verteidigen. Nach
einiger Zeit beruhigten sich alle wieder und akzeptierten die
Beziehung als eine normale Freundschaft - Mr Donovan befriedigte
seine körperlichen Gelüste anderswo.
An dem Tag, an dem Richard sein Anliegen vortrug,
angelten sie. Es war einer jener quälenden Tage, an denen die
Fische nicht beißen wollten. Richard trug wie Donovan einen
Strohhut. Er hatte ihn dem Zimmermannsgehilfen abgekauft, den es
mehr nach Rum als nach Sonne dürstete.
Donovan betrachtete ihn erfreut. »Es wäre mir eine
Freude, Ihnen einen Gefallen zu erweisen.«
»Wir haben nur sehr wenig Geld und brauchen einige
Sachen
wie Seife, Malzextrakt, ein paar Hausmittel gegen verschiedene
Wehwehchen und Insektenstiche, Teeröl, neue Lappen, ein paar
Rasiermesser und zwei Scheren.«
»Sparen Sie Ihr Geld für die Rückfahrt auf,
Richard. Es wird mir ein Vergnügen sein, Ihnen die Sachen ohne
Bezahlung zu besorgen.«
Richard schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht
annehmen. Ich muss dafür bezahlen.«
Donovan hob eine Augenbraue und grinste. »Glauben
Sie etwa, ich habe es auf Ihren Körper abgesehen? Das tut
weh.«
»Aber nein! Ich kann nur keine Geschenke annehmen,
weil ich selbst keine Geschenke machen kann!«
Donovan lachte. »Sie können das Geschenk getrost
annehmen. Ich will nur Ihr Los erleichtern. Wir sind doch Freunde,
Richard. Ist Ihnen das entgangen?«
Richard lächelte. »Nein, durchaus nicht. Danke, Mr
Donovan, ich nehme das Geschenk an.«
»Sie könnten mir ein noch größeres machen.«
»Und wie?«
»Nennen Sie mich Stephen.«
»Das schickt sich nicht. Wenn ich ein freier Mann
bin, wird es mir eine Freude sein, Sie Stephen zu nennen. Doch bis
dahin steht es mir nicht zu.«
Ein Hai schwamm vorbei, ein Hammerhai, keine zwölf
Fuß lang. In diesen Gewässern eine Kaulquappe. Er wendete, starrte
sie ausdruckslos an und schwamm davon.
»Ein boshaftes Geschöpf«, sagte Richard. »Das Auge
eines Wals verrät Gefühle, das eines Tümmlers auch. Bei diesem
Biest habe ich das Gefühl, es kommt aus der tiefsten Hölle.«
»Oha! Man merkt, dass Sie aus Bristol stammen!
Haben Sie je gepredigt?«
»Nein, aber wir haben Prediger in der Familie.
Anglikaner. Der Vetter meines Vaters ist Pfarrer von St. James, und
sein Vater hat in Crew’s Hole unter freiem Himmel vor Bergleuten
gepredigt.«
»Ein tapferer Mann. Hat er es überlebt?«
»Ja. Vetter James wurde erst später geboren.«
»Leiden Sie nie unter den Versuchungen des
Fleisches, Richard?«
»Früher ja. Ich kannte eine Frau, die jedem Mann
das Tor zum Paradies öffnen konnte. Das war schrecklich. Ich kann
leicht darauf verzichten.«
Donovans Leine zuckte. »Ich habe einen!«, schrie
er. »Da hat einer angebissen!«
In der Tat. Der Hai war zurückgekehrt und hatte den
Köder mitsamt Haken und Schwimmer geschluckt. Donovan riss sich den
Hut vom Kopf und trampelte fluchend darauf herum.
Vielleicht lag es an der drückend schwülen Hitze,
vielleicht hatte die Alexander dem Tod auch nur eine
Atempause gegönnt, jedenfalls begann am 29. Juni wieder das
Sterben. Bordarzt Balmain, der wegen des Gestanks nur sehr
widerwillig ins Gefängnis hinabstieg, war mit einem Mal genötigt,
einen Großteil seiner Zeit dort zu verbringen. Doch seine Arzneien
bewirkten nicht viel, weder die Brechmittel noch die
Abführmittel.
Wie groß doch die Macht des Aberglaubens war! Die
Alexander durchpflügte gerade eine zähe, kobaltblau
schimmernde See, als die ersten Krankheitsfälle auftraten, und die
Sträflinge sahen darin den deutlichen Beweis, dass ein Fluch auf
dem Schiff lag. Das Meer hatte sich in blaue Kiesel verwandelt, und
alle würden jetzt sterben.
»Das sind doch Nautilusschnecken!«, rief Bordarzt
Balmain aufgebracht. »Wir sind in einen riesigen Schwarm
Nautilusschnecken geraten - portugiesische Kriegsschiffe, wie man
sie bei der Marine nennt. Hellblau glänzendes Meeresgetier! Etwas
ganz Natürliches und kein Zeichen für den Zorn Gottes!
Himmeldonnerwetter noch mal!« Er fuchtelte mit den Armen und zog
sich, an der Menschheit verzweifelnd, in seine Kabine auf dem
Achterdeck zurück.
»Warum heißen sie portugiesische Kriegsschiffe?«,
fragte Joey Long, als Richard an Ikes Krankenlager trat, um ihn
abzulösen.
»Weil die portugiesischen Linienschiffe in
derselben blauen Farbe gestrichen sind«, antwortete Richard.
»Nicht schwarz und gelb wie unsere?«
»Joey, wenn sie genauso gestrichen wären, wie
könnte man dann Freund und Feind unterscheiden? Ist die Luft erst
mal von Pulverdampf geschwängert, sind Flaggen und Hoheitszeichen
kaum noch zu erkennen. Geh jetzt an Deck, du hockst mir zu viel
hier unten.« Richard setzte sich neben Ike, zog ihm Hemd und Hose
aus und wusch ihn mit einem Schwamm.
»Balmain ist ein Quacksalber«, krächzte Ike.
»Nein, er ist nur mit seinem Latein am Ende. Er
weiß nicht, was er noch tun kann.«
»Weiß das überhaupt einer? Irgendwo?« Ike bestand
nur noch aus Haut und Knochen. Die Haare waren ihm ausgefallen,
seine Nägel hatten sich weiß verfärbt, seine Lippen waren
geschwollen und rissig, seine Zunge belegt. Doch am schlimmsten
fand Richard seine verschrumpelten Genitalien. Ach Ike!
»Los, mach den Mund auf.« Er drehte den Zipfel
eines Lappens zusammen, tauchte ihn in gefiltertes Wasser und
reinigte dem Straßenräuber damit behutsam Zähne und Zunge.
Manchmal, so dachte er bei der Arbeit, ist es von Nachteil, wenn
man groß ist. Wäre Ike so klein wie Jimmy Price, wäre er längst von
seinen Leiden erlöst. Doch er war früher ein wahrer Muskelprotz
gewesen, und das Leben war zäh. Kaum einer gab kampflos auf, die
meisten klammerten sich ans Leben wie Napfschnecken an einen
Felsen.
Der Gestank wurde immer schlimmer, und die Ursache
war das Bilgewasser. Obwohl Balmain seit sieben Jahren Marinearzt
war, fühlte er sich durch die Zustände auf der Alexander
überfordert. Auf sein Drängen hin wurden Windsäcke angebracht,
Trichter aus Leinwand, die durch Löcher in den Decksplanken
Frischluft in die stickigen Winkel des Gefängnisses blasen sollten.
Captain Sinclair hatte energisch dagegen protestiert, doch Balmain
hatte darauf bestanden, und aus Sorge um den Ruf der
Alexander, die mittlerweile als Todesschiff galt, hatte der
Captain schließlich eingelenkt und Chips den Auftrag gegeben, die
Löcher zu bohren. Aber wenn überhaupt, so gelangte nur sehr wenig
Frischluft ins Gefängnis, und die Zahl der Fieberkranken stieg
weiter.
Richard war zwar dünn, aber wohlauf, und auch
seinen Kojengenossen
und den vier anderen in Ikes Koje ging es gut. Willy Dring und Joe
Robinson hatten das Unterdeck endgültig verlassen, sodass die drei
Zurückgebliebenen - seit Portsmouth hatten sie einen Mann verloren
- so viel Platz hatten wie normalerweise sechs Häftlinge. Und Tommy
Crowders Koje stand mit Sergeant Knight in so gutem Einvernehmen,
dass seine Leute ein recht angenehmes Leben führten. Trotz dieser
positiven Anzeichen ahnte Richard freilich, dass der neuerliche
Ausbruch der Krankheit böse Folgen haben würde.
Am 4. Juli starb erneut ein Mann und dreißig
Sträflinge lagen im Fieber. Es war, als sei der Bauch der
Alexander mit halb verwesten Leichen voll gestopft. Bordarzt
Balmain schüttelte den Kopf. Wie konnten es die armen Teufel in
diesem bestialischen Gestank nur aushalten?
Am nächsten Tag übermittelte die Sirius zwei
Befehle. Der erste lautete, dass John Power die Ketten abgenommen
werden sollten. Kaum war Power von den Eisen befreit, meldete er
sich bei Mr Bones zum Dienst, denn es war ihm nicht ausdrücklich
untersagt worden, wieder zu arbeiten. Der zweite Befehl missfiel
den beiden Leutnants zutiefst: Die Wasserration für jeden Mann der
Flotte, egal ob Matrose, Seesoldat oder Sträfling - Kinder und
Frauen bekamen ohnehin weniger - wurde von vier Pints auf drei
Pints gekürzt. Die Gefangenen sollten jeden Morgen ein Pint und am
Nachmittag noch einmal zwei Pints erhalten. Ein Offizier sollte die
Wasserausgabe überwachen, zwei Seesoldaten und zwei Sträflinge
sollten dabei als Zeugen fungieren und, um Betrug oder Kungeleien
vorzubeugen, bei jeder Ausgabe komplett ausgewechselt werden. Die
Laderäume waren verschlossen zu halten, die angebrochenen
Wassertonnen streng zu bewachen. Die Schlüssel nahmen die Offiziere
in Gewahrsam. Wasser zum Kochen und Waschen sollte am Morgen
ausgegeben werden, zusammen mit dem Wasser für die Tiere. Die Tiere
tranken reichlich. Rinder und Pferde bekamen täglich zehn
Gallonen.
Drei Tage später hatten die Flauten und Stürme ein
Ende, und die Südostpassate begannen zu wehen, obwohl die Schiffe
noch nicht einmal den Äquator überquert hatten. Die Stimmung stieg
sofort, allerdings musste die Flotte hart arbeiten, um wenigstens
annähernd hundert Meilen am Tag zurückzulegen. Mit knarrender
Takelage pflügte sich die Alexander durch hohe Bugseen, wie
gewöhnlich auf gleicher Höhe mit der Scarborough und dicht
gefolgt von der Sirius und der Supply. Weit voraus
lief die Friendship, über dem Bug Unmengen von Gischt, die
sie abschüttelte wie ein Hund das Wasser.
Als die Silberknöpfe an Johnstones und Shairps
roten Uniformröcken schwarz anliefen und der Gestank auf dem
Achterdeck beinahe ebenso unerträglich wurde wie unter Deck,
sprachen die beiden Leutnants und Bordarzt Balmain beim Captain
vor. Sinclair hörte sie an, tat ihre Beschwerde aber als Unsinn ab.
Er beklagte sich seinerseits darüber, dass die Gefangenen sein Brot
stahlen, und verlangte, die Missetäter auszupeitschen.
»Sie sollten froh sein«, erwiderte Johnstone
scharf, »dass die Gefangenen nicht Ihren Rum stehlen!«
Sinclair grinste und entblößte dabei schmutzige
Zähne. »Andere Schiffe mögen Probleme mit ihrem Rum haben,
Gentlemen, dieses Schiff nicht. Und jetzt verschwinden Sie und
lassen mich in Ruhe. Ich habe Chips den Auftrag gegeben, die
Bilgepumpe an Steuerbord zu reparieren. Sie arbeitet nicht richtig.
Das ist zweifellos die Ursache für den Zustand der Bilge.«
»Wie soll ein Zimmermann ein Gerät reparieren, das
hauptsächlich aus Metall und Leder besteht?«, erwiderte Balmain
heftig.
»Beten Sie, dass es ihm gelingt. Und jetzt
verschwinden Sie.«
Balmain hatte genug. Er signalisierte der
Sirius und erhielt die Erlaubnis, mit einem Boot zur
Charlotte überzusetzen und bei Marineadmiralarzt John White
vorzusprechen. Unter Shairps Kommando nahm das Boot Kurs auf die
Charlotte, einen schwerfälligen Segler, der weit zurücklag.
Die Rückfahrt zur Alexander wurde zu einer Tortur, sogar für
einen Mann wie Shairp, der selbst in schwerster See nicht mit der
Wimper zuckte. Entsprechend übellaunig war Marineadmiralarzt White,
als er die Jakobsleiter der Alexander erklomm.
»Mr White und Mr Balmain wünschen euch im
Zwischendeck zu sehen«, sagte Stephen Donovan zu den
Bristolern.
Streng genommen, dachte Richard, der von Mr Thomas
eine Menge über Pumpen gelernt hatte, müssten die Pumpen der
Alexander ein Deck tiefer gelegt werden, damit sie das
Bilgewasser nicht so weit nach oben pumpen mussten. Doch die
Alexander war ein Sklavenschiff und die Eigner wünschten
keine Löcher so weit unten im Rumpf. Tatsache war, dass sich
zwischen den Besuchen im Trockendock nie jemand um die Bilgen
gekümmert hatte.
Im Quartier der Seesoldaten im Zwischendeck standen
zwei Behälter, jeweils einer an Steuerbord und Backbord, beide mit
einer Saugpumpe mit Schwengel ausgestattet. Ein Rohr leitete das
Wasser aus den Behältern durch eine Klappe ins Meer. Die
Steuerbordpumpe war zerlegt worden, die andere machte keinen
Mucks.
»Gehen wir ganz runter«, sagte White mit aschfahlem
Gesicht. »Wie kann es ein Mensch hier aushalten? Leutnant
Johnstone, die Geduld Ihrer Männer ist lobenswert.«
Richard und Will Connelly öffneten die Luke zum
Frachtraum und taumelten zurück. In der Last darunter war es
stockdunkel, doch selbst die hinter ihnen stehenden Männer konnten
das Plätschern des Wassers hören, das gegen die Trinkwassertonnen
schwappte.
»Wir brauchen ein paar Laternen«, sagte White und
hielt sich ein Taschentuch vor Mund und Nase. »Einer von uns wird
da runtersteigen müssen.«
»Sir«, gab Richard höflich zu bedenken, »ich würde
keine offene Flamme da reinhalten. Es könnte eine Explosion
geben.«
»Aber ich muss hineinsehen!«
»Das ist nicht nötig, Sir, wirklich nicht. Wir
hören doch alle, was los ist. Das Wasser aus den Bilgen hat den
Laderaum überflutet. Das bedeutet, dass sie voll sind. Die beiden
Pumpen funktionieren nicht und haben vielleicht noch nie
funktioniert - beim letzten Mal haben wir die Bilgen mit Eimern
ausgeschöpft. Dieses Problem haben wir seit Gallion’s Reach.«
»Wie heißen Sie?«, fragte White hinter dem
Taschentuch hervor.
»Richard Morgan, Sir, ehemals in Bristol wohnhaft.«
Richard grinste. »Wir aus Bristol sind Mief gewöhnt, deshalb werden
wir immer zum Bilgedienst eingeteilt. Aber Ausschöpfen allein wird
keine Abhilfe schaffen. Die Bilgen müssen jeden Tag leer gepumpt
werden. Aber nicht mit Saugpumpen. Mit einer solchen Pumpe brauchen
Sie eine Woche, um eine Tonne Wasser zu fördern, selbst wenn sie
ordnungsgemäß arbeitet.«
»Ist der Zimmermann in der Lage, sie zu reparieren,
Mr Johnstone?«
Johnstone zuckte die Schultern. »Fragen Sie Morgan,
Sir. Er scheint sich damit auszukennen. Ich muss gestehen, dass ich
von Pumpen nichts verstehe.«
»Ist der Zimmermann in der Lage, sie zu reparieren,
Morgan?«
»Nein, Sir. In der Bilge befindet sich zu viel
Schmutz. Wenn gepumpt wird, verstopft er Rohre und Zylinder dieser
Größe. Die Alexander braucht Kettenpumpen.«
»Was kann eine Kettenpumpe, was diese Pumpen nicht
können?«, fragte White.
»Sie beseitigt die Schweinerei da unten, Sir. Sie
besteht aus einem einfachen Holzkasten mit einem viel größeren
Fassungsvermögen als diese Zylinder. Angetrieben wird sie mithilfe
einer flachen Messingkette, die oben über Holzzahnräder und unten
über eine Holztrommel läuft. An der Kette sind Bretter angebracht,
die sich auf dem Weg nach unten zusammenfalten und auf dem Weg nach
oben aufklappen und eine Saugwirkung erzeugen. Ein guter Zimmermann
kann alles bauen bis auf die Kette - das Gerät ist so einfach, dass
zwei Männer, die die Zahnradtrommel drehen, in einer Minute eine
Tonne Wasser fördern können.«
»Dann muss die Alexander mit Kettenpumpen
ausgerüstet werden. Gibt es eine Kette an Bord?«
»Das bezweifle ich, Sir, doch die Sirius ist
unlängst überholt worden und dürfte deshalb über Kettenpumpen
verfügen. Ich könnte mir vorstellen, dass sie sogar Ersatzketten an
Bord hat. Wenn nicht, dann vielleicht eins der anderen
Schiffe.«
White wandte sich an Johnstone und Shairp. »Gut,
ich setze auf die Sirius über und erstatte dem Gouverneur
Bericht. In der
Zwischenzeit lassen Sie Laderaum und Bilgen ausschöpfen. Alle
Seesoldaten und Gefangenen, die nicht krank sind, sollen mit
anpacken. Ich möchte nicht, dass die Männer aus Bristol alles
alleine machen müssen.« Dann sah er Balmain durchdringend an.
»Warum haben Sie nicht viel früher über die Zustände hier
berichtet, wenn sie schon seit über sieben Monaten andauern? Der
Kapitän dieses Schiffs ist ein Faulpelz. Aber Sie als Schiffsarzt
haben die unbedingte Pflicht, die Gesundheit aller Männer an Bord
zu erhalten, auch die der Gefangenen. Das haben Sie nicht getan,
und Sie können sich darauf verlassen, dass ich den Gouverneur davon
unterrichten werde.«
William Balmains Wangen färbten sich rot und seine
schönen Gesichtszüge erstarrten vor Schreck und Wut. Ihn vor zwei
Seesoldaten und vier Gefangenen abzukanzeln, war schändlich und
entsprach ganz der Art, wie Major Ross mit unzuverlässigen
Untergebenen umsprang. Jetzt war nicht der rechte Zeitpunkt, White
zur Rede zu stellen, doch er schwor sich, Genugtuung zu fordern,
sobald die Flotte die Botany Bay erreicht hatte. Seine Augen
wanderten forschend über die Gesichter der Sträflinge, vermochten
aber keine Anzeichen von Spott oder Häme zu entdecken. Er kannte
diese Leute. Sie waren ihm aufgefallen, weil sie niemals krank
wurden.
In diesem Augenblick erschien Major Robert Ross am
Fuß der Leiter. Shairps Ausflug zur Charlotte hatte seine
Neugier erregt. Ein kurzes Schnüffeln genügte, um ihn über die
Natur des Problems aufzuklären. Balmain zog sich steif in seine
Kabine zurück, um zu schmollen und Rachepläne zu schmieden, während
White den Major ins Bild setzte.
»Ach ja«, meinte Ross und musterte Richard. »Sie
sind der Mann, der bei seinen Leuten für Sauberkeit sorgt, ich
erinnere mich gut an Sie. Sie verstehen also etwas von Pumpen,
Morgan?«
»Jedenfalls genug, um zu wissen, dass die
Alexander dringend eine Kettenpumpe benötigt, Sir.«
»Ganz meine Meinung. Mr White, Sie begeben sich auf
die Sirius und anschließend auf die Charlotte. Mr
Johnstone und Mr Shairp, Sie lassen alle Mann die Bilgen
ausschöpfen. Und sägen Sie
unterhalb der Stückpforten zwei Löcher in die Hulk, damit die
Männer die Brühe direkt in die See kippen können.«
Als Major Ross und Marineadmiralarzt White tags
darauf wieder an Bord kamen, brachten sie Leutnant Philip Gidley
King mit. King warf einen Blick auf die Backbordpumpe, die Richard
inzwischen zerlegt hatte, und lachte verächtlich. »Mit dem Ding
saugen Sie nicht mal Sperma aus dem Schwanz eines Satyrs! Das
Schiff muss mit Kettenpumpen ausgerüstet werden. Wo ist der
Zimmermann?«
Englische Sorgfalt kombiniert mit keltischem Elan
wirkte Wunder. Als Angehöriger der Königlichen Marine ranghöher als
ein Leutnant der Marineinfanterie, blieb King so lange an Bord, bis
Chips genau verstand, was er zu tun hatte, und auch dazu in der
Lage war, dann verließ er das Schiff wieder und berichtete dem
Kommodore, dass die hygienischen Verhältnisse auf der
Alexander sich künftig beträchtlich verbessern
dürften.
Die Alexander wurde freilich nie ein
wirklich gesundes Schiff, denn das Gift saß in den Spanten. Doch
wenigstens verflogen die Ausdünstungen mit der Zeit, und der
Aufenthalt unter Deck wurde erträglicher. Und Esmeralda Sinclair?
War er zufrieden, dass das Problem ohne Kosten für Walton & Co.
behoben worden war? Mitnichten. Wer, in Dreiteufelsnamen, fragte er
Trimmings von der Achterhütte herab, hatte zwei Löcher in sein
Schiff gesägt?
Die Flotte überquerte den Äquator in der Nacht zum
16. Juli, und tags darauf geriet sie erstmals seit Portsmouth in
einen schweren Sturm. Die Luken der Alexander wurden
verschalkt, und tiefe Dunkelheit senkte sich über die Gefangenen,
ein Albtraum für Männer wie Richard, die sich die meiste Zeit an
Deck aufgehalten hatten. Ihr einziger Trost war, dass wenigstens
der Gestank nicht mehr so schlimm war. Die Alexander segelte
über Backbordbug, sodass sie mehr stampfte als rollte. Die
Gefangenen hatten das merkwürdige Gefühl, zuerst erdrückt zu
werden, wenn das Schiff sich aufbäumte, und dann schwerelos zu
schweben, wenn es unter lautem Getöse ins Wasser zurückfiel, und
sie wurden zwischen Schott und Trennwand hin und her geworfen.
Viele, die sich bereits
seefest gewähnt hatten, wurden wieder seekrank. Ike litt
Qualen.
Zu große Qualen. Als der Sturm sich verzogen hatte
und die Regentonnen so gefüllt waren, dass wieder normale
Wasserrationen ausgegeben werden konnten, begriff jeder, selbst der
untröstliche Joey Long, dass es mit Isaak Rogers zu Ende
ging.
Ike rief nach Richard, und Richard kam und setzte
sich Joey gegenüber, der Ikes Kopf in seinen Schoß gebettet
hatte.
»Der Straßenräuber ist am Ende seines Wegs
angelangt«, sagte Ike. »Ich bin froh darüber, Richard. Freu dich
mit mir. Kümmere dich um Joey. Er wird es sich sehr zu Herzen
nehmen.«
»Sei unbesorgt, Ike, wir werden uns alle um Joey
kümmern.«
Ike hob einen knochigen Arm und deutete auf das
Regal am Decksbalken. »Meine Stiefel, Richard. Du bist als Einziger
groß genug, um sie zu tragen, und ich möchte, dass du sie bekommst.
So wie sie sind, mit allem Drum und Dran, verstehst du?«
»Ich verstehe. Ich werde sie in Ehren
halten.«
»Gut«, sagte er und schloss die Augen.
Eine Stunde später starb er, ohne die Augen noch
einmal geöffnet zu haben.
Auf der Alexander waren so viele Männer
gestorben, dass die Segelmacher von anderen Schiffen altes Tuch
anfordern mussten. Isaak Rogers wurde in sauberen Kleidern in einen
Sack eingenäht und an Deck getragen. Da Richard ein Gebetbuch der
anglikanischen Kirche besaß, hielt er die Andacht, befahl die Seele
Ikes in Gottes Hände und übergab den Leichnam der See. Er glitt von
der Planke und versank augenblicklich, beschwert mit Basaltsteinen
von jenem Strand auf Teneriffa, auf dem John Power geschlafen
hatte. Die Eisenstücke waren auf dem Todesschiff ausgegangen.
Anfang August sichtete die Flotte am Kap Frio,
eine Tagesreise nördlich der brasilianischen Hauptstadt, erstmals
Land. Doch das gezackte Küstengebirge hatte denselben Effekt wie
São Tiaga. Kaum hatten die Schiffe das Kap umsegelt, flaute der
Wind ab, und sie mussten förmlich nach Rio de Janeiro kriechen. Sie
trafen erst in der Nacht vom 4. auf den 5. dort ein, mitten im
Winter, da
Rio auf der südlichen Halbkugel lag. Die Überfahrt von Portsmouth
nach Rio hatte 84 Tage oder genau 12 Wochen, die Überfahrt von
Teneriffa nach Rio 56 Tage oder genau 8 Wochen gedauert. Die Flotte
hatte 6100 Landmeilen zurückgelegt.
Es dauerte geraume Zeit, bis die Behörden der
portugiesischen Kolonie der Flotte die Erlaubnis gaben, in den
Hafen einzulaufen. Um drei Uhr nachmittags war es endlich so weit.
Unter dem Gedonner von 13 Salutschüssen der Sirius, denen
die Kanonen von Fort Santa Cruz antworteten, segelte die Flotte
über die eine Meile breite Barre zwischen den Zuckerhüten.
Seit Tagesanbruch drängte sich auf der
Alexander alles an der Reling und bestaunte die exotische
Schönheit der Landschaft. Der südliche Zuckerhut war ein tausend
Fuß hohes, mit Bäumen bekröntes Ei aus rötlich-grauem Felsen, der
nördliche Zuckerhut kahl und weniger spektakulär. Daneben ragten
andere Berge mit gezackten und abgeschnittenen Spitzen empor, deren
Flanken dichter Dschungel und grüne Weiden mit grauen, blassgelben
und rötlichen Felsvorsprüngen bedeckten. Lange gelbe Sandstrände
schwangen sich am Ufer entlang, vor der Barre mit Brandung,
dahinter ruhig und beschaulich. Kurz hinter der Barre, gegenüber
einer der vielen Festungen, die Rio de Janeiro vor Seeräubern
schützen sollten, gingen die elf Schiffe vorläufig vor Anker, ehe
sie am nächsten Tag zu ihren Dauerliegeplätzen vor São Sabastião
geschleppt wurden, wie die Stadt Rio eigentlich hieß. Die Stadt lag
auf einer nahezu quadratischen Halbinsel an der Westküste und
schickte tentakelartige Ausläufer in die Täler der bergigen
Umgebung.
Der Hafen wimmelte von Proviantbooten. Die meisten
wurden von spärlich bekleideten Schwarzen gesteuert und prunkten
mit leuchtend bunten Sonnensegeln. Richard konnte die mit goldenen
Kreuzen geschmückten Kirchtürme sehen, doch waren sie praktisch die
einzigen hohen Gebäude in der Stadt. Niemand hatte den Sträflingen
verboten, an Deck zu gehen, und nicht einmal John Power wurden
Ketten angelegt. Dafür patrouillierten ständig Langboote um die
sechs Transportschiffe und verscheuchten die Proviantboote.
Es war schön und sehr heiß, und kein Lüftchen regte
sich. Wenn man doch nur an Land gehen dürfte! Aber das war
unmöglich, wie alle Sträflinge begriffen. Gegen Mittag erhielt
jeder ein großes Stück frisches Fleisch, dazu Süßkartoffeln und
Bohnen, Reis und ein merkwürdig schmeckendes Brot, das, wie Richard
später erfuhr, aus einer Wurzelknolle mit Namen Kassave oder Maniok
gebacken wurde.
Doch das alles war vergessen, als die Boote
zurückkamen und lachende Schwarze mit blitzenden weißen Zähnen
hunderte und aberhunderte von Orangen an Deck warfen und die
Gefangenen ein Spiel daraus machten, sie aufzufangen. Außer Richard
kannten nur wenige diese Frucht. Er hatte gelesen, dass einige
wohlhabende Familien »Orangerien« besaßen, und einmal hatte ihm
Vetter James, der Apotheker, der Zitronen importierte und aus ihren
Schalen Zitronenöl gewann, eine Orange gezeigt.
Manche der Früchte leuchteten in einem satten
Orange, andere waren fast rot und hatten blutrotes Fruchtfleisch.
Als die Sträflinge und Seeleute dahinter gekommen waren, wie leicht
sich die ungenießbare Schale ablösen ließ, verschlangen sie gierig
den zuckersüßen, saftigen Inhalt. Zur Abwechslung aßen sie immer
wieder auch dicke, hellgelbe Zitronen oder lutschten an Limonen,
die weniger saftig und geschmacklich irgendwo zwischen den sauren
Zitronen und den süßen Orangen anzusiedeln waren. Am Ende der
dritten Woche in Rio stellte Neddy Perrott fest, dass die blasseren
Früchte unreif geerntet worden waren, und legte sich einen Vorrat
der saftigen Kugeln an. Andere Sträflinge folgten seinem Beispiel.
Einige, wie Richard, bewahrten Samen von Orangen und Zitronen
auf.
Jeden Tag bekamen sie frisches Fleisch, Gemüse und
Kassavebrot. Und als die Seesoldaten entdeckt hatten, dass der Rum
in Rio zwar von minderer Qualität war, aber kaum mehr als Wasser
kostete, war es um Disziplin und Diensteifer des Wachpersonals
geschehen. Die beiden Leutnants waren nur noch selten an Bord, und
Bordarzt Balmain unternahm ausgedehnte Ausflüge ins Landesinnere,
um riesige, farbenprächtige Schmetterlinge und Blumen von
wächserner Schönheit namens Orchideen anzusehen. Viele Matrosen
und Seesoldaten brachten zahme Papageien mit prachtvollem Gefieder
an Bord. Von den Hunden lebten nur noch zwei, den Rest hatten, wie
von Stephen Donovan prophezeit, die Haifische gefressen. Rodney,
der Kater, hatte mit seiner Partnerin für weiteren Nachwuchs
gesorgt. Die hygienischen Verhältnisse auf der Alexander
mochten sich gebessert haben, doch es wimmelte von Ratten und
Mäusen.
Rio hatte auch eine weniger erfreuliche Seite: Die
Stadt war ein Paradies für Schaben. Aus England kannte man nur die
kleinen und vergleichsweise harmlosen Kakerlaken, doch die Biester
hier waren riesig. Sie konnten fliegen, machten rasselnde Geräusche
und verströmten dieselbe Art von Bösartigkeit wie die Haie.
Aggressiv und verschlagen, griffen sie einen Menschen lieber an,
als zu fliehen. Sie trieben die Männer an den Rand des Wahnsinns,
vom ranghöchsten Offizier auf der Sirius bis hinunter zum
gemeinsten Sträfling auf der Alexander.
Wer nicht an Land gehen durfte, schlief meist an
Deck, obwohl auf dem Wasser nie Ruhe einkehrte. Rio schlief nie.
Und es wurde auch nie dunkel. Kirchen und andere Gebäude blieben
die ganze Nacht hell erleuchtet. Als hätten die wenigen Portugiesen
und ihre unzähligen schwarzen Sklaven Angst vor der Dunkelheit.
Nachdem Richard in den frühen Morgenstunden einmal den Grauen
erregenden Ruf eines Tiers gehört hatte, der halb wie ein schriller
Schrei, halb wie ein Brüllen klang, konnte er es ihnen
nachempfinden.
Zwei- bis dreimal in der Woche wurde zu Ehren
irgendeines Heiligen oder der Jungfrau Maria oder im Gedenken an
ein Ereignis aus dem Leben Jesu ein Feuerwerk abgebrannt - das
religiöse Leben der Stadt Rio stand nicht im Zeichen von Zucht oder
Mäßigung, was bei Söhnen der schottischen Kirche wie Balmain und
Shairp, die im Katholizismus einen sittenlosen, dekadenten
Irrglauben sahen, Anstoß erregte.
»Ich wundere mich«, sagte Richard zu John Power,
während sie die sprühenden bunten Funkengarben einer Rakete
bewunderten, »dass du noch keinen Fluchtversuch unternommen hast,
Johnny.«
Power verzog das Gesicht. »Hier? Ohne Portugiesisch
zu können? Man würde mich spätestens am nächsten Tag schnappen.
Außer den portugiesischen Sklaventransportern und Frachtseglern
liegt im Hafen nur ein englischer Walfänger, der sich gerade das
Unterwasserschiff reinigen lässt. Außerdem soll er kranke
Marineangehörige von der Sirius und der Supply an
Bord nehmen und nach England zurückbringen.« Er wechselte das
Thema. »Ich sehe, dass Esmeralda sein Schiff wie gewöhnlich
vernachlässigt. Er lässt es nie kielholen.«
»Hat dir Mr Bones nicht gesagt, dass die
Alexander einen Kupferbeschlag hat?« Richard rieb sich die
Brust, die vor Orangensaft klebte. »Ich gehe über die Seite und
wasche mich.«
»Ich wusste gar nicht, dass du schwimmen
kannst.«
»Kann ich auch nicht. Ich tauche nur unter und
halte mich an der Leiter fest. Aber ich hoffe, dass ich die Leiter
irgendwann nicht mehr brauche. Gestern habe ich sie losgelassen und
mich tatsächlich ein paar Sekunden über Wasser gehalten. Dann habe
ich es mit der Angst bekommen. Vielleicht geht es heute
besser.«
»Ich kann schwimmen, aber ich traue mich nicht«,
sagte Power wehmütig. Er hatte trotz der laschen Disziplin einen
eigenen Aufpasser.
An einem der nächsten Tage war Richard gerade im
Wasser, als Stephen Donovan in einem Mietboot zum Schiff
zurückkehrte. Richard hatte noch immer nicht schwimmen gelernt.
Sobald er die Leiter losließ, ging er unter. Deshalb musste er das
Wasser verlassen, wenn ein Boot längsseits kam, und er wollte schon
die Leiter hinaufklettern, als er sah, wer im Bug stand.
»Richard, sind Sie von Sinnen? Hier gibt es Haie!«,
rief Donovan. »Ich an Ihrer Stelle würde das lassen.«
»Der Hafen von Rio hat so viel zu bieten, da wird
sich kein Hai ausgerechnet für einen zähen Brocken wie mich
interessieren«, erwiderte Richard grinsend. »Ich versuche, mir das
Schwimmen beizubringen. Bisher mit kläglichem Ergebnis.«
Donovan zwinkerte verschmitzt. »Damit Sie nach
Afrika schwimmen können, wenn die Alexander in einem Sturm
untergeht? Keine Sorge, die Alexander hat einen guten
Seiteneinfall und ist trotz ihres Alters in einem tadellosen
Zustand. Die können Sie
so weit überlegen, dass die Spieren ins Wasser tauchen, oder bei
nachlaufender See fahren lassen, ohne dass sie sinkt.«
»Nein, damit ich, wenn wir in die Botany Bay
kommen, wenigstens im Meer baden kann, falls die Eimer knapp
werden. Ich weiß nicht, ob es dort Seen und Flüsse gibt. Sir Joseph
Banks hat jedenfalls darauf hingewiesen, dass Süßwasser äußerst
knapp ist und dass es sehr wenig Bäche gibt.«
»Verstehe. Sehen Sie mal, der Hund da drüben.«
Donovan deutete auf Leutnant Shairps Scotchterrier Wallace, der in
diesem Augenblick auf das Schiff zugeschwommen kam, angespornt von
seinem Herrchen, das neben ihm in einem gemieteten Boot saß.
»Was ist mit ihm?«
»Wie er schwimmt. Wenn Sie das nächste Mal ins
Wasser gehen und die Haie herausfordern, tun Sie einfach so, als
hätten Sie vier Beine und nicht nur zwei. Sie legen sich auf den
Bauch, strecken den Kopf aus dem Wasser und paddeln mit allen
vieren wie eine Ente. Und schon können Sie schwimmen, Richard.«
Donovan gab einem Schwarzen, der für ihn einen Haufen Pakete an
Deck gebracht hatte, ein Sixpencestück. Der Schwarze strahlte. »Von
der Strampeltechnik eines Hundes ist es nur ein kleiner Schritt zu
den Wonnen des Schwimmens.«
»Johnny Power kann schwimmen, aber er traut sich
nicht.«
»Ich frage mich, ob er auf Teneriffa so brav
mitgekommen wäre, wenn er gewusst hätte, was ich heute erfahren
habe.«
Richard horchte auf und legte den Kopf auf die
Seite. »Reden Sie.«
»Als die Flotte aus dem Hafen von Portsmouth
auslief, besaßen die Seesoldaten nur die Patronen in ihren Beuteln,
keinen Schuss Pulver und keine einzige Kugel mehr.«
»Sie scherzen!«
»Nein, das ist mein voller Ernst.« Donovan gluckste
und schüttelte den Kopf. »Wahrlich eine glänzend organisierte
Expedition! Die haben schlicht vergessen, Munition zu
liefern.«
»Du lieber Himmel!«
»Ich bin nur dahinter gekommen, weil Seine
Exzellenz Gouverneur Phillip in Rio zehntausend Patronen bestellt
hat.«
»Sie hätten also auf keinem der Schiffe eine
ernsthafte Meuterei niederschlagen können.«
Mr Donovan sah Richard scharf an und öffnete den
Mund, um etwas zu erwidern, besann sich aber anders und kauerte
neben den Paketen nieder. »Hier sind ein paar Sachen für Sie.
Morgen besorge ich noch mehr. Wie ich höre, laufen wir bald aus.«
Er stapelte die Pakete in Richards Arme. »Teeröl. Salbe von einem
alten Kräuterweib. Die war so hässlich, dass sie einfach etwas von
ihrem Gewerbe verstehen muss. Hier zermahlene Rinde, die angeblich
Fieber heilt, wie sie mir geschworen hat. Und eine Flasche Laudanum
gegen die Ruhr, falls das Wasser in Rio verseucht ist - die Ärzte
befürchten es jedenfalls. Haufenweise frische Lappen und ein paar
schöne Baumwollhemden, denen ich nicht widerstehen konnte - ich
habe mir selbst welche besorgt und dabei an Sie gedacht. Sie tragen
sich angenehm, bei Hitze gibt es nichts Besseres. Malz ist schwer
zu bekommen - die Schiffsärzte waren schneller. Ich empfehle Ihnen,
getrocknete Orangen- und Zitronenschalen zu kauen. Nach Meinung der
Seeleute sind Zitrusfrüchte gut gegen Skorbut.«
Richards Augen ruhten mit Zuneigung und Dankbarkeit
auf seinem Gegenüber, doch Donovan war zu klug, um mehr als darin
zu sehen als einen Ausdruck freundschaftlicher Gefühle. Mehr war
von diesem Mann nicht zu erhoffen, der ohne Zweifel geliebt hatte,
aber nicht gewillt war, es wieder zu tun. Wen hatte er verloren?
Und wie? Jedenfalls nicht die Frau, die ihm das Tor zum Paradies
geöffnet hatte. Die hatte ihn, seiner Miene nach zu urteilen, eher
abgestoßen. Auch keine andere Frau und keinen Mann. Eines Tages, so
schwor Donovan sich, würde er die ganze Geschichte dieses Richard
Morgan erfahren.
Als er am nächsten Morgen von Bord gehen wollte,
erwartete ihn Richard an der Jakobsleiter.
»Noch eine Gefälligkeit?«, fragte Donovan.
»Nein, diesmal muss ich bezahlen.« Richard deutete
auf die Decksplanken und bückte sich, als habe er etwas
Interessantes entdeckt.
Donovan beugte sich ebenfalls hinunter, und niemand
sah, wie sieben Goldmünzen von einer Hand in die andere
wanderten.
»Warum tun Sie das? Für das Geld könnten Sie einen
Topas von der Größe einer Zitrone kaufen oder auch einen Amethyst,
der nicht viel kleiner ist.«
»Ich brauche Schmirgel und starken Fischleim. So
viel Sie kriegen können.«
Donovan sah ihn verdutzt an. »Schmirgel? Fischleim?
Wozu denn das um alles in der Welt?«
»Wahrscheinlich bekommt man die Sachen auch am Kap
der Guten Hoffnung, aber wie ich fürchte, nur zu horrenden Preisen.
In Rio de Janeiro ist alles viel billiger.«
»Das ist keine Antwort auf meine Frage. Sie sind
ein Geheimniskrämer, mein Freund. Raus mit der Sprache, sonst
besorge ich Ihnen die Sachen nicht.«
»Doch, das tun Sie auf jeden Fall«, sagte Richard
mit einem breiten Grinsen, »aber es macht mir nichts aus, es Ihnen
zu sagen.« Er blickte über die Bucht zu den dschungelbedeckten
Hügeln im Norden. »Auf der Überfahrt habe ich lange darüber
nachgedacht, was ich tun soll, wenn wir erst in der Botany Bay
sind. Von den Sträflingen hat kaum einer einen Beruf erlernt. Ich
selbst verfüge über gewisse Fertigkeiten, die mir bestimmt von
Nutzen sein werden. Zum Beispiel könnte ich mir denken, dass man
dort viel Holz zum Bauen benötigen wird. Ich kann Sägen schleifen.
Und was noch wichtiger ist, ich kann Sägen herstellen, eine Kunst,
die bei weitem seltener ist. Vielleicht ist es meinem Vetter James
gelungen, meinen Werkzeugkasten an Bord eines der Schiffe zu
bringen, vielleicht aber auch nicht. Dann brauche ich Schmirgel und
Fischleim. Feilen dürfte die Flotte haben, aber wenn sie mit
Werkzeugen ebenso mangelhaft ausgestattet ist wie mit
Lebensmitteln, wird niemand an Schmirgel und Fischleim gedacht
haben. Und ihre Geschichte von den Musketenpatronen hat mir zu
denken gegeben. Was, wenn die Eingeborenen von Neusüdwales ebenso
kriegerisch sind wie die Mohawks und uns belagern?«
»Gute Frage«, erwiderte Stephen Donovan ernst. »Und
wozu brauchen Sie Schmirgel und Fischleim, Richard?«
»Ich mache mir daraus Schmirgelpapier und
Feilen.«
»Brauchen Sie auch normale Feilen, falls die Flotte
keine hat?«
»Ja, aber dafür reicht mein Geld nicht, und ich
will Ihre Großzügigkeit nicht noch mehr in Anspruch nehmen. Ich
hoffe auf meinen Werkzeugkasten.«
»Es ist schwer, Ihnen Auskünfte zu entlocken«,
sagte Donovan lächelnd. »Genauso gut könnte man versuchen, Blut aus
einem Stein herauszuquetschen. Aber ich will Sie nicht drängen.
Eines Tages werde ich ohnehin alles erfahren.«
»Es lohnt sich nicht. Trotzdem danke.«
»Oh, keine Ursache, Richard! Hätte ich nicht ganz
Rio nach Ihren Tinkturen und Salben abklappern müssen, hätte ich
nicht halb so viele Sehenswürdigkeiten entdeckt. Vermutlich hätte
ich wie Johnstone und Shairp nur im Kaffeehaus gehockt, mir
klebrige Brötchen einverleibt, Rum und Portwein geschlürft und in
der Hoffnung auf kostbare kleine Andenken portugiesische Beamte
flattiert.« Und damit stieg er, vergnügt vor sich hin pfeifend, die
Leiter hinunter.
Am 4. September begann, nach vierwöchigem
Aufenthalt, das schwierige Manöver, elf Schiffe aus dem mit Inseln
übersäten Hafen zu schleppen. Es dauerte bis zum nächsten Tag. Fort
Santa Cruz und die Sirius übertrafen sich gegenseitig mit 21
Salutschüssen. Der Gouverneur hatte die tägliche Trinkwasserration
bereits auf drei Pints heruntergesetzt, ein zarter Hinweis darauf,
dass er dem Rio-Wasser ebenso wenig traute wie die
Schiffsärzte.
Bei Einbruch der Nacht war das Land hinter ihnen
versunken. Der Gouverneur hoffte, die 3300 Landmeilen bis zum Kap
der Guten Hoffnung rasch hinter sich zu bringen. Von nun an ging es
ostwärts und südwärts durch Gewässer, die bis zum Kap zwar
kartografiert, aber kaum befahren waren. Bisher war die Flotte
gelegentlich einem portugiesischen Kauffahrer begegnet, doch bis
sie das Kap und die Route der großen Ostindienfahrer erreichte,
würde sie voraussichtlich keine Schiffe mehr sichten.
Richard hatte seine Vorräte wieder aufgefüllt und
sich zudem mit Schmirgel, Fischleim und mehreren guten Feilen
versorgt. Seine Hauptsorge galt den Filtersteinen. Er selbst hatte
zwar zwei in Reserve, doch seine fünf Gefährten besaßen nur jeweils
einen.
Und wenn Vetter James, der Apotheker, Recht hatte, verlor sich
ihre Wirkung mit der Zeit. Also flocht er aus Tauen eine Art Korb,
legte einen Filterstein hinein und hängte ihn ins Meer, sodass das
Schiff ihn durchs Wasser zog. Richard betete, dass der Stein nicht
von einem Hai entdeckt wurde. Einmal hatte ein Offizier seine Hosen
zum Bleichen ins Wasser gehängt und damit einen Hai angelockt. Der
Fisch hatte das Tau durchgebissen, das Beinkleid verschluckt und
gleich darauf wieder angewidert ausgespuckt. Dasselbe würde mit dem
Tropfstein geschehen. Und war das Tau erst mal gekappt, war der
Stein verloren. Nach einer Woche zog Richard den Stein wieder
heraus und legte ihn an Deck, um ihn Sonne und Regen auszusetzen.
Gleichzeitig wanderte ein zweiter Stein ins Meer. Richard hoffte,
mit allen durch zu sein, ehe ihre Wirkung nachließ.
Auf der Suche nach einer starken Strömung, die sie
von Brasilien nach Afrika tragen konnte, segelten sie weiter nach
Süden. Bald sichteten sie die ersten Pottwale, die ebenfalls
südwärts wanderten. Riesige Geschöpfe, deren Schnauzen von der
Seite wie kleine Klippen aussahen, unter denen ein lächerlich
kleiner Unterkiefer mit Furcht einflößenden Zähnen saß. Die
Pottwale hatten stumpfere Schwänze und kleinere Flossen als die
Wale, die sie bisher gesehen hatten, und sie waren nicht so wendig.
Tümmler, Delfine und Haie gab es hier jede Menge, doch essbare
Fische waren schwer zu fangen, weil die Schiffe so schnell fuhren.
Manchmal gerieten sie in einen Fischschwarm, der ihnen eine
Fischsuppe bescherte, doch meist gab es nur Pökelfleisch und
Hartbrot, das von Maden wimmelte. Niemand hatte großen Appetit.
Doch die Sträflinge hatten einen großen Sack voll Orangen- und
Zitronenschalen getrocknet und kauten jeden Tag ein kleines
Stück.
Je weiter nach Süden sie kamen, desto häufiger
sahen sie riesige Seevögel, so genannte Albatrosse. Eines Tages
griff ein Seesoldat zur Muskete, weil es ihn nach gebratenem
Albatross gelüstete. Doch die Matrosen fielen ihm entsetzt in den
Arm. Es bringe Unglück, wenn man einen dieser Könige der Lüfte
töte.
Die neue Krankheit brach zuerst unter den
Seesoldaten aus, griff aber wenig später auch auf die Gefangenen
über. Die Krankenpritschen
waren wieder voll belegt, ein Gefangener starb mitten in einem
schweren Unwetter. Bordarzt Balmain ging nun, da es angenehmer
roch, eifriger seinen Pflichten nach. Wann immer das Wetter es
erlaubte, ließ er das Deck ausschwefeln, schrubben und tünchen,
obwohl die Prozedur offenkundig keinen praktischen Nutzen hatte
außer den, dass sie Richard, Bill, Will, Neddy und anderen mehr
Licht zum Lesen bescherte. Im Übrigen bewies Captain Sinclair bei
Stürmen, dass er beileibe kein schlechter Seemann war. Bei
günstigem Wind ließ er sofort mehr Segel setzen, und wenn der Wind
wenige Minuten später zu stark wurde, ließ er die Segelfläche
wieder verkleinern. Segel setzen, Segel reffen, Segel setzen, Segel
reffen… Kein Wunder, dass John Power, Willy Dring und Joe Robinson
sich kaum noch im Gefängnis blicken ließen. Die Maate brauchten
jeden Mann, den sie kriegen konnten. Nichts war schlimmer als ein
unterbesetztes Schiff, auf dem die Mannschaft zwischen den Wachen
nicht genügend Zeit zum Ausruhen hatte.
Ende September ließen die Äquatorialstürme etwas
nach, die See wurde ruhiger und die Gefangenen durften wieder an
Deck. Die Alexander segelte bei jedem Wetter prächtig, und
zu keinem Zeitpunkt kamen so schwere Seen über, dass die Luken
verschalkt werden mussten. Seit Portsmouth war dies erst einmal der
Fall gewesen.
Von Zeit zu Zeit, wenn es an Deck weniger zu tun
gab, kehrte John Power ebenso begeistert wie erschöpft ins
Gefängnis zurück, und mit ihm Willy Dring und Joe Robinson, die im
Gegensatz zu ihm allerdings gereizt und nervös wirkten. Sie
statteten der Clique um John Power am Bugschot nie einen Besuch ab,
und das wunderte Richard, denn er hatte erwartet, dass sie sich bei
der Arbeit mit Power anfreunden würden. Stattdessen wirkten sie
irgendwie befangen, wenn sie ihn sahen.
Die Tage vergingen so gleichförmig wie die Wochen
zuvor. Die Sträflinge unternahmen Ausflüge aufs Oberdeck, um zu
fischen oder Tiere zu streicheln, sie lasen, sangen, würfelten oder
spielten Karten und hatten wie immer Hunger. Alle magerten wieder
ab, was bei der ungenießbaren Kost kein Wunder war, und die wenigen
Pfunde, die sie in Rio zugelegt hatten, schmolzen rasch dahin. Auf
der Backbordseite am Achterschott bemerkte niemand die Veränderung,
das Umschlagen der Stimmung, die Tuscheleien. Richard fiel nur auf,
dass Willy Dring und Joe Robinson sich in ihren Kojen verkrochen
und ständig zu schlafen oder zu dösen schienen. Doch obwohl er es
eigenartig fand, maß er dem keine Bedeutung bei. Immerhin mussten
die beiden seit zwei Wochen schwer schuften.
Dann, am 6. Oktober, als Afrika nicht mehr fern
war, kamen zehn Seesoldaten ins Gefängnis herunter und arretierten
John Power. Er leistete Widerstand, wurde niedergeschlagen und
unter den erstaunten Blicken der Sträflinge durch die hintere Luke
nach oben geschafft.
Minuten später kamen die Seesoldaten zurück und
holten William Pane und John Meynell, die beiden Männer aus
Nottingham, die neben Powers Koje schliefen. Dann geschah nichts
mehr. Aber Power, Pane und Meynell kamen nicht zurück.
Richard erfuhr die Geschichte von Stephen Donovan
und einige Einzelheiten auch von Willy Dring und Joe
Robinson.
Power und mehrere Besatzungsmitglieder hatten,
ermutigt durch den Umstand, dass zwei Drittel der Seesoldaten
dienstunfähig waren, eine Meuterei geplant.
»Etwas so Abenteuerliches und Verrücktes ist mir
noch nie untergekommen«, sagte Donovan. »Sie wollten das Schiff in
ihre Gewalt bringen, aber ohne einen durchdachten Plan. Ich habe
nicht mitgemacht, und der junge Shortland auch nicht, da gehe ich
jede Wette ein, und auch seine Eminenz Aston Long würde sich zu so
etwas niemals hergeben, zumal ihm, nebenbei bemerkt, das
Kapitänspatent winkt, wenn er nach Hause kommt. Und der alte Bones?
Er bestreitet es, aber ich glaube ihm nicht, und Esmeralda glaubt
ihm auch nicht. Die Meuterer wollten zuerst das Achterdeck und die
Drehbasse in ihre Gewalt bringen, dann die Seesoldaten und die
Sträflinge unter Deck sperren, das Ruder übernehmen und nach Afrika
segeln. Esmeralda, Long, Shortland, mich und alle
Besatzungsmitglieder, die nicht mitmachten, wollten sie
zu euch ins Gefängnis stecken. Umbringen wollten sie meines
Wissens niemanden.«
»Warten Sie hier«, sagte Richard und eilte ins
Gefängnis hinunter, um Willy Dring und Joe Robinson zur Rede zu
stellen.
»Wie viel habt ihr von der Sache gewusst?«, fragte
er.
Er sah den beiden an, dass ihnen ein großer Stein
vom Herzen fiel.
»Power hat uns eingeweiht und zum Mitmachen
aufgefordert«, antwortete Dring. »Ich habe gesagt, er sei verrückt,
und versucht, ihm die Sache auszureden. Danach hat er in unserer
Gegenwart nicht mehr darüber gesprochen, obwohl er wusste, dass wir
ihn nicht verraten würden. Und dann hat uns Mr Bones
fortgeschickt.«
Richard kehrte an Deck zurück. »Dring und Robinson
wussten Bescheid, wollten aber nicht mitmachen. Bones aber schon,
glaube ich. Wie ist man dahinter gekommen?«
»Zwei Sträflinge haben Power bei Esmeralda
verpfiffen.«
»Es gibt überall Verräter«, sagte Richard, halb zu
sich selbst. »Meynell und Pane aus Nottingham. Ehrlose
Schufte.«
»Na ja, Dring und Robinson haben sich nur an den
Ehrenkodex der Diebe gehalten, und Meynell und Pane wollten sich an
höherer Stelle beliebt machen. Sie nennen sie ehrlos. Wieso?«
»Weil es nicht der erste Verrat ist. Ich hatte die
beiden schon seit längerem im Verdacht. Und jetzt, wo die Namen
bekannt sind, fügt sich alles zusammen. Wo sind sie jetzt?«
»Auf der Scarborough, so weit ich weiß.
Esmeralda ließ sich sofort zu Seiner Exzellenz übersetzen. Ich
musste mit und ihm die Leiter raufhelfen. Die Sirius
schickte zwei Dutzend Seesoldaten, und die Matrosen, die die beiden
Verräter genannt hatten, wurden festgenommen. Mr Bones und einigen
anderen können wir nichts nachweisen. Aber sie werden es nicht noch
einmal versuchen, egal wie groß ihr Hass auf Esmeralda ist, weil er
den Rum verdünnt und hinterher an sie verkauft.«
»Was geschieht mit Power?«, fragte Richard mit
belegter Stimme.
»Er wird auf der Sirius ans Deck gefesselt.
Auf die Alexander
kommt er nicht mehr zurück, so viel ist sicher.« Donovan musterte
Richard neugierig. »Sie mögen den Kerl, habe ich Recht?«
»Ja, sehr, obwohl ich geahnt habe, dass es kein
gutes Ende mit ihm nehmen würde. Manche Menschen ziehen
Schwierigkeiten förmlich an. Power ist so einer. Obwohl ich nicht
glaube, dass er das Verbrechen begangen hat, für das man ihn
seinerzeit verurteilt hat.« Richard wischte sich die Augen und
schüttelte ärgerlich den Kopf. »Er wollte unbedingt nach Hause zu
seinem kranken Vater.«
»Ich weiß. Aber falls es Ihnen ein Trost ist,
Richard: Wenn Kapstadt erst hinter uns liegt und Johnny keine
Chance mehr hat, nach Hause zu kommen, wird er, glaube ich, zur
Ruhe kommen und sich zum Mustergefangenen entwickeln.«
Donovans Worte waren Richard kein großer Trost,
möglicherweise deshalb, weil er das Gefühl hatte, dass er selbst
seine Pflichten als Sohn nicht erfüllt hatte, denn seine Gedanken
galten meist Vetter James, dem Apotheker, und nicht seinem
Vater.
Eines freilich konnte er für John Power tun, und er
tat es ohne Bedenken: Er sorgte dafür, dass die Namen der Verräter
von Schott zu Schott bekannt wurden. Einmal Verräter, immer
Verräter. In Kapstadt würden sich die Namen bis zur
Scarborough herumsprechen. Und in der Botany Bay würde jeder
Sträfling wissen, was Pane und Meynell getan hatten. Den beiden
standen schwere Zeiten bevor.
Bordarzt Balmain wusste eine Antwort auf die
gedrückte Stimmung und allgemeine Niedergeschlagenheit im
Gefängnis: Er ließ wieder ausschwefeln, schrubben und
tünchen.
Kapstadt war schön, gewiss, doch nach Ansicht der
Gefangenen, die freilich auf den bloßen Augenschein angewiesen
waren, konnte es Rio de Janeiro nicht das Wasser reichen. Rio bot
nicht nur einen überwältigenden Anblick, sondern war auch eine
lebensprühende Stadt voller fröhlicher, natürlicher Menschen.
Kapstadt war dagegen eher eine herbe Schönheit. Die Sträflinge
vermissten die lustig bunten Proviantboote, und die schwarzen
Gesichter, die sie sahen, lächelten nicht. Das mochte am streng
kalvinistischen, holländischen Charakter der Stadt liegen. Viele
Häuser waren weiß gestrichen
- was nicht die Lieblingsfarbe der Sträflinge auf der
Alexander war -, und in der Stadt wuchsen nur wenig Bäume.
Ein hoher Berg, oben flach und bewaldet, ragte hinter einer
schmalen Küstenebene auf, und was in den Büchern stand, stimmte:
Eine dichte weiße Wolkendecke senkte sich herab und breitete ein
Tuch über den Tafelberg.
Die Flotte traf am 14. Oktober ein, 39 Tage nachdem
sie in Rio ausgelaufen war. In Kapstadt war Frühling. Vor nunmehr
154 Tagen oder 22 Wochen hatte die Flotte Portsmouth verlassen, und
obwohl sie mittlerweile 9400 Landmeilen zurückgelegt hatte, stand
ihr noch eine weite Reise bevor. Zu keinem Zeitpunkt waren die elf
Schiffe versprengt worden. Arthur Phillip, der Gouverneur und
Kommodore, hatte seine kleine Herde gut zusammengehalten.
Der Aufenthalt in einem Hafen bedeutete für die
Sträflinge ruhige Decks und bessere Verpflegung. Schon am ersten
Tag nach dem Einlaufen kam frisches Fleisch an Bord, dazu
köstliches weiches Brot, Kohl und eine Art dunkelgrünes
Blattgemüse, das einen kräftigen Geschmack hatte. Der Appetit
meldete sich zurück, und die Sträflinge gingen an die
lebenswichtige Aufgabe, sich für die nächste und letzte Etappe zu
stärken, die angeblich noch einmal 500 Meilen länger war als die
Strecke von Plymouth nach Rio.
»Bislang hat es nur zwei Fahrten zu unserem
Reiseziel gegeben«, sagte Stephen Donovan, enttäuscht, dass Richard
keine Butter von ihm annahm. »Der Niederländer Abel Tasman hat bei
seiner Reise vor über hundert Jahren Karten angefertigt, und
natürlich besitzen wir auch die Karten von Captain Cook und seinem
Untergebenen Captain Furneaux, der bei Cooks zweiter Fahrt bis zu
einem tief im Süden gelegenen Land aus Eis vorgestoßen ist. Aber
niemand weiß etwas Genaues. Wir werden mit unseren elf Schiffen
versuchen, vom Kap der Guten Hoffnung nach Neusüdwales zu segeln.
Ist Neusüdwales ein Teil von Neuholland, das zweitausend Meilen
westlich davon liegt? Cook war sich nicht sicher, weil er nie eine
Südküste entdeckt hat, die beide Gebiete verbindet. Er und Furneaux
konnten lediglich nachweisen, dass Van-Diemens-Land nicht zu
Neuseeland gehört, wie Tasman angenommen
hatte. Wahrscheinlich ist es die Südspitze von Neusüdwales, das
sich von Van-Diemens-Land zweitausend Meilen nach Norden erstreckt.
Wenn das große Südland wirklich existiert, so ist es nie umsegelt
worden. Aber wenn es existiert, dann muss es drei Millionen
Quadratmeilen umfassen, also mehr als ganz Europa.«
Richards Herz begann zu pochen. »Soll das heißen,
dass wir keine Lotsen haben?«
»Gewissermaßen. Nur Tasman und Cook.«
»Ist das der Grund, warum alle Entdecker um das Kap
Hoorn herum in den Pazifik gefahren sind?«
»Ja. Selbst Captain Cook hat die Route ums Kap
Hoorn bevorzugt. Das Kap der Guten Hoffnung gilt als der Seeweg
nach Ostindien, Bengalen und China, nicht in den Pazifik. Sehen Sie
sich den Hafen an. Auslaufende Schiffe, wohin das Auge blickt.«
Donovan deutete auf mehr als ein Dutzend Fahrzeuge. »Ja, die segeln
nach Osten, aber auch nach Norden. Sie nutzen eine Strömung im
Indischen Ozean, die sie bis nach Batavia trägt. Wenn sie diese
Breiten erreichen, setzt gerade der Sommermonsun ein. Mit ihm
fahren sie weiter nach Norden, und mit den Winterpassaten dann
wieder in Richtung Heimat, voll beladen. Drei große
Meeresströmungen kommen ihnen dabei zu Hilfe. Die erste trägt sie
durch die Straße zwischen Afrika und Madagaskar, die zweite ums Kap
der Guten Hoffnung herum in den Südatlantik, die dritte an der
afrikanischen Westküste entlang nach Norden. Winde sind wichtig,
aber Strömungen sind bisweilen noch wichtiger.«
Donovans ernste Miene stimmte Richard besorgt. »Mr
Donovan, was verschweigen Sie mir?«
»Sie merken auch alles. Gut, ich will offen sein.
Die zweite Strömung, die am Kap der Guten Hoffnung, verläuft von
Osten nach Westen. Ideal für die Heimreise, aber denkbar ungünstig
in der entgegengesetzten Richtung. Ausweichen geht nicht, denn sie
ist über hundert Meilen breit. Wer in nordöstlicher Richtung nach
Ostindien segelt, kann sie bezwingen. Wir aber müssen die großen
Westwinde weit südlich des Kaps suchen, und das ist für einen
Seemann eine ungleich schwierigere Aufgabe. Unsere letzte Etappe
wird sich in die Länge ziehen, denn der Weg nach Osten ist nicht
leicht zu finden. Ich bin schon nach Bengalen und China gesegelt,
daher kenne ich die Südspitze Afrikas gut.«
Richard sah den vierten Maat mit einer gewissen
Verwunderung an. »Mr Donovan, warum haben Sie eigentlich für diese
Reise ins Ungewisse angemustert, in eine Gegend, in der außer
Captain Cook noch niemand gewesen ist?«
Die schönen blauen Augen funkelten. »Weil ich ein
Teil der Geschichte sein will, so unbedeutend meine Rolle auch sein
mag. Wir haben uns auf ein grandioses Abenteuer eingelassen. Wir
unternehmen keine Routinefahrt in altbekannte Gegenden, auch wenn
diese Gegenden so verlockende Namen wie China haben. Ich hatte
nicht die Beziehungen, die man braucht, um Offiziersanwärter bei
der Königlichen Marine zu werden oder an einer Expedition der Royal
Society teilzunehmen. Als Esmeralda mir den Posten des zweiten
Maats anbot, packte ich die Gelegenheit beim Schopf. Und meine
Degradierung habe ich einfach hingenommen. Warum? Weil wir etwas
tun, was keiner vor uns getan hat. Wir bringen über fünfzehnhundert
Unglückliche in ein jungfräuliches Land, wo sie sich, ohne in
irgendeiner Weise darauf vorbereitet zu sein, ein neues Leben
aufbauen sollen. Als würden wir sie von Hull nach Plymouth
befördern. Es ist ein Wahnsinn, verstehen Sie? Der Gipfel der
Torheit! Was tun wir, wenn wir in der Botany Bay feststellen, dass
man dort gar nicht leben kann? Uns nach China retten? Unmöglich mit
so vielen Menschen. Viel zu weit weg. Mr Pitt und die Admiralität
haben unser Schicksal bedenkenlos in Gottes Hand gelegt, Richard.
Ohne Vorbereitung, ohne Planung. Eigentlich hätten sie vor zwei
Jahren eine Expedition vorausschicken müssen, um das Land
einigermaßen urbar zu machen. Aber das ist nicht geschehen. Es
hätte zu viel Geld gekostet und England von keinem einzigen
Häftling befreit. Was zählt schon das Leben der Gefangenen? Dem
Parlament ist es bestenfalls ein oder zwei Anfragen wert, mehr
nicht. Aber selbst wenn wir zu Grunde gehen, Richard, diese
Expedition wird Geschichte schreiben, und ich werde dabei sein.
Dafür setze ich gern mein Leben aufs Spiel.« Er holte Luft und ließ
ein Lächeln aufblitzen. »Außerdem öffnet sie
mir vielleicht die Tür zur Königlichen Marine. Wer weiß?
Vielleicht befehlige ich eines Tages eine Fregatte.«
»Ich würde es Ihnen wünschen«, sagte Richard
aufrichtig.
»Für Sie würde ich das alles aufgeben«, sagte
Donovan schelmisch.
Richard nahm die Bemerkung wörtlich. »Mr Donovan!
Mittlerweile kenne ich Sie gut genug, um zu wissen, dass Ihre
tiefsten Neigungen nicht fleischlicher Natur sind. Das ist doch
wieder nur eine typisch irische Übertreibung!«
»Ach, die fleischlichen Begierden!«, entgegnete
Donovan ungeduldig. »Mit Verlaub, Richard, aber Sie sind ja
schlimmer als ein papistischer Anhänger des Zölibats. Ist das
eigentlich bei allen so, die aus Bristol kommen? Ich bin noch nie
einem Mann begegnet, der wegen einer ganz natürlichen Sache so von
Schuldgefühlen zerfressen wird. Seien Sie kein Narr! Ich rede von
Freundschaft, Mensch, Freundschaft! Mit Frauen geht das nicht.
Frauen werden klein gehalten. Wenn sie arm sind, müssen sie sich
abschinden, wenn sie reich sind, sticken, zeichnen und malen sie
ein wenig, und außerdem sprechen sie Italienisch und schikanieren
die Dienerschaft. Ein gutes Gespräch ist mit einer Frau nicht
möglich. Obwohl in diesem Punkt auch die meisten Männer zu wünschen
übrig lassen.« Donovan versuchte, eine heitere Miene aufzusetzen.
»Im Übrigen bin ich kein richtiger Ire. Als Nordire habe ich viel
Wikingerblut in den Adern. Wahrscheinlich fahre ich deshalb so gern
zur See und besuche gern fremde Länder. Der Ire in mir ist ein
Träumer. Der Wikinger muss die Träume verwirklichen.«
Kapstadt bot allerdings wenig Anlass zum Träumen.
Die holländischen Bürger, die die Stadt regierten, rieben sich bei
der Aussicht auf satte Profite die Hände und zogen die
Verhandlungen über die Verproviantierung der Flotte wochenlang
hinaus. Es habe eine Hungersnot gegeben, zwei Missernten in Folge,
Vieh sei knapp und so weiter und so fort. Gouverneur Phillip ertrug
die endlosen Gespräche mit unerschütterlicher Geduld, wohl wissend,
dass alles nur Taktik war, um die Preise in die Höhe zu treiben. Er
hatte in Kapstadt nichts anderes erwartet.
Vielleicht begriff er auch besser als mancher
Untergebene, dass
die Gefangenen - und die Seesoldaten - die lange Pause brauchten,
um durchzuhalten. Er hatte persönlich veranlasst, dass Orangen,
Frischfleisch, Brot und jede Art von Gemüse, die zu kriegen war, an
Bord gebracht wurden. Mit Ausnahme der Walfänger waren die Schiffe
nicht darauf eingerichtet, ein Jahr lang hunderte von Passagieren
zu befördern. Deshalb mussten die Leute im Hafen etwas Anständiges
zu essen bekommen und so aufgepäppelt werden, dass sie die nächste
Etappe durchstanden.
Captain Duncan Sinclair hatte einen heftigen Streit
mit Mr Zachariah Clark, dem Agenten des Lieferanten, und ließ die
erste Lieferung frisch gebackenen Hartbrots als »ungenießbares
Sägemehl« zurückgehen. Er ließ so viele Tiere an Bord holen, wie
die Decks fassen konnten, hauptsächlich Schafe und Schweine, aber
auch Hühner, Enten, Gänse und Truthähne, sodass das Schiff bald
einem Bauernhof glich. Wenn Sinclair aus seiner Achterhütte nach
vorn blickte, sah er nur in Wolle gepackte Hinterteile. Heuballen
und Futtersäcke wurden unter den Verschlägen im Gefängnis verstaut,
sodass kaum noch Platz für die Nachttöpfe und die Habseligkeiten
der Sträflinge blieb. Die Diebe unter ihnen waren mittlerweile
bekannt, und so genügte meist der Besuch einer Abordnung, um
vermisstes Eigentum wieder zu Tage zu fördern. Meist wurden
versteckte Lebensmittel oder Rum gestohlen, den die Sträflinge
verbotenerweise von Sergeant Knight gekauft hatten, der
mittlerweile in ernsten Schwierigkeiten war, weil ein Seesoldat ihn
gemeldet hatte. Nach so vielen Monaten auf See wäre manch einer
auch vor einem Mord nicht zurückgeschreckt, um an Rum
heranzukommen.
Von den brasilianischen Papageien hatte keiner
überlebt, der Scotchterrier Wallace und Leutnant Johnstones
Bulldogge Sophia dagegen erfreuten sich bester Gesundheit. Die
Hündin war trächtig - worüber Shairp sich köstlich amüsierte -, und
jeder an Bord war gespannt auf die Welpen. Rodneys Katzenfamilie
war geschrumpft, weil man einige Kätzchen an andere Schiffe
verschenkt hatte, doch er und die verbliebenen Katzen waren dick
und rund.
Am Ende der ersten Novemberwoche kam der Proviant
für die Reise an Bord, und Captain Sinclair ließ die Mannschaft den
Teil
des Rumpfes reinigen, der nicht mit Kupfer beschlagen war. Was
Bordarzt Balmain auf die Idee brachte, das Gefängnis und das
Quartier der Seesoldaten wieder einmal ausschwefeln, schrubben und
tünchen zu lassen. Er war geradezu überwältigt von den Eindrücken,
die er von seinen Ausflügen in die Vorberge mitgebracht hatte, von
der Schönheit der exotischen Pflanzenwelt und ihrer
verschwenderischen Frühjahrsblüte. Was für seltsame Blüten es dort
gab! Einige sahen aus wie mit pastellfarbenem Plüsch bezogene
Reichsäpfel!
»Ich wusste doch, dass ich Mr Donovan noch um einen
Gefallen bitten wollte«, rief Richard und klatschte den Pinsel an
die Wand. »Ich wollte ihn bitten, allen Tünchehändlern der Stadt zu
sagen, dass sie unserem Schiffsarzt keine Unze von dem Zeug
verkaufen sollen.«
Als die Flotte am 12. November den stark
frequentierten Hafen verließ, lief gerade ein amerikanischer
Kauffahrer aus Boston ein. Dessen Besatzung hatte offenbar noch nie
einen solchen Massenexodus erlebt und drängte sich gaffend an der
Reling. Der Aufenthalt hatte dreißig Tage gedauert und alle Schiffe
waren randvoll beladen. Die weiblichen Gefangenen hatten die
Friendship räumen müssen, um Platz für Schafe und einige
Stück Vieh zu schaffen. Die Lady Penrhyn beförderte einen
Hengst, zwei Stuten und ein Fohlen, Tiere, die für den Gouverneur
reserviert waren. Doch sie war nicht das einzige Schiff, das neben
Schafen, Schweinen und Geflügel auch Pferde und Rinder an Bord
hatte, und so war jetzt schon abzusehen, dass die Wasserversorgung
ein großes Problem werden würde. Der Unterbringung der Pferde wurde
größte Aufmerksamkeit geschenkt. Sie durften sich nicht hinlegen,
und ihre Bewegungsfreiheit musste auf wenige Zoll beschränkt
werden. Ein Pferd, das so viel Platz hatte, dass es umfallen
konnte, war dem Tode geweiht. Auch die Rinder wurden regelrecht in
Watte gepackt.
Die letzte große Etappe begann genau so, wie
Stephen Donovan es vorausgesagt hatte. Die Flotte hatte mit
Gegenwind und Gegenstrom zu kämpfen und geriet obendrein in
kleinere Stürme, die
schwere Seen aufpeitschten. Wer anfällig war, wurde wieder
seekrank. Schließlich befahl der Kommodore die Flotte ins
Kielwasser der Sirius, und dort blieben die elf Schiffe,
während Captain John Hunter, der Kommandant der Sirius,
vergeblich nach einem günstigen Wind suchte. Die Stürme legten sich
am nächsten Tag, und wieder begann das quälende Überstaggehen und
Warten.
In dreizehn langen Tagen legten sie nur 249 Meilen
in südöstlicher Richtung zurück. Die Wasserration wurde wieder auf
drei Pints täglich gekürzt, eine Zumutung für alle, denn selbst
vier Pints waren nicht genug. Die Leutnants der Alexander
stöhnten über den Befehl, da seine Ausführung und Überwachung
regelrecht in Arbeit ausartete. Sergeant Knight war bis auf
weiteres vom Dienst suspendiert worden, und so mussten die
Leutnants auf drei sehr mittelmäßige Unteroffiziere zurückgreifen,
während Knight, über seine Suspendierung keineswegs unglücklich, in
seiner Hängematte döste und den Rum schlürfte, den er von Esmeralda
bezog. Major Ross hatte gehofft, die Suspendierung würde Knight,
der nun keinen Sold mehr bekam, zur Mäßigung anhalten. Er konnte
nicht ahnen, wie viel Geld der Sergeant unterwegs mit dem Verkauf
von Rum an Männer wie Tommy Crowder verdient hatte.
Gerüchte kursierten, wonach Gouverneur Phillip die
Absicht habe, die Flotte aufzuteilen und mit zwei oder drei
Schiffen so zügig wie möglich vorauszusegeln und die lahmen Enten
nachkommen zu lassen. Die Charlotte und die Lady
Penrhyn waren hoffnungslose Fälle, aber auch die
Versorgungsschiffe und die Sirius machten zu wenig Fahrt.
Die Navigatoren hatten alle Möglichkeiten ausgeschöpft, um einen
günstigen Wind zu finden, ohne jeden Erfolg.
Schließlich fügte sich Gouverneur Phillip ins
Unvermeidliche und beschloss, die Flotte aufzuteilen, selbst auf
die Supply zu wechseln und die Alexander, die
Scarborough und die Friendship mitzunehmen, während
Captain Hunter auf der Sirius das Kommando über die sieben
langsameren Schiffe übernehmen sollte. Die Supply sollte
allein voraussegeln. Leutnant Shortland, der Marineagent, sollte an
Bord der Alexander gehen, von dort aus die
Scarborough und die Friendship befehligen und die
drei Schiffe zusammenhalten.
Der Entschluss des Gouverneurs fand keine
ungeteilte Zustimmung. Wenn überhaupt, so befanden viele Offiziere
und Ärzte, dann hätte er die Flotte gleich hinter Rio de Janeiro
aufteilen sollen. Und Richard, der zufällig ein Gespräch zwischen
Johnstone und Shairp belauschte, die maulten, weil sie ihr Reich
auf dem Achterdeck teilen sollten, fand, dass die Maßnahme nicht zu
Phillip passte. Phillip war eine Glucke, die sich nur ungern von
ihren Küken trennte. Oh, wie er sich sorgen würde! Richard
schätzte, dass die erste Gruppe mindestens zwei Wochen vor Hunters
Abteilung vor Anker gehen würde.
Alle Sträflinge, die Erfahrung als Gärtner, Bauern,
Zimmerleute oder Sägewerker hatten, und es waren erschreckend
wenige, wurden auf die Scarborough und die Supply
verlegt, obwohl auf der Alexander deutlich mehr Platz war.
Niemand wollte wertvolle Arbeitskräfte im Gefängnis des
Todesschiffs unterbringen. Eng wurde es dagegen auf dem Achterdeck
der Alexander. Leutnant Shortland kam von der
Fishburn herüber und brachte Berge von Ausrüstung mit, und
Zachariah Clark, der Firmenagent, musste von der Scarborough
weichen, da Major Ross seine Kabine beanspruchte. Auch Leutnant
James Furser, Quartiermeister der Seesoldaten und Ire, wurde auf
die Alexander abkommandiert.
»Ich könnte mich totlachen«, sagte Donovan zu
Richard, als sie auf dem Oberdeck das Kommen und Gehen der Boote
beobachteten. »Die beiden schottischen Seesoldaten können ihren
neuen irischen Kameraden nicht ausstehen, Clark ist, gelinde
ausgedrückt, ein komischer Kauz, und Shortland ist von dem Schiff,
auf dem er ursprünglich fahren sollte, alles andere als angetan.
Balmain tobt, weil er einen Großteil seiner botanischen Sammlung,
mit der er die Tageskajüte voll gestopft hat, hinauswerfen muss. Mr
Bones und ich sind froh, dass wir dort sind, wo wir immer waren, in
der Back.«
»Ob es ihnen gefallen wird, wenn Wallace nachts um
zwei beschließt, den Mond anzuheulen?«
»Es gibt Schlimmeres. Sophia schnarcht wie ein
Sägewerk. Sie
hat ihr Lager in Zachariah Clarks Koje aufgeschlagen, aber er
traut sich aus Angst vor ihr nicht, sie rauszuwerfen.«
Die Trennung erfolgte am 25. November bei ruhiger
See und schwachem Wind. Sowie alle umgezogen waren, verließ
Gouverneur Phillip die Sirius unter einem dreifachen Hurra
der gesamten Besatzung und stieg, den Gruß erwidernd, in ein
Langboot. Er wurde zur Supply gepullt, die, um mit Stephen
Donovan zu sprechen, ein guter Segler war, solange günstige
Bedingungen herrschten, bei schwerem Wetter aber rollte und viel
Wasser machte. Eine Slup mit Brigg-Besegelung, die eigentlich wie
eine Schnau hätte getakelt werden müssen.
Eine halbe Stunde nach Mittag setzte die
Supply Segel, und auch die drei anderen Rennboote, wie man
sie getauft hatte, nahmen unter Führung der Alexander Fahrt
auf. Kurios war, dass just in dem Moment, als Phillip an Bord der
Supply ging, eine günstige Brise aufkam und Hunter
beschloss, den Rennbooten nachzujagen. So blieben die sieben
Bummler bis zum Mittag des nächsten Tages in Sichtweite, ehe ihr
Rumpf unter der Kimm verschwand und die See schließlich auch ihre
Masttopps verschluckte. Bei dieser Art von Wetter lief die
Supply den anderen mühelos davon. Bei Einbruch der Nacht war
sie außer Sicht, und die Alexander, die Scarborough
und die Friendship kreuzten im Abstand von einer Kabellänge
- exakt zweihundert Yards - nebeneinanderher.
Zwei Tage später begann wieder das Überstaggehen
und Warten.
»Ich glaube nicht, dass es eine Route nach Osten
gibt«, sagte Will Connelly zu Stephen Donovan, der Freiwache hatte
und an die Reling gekommen war, um sich ein Abendessen zu
angeln.
Donovan kicherte. »Wir sind drauf und dran, sie zu
finden, Will. Siehst du die braunen Vögel da hinten?«
»Ja, sie sehen aus wie Mauersegler.«
»Das sind Sturmschwalben, Vorboten von Stürmen -
richtigen Stürmen. Und heute ist ein öliger Tag.«
»Was bedeutet ›ölig‹?«, fragte Taffy Edmunds, der
zusammen mit Bill Whiting dazu abgestellt worden war, die Schafe
auf dem Achterdeck zu hüten. Im Gefängnis hatte das große
Heiterkeit ausgelöst,
den Schafhirten selbst behagte es aber durchaus, denn beide kamen
von Bauernhöfen, sie waren nur viel zu schlau, um es
zuzugeben.
»Heute ist doch ein schöner Tag, nicht wahr?«,
fragte Donovan.
»Ja, sehr schön. Die Sonne ist draußen, kein
Wind.«
»Aber der Himmel ist nicht blau, Taffy. Und die See
auch nicht. Wir Seeleute nennen das ›ölig‹, weil der Himmel und die
See so aussehen, als wären sie mit einem dünnen Fettfilm überzogen
- trüb und leblos. Am Nachmittag werden ein paar weiße Wölkchen wie
Papierfetzen über den Himmel jagen. Ein kräftiger Wind wird sie in
großer Höhe vor sich her treiben, aber wir hier unten werden ihn
nicht spüren. Und morgen früh sind wir mitten in einem wütenden
Sturm. In ein paar Stunden werdet ihr erfahren, was es heißt, eine
Route nach Osten zu suchen.« Donovan stieß einen Freudenschrei aus.
»Da hat einer angebissen.« Er zog einen Fisch heraus, der
Ähnlichkeit mit einem Kabeljau hatte, und hüpfte davon.
»Ihr habt’s gehört«, sagte Richard. »Besser, wir
gehen runter und warnen die anderen.«
»Ölig«, sinnierte Taffy. Er ging in Richtung
Achterdeck, wo Bill Futter aus einem Eimer verstreute. »Bill!
Unsere Schafe! Wir bekommen einen Sturm. Den Vater aller
Stürme.«
Als die Wolkenfetzen über den Himmel jagten, aßen
sie gerade, doch am nächsten Tag brachte ihnen niemand etwas zu
essen. Der Sturm wütete immer schlimmer, warf das Schiff herum wie
einen kleinen Ball. Die Bordwände ächzten, und im Bauch des
Schiffes dröhnte es wie im Innern einer Trommel, obwohl die Luken
noch nicht geschlossen waren.
Etwa um dieselbe Zeit, als die Insassen des
Gefängnisses begriffen, dass sie nichts zu essen bekommen würden,
bis das Wetter sich etwas beruhigte, stieg Richard auf den Tisch,
schob den Oberkörper durch die hintere Luke und blickte in die
Runde. Auf allen vier Seiten hing die See drohend über der
Alexander. Die Versuchung war zu groß. Er stemmte sich
vollends hinaus und suchte sich am Großmast einen sicheren Platz,
von wo aus er den Ozean beobachten konnte, der das Schiff wie
entfesselt bedrängte. Es gab Gegenseen, Querseen, Heckseen, und
alles zur gleichen Zeit. Die
Takelage stöhnte und ächzte, was bei dem Getöse von Wind und Meer
allerdings nur zu hören war, wenn er das Ohr an den Großmast legte.
Wasserkaskaden stürzten von den Segeln herab, während Seeleute von
Spiere zu Spiere krochen, Segel refften und andere bargen. Bug und
Bugspriet tauchten ins Wasser und bäumten sich im nächsten Moment
wieder auf, von Regen und riesigen Brechern gepeitscht, während
eine zweite Welle gegen die Backbordseite, eine dritte gegen die
Steuerbordseite und eine vierte gegen das Heck krachte. Richard
band sich mit einem Tau fest. Die mächtigen Seen fegten mit einer
solchen Wucht übers Deck, dass ihnen niemand ohne Sorgleine
widerstehen konnte.
Von der Scarborough oder der
Friendship war nichts zu sehen. Erst als die
Alexander auf den Kamm einer riesigen Woge getragen wurde
und dort eine Sekunde lang baumelte, konnte er einen Blick auf die
bedauernswerte Friendship erhaschen. Sie legte sich weit
über, und die Seen schlugen über ihr zusammen. Dann sauste die
Alexander in ein Wellental, und Wasser schoss einen halben
Meter hoch übers Deck, und wieder ging es hinauf, höher und immer
höher - es war herrlich! Die Alexander war, trotz allem, ein
seetüchtiges altes Mädchen.
Kurz nachdem er aus dem Gefängnis geklettert war,
hatte man die Luken verschalkt, ohne dass er es bemerkt hatte. Er
war zu fasziniert von der Urgewalt dieses Sturms, der gewiss zu den
stärksten gehörte, die jemals getobt hatten. Als die Nacht
hereinbrach, band er sich los, kroch erschöpft und blau vor Kälte
unter ein Langboot und richtete sich im Heu ein warmes und leidlich
trockenes Nest her. So verschlief er den schlimmsten Teil, und als
er, immer noch frierend, am nächsten Morgen erwachte, war der
Himmel blau und die See tobte nicht mehr ganz so ungestüm. Die
Luken standen offen. Richard ließ sich auf den Tisch
hinabgleiten.
Die Freudenschreie, die ihn empfingen, erstaunten
ihn. Er hatte sich eingebildet, die anderen seien seit Rio etwas
selbstständiger geworden.
»Richard!«, rief Joey Long und drückte ihn mit
tränenüberströmten Wangen. »Wir dachten, du bist ertrunken!«
»Ich doch nicht! Ich war so damit beschäftigt, den
Sturm zu beobachten,
dass ich nicht gemerkt habe, wie sie die Luken verschlossen haben.
Und dann war ich ausgesperrt. Joey, beruhige dich. Mir geht es gut,
mir ist nur kalt.«
Während er sich mit einem Lappen abtrocknete,
erfuhr er von den anderen, dass John Bird, ein Gefangener vom
Bugschott, in den Laderaum eingebrochen war und Brot verteilt
hatte.
»Wir haben alle davon gegessen«, sagte Jimmy Price,
»weil uns niemand etwas gebracht hat.«
Was Zachariah Clark allerdings nicht davon abhielt,
die Auspeitschung John Birds zu verlangen. Schließlich habe der
Mann seine Firma bestohlen.
Leutnant Furser ermittelte, wie viel Brot abhanden
gekommen war, und erklärte, dass in etwa genauso viel fehle, wie
unter normalen Umständen ausgeteilt worden wäre. Daher, so sagte
er, werde keine Strafe verhängt und jeder Sträfling solle heute zu
seinem Hartbrot eine doppelte Portion Pökelfleisch erhalten.
Captain Sinclair hatte in Zachariah Clark trotz
ihrer Meinungsverschiedenheit in Kapstadt eine verwandte Seele
gefunden, die ebenso habgierig war wie er. Kaum hatte Clark im
Achterdeck der Alexander Quartier bezogen, begann Sinclair,
den Firmenagenten zu seinen üppigen Mahlzeiten einzuladen - als
Gegenleistung dafür, dass Clark in Sachen Rum beide Augen
zudrückte. Da Sophia Clarks Kabine als Kinderstube in Beschlag
genommen hatte, überließ ihm Esmeralda seine Tageskabine, die er
ohnehin nicht benötigte. So kam es, dass Sinclair, als er von
Fursers Entscheidung hörte, dem Seesoldaten durch Clark ausrichten
ließ, John Bird müsse wegen unerlaubter Aneignung fremden Eigentums
ausgepeitscht werden.
»Es fehlt nichts, was nicht ohnehin fehlen würde«,
entgegnete Furser frostig, »also ziehen Sie Leine, Sie
Arschgesicht!«
»Ich werde Captain Sinclair von Ihrer
Unverschämtheit berichten!«, stieß Clark hervor.
»Von mir aus können Sie ihm berichten, bis Sie
schwarz werden, Sie Arschgesicht, das ändert nicht das Geringste.
Hier bestimme ich, was mit den Gefangenen geschieht, und nicht die
fette Esmeralda.«
Die Matrosen der Alexander erzählten jedem,
der es hören wollte, dass sie noch nie einen so schlimmen Sturm
erlebt hätten. Vor allem die schrecklichen Seen, die gleichzeitig
aus allen Richtungen kamen - das ließ nichts Gutes ahnen, ganz und
gar nicht! Die Scarborough signalisierte, dass sie den Sturm
unbeschadet überstanden hatte. An Bord der Friendship, die
Sturzseen von hinten und von der Seite abbekommen hatte, war keine
Faser trocken geblieben.
Doch die Ostroute war gefunden, und die drei
Schiffe preschten, jeweils durch eine Kabellänge getrennt,
nebeneinander durch die See und legten mindestens 160 Meilen pro
Tag zurück. Sie hatten mittlerweile den 40° südlicher Breite
erreicht und stießen noch weiter nach Süden vor. Anfang Dezember
gerieten sie abermals in einen Sturm. Er war noch schlimmer als der
letzte, tobte sich zum Glück aber schneller aus. Obwohl es Sommer
war, herrschte eisige Kälte. Die ärmsten und weniger weit
blickenden Sträflinge, die nur dünnes Leinenzeug besaßen, rutschten
zusammen, um sich gegenseitig zu wärmen, obwohl sie dank der
Todesfälle über zusätzliche Decken verfügten. Auch das Stroh kam
ihnen sehr gelegen.
Unter den Gefangenen und Seesoldaten brach die Ruhr
aus, und wieder starben Männer. Die Scarborough und die
Friendship übermittelten, dass auch bei ihnen die Ruhr
grassierte. Richard beschwor seine Männer, jeden Tropfen Wasser mit
den gereinigten Filtersteinen zu filtern. Wenn alle Schiffe
betroffen waren, musste das Trinkwasser verseucht sein. Diesmal
unterblieb der Befehl zum Ausschwefeln und Tünchen, wohl weil
Bordarzt Balmain begriffen hatte, dass er damit eine Meuterei
auslösen würde.
Obwohl die Friendship mehr Segel gesetzt
hatte als je zuvor, konnte sie mit der Alexander und der
Scarborough nicht mithalten, die täglich 180 Meilen und mehr
zurücklegten. Am Ende der ersten Dezemberwoche wurde es wieder
etwas wärmer, und Shortland ließ die beiden Sklavenschiffe Segel
wegnehmen, damit die Friendship aufkommen konnte. An einem
der folgenden Morgen gerieten sie in einen dichten, weißen Nebel,
der von innen heraus schimmerte wie eine riesige Perle, schaurig
schön und bedrohlich. Die Alexander lud ihre Kanonen mit
Pulver und feuerte sie in regelmäßigen Abständen ab, und ein
Seemann schlug die Schiffsglocke
an der Steuerbordreling. Gedämpfter Geschützdonner und leises
Läuten von der Scarborough und der Friendship
bestätigten, dass sie im Abstand von einer Kabellänge ihren Kurs
hielten. Dann, gegen zehn Uhr, riss der Nebel plötzlich auf, die
Sonne kam hervor, und eine kräftige Brise blähte die Segel.
Unmengen von Seegras trieben im Wasser - nach
Meinung der Seeleute musste Land in der Nähe sein. Aber es war kein
Land zu sehen, nur zahlreiche Rissosdelfine, die sich einen Spaß
daraus machten, zwischen den drei Schiffen herumzuflitzen oder
unter ihnen durchzutauchen. Zwischen dem Seegras mäanderten breite
Bänder aus Fischsamen, von welcher Art, wusste niemand. Irgendwo im
Süden lagen die Kerguelen, die »Inseln der Verlassenheit«, wo Cook
einst sehr ungewöhnliche Weihnachten verlebt hatte.
Zwei Tage später war das ganze Meer plötzlich
blutrot. Zuerst glaubten die ehrfürchtig staunenden Männer auf der
Alexander, es handle sich um das Blut eines erlegten Wales.
Doch dann begriffen sie, dass kein Meeresbewohner, und sei er noch
so groß, genug Blut hatte, um den Ozean bis zum Horizont rot zu
färben. Noch ein Geheimnis der Tiefe, das sie nicht lüften
konnten.
»Langsam begreife ich, warum es Sie in ferne Länder
zieht«, sagte Richard zu Donovan. »Ich hatte eigentlich nie den
Wunsch, weiter zu reisen als von Bristol nach Bath. Diese kleine
Welt war mir vertraut. Aber man kann nur wachsen, wenn man aus
seiner beschränkten, vertrauten Welt herausgerissen wird.
Vorausgesetzt, man geht an der Ungewissheit nicht zu Grunde, wie
einige da unten im Gefängnis. Die Umgebung prägt den Menschen. Sie
hat mich geprägt und tut es vielleicht immer noch.«
»Heimatgefühle sind normal, Richard. Dass ich keine
habe, mag daran liegen, dass ich arm war und mich danach sehnte,
aus Belfast herauszukommen und die Fesseln der Armut
abzuwerfen.«
»Dann haben Sie eine Armenschule besucht?«
»Nein. Ein freundlicher Gentleman nahm mich unter
seine Fittiche und brachte mir Lesen und Schreiben bei. Bildung, so
sagte er - und er hatte Recht -, öffnet dir das Tor zu einem
besseren Leben.«
Donovan lächelte, wie von einer lieben Erinnerung
erfüllt. Richard wollte nicht tiefer in ihn dringen und wechselte
das Thema.
»Warum hat sich die See rot verfärbt? Haben Sie so
etwas schon mal gesehen?«
»Nein, aber davon gehört. Seeleute sind
abergläubisch, und Sie werden feststellen, dass die meisten darin
ein böses Omen sehen, ein unheilvolles Vorzeichen. Ich selbst weiß
auch nicht, was es ist, doch ich bin davon überzeugt, dass es etwas
ebenso Natürliches ist wie die fleischlichen Gelüste.« Donovan
kräuselte viel sagend die Augenbrauen und schmunzelte über Richards
Verlegenheit. Er wusste nur zu gut, dass Richard es nicht mochte,
wenn man ihn prüde nannte, zumal er sich eingestehen musste, dass
er es im Grunde tatsächlich war. »Vielleicht hat ein starkes
Seebeben rote Erde vom Meeresgrund aufgewirbelt, vielleicht sind
auch kleine Meerestiere der Grund.«
Sie gerieten in weitere schwere Stürme. Dann, am
Tag der Sommersonnenwende, setzte heftiger Regen ein, der bald in
Schnee überging und in einem Bombardement mit hühnereigroßen
Hagelkörnern endete, das den Schafen nichts anhaben konnte, bei
Menschen und Schweinen aber schmerzhafte blaue Flecken hinterließ.
Sommerfreuden am 41° südlicher Breite!
Am Heiligabend erreichten die drei Schiffe den 42°
südlicher Breite. Sie legten bei stürmischem Wetter 160 Meilen
zurück. Es wurde nicht mehr dunkel, und der größte Wal, den sie
bisher gesichtet hatten, begleitete sie. Er war blau-grau und gut
hundert Fuß lang. Er hätte aus der kleinen Friendship leicht
Kleinholz machen können, doch zum Glück wollte er den Schiffen
anscheinend nur frohe Weihnachten wünschen.
Im Gefängnis herrschte weihnachtliche Stimmung. Das
Essen, das die Sträflinge mitten am Nachmittag bekamen, bestand aus
Erbsensuppe, dem üblichen Stück Pökelfleisch und dem üblichen Laib
Hartbrot. Zur Feier des Tages erhielt jeder ein halbes Pint
billigen Rum aus Rio. Und die Chance, einen Welpen zu gewinnen.
Sophia hatte nämlich unter Balmains tätiger Mithilfe in Zachariah
Clarks Koje fünf gesunde Junge zur Welt gebracht. Und keine
gewöhnlichen. Zwei sahen aus wie Möpse, zwei eher wie
Drahthaarterrier mit vorspringendem Unterkiefer, während der fünfte
das Ebenbild seines Vaters Wallace war. Leutnant Shairp, der stolze
Ersatzvater, überließ Balmain die freie Wahl, und der Arzt
entschied sich für einen Mops. Leutnant Johnstone, die stolze
Ersatzmutter, folgte seinem Beispiel. Das Paar mit dem lachsartigen
Unterkiefer ging an Leutnant Shortland und den ersten Maat.
Kompliziert wurde es, als Leutnant Furser, der Ire,
den fünften dankend ablehnte, weil er wie ein schottischer Terrier
aussah. Diesen Gedanken behielt er allerdings für sich, denn
schließlich war Weihnachten.
»Aber wer soll dann den kleinen MacGregor
bekommen?«, fragte Shairp.
»Etwa Esmeralda oder sein Kumpan Clark?«
Das gesamte Achterdeck grinste höhnisch.
»Dann schlage ich vor«, fuhr Shairp fort, »wir
schenken ihn den Gefangenen zu Weihnachten. Von denen hat keiner
einen Hund.« Das gesamte Achterdeck war von der Idee begeistert und
stieß mit einem Gemisch aus Portwein und Rum darauf an.
An Heiligabend, kurz nach dem Essen, erschienen die
beiden Ersatzeltern im Gefängnis, Shairp mit dem kleinen MacGregor
auf dem Arm. Beide Offiziere waren sturzbetrunken, was an den
Festtagen keineswegs ungewöhnlich war. Kein Offizier der
Marineinfanterie war nach dem Essen noch halbwegs nüchtern, keiner
bis auf Leutnant Ralph Clark, der auf der Friendship
Limonade schlürfte und seine Rumrationen bei den Zimmerleuten gegen
eine Schreibmappe oder ein Kniepult eintauschte oder sich von
Sträflingen ein Hemd oder Handschuhe nähen ließ.
Mit Spielkarten wurde um MacGregor gelost. Wer ein
Karo-Ass zog, blieb im Rennen. Unter lautem Gejohle zogen drei
Männer ein Karo-Ass. Shairp, der auf dem Tisch saß, rief nach drei
Strohhalmen, war aber so betrunken, dass Johnstone sie halten
musste.
»Der längste gewinnt!«, rief Shairp.
Joey Long zog ihn und vergoss Freudentränen.
»Long hat den längsten!« Shairp musste so lachen,
dass er vom
Tisch fiel und von Richard und Will wieder auf die Füße gestellt
werden musste. Unterdessen nahm Joey das zappelnde Knäuel auf den
Arm und bedeckte es mit Küssen.
»Wir lassen ihn bei der Mutter, bis wir in der
Botany Bay sind«, rief Johnstone. »Sowie wir an Land gehen, kriegst
du ihn.«
Gott hätte nicht gütiger sein können, dachte
Richard, als er, müde vom Rum und ausnahmsweise einmal nicht von
dem Wunsch beseelt, an Deck zu gehen, in den Schlaf sank. Seit Ikes
Tod sieht der brave Joey keinen Sinn mehr im Leben. Jetzt hat er
einen Hund, den er lieben kann. Gott hat ihn aus der Abhängigkeit
von mir befreit, und ich bete, dass den anderen dasselbe Glück
beschieden sein möge. Sobald wir dieses Gefängnis verlassen, dürfte
es schwierig werden, zusammenzubleiben.
Ende Dezember legten die Schiffe täglich über 180
Meilen zurück, obwohl das Wetter denkbar schlecht war - schwere
Seen, Böen und tosende Stürme am 43° südlicher Breite.
Das neue Jahr, 1788, begann mit Regen und
Gegenwind. Die Neujahrsstürme bliesen gegen den Bug, und die drei
Schiffe krochen mühsam zum 44° südlicher Breite. Dann endlich
erwischten sie eine günstige Brise und schafften an einem Tag 191
Meilen. Als jeden Augenblick die Südspitze von Van-Diemens-Land in
Sicht kommen musste, gab Leutnant Shortland den Schiffen den
Befehl, die Ankertrossen anzustecken, für alle Fälle. Der Sturm
nahm zu. Die Friendship segelte sich die
Vormarsleesegelstenge ab, sodass das Segel in Fetzen ging. Land war
noch immer nicht in Sicht.
Aus Angst vor Riffen und Klippen, die nicht in den
Karten verzeichnet waren, ließ Shortland am Morgen des 4. Januar
die Besatzungen aller Schiffe in Bereitschaft versetzen. Am Morgen
darauf ertönte der lang ersehnte Ruf: »Land ahoi!« Da war sie, die
Südspitze von Neusüdwales. Ein mächtiger Felsen.
Sobald sie das Kap umsegelt hatten, änderten sie
ihren Kurs von Ost auf Nord zu Nordost. Die letzten tausend Meilen
bis zur Botany Bay wurden die deprimierendsten der gesamten Reise.
Das Ziel so nah und doch so fern! Gegenwind, Gegenstrom, alles
hatte sich gegen sie verschworen. An manchen Tagen standen die drei
Schiffe abends meilenweit südlich der Position vom Vortag, an
anderen Tagen mussten sie immer wieder über Stag gehen und warten,
ohne dass ein Ende abzusehen war. Dann wieder gab es Tage mit
tückischen Böen. Eines Nachts segelte sich die Friendship
das Vorstengestagsegel ab. Mühsam krochen sie bis zum 39° südlicher
Breite hinauf und rutschten wieder bis zum 42° hinunter. Das
Großstagsegel der Friendship ging in Fetzen - ihr fünfter
Segelverlust seit Kapstadt. Sie mussten kämpfen, um überhaupt
voranzukommen.
Die mühsame Fahrt mochte den Sträflingen weniger
aufs Gemüt schlagen als den Navigatoren, doch die ungenießbare Kost
hatte dieselbe Wirkung. Nur gelegentlich erhaschten sie einen Blick
auf Neusüdwales. Die Entfernung war zu groß, um einen Eindruck zu
bekommen. Ihre einzige Freude waren die zahllosen Robben, die
übermütig zwischen den Schiffen tollten, regelrechte Clowns, die
sich mit den Flossen auf die Brust schlugen, tauchten und sich
prustend im Wasser wälzten. Und wo Robben waren, gab es auch
Fische. Sämige Fischsuppe bereicherte wieder den
Speisezettel.
Am 15. Januar hatten sie sich bis zum 35° südlicher
Breite vorgekämpft, und gegen Mittag sichteten sie Kap Dromedar,
das Captain Cook wegen seiner Ähnlichkeit mit den Wüstenschiffen so
getauft hatte.
»Nur noch hundertfünfzig Meilen«, sagte Donovan,
der Freiwache hatte und angeln wollte.
Will Connelly seufzte. Trotz des wolkenverhangenen
Himmels war es so heiß, dass er sich nicht hinsetzen und lesen
konnte, und so hatte er beschlossen zu angeln. »Allmählich glaube
ich, dass wir die Botany Bay niemals erreichen, Mr Donovan. Seit
Weihnachten sind vier Männer gestorben, und jeder weiß, woran.
Nicht am Fieber oder an der Ruhr. Aus Verzweiflung, vor Heimweh,
aus Hoffnungslosigkeit. Die meisten von uns leben mittlerweile über
ein Jahr auf diesem Schiff - wir sind letztes Jahr am 6. Januar an
Bord gegangen. Letztes Jahr! Wie sich das anhört. Ich glaube, die
Männer sind gestorben, weil sie die Hoffnung verloren haben, jemals
wieder von diesem grässlichen Schiff herunterzukommen.
Hundertfünfzig Meilen, sagen Sie. Es könnten genauso gut
zehntausend
sein. Wenn wir in diesem Jahr etwas gelernt haben, dann wie weit
es bis zum anderen Ende der Welt ist. Und wie fern wir der Heimat
sind.«
Donovan presste die Lippen zusammen. »Die letzten
Meilen bringen wir auch noch hinter uns«, sagte er schließlich,
ohne den Blick von der Schnur zu wenden, an deren Ende ein Stück
Kork schwamm. »Captain Cook hat vor diesem Gegenstrom gewarnt, aber
wir kommen trotzdem voran. Wir brauchen nur eine günstige Brise aus
Südost, und wir werden sie bekommen. Das Wetter schlägt um. Zuerst
bekommen wir einen Sturm, dann eine Brise aus Südost. Ich irre mich
nicht.«
Überstaggehen und warten, überstaggehen und warten.
Die Robben waren verschwunden und hatten tausenden von Tümmlern
Platz gemacht. Dann, nach einem drückend heißen Tag, explodierte
der Himmel. Unter ohrenbetäubenden Donnerschlägen zuckten grelle
Blitze nieder und färbten die schwarzen Wolken purpurn. Es begann
wie aus Kübeln zu schütten, sodass der Regen trotz eines
stürmischen Nordwestwinds senkrecht aufs Deck prasselte. Eine
Stunde vor Mitternacht hörte der Spuk plötzlich auf, und aus
Südwest blies eine kräftige Brise. Weiße Klippen zogen vorüber,
Bäume, gelbe Klippen, Bäume, geschwungene goldene Strände, und
schließlich kam die Einfahrt zur Botany Bay in Sicht.
Am Morgen des 19. Januar 1788 segelte die
Alexander gegen 9 Uhr mit ihren beiden Begleiterinnen
zwischen Kap Solander und Kap Banks hindurch in eine große, nur
mäßig geschützte Bucht. Etwa fünfzig nackte schwarze Männer standen
winkend auf einer Landzunge, und dort, mitten in der kabbeligen
stahlblauen See, lag die Supply. Sie hatte die anderen
Schiffe um einen Tag geschlagen.
Die Alexander hatte in 251 Tagen oder 36
Wochen über 16 000 Landmeilen zurückgelegt. Sie hatte 68 Tage im
Hafen und 183 Tage auf See verbracht. Von den 225 Sträflingen
hatten 177 das Ziel erreicht.
Die Anker wurden ausgebracht und Leutnant
Shortland setzte auf die Supply über, um mit Gouverneur
Phillip zu sprechen. Richard stand allein an der Reling und
betrachtete lange das Land, in das er gemäß einem Kabinettsbefehl
deportiert worden war. Hier also sollte er die nächsten vier Jahre
bis zum 23. März 1792 verbringen. Im Südatlantik zwischen Rio de
Janeiro und Kapstadt war er neununddreißig Jahre alt
geworden.
Das Land, über das seine Augen glitten, war an der
Küste flach, weiter im Süden und Norden leicht hügelig und bot mit
seinen braunen, grauen und olivgrünen Tönen einen tristen Anblick.
Desolat und reizlos.
»Was sehen Sie, Richard?«, fragte Stephen
Donovan.
Richard sah ihn aus tränenverschleierten Augen an.
»Weder die Hölle noch das Paradies. Es ist die Vorhölle, in der
alle verlorenen Seelen landen.«