TEIL VIER
Januar 1787 bis Januar 1788
Bei Tagesanbruch wurden die Sträflinge ausgesondert, insgesamt sechzig Mann in den üblichen Sechsergruppen, während die dreiundsiebzig anderen, die verschont blieben, zutiefst erleichtert dreinschauten. Wer die zehn Gruppen, die das Orlopdeck der Ceres verlassen sollten, ausgewählt hatte und nach welchen Kriterien, wusste niemand. Man wusste nur, dass Mr Hanks und Mr Sykes eine Liste hatten und nach ihr verfuhren. Das Alter der Ausgesonderten schwankte zwischen fünfzehn und sechzig. Die meisten hatten, wie alle alten Hasen wussten, keinen Beruf, und einige waren sogar krank. Doch Überlegungen dieser Art lagen Mr Hanks und Mr Sykes fern. Sie hatten ihre Liste, und das genügte ihnen offenbar.
William Stanley aus Seend und Mikey Dennison, der Epileptiker, hüpften vor Freude, da ihre Namen nicht auf der Liste standen. Auf der Ceres ließ es sich aushalten, zumal sie bald frische Decken bekommen sollten.
»Sieh dir die Arschlöcher an«, zischte Bill Whiting, »wie sie feixen.«
Die Tür schwang auf, und vier neue Sträflinge wurden hereingestoßen. Will Connelly und Neddy Perrott protestierten lautstark.
»Crowder, Davis, Martin und Morris aus Bristol«, erklärte Connelly. »Die hat man wohl eigens aus Bristol hergebracht.«
Bill Whiting zwinkerte Richard zu. »Mr Hanks!«, rief er. »Oh, Mr Hanks!«
»Was gibt’s?«, fragte Herbert Hanks, der James Thistlethwaite gegen ein Trinkgeld versprochen hatte, sich nach Kräften für Richards und Ikes Gruppen einzusetzen, falls sie unter den Ausgesonderten sein sollten. Er beabsichtigte auch durchaus, sein Versprechen zu halten, denn Mr Thistlethwaite hatte ihm weitere Großzügigkeiten in Aussicht gestellt sowie er von seinen Spionen erfuhr, dass tatsächlich alles Menschenmögliche getan worden war. »Red schon, Kamerad!«
»Sir, diese vier Männer sind aus Bristol. Kommen sie mit?«
»Freilich«, antwortete Hanks müde.
Der alte Witzbold Whiting warf einen Seitenblick auf Richard, dann nahm sein rundes Gesicht den Ausdruck demütiger Bescheidenheit an. »Sir, sie sind nur zu viert. Die Sache ist nämlich die, dass wir nur ungern von Stanley und Dennison getrennt werden wollen, Mr Hanks, Sir, und da habe ich mir gedacht …«
Mr Hanks zog seine Liste zu Rate. »Die Sträflinge aus Bristol waren ursprünglich zu sechst, doch sind gestern zwei gestorben. Wir haben also vier zu viel oder zwei zu wenig, je nachdem, von welcher Seite man es betrachtet. Stanley und Dennison würden das halbe Dutzend voll machen. Gut, sie kommen mit.«
»Zu früh gefreut!«, kicherte Whiting schadenfroh.
»Danke, du Arschloch!«, zischte Ike. »Ich war schon froh, dass Stanley und Dennison hier bleiben.«
Neddy Perrott kicherte ebenfalls. »Glaub mir, Ike, Crowder und Davis sind mit allen Wassern gewaschen. Die werden mit William Stanley aus Seend allemal fertig.«
»Außerdem brauchen wir noch ein paar Leute zum Deckschrubben und Waschen, Ike«, fügte Whiting hinzu und lächelte engelsgleich.
Den ausgesonderten Häftlingen wurden Eisengürtel und Handschellen angelegt, aber keine Kette zu den Fußknöcheln. Stattdessen wurde eine lange Kette von Hüfte zu Hüfte gezogen, die jeweils sechs miteinander verband. Stanley und Dennison heulten, als sie an die vier Neuen aus Bristol gekettet wurden, da ihnen nicht genügend Zeit blieb, um alle ihre Habseligkeiten zusammenzuraffen.
»Damit sind wir sechsundsechzig Mann in elf Gruppen«, bemerkte Richard.
Ike zog eine Grimasse. »Und mindestens noch einmal so viele aus London.«
Ein Irrtum, wie sie später feststellen sollten. Von oben wurden nur sechs Sechsergruppen ausgewählt, und keineswegs nur schwere Jungs aus dem London Newgate. Die meisten stammten aus dem Londoner Umland, und viele davon aus Kent an der Themse, insbesondere aus Deptford. Warum, wusste niemand, nicht einmal Mr Hanks, der sich einfach an seine Liste hielt. Die ganze Expedition war allen, die mit ihr in Berührung kamen, Teilnehmern wie Zurückbleibenden, ein Rätsel.
 
Zwei große Leichter lagen längsseits. Die drei Gruppen aus dem Westen und die beiden aus Yorkshire wurden in den ersten verfrachtet, die sechs restlichen Gruppen mussten sich in den zweiten zwängen. Gegen zehn an diesem schönen, kühlen Morgen pullten die Bootsgasten die Themse hinunter, die hier, direkt östlich von Woolwich, eine halbe Meile breit war und eine große Biegung machte. Auf dem Fluss herrschte wenig Verkehr, doch die Neuigkeit hatte sich herumgesprochen, und so winkten, pfiffen und johlten die Besatzungen von Proviantbooten, Ketschen und anderen kleinen Fahrzeugen herüber, und die Häftlinge in dem überladenen zweiten Leichter beteten, dass ihnen kein Schiff zu nahe kam und eine Welle erzeugte, die ihnen gefährlich werden konnte.
Hinter der Biegung lag Gallion’s Reach, ein Ankerplatz für Großschiffe. An diesem Tag ankerten hier nur zwei Fahrzeuge, das eine davon mehr als doppelt so groß wie das andere. Richard erschrak. Das größere Schiff hatte sich kein bisschen verändert - eine voll getakelte Bark, die offenbar noch keine Fracht an Bord genommen hatte, denn ihr Schanzkleid stand gut vier Meter über dem Wasser. Sie besaß weder Achterhütte noch Back, lediglich ein Achterdeck und eine Kombüse hinter dem Vormast. Ganz auf Schnelligkeit und Kampfkraft ausgelegt.
Er tauschte mit Connelly und Perrott einen Blick. »Die Alexander«, sagte Neddy Perrott tonlos.
Richard kniff den Mund zusammen. »Ja, das ist sie.«
»Ihr kennt sie?«, fragte Ike.
»Und ob«, knurrte Connelly. »Ein Sklavenschiff aus Bristol und ehemaliger Freibeuter. Die Matrosen und Sklaven sind gestorben wie die Fliegen.«
Ike schluckte. »Und das andere Schiff?«
»Kenne ich nicht, kann also nicht aus Bristol sein«, antwortete Richard. »Am Heck ist bestimmt eine Bronzetafel angebracht, wir müssten sie nachher sehen können. Wir kommen nämlich auf die Alexander
Das andere Schiff hieß Lady Penrhyn.
»Aus Liverpool und speziell für den Sklaventransport gebaut«, erklärte Aaron Davis, einer der Neuankömmlinge aus Bristol. »Sieht nagelneu aus. Schöne Jungfernfahrt! Lord Penrhyn muss das Wasser bis zum Hals stehen.«
»Ich sehe niemand an Bord gehen«, meinte Bill Whiting.
»Keine Sorge, die wird schon noch voll«, sagte Richard.
 
Sie mussten mit ihren Habseligkeiten eine vier Meter hohe Strickleiter erklimmen, die mittschiffs zu einer Pforte im Schanzkleid führte. Die Gruppe vor ihnen brauchte keine Kisten zu schleppen, doch selbst als ihre Ketten sich in den Sprossen verhedderten, steckte niemand den Kopf durch die Öffnung über ihnen, um zu helfen.
Zum Glück lief die Kette, die sie miteinander verband, frei durch die Ringe. So konnten sie den Abstand zum Vorder- und Hintermann nach Bedarf vergrößern oder verkleinern. »Rückt zusammen und gebt mir die gesamte Kette«, sagte Richard, als sie an die Reihe kamen. Er warf seine beiden Säcke hinauf, klemmte seine Kiste zwischen die Handfesseln und erklomm rasch die wenigen Meter, ehe einer von denen, die bereits oben waren, auf die Idee kam, ihm einen Sack zu klauen. An Deck angekommen, sammelte er seine Sachen ein und nahm die Kisten entgegen, die ihm die Gefährten heraufreichten.
Die beiden Langboote und die Jolle der Alexander waren ins Wasser abgefiert worden, um Platz zu schaffen. Richard führte seine drei Gruppen auf die Seite. An Deck herrschte ein heilloses Durcheinander. Gruppen von rotberockten Seesoldaten standen mit finsteren Mienen herum, zwei Offiziere mit Schärpen und zwei Unteroffiziere bewachten eine auf der Achterdeckreling montierte Drehbasse, und zahlreiche Matrosen hingen in den Wanten und hockten auf Aufbauten wie Schaulustige bei einem Boxkampf auf freiem Feld.
»Und was jetzt?« Leider war niemand da, den man fragen konnte. Richard sah zu, wie das Durcheinander immer größer wurde. Lange bevor alle elf Sträflingsgruppen an Bord waren, ähnelte das Deck einer Menagerie - ein Eindruck, der durch dutzende von Ziegen, Schafen, Schweinen, Gänsen und Enten noch verstärkt wurde, die, von einem Dutzend hechelnder Hunde verfolgt, überall herumrannten. Richard fühlte sich beobachtet. Als er den Kopf hob, erblickte er eine große orangefarbene Katze, einen Kater, der bequem auf einer Spiere lag und mit einem Ausdruck spöttischer Langeweile zu ihm heruntersah. Von ihren Wärtern war keiner zu sehen. Sie waren für die Sträflinge nicht mehr verantwortlich und deshalb auf der Ceres geblieben.
»Soldaten«, flüsterte Billy Earl aus dem ländlichen Wiltshire.
»Seesoldaten«, verbesserte Neddy Perrott. »Ihre Uniformaufschläge sind weiß. Beim Heer haben sie gelbe Aufschläge.«
Ein Offizier der Marineinfanterie stieg zackig vom Achterdeck herab und blickte mit boshaften, blassblauen Augen in die Runde. »Ich bin Oberleutnant James Shairp«, bellte er. »55. Kompanie, Portsmouth! Die Gefangenen unterstehen meinem Kommando. Wir haben die Aufgabe, euch zu verpflegen und dafür zu sorgen, dass ihr keinen Ärger macht. Ihr tut, was man euch sagt, und redet nur, wenn ihr gefragt werdet.« Er deutete auf eine gähnende Luke hinter dem Großmast. »Ihr nehmt euren Plunder und steigt gruppenweise da runter. Sergeant Knight und Corporal Flannery werden vorausgehen und euch zeigen, wo ihr untergebracht seid, aber vorher möchte ich noch ein paar Dinge klarstellen. Ihr nehmt die Kojen, die der Sergeant euch zuweist. Plätzetauschen ist nicht erlaubt. Wir lassen jeden Tag durchzählen, mit Namen und Nummer. Jedem Mann steht ein halber Meter zu, nicht mehr und nicht weniger - wir müssen auf engstem Raum 210 Mann unterbringen. Wer Streit mit Mithäftlingen anfängt, bekommt die Peitsche. Wer Verpflegungsrationen stiehlt, bekommt die Peitsche. Wer aufbegehrt, bekommt die Peitsche. Wer unverschämt wird, bekommt die Peitsche. Corporal Sampson ist der Auspeitscher der Kompanie und stolz auf seine Arbeit. Wer sich hinlegen will, und mehr werdet ihr nicht tun können, sollte sich einen blutigen Rücken ersparen. Und jetzt Abmarsch.« Shairp machte auf dem Absatz kehrt und stapfte zu der Drehbasse auf dem Achterdeck zurück.
Schotten unter den Sträflingen waren selten. Shairp dagegen war, seinem Akzent nach zu schließen, Schotte, wie auch die meisten anderen Offiziere der Seesoldaten.
Sergeant Knight und Corporal Flannery verschwanden in der Luke, doch die Sträflinge zögerten noch. Dann nickte Richard entschlossen seinen drei Gruppen zu und trat an die zwei Meter breite Öffnung im Oberdeck. Gott stehe uns bei! Er reichte dem hinter ihm stehenden Bill Whiting seine Kiste, warf seine beiden Säcke in die Luke und spähte hinein. Vier Fuß unter ihm stand ein schmaler Holztisch. Richard hockte sich auf den Lukenrand und glitt vorsichtig auf den Tisch, ließ sich die Kiste heruntergeben und wartete, bis die Kette so viel Spiel hatte, dass Bill ihm folgen konnte. Als alle sechs unten waren, stiegen sie von dem Tisch auf eine Bank und von dort auf den Fußboden. Sie fanden sich in einem schmalen Gang wieder, den ein weiterer Tisch mit Bänken begrenzte. Das Mobiliar war offenbar am Fußboden festgeschraubt, denn es bewegte sich keinen Millimeter, wenn sie dagegen stießen.
»Hier rüber!«, bellte der Sergeant.
Sie gehorchten und traten in einen weiteren Gang, der etwa sechs Fuß breit war. Sie befanden sich auf der linken, der Backbordseite, und spähten nach vorn in die Dunkelheit. Entlang der Bordwand waren Bettkästen angebracht, ähnlich wie auf der Ceres, nur dass sie zweistöckig waren. Die Kästen ruhten auf Pfosten, passten sich der geschwungenen Form des Rumpfes an und machten einen ziemlich stabilen Eindruck. Niemand würde sie in einem Tobsuchtsanfall zerlegen. Sie waren jeweils zehn Fuß lang. Die obere Etage lag etwas mehr als zwei Fuß unter dem Oberdeck, die untere wenig mehr als zwei über dem Fußboden, und die lichte Höhe zwischen den Etagen betrug ebenfalls gut zwei Fuß. Da zwischen den Decksbalken sogar Ike Rogers bequem aufrecht stehen konnte, schätzte Richard die Höhe des Zwischendecks auf annähernd sieben Fuß. Seine Kopffreiheit im Stehen betrug einen halben Zoll.
»Das sind eure Kojen«, sagte der Sergeant, ein abstoßender Kerl. Wenn er grinste, waren seine verfaulten Zähne zu sehen - die Zähne eines Mannes, der gern und kräftig dem Rum zusprach. »Erste Gruppe nach oben, erste Koje am Achterschott. Ich brauche eure Namen und Nummern. Corporal Flannery ist Ire und schreibt mit. Los!«
»Richard Morgan, Nummer 203«, rief Richard. Er stellte einen Fuß auf die untere Pritsche und stemmte sich mit seinem Gepäck nach oben. Die anderen fünf folgten. Ikes Gruppe bekam die obere »Koje« daneben zugewiesen, abgeteilt durch eine dünne Trennwand. Stanley, Mikey Dennison und die vier Nachzügler aus Bristol bezogen die Koje unter ihnen, die Koje unter Ike belegten die sechs Nordlichter, darunter William Dring und Joe Robinson, die beiden Matrosen aus Hull.
»Gemütlich«, gluckste Bill Whiting. »Ich wollte schon immer mal mit dir zusammen schlafen, Richard, Schätzchen.«
»Halt den Mund, Bill! An Deck gibt es jede Menge Schafe!«
Sechs Männer quetschten sich in eine Koje, die zehn Fuß breit, sechs Fuß tief und etwas mehr als zwei Fuß hoch war. Außer liegen konnte man hier nur zusammengekrümmt sitzen. Wie bucklige Zwerge saßen sie da und kämpften gegen die bleierne Verzweiflung an. Ihre Kisten und Säcke nahmen Platz weg, Platz, der ihnen fehlte. Jimmy Price begann zu weinen, und in der Nachbarkoje jammerten Joey Long und Willy Wilton. Mein Gott, was sollten sie tun?
An der Steuerbordwand, drei Tische und sechs Bänke von ihnen entfernt, waren ebenfalls zweistöckige Verschläge angebracht. Sonst konnten sie kaum etwas erkennen, so sehr sie sich auch die Hälse verrenkten und in die Dunkelheit spähten. Unablässig sprangen Männer in Ketten auf den mittleren Tisch herab, wurden in den Gang getrieben und in eine Koje gepfercht. Als sechs der elf Gruppen auf der Backbordseite untergebracht waren, schickte Sergeant Knight die Männer nach Steuerbord. Auch dort wurden die Kojen vom Achterschott nach vorn aufgefüllt - oben, oben, unten, unten.
Richard beherrschte sich mühsam. Wenn er sich gehen ließ, würden alle zu heulen anfangen, und das konnte er nicht ertragen. »Gut«, sagte er forsch, »mal sehen, wo wir unsere Kisten unterbringen. Fürs Erste stapeln wir sie an der Bordwand, dann haben wir so viel Platz, dass wir dazwischen unsere Füße ausstrecken können. Ein Glück, dass wir die festen Gegenstände in die Kisten getan und Kleider und Lappen in Säcke gestopft haben. Die können wir jetzt als Kopfkissen benutzen.« Er befühlte die grobe Matte, auf der sie saßen, und erschauderte. »Decken haben wir nicht, aber wir können uns ja warm anziehen. Jimmy, hör bitte auf zu heulen! Tränen helfen uns nicht weiter.« Er beäugte den Querbalken, an dem die Trennwand zwischen ihrer und Ikes Koje befestigt war. »Wir müssen uns einen Schraubenzieher und Haken besorgen, dann können wir an dem Balken Sachen aufhängen. Nur Mut, es wird schon werden.«
»Ich möchte mit dem Kopf an der Wand schlafen«, schniefte Jimmy.
»Kommt nicht in Frage«, blaffte Will Connelly. »Wir legen uns so hin, dass wir beim Kotzen den Kopf über den Rand strecken können. Vergiss nicht, wir stechen in See, und eine Zeit lang werden wir ganz gehörig kotzen.«
Bill Whiting lachte gequält. »Da haben wir ja noch mal Glück gehabt. Wir kotzen auf die da unten, aber sie können nicht zu uns heraufkotzen.«
»Gut beobachtet«, sagte Neddy Perrott und steckte den Kopf hinaus. »He, Tommy Crowder!«
Crowders Kopf erschien. »Was gibt’s?«
»Wir kotzen auf euch runter.«
»Nur zu, dann lernt ihr mich kennen.«
»Seht doch«, rief Richard dazwischen, »an dem Balken ist Platz bis rüber zu den Steuerbordkojen. Vielleicht können wir auf jeder Seite eine Art Regal anbringen und Sachen darin verstauen, vielleicht sogar unsere Kisten, auf jeden Fall aber die Büchersäcke und die Filtersteine, die wir in Reserve haben. Dieser Sergeant Knight sieht mir ganz so aus, als wäre er einer Sonderration Rum nicht abgeneigt. Vielleicht können wir ihn dazu überreden, ein paar Planken, Bretter und Taue zu besorgen. Es wird schon werden, Jungs.«
»Du hast Recht, Richard«, meinte Ike und lugte um die Trennwand. »Es wird schon werden. Besser hier als am Galgen.«
»Genau, der Henkersstrick ist das Ende, aber das hier wird nicht ewig dauern«, sagte Richard, froh, dass Ike und seine Jungs auf ihn hörten.
 
Nur durch die offene Luke im Oberdeck drang etwas Licht in das dunkle Gefängnis, und es stank fürchterlich nach verrottetem Fisch, faulem Fleisch und Exkrementen. Stunden verstrichen, wie viele, vermochte niemand zu sagen. Dann wurde die Luke mit einer Gräting aus Eisen verschlossen, die noch weniger Licht durchließ, und am vorderen Ende des Raums wurde eine Luke geöffnet. Doch auch diese zusätzliche Lichtquelle klärte sie nicht über die genaue Beschaffenheit des Gefängnisses auf. Weitere Sträflinge strömten herein. Viele weinten, ein paar schrien, wurden aber augenblicklich zum Schweigen gebracht, wie und von wem, konnten Richard und seine Kameraden nicht erkennen. Aber sie spürten, dass die anderen dasselbe empfanden wie sie.
»Mein Gott«, rief Will Connelly verzweifelt. »Hier kann man nicht mal lesen! Ich werde verrückt!«
»Unsinn«, sagte Richard streng. »Wenn wir uns eingewöhnt und unsere Sachen vernünftig verstaut haben, überlegen wir, wie wir uns die Zeit vertreiben können. Wir haben ja noch unsere Stimmen. Taffy und ich können singen, und andere bestimmt auch. Wir stellen einen Chor zusammen. Und wir können uns gegenseitig Rätsel aufgeben oder Geschichten und Witze erzählen.« Er hatte mit seinen Männern die Plätze getauscht, sodass er an der Trennwand zu Ikes Koje saß. »Hört mir zu, alle, die mich hören können! Wir werden lernen, uns die Zeit mit Dingen zu vertreiben, an die wir bisher nicht im Traum gedacht haben. Hier wird keiner durchdrehen. Wir werden uns an den Gestank und die Dunkelheit gewöhnen. Wenn wir überschnappen, haben die anderen gewonnen, und das darf nicht sein. Wir lassen uns nicht unterkriegen!«
Lange Zeit sprach niemand ein Wort, doch es weinte auch keiner mehr. Sie werden es schaffen, dachte Richard. Sie werden es schaffen.
Zwei Seesoldaten kamen von der vorderen Luke nach achtern und nahmen den Häftlingen die Eisengürtel und die Kette ab, die sie miteinander verband, nicht aber die Handschellen. Sobald Richard sich frei bewegen konnte, glitt er von der Pritsche und suchte nach den Nachttöpfen. Wie viele waren da? Wie oft wurden sie geleert?
»Sie stehen unter der Pritsche«, sagte Thomas Crowder. »Jeweils einer für sechs Mann. Was sind das nur für Verschläge, in denen wir hier hausen müssen. Prokrustes wäre auf eine solche Erfindung stolz gewesen!«
»Du bist ja gebildet«, sagte Richard, hockte sich auf die Kante der unteren Pritsche und streckte stöhnend die Beine aus.
»Ja. Aaron auch. Er ist aus Bristol, ich nicht. Ich wurde nur in Bristol geschnappt, als ich von der Mercury geflohen bin. Ich hab dort ein paar Dinger gedreht. Unser Komplize - Aaron war auch dabei - hat uns verpfiffen. Wir wollten ein paar Leute schmieren, und in London hätte das wohl auch geklappt, in Bristol leider nicht. Zu viele Quäker und andere Moralapostel.«
»Du bist aus London?«
»Und du aus Bristol, wie ich aus deinem Akzent schließe. Connelly, Perrott, Wilton und Hollister kenne ich, aber dich habe ich im Bristol Newgate nie gesehen, Kamerad.«
»Ich heiße Richard Morgan. Ich stamme aus Bristol, bin aber in Gloucester abgeurteilt worden.«
»Ich habe gehört, was du vorhin gesagt hast, von wegen, dass wir uns irgendwie beschäftigen müssen. Wir sind dabei, wenn wir nur genug Licht zum Kartenspielen haben.« Crowder seufzte. »Und ich dachte, die Mercury sei eine Höllenfähre! Wir werden auf der Alexander eine schlimme Zeit durchmachen, Richard!«
»Hast du etwas anderes erwartet? Diese Kähne wurden für den Sklaventransport gebaut, und man hat uns genauso eng zusammengepfercht wie Sklaven. Der einzige Unterschied ist, dass wir die drei langen Tische haben und deshalb wohl im Sitzen essen dürfen.«
Crowder rümpfte die Nase. »Marinefraß!«
»Was erwartest du denn? Eine gepflegte Küche wie im Bush Inn?« Richard kletterte wieder nach oben, berichtete von den Nachttöpfen und holte die Filtersteine hervor. »Wir müssen das Wasser hier unbedingt filtern, aber dafür brauchen wir nicht zu befürchten, dass uns jemand den Platz streitig macht oder Sachen stiehlt.« Er lächelte, und seine weißen Zähne blitzten. »Du hast übrigens Recht gehabt, was Crowder und Davis angeht, Neddy. Richtige Schlingel.«
Zwei Seesoldaten mit verdrossenen Gesichtern begannen, im Schein von Laternen Näpfe auszuteilen. Obwohl die Tische vierzig Fuß lang waren, waren die sechs schmalen Bänke voll besetzt. Richard zählte die Köpfe und kam zu dem Ergebnis, dass die Alexander an diesem 6. Januar 1787 ungefähr 180 Männer an Bord genommen hatte, 30 weniger, als Leutnant Shairp an Deck verkündet hatte. Und nicht alle kamen von der Ceres. Einige stammten von der Censor und noch mehr von der Justitia. Die Sträflinge von der Justitia konnten sich allerdings nicht alle an die Tische schleppen. Unter ihnen grassierte eine Krankheit, die sich durch leichtes Fieber und Gliederschmerzen äußerte. Wenigstens hatten sie nicht das Fleckfieber. Obwohl es natürlich auch Fälle von Fleckfieber gab, denn die gab es immer.
Jeder Mann erhielt einen Holznapf, einen Zinnlöffel und einen Zinnbecher, der reichlich zwei Quart fasste, die Tagesration Wasser für jeden. Zu essen gab es steinhartes, dunkles Brot und ein kleines Stück gepökeltes Rindfleisch. Wer schlechte Zähne hatte, war schlimm dran und musste versuchen, das Brot mit dem Löffel zu zerkleinern.
Es hatte gewisse Vorteile, dass ihre Kojen so nahe an der Achterluke lagen. Richard beschloss, die Peitsche zu riskieren. Er stand auf und bot den beiden jungen Seesoldaten, die mit ihrer Aufgabe offensichtlich überfordert waren, seine Hilfe an.
»Kann ich euch helfen?«, fragte er mit respektvollem Lächeln. »Ich war früher Schankwirt.«
Das mürrische Gesicht des einen, der ihm näher stand, wirkte zunächst verdutzt, dann hellte es sich auf. »Da sagen wir nicht Nein. Zwei Leute sind nicht genug, um zweihundert Männer zu füttern, so viel steht fest.«
Richard verteilte eine Zeit lang schweigend Näpfe und Becher, und bald arbeiteten er, der junge Seesoldat, den er angesprochen hatte, und dessen ebenso junger Kamerad einander gut zu. »Ihr Seesoldaten wirkt so unzufrieden«, sagte er leise. »Warum eigentlich?«
»Wegen unserer Quartiere - sie liegen noch unter euren und sind fast genauso überfüllt. Und die Verpflegung ist auch nicht besser. Schiffszwieback und Pökelfleisch. Der einzige Unterschied ist, dass wir Mehl und ein halbes Pint trinkbaren Rum kriegen.«
»Aber ihr seid doch keine Sträflinge!«
»Auf diesem Schiff«, knurrte der andere, »macht man zwischen Sträflingen und Seesoldaten keinen großen Unterschied. Die Matrosen sind da untergebracht, wo eigentlich wir sein sollten. Tageslicht und Frischluft bekommen wir nur durch eine Luke im Fußboden ihres Quartiers - die Matrosen schlafen hinter dem Schott da im Zwischendeck, und wir darunter im Laderaum. Die Alexander ist angeblich ein Zweidecker, nur hat man verschwiegen, dass das zweite Deck als Laderaum genutzt wird, weil die Alexander keinen Laderaum im eigentlichen Sinn hat.«
»Sie ist ein Sklavenschiff«, erwiderte Richard, »deshalb braucht sie keinen richtigen Laderaum. Der Kapitän verstaut die Fracht normalerweise im Orlopdeck und die Sklaven hier, wo wir jetzt sind. Die Matrosen schlafen im Achterschiff. Das Achterdeck ist dem Kapitän vorbehalten.« Sein Blick wurde neugierig. »Ich nehme an, er hat eure Offiziere im Achterdeck einquartiert.«
»Ja, aber in einem winzigen Kabuff«, erwiderte derjenige, der Pökelfleisch und Brot austeilte. »Sie dürfen seine Kombüse nicht benützen, deshalb müssen sie mit uns essen. Sie dürfen nicht einmal in die große Kajüte - die hat er für sich und seinen Ersten Offizier reserviert. So etwas habe ich noch nie erlebt. Aber ich bin auch noch nie auf einem Schiff gefahren, das nicht der Marine gehört.«
»Dann rutscht ihr ja unter die Wasserlinie, wenn erst mal die Fracht an Bord ist«, sagte Richard nachdenklich. »Und die Alexander wird eine Menge Fracht transportieren. Für eine zweimonatige Etappe dürfte sie allein schon zwanzigtausend Gallonen Trinkwasser bunkern.«
»Für einen Schankwirt kennst du dich aber gut mit Schiffen aus«, sagte der Bursche, der Wasser ausgab.
»Ich stamme aus Bristol, dort dreht sich alles um Schiffe. Ich heiße übrigens Richard. Darf ich eure Namen erfahren?«
»Ich heiße Davy Evans, und das ist Tommy Green«, antwortete der Wasserschöpfer. »Im Moment können wir an unserer Situation nicht viel ändern, aber nächste Woche kommen wir nach Portsmouth, und dann wird Major Ross Captain Duncan Sinclair den Marsch blasen.«
»Ach ja, der Vizegouverneur und Kommandeur der Seesoldaten.«
»Woher weißt du das?«
»Von einem Freund.«
Später, als Richard sein Wasser filterte, dachte er über die Antworten nach, die er auf seine Fragen bekommen hatte. Die Schiffseigner, die sich den Auftrag geangelt hatten, hatten ein paar Details bezüglich der Alexander verschwiegen und beschlossen, den Umstand zu ignorieren, dass sie neben den Sträflingen auch Seesoldaten unterbringen mussten. Diese jungen Burschen hatten Recht - die Eigner machten zwischen Seesoldaten und Sträflingen keinen Unterschied. Nächste Woche segelten sie also nach Portsmouth, und der Kapitän hieß Duncan Sinclair und war demnach mit Sicherheit ebenso Schotte wie Robert Ross, der Befehlshaber der Seesoldaten. Dass die beiden sich streiten würden, war abzusehen.
 
Weder in dieser noch in den beiden darauf folgenden Wochen segelte die Alexander nach Portsmouth. Erst am 10. Februar nahm sie unter dem Gestöhn und Gewimmer derer, die seekrank zu werden fürchteten, Fahrt auf. Doch sie lief lediglich bis Tilbury, und auch das nur im Schlepp eines Tenders, sie blieb also in den geschützten Gewässern der Themse und geriet kaum einmal ins Schaukeln.
Mittlerweile befanden sich 190 Sträflinge an Bord, obwohl ein paar gestorben waren. Leutnant Shairp hatte in dem Bemühen, die unbekannte Krankheit einzudämmen, die oberen Etagen einiger Verschläge in der Mitte des Raums herunternehmen und hinter den Tischen als Pritschen für die Kranken aufstellen lassen.
Die Männer murrten, weil sie noch immer Handfesseln tragen mussten, doch Sergeant Knight, der sich bei der Beschaffung von Brettern, Stützen und anderen nützlichen Dingen gegen ein Trinkgeld sehr kooperativ zeigte - Richards Männer waren beileibe nicht die Einzigen, die den Durst des Sergeants zu nutzen wussten -, lehnte es ab, ihnen die lästigen Eisen abzunehmen. Jedenfalls bis zu jenem Tag, an dem einer der Sträflinge begnadigt und freigelassen wurde und die Übrigen ihrem Unmut durch Klopfen, Brüllen und Hämmern Luft machten. Es war zum Verrücktwerden. Als die beiden Seesoldaten wieder herunterkamen, um die Essens- und Wasserrationen zu verteilen, montierten ihre Kameraden die Drehbasse am Lukenrand und nahmen mit Musketen um das Loch Aufstellung. Dabei wurde ihnen klar, wie wenig sie waren, um 190 aufgebrachte Männer in Schach zu halten.
Duncan Sinclair ließ daraufhin den Sträflingen die Handschellen abnehmen und erteilte ihnen die Erlaubnis, sich jeden Tag ein paar Minuten in Zwölfergruppen an Deck die Beine zu vertreten. Da er jedoch für jeden entflohenen Sträfling 40 Pfund aus der eigenen Tasche bezahlen musste, ließ er Beiboote mit Seesoldaten und einigen Matrosen bemannen und ständig um die Alexander herumpullen.
Die wenigen Minuten an Deck gehörten zum Schönsten, was Richard jemals erlebt hatte. Die Fesseln kamen ihm federleicht vor, die kühle Luft roch süßer als Veilchen und Goldlack, der angeschwollene Fluss erschien ihm wie ein Band aus flüssigem Silber, und der Anblick der Tiere, die auf dem Deck herumtollten, war ein lustvolleres Vergnügen, als mit Annemarie Latour zu schlafen. Anscheinend besaß mindestens die Hälfte der Seesoldaten und auch ein Teil der Mannschaft einen Hund. Richard sah Jagdhunde, Bulldoggen, Spaniels, Terrier und jede Menge Bastarde. Der große orangefarbene Kater hatte mit einer Schildpattkatze sechs Junge gezeugt, und auch die meisten Schafe und Schweine waren trächtig. Enten und Gänse watschelten umher, und nur die Hühner waren neben der Mannschaftskombüse in einen Stall gesperrt.
Nach dem ersten Spaziergang fand Richard den Gefängnismief etwas erträglicher, und den anderen ging es ähnlich. Der Aufruhr war in dem Augenblick vorbei, als die Handfesseln fielen und die Gefangenen an Deck gehen durften.
Beim dritten Spaziergang bekam Richard endlich Captain Sinclair zu Gesicht. Ein selten fetter Kerl! Richard glaubte nicht richtig zu sehen. Wie konnte der Mann eigentlich pinkeln, wo er doch mit den Armen unmöglich seinen Hosenstall erreichte? Klirrend schlurfte Richard unter dem Achterdeck vorbei, auf dem Captain Sinclair stand.
Eine Sekunde lang blickte er in zwei verschlagene, graue Augen. Er senkte ehrerbietig den Kopf und ging weiter. Der Mann ist zwar dick, dachte Richard, aber nicht zu unterschätzen. Er mag faul und träge sein, aber wenn es hart auf hart geht, steht er gewiss seinen Mann. Er und Major Ross werden in Portsmouth sicher aneinander geraten, wenn es darum geht, wo die Seesoldaten künftig ihre Hängematten aufzurren dürfen. Schade, dass ich den Auftritt nicht miterleben darf, wenngleich ich das Ergebnis natürlich erfahren werde. Davy Evans und Tommy Green werden es mir brühwarm erzählen.
Ende Januar drehten zwei weitere Schiffe vor Tilbury Fort bei, ein großes Linienschiff 6. Ranges und eine schmucke Slup. Beim nächsten Ausflug an Deck trat Richard sofort an die Bugreling und sah sich die beiden Fahrzeuge an, deren Ankunft sich im Gefängnis bereits herumgesprochen hatte. Richard und seine fünf Gefährten hatten vereinbart, sich an Deck zu trennen, um die kurze Zeitspanne dazu zu nutzen, sich von der ständigen Nähe der anderen zu erholen. Da Fluchtversuche bislang ausgeblieben waren, nahmen es die Seesoldaten mit der Bewachung nicht mehr ganz so genau und ließen die Gefangenen in Ruhe, solange sie manierlich ihre Runden drehten. Richard stand also allein an der Reling und blickte übers Wasser, nicht ahnend, dass er den scharfen Augen eines Besatzungsmitglieds aufgefallen war.
»Das ist die Eskorte, die uns zur Botany Bay begleiten wird«, sagte eine Stimme neben ihm, eine angenehme, sympathische Stimme. Richard wandte den Kopf und erblickte den Mann, der, wie er sich hatte sagen lassen, den Posten des vierten Maats bekleidete. Er war groß und schlank, sah gut aus, für den Geschmack des einen oder anderen vielleicht zu feminin, und hatte dunkle Haare, fröhliche blaue Augen und tiefschwarze Wimpern.
»Stephen Donovan aus Belfast«, stellte er sich vor.
»Richard Morgan aus Bristol.« Richard trat ein wenig zurück, damit nicht der Eindruck zu großer Vertraulichkeit entstand, und lächelte. »Was können Sie mir über die Schiffe sagen, Mr Donovan?«
»Das große ist die Berwick, ein ehemaliges Versorgungsschiff der Marine. Sie wurde frisch überholt und zu einer Art Linienschiff umgebaut. Sie heißt jetzt Sirius, nach einem südlichen Stern der ersten Klasse. Sie ist mit sechs Karronaden und vier Sechspfündern bestückt, obgleich ich gehört habe, dass Gouverneur Phillip unbedingt vierzehn Sechspfünder haben will. Und ich kann es ihm nachfühlen, wenn ich daran denke, dass die Alexander über vier Zwölfpfünder und eine Drehbasse verfügt.«
»Die Alexander«, sagte Richard vorsichtig, »ist nicht nur ein Sklavenschiff aus Bristol. Sie war früher ein Freibeuter mit sechzehn Zwölfpfündern. Selbst mit vier Zwölfpfündern ist sie fast jedem Schiff überlegen, das sie aufzubringen versucht, sofern es sie überhaupt einholt. Bei günstigem Wind macht sie annähernd zweihundert Seemeilen am Tag.«
»Ich mag Männer aus Bristol«, sagte Mr Donovan. »Sind Sie Seemann?«
»Nein, Gastwirt.«
Die leuchtend blauen Augen ruhten geradezu zärtlich auf Richards Gesicht. »Sie sehen mir aber gar nicht wie ein Gastwirt aus.«
»Es liegt in der Familie«, sagte Richard. »Mein Vater ist auch Wirt.«
»Ich kenne Bristol. Welches Wirtshaus?«
»Das Cooper’s Arms in der Broad Street. Mein Vater führt es noch.«
»Und sein Sohn wird als Sträfling in die Botany Bay verbannt. Ich frage mich, warum. Sie sehen mir nicht wie ein Trinker aus und sind obendrein ein gebildeter Mensch. Sind Sie sicher, dass Sie ein gewöhnlicher Wirt sind?«
»Aber ja. Doch erzählen Sie mir mehr über die beiden Schiffe.«
»Die Sirius verdrängt knapp sechshundert Tonnen und hat die meisten Leute an Bord - Ehefrauen von Seeleuten und so weiter. Sie hat einen eigenen Kapitän, einen gewissen John Hunter, der sie im Augenblick allein befehligt. Phillip weilt in London und verhandelt mit dem Innenministerium und dem Hof von St. James. Wie ich höre, hat der Bordarzt einen Doktor der Musik zum Vater und ein eigenes Pianoforte mit an Bord gebracht. Ja, sie ist ein gutes altes Mädchen, die Sirius, aber nicht die Schnellste.«
»Und die Slup?«
»Die Supply ist fast dreißig Jahre alt, ein betagtes Mädchen, das gewissermaßen schon die Letzte Ölung bekommen hat. Ihr Kommandant ist Leutnant Harry Ball. Der Supply steht eine schwierige Fahrt bevor - sie ist noch nie über Plymouth hinausgekommen.«
»Haben Sie vielen Dank für die Auskünfte, Mr Donovan.« Richard grüßte nach Marineart und schlurfte davon.
Ein Mann, der gern zur See fährt, aber nie mehr als zwei Fahrten auf demselben Schiff macht, dachte Richard. Ein Mann, der mit der See verheiratet ist.
Zurück im dunklen Gefängnis, berichtete Richard den anderen von der militärischen Eskorte. »Deshalb vermute ich, dass es jeden Tag losgehen kann, zumindest bis nach Plymouth.«
Auch Ike Rogers konnte mit einer Neuigkeit aufwarten. »In der Botany Bay bekommen wir Frauen«, sagte er mit großer Genugtuung. »Die Lady Penrhyn befördert nur Frauen - hundert Stück, heißt es.«
»Eine halbe für jeden Mann von der Alexander«, sagte Bill Whiting. »Bei meinem Pech kriege ich bestimmt die Hälfte, die sprechen kann. Da halte ich mich doch lieber an die Schafe.«
»In Plymouth sollen noch mehr Frauen aus Dünkirchen dazukommen.«
»Und noch mehr Schafe und Kälber, was, Taffy?«
 
Am ersten Februartag setzten die vier Schiffe endlich Segel. Bei ruhiger Fahrt legten sie die sechzig Seemeilen nach Margate Sands in vier Tagen zurück. Noch ehe sie North Foreland umrundet und die Straße von Dover erreicht hatten, wurden die ersten Männer seekrank. In Richards Koje waren alle wohlauf, doch kaum bekam die Alexander leichte Querseen, lag auch Ike Rogers flach. Als sie einige Stunden später vor Margate Anker warfen, fühlte er sich sterbenselend.
»Merkwürdig«, sagte Richard, als er ihm gefiltertes Wasser zu trinken gab. »Ich hätte nicht gedacht, dass die See einem Reiter so zusetzen kann. Im Sattel wird man doch auch durchgeschüttelt.«
»Rauf und runter, ja, aber nicht hin und her«, stöhnte Ike. Er war dankbar für das Wasser, denn etwas anderes konnte er nicht bei sich behalten. »Mein Gott, Richard, das überlebe ich nicht.«
»Unsinn! Das geht vorüber, irgendwann wirst du seefest.«
»Das bezweifele ich. Ich bin eben kein richtiger Bristoler.«
»In Bristol gibt es viele wie mich, die noch nie auf einem schwimmenden Schiff waren. Ich weiß nicht, wie es mir ergehen wird, wenn wir die offene See erreichen. Jetzt iss den Brei. Ich habe etwas Brot in Wasser eingeweicht. Er wird nicht wieder hochkommen, das verspreche ich dir.«
Doch Ike drehte den Kopf weg.
Neddy Perrott hatte mit Crowder und Davis in der unteren Etage eine Abmachung getroffen. Sowie sich oben einer erbrach, würde er einen Warnruf ausstoßen, und als Gegenleistung sollten William Stanley aus Seend und Mikey Dennison die Schweinerei aufwischen und die Nachttöpfe leeren. Am Achterschott stand ein 200-Gallonen-Fass mit Meerwasser zum Waschen und Putzen. Die Nachttöpfe mussten in die bleiverkleideten Springluken geleert werden. Sie liefen unter den Verschlägen am Rumpf entlang und führten in die Bilgen, die eigentlich jeden Tag leer gepumpt werden sollten. Doch wer etwas von Schiffen verstand wie Mikey Dennison schwor, dass die beiden Bilgepumpen der Alexander mit Abstand die miserabelsten waren, die er jemals erlebt hatte.
Den ganzen Januar über mussten sie mithilfe der leeren, mit Wasser aufgefüllten Nachttöpfe die Exkremente die Springluken hinunterspülen, sodass ihnen zum Waschen keine größeren Gefäße als ihre Trinkbecher blieben. Als Leutnant Shairp das Gefängnis inspizierte, war er über die Zustände dort so empört, dass er jeder Koje einen zusätzlichen Nachttopf nebst Schwabber und Scheuerbürsten bewilligte. Nun hatten die Gefangenen einen Nachttopf zum Verrichten der Notdurft und zum Putzen und einen zweiten, um sich und ihre Kleider zu waschen.
»Aber das ändert nichts am Zustand der Bilgen«, sagte Mikey Dennison. »Igitt-igitt!« Dring und Robinson aus Hall pflichteten ihm aus tiefster Seele bei.
Wenn es draußen hell war, stahlen sich ein paar schwache Lichtstrahlen durch die Gitter auf den Luken, doch die übrige Zeit verbrachten die 190 Sträflinge der Alexander in völliger Dunkelheit. Außerdem verbot ihnen Leutnant Shairp, das Oberdeck zu betreten, solange sie auf See waren. Nur die Fahrt sorgte für etwas Abwechslung. Die Alexander krängte in schwerer See, als sie Dover und Folkstone passierten, Dungeness umrundeten und in den Ärmelkanal einliefen. Einen Tag lang litt Richard unter Übelkeit. Er würgte sogar zweimal. Doch er erholte sich rasch wieder und fühlte sich alles in allem erstaunlich gut für einen Mann, der seit über einem Monat praktisch nur von Schiffszwieback und Pökelfleisch lebte. Bill und Jimmy litten am meisten, Will und Needy dagegen waren nur etwas blasser um die Nase als Richard. Und Taffy, der Waliser, geriet regelrecht in Verzückung, weil sie jetzt wenigstens Fahrt machten.
Ikes Zustand verschlimmerte sich zusehends. Die Gefährten und besonders Joey Long pflegten ihn aufopferungsvoll, aber nichts schien den entkräfteten Straßenräuber von der Seekrankheit kurieren zu können.
»Eastbourne liegt bereits achteraus, als Nächstes kommt Brighton«, sagte der Seesoldat Davy Evans in der dritten Woche auf See zu Richard.
Am 12. Februar starben die ersten Sträflinge an einer rätselhaften Krankheit, die niemand kannte.
Sie begann mit Fieber, laufender Nase und Taubheit auf einem Ohr, dann schwoll eine Kinnbacke an wie bei einem Kind, das Mumps hatte. Der Kranke konnte zwar ohne Beschwerden schlucken und atmen, doch die weiche Schwellung war sehr schmerzhaft. Irgendwann ging sie zurück, doch dafür schwoll jetzt die andere Seite an, und zwar noch dicker. Nach zwei Wochen klang auch die zweite Schwellung ab, und der Kranke wähnte sich schon auf dem Weg der Besserung, da schwollen seine Hoden auf das Vierfache der normalen Größe an und bereiteten ihm so unsägliche Schmerzen, dass er nur noch wimmernd dalag und sich nicht zu rühren wagte. Gleichzeitig stieg das Fieber wieder. Einige genasen etwa eine Woche später, die anderen starben einen qualvollen Tod.
Dann erreichten sie endlich Portsmouth! Am 22. Februar ankerten die vier Schiffe eine Bootsfahrt von der Küste entfernt in der Mother Bank. Mittlerweile hatte die heimtückische Krankheit auf die Seesoldaten übergegriffen und auch einen Matrosen niedergestreckt. Nach wie vor war unklar, um was es sich handelte - jedenfalls nicht um Fleckfieber, Typhus, Scharlach oder die Blattern. Schon ging das Gerücht, es sei der schwarze Tod - bekamen die Kranken nicht widerwärtige Beulen?
Drei Matrosen desertierten beim ersten Landgang, und die Seesoldaten gerieten so in Panik, dass Leutnant Shairp unverzüglich seine Vorgesetzten, Major Robert Ross und Oberleutnant John Johnstone von der in Plymouth stationierten 39. Marineinfanteriekompanie, aufsuchte. Drei Seesoldaten wurden ins Hospital eingeliefert, andere zeigten erste Symptome.
Am nächsten Tag kam Leutnant Johnstone, der ebenfalls Schotte war, in Begleitung eines Arztes aus Plymouth an Bord. Der Doktor warf einen Blick auf die Kranken, hielt sich ein Taschentuch vor die Nase und wich zurück. Die Krankheit sei bösartig und unheilbar, erklärte er und wies weitere Seesoldaten ins Krankenhaus ein. Er nahm das Wort »Pest« nicht in den Mund, doch gerade diese Unterlassung ließ keinen Zweifel an seiner heimlichen Diagnose. Er empfahl, Besatzung und Häftlinge mit frischem Fleisch und Gemüse zu verköstigen. Mehr könne er nicht tun.
Es ist wie im Gefängnis von Gloucester, dachte Richard. Wenn zu viele Menschen auf engstem Raum zusammenleben, bricht eine Krankheit aus und lichtet die Reihen.
»Uns wird nichts geschehen, wenn wir in dem Teil des Decks bleiben, den wir geschrubbt haben, wenn wir unsere Näpfe und Becher mit Teeröl auswischen, unser Wasser filtern und regelmäßig einen Löffel Malzextrakt einnehmen. Für mich steht fest, dass die Leute von der Justitia die Krankheit eingeschleppt haben, und die sind im Vorschiff untergebracht.«
Zum Abendessen bekamen sie wie gewöhnlich Hartbrot mit Rindfleisch, doch diesmal war das Fleisch frisch und nicht gepökelt, und als Beilage gab es Kohl und Lauch. Das Gemüse schmeckte wie Ambrosia.
Danach gerieten sie in Vergessenheit. Niemand wagte sich in ihre Nähe, nur zwei verängstigte junge Seesoldaten - Davy Evans und Tommy Green waren fort - brachten ihnen frisches Fleisch und Gemüse. Die Tage verstrichen in dumpf brütender Stille, nur unterbrochen vom Stöhnen der Kranken und gelegentlichen kurzen Gesprächen. Der Februar verging und der März schleppte sich dahin. Weitere Kranke starben und wurden einfach liegen gelassen.
Als endlich jemand die vordere Luke öffnete, geschah dies nicht, um die Leichen zu entfernen. Fünfundzwanzig neue Sträflinge wurden in das stinkende kalte Gefängnis getrieben.
»Himmeldonnerwetter«, fluchte die Stimme John Powers. »Sind die noch ganz bei Trost, diese Schwachköpfe? Hier unten ist alles krank, und die stopfen die Bude wieder voll! Herrgott noch mal!«
Ein interessanter Mann, dieser John Power, dachte Richard. Er sorgt vorn unter den schweren Jungs aus dem London Newgate für Ordnung. Jetzt gebietet er nicht nur über das Krankenrevier, sondern auch über eine neue Gruppe von Insassen. Armer Hund. Unsere Zahl war von 200 auf 185 geschrumpft, jetzt sind wir 210.
Bis zum 13. März starben weitere drei Männer. Auf den Pritschen des Krankenreviers lagen sechs Leichen, mehrere davon seit über einer Woche. Niemand kam herunter, um sie fortzuschaffen. Mittlerweile war es ein offenes Geheimnis, dass sie die Pest an Bord hatten. Am 13. März öffnete sich kurz nach Tagesanbruch die vordere Luke, und Seesoldaten mit Handschuhen und vermummten Gesichtern kamen herunter und trugen die sechs Leichen hinauf.
»Warum?«, fragte Will Connelly. »Nicht dass ich etwas dagegen hätte, Gott bewahre. Aber warum gerade jetzt?«
»Vermutlich steht uns hoher Besuch ins Haus«, sagte Richard. »Putzt euch heraus, Jungs, ihr müsst vor Gesundheit nur so strotzen.«
Und tatsächlich, kaum waren die Leichen fort, erschien Major Ross in Begleitung von Leutnant Johnstone, Leutnant Shairp und einem Fremden, der, nach seinem Auftreten zu urteilen, Arzt war. Ein schlanker Mann mit langer Nase und großen blauen Augen, dem eine hübsche blonde Locke in die blasse breite Stirn fiel. Sie brachten Laternen und eine Eskorte von zehn Seesoldaten mit, die sich in den Gängen auf der Backbord- und Steuerbordseite verteilten und aussahen wie Männer, die ins Verderben geschickt wurden - jung genug, um sich einschüchtern zu lassen, und alt genug, um zu wissen, was für ein Gespenst hier unten umging.
Weiches goldenes Licht erfüllte den Raum, und endlich sah Richard die Schreckenskammer in allen Einzelheiten. Die Kranken belegten inzwischen alle vierunddreißig Pritschen, die, abgetrennt von den anderen, in der Mitte des Raums vor den Tischen standen. Dahinter, in der Nähe des Bugs, wo der Vormast das Deck durchbohrte, befand sich ein Schott, das viel schmaler war als das hinter Richards Koje. Die zweistöckigen Bettkästen liefen ohne Unterbrechung rings um den ganzen Raum. So also stellen sie es an, dachte Richard! So schaffen sie es, 210 arme Teufel in einen Raum zu pferchen, der an der breitesten Stelle ganze 35 Fuß misst und keine 70 Fuß lang ist. Wir liegen hier wie Flaschen in einem Regal. Kein Wunder, wenn wir sterben. Im Vergleich hiermit ist Gloucester ein Paradies - dort kommt man wenigstens an die frische Luft und darf arbeiten. Hier gibt es nur Dunkelheit und Gestank, Untätigkeit und Wahnsinn. Unablässig predige ich meinen Leuten, dass wir durchhalten müssen, aber wie sollen wir hier überleben? Mein Gott, es ist zum Verzweifeln.
Alle drei Offiziere waren ihrem Akzent nach Schotten. Ross war ein mürrischer Rotblonder, schmächtig und mit einem nichts sagenden Gesicht bis auf den schmalen, energischen Mund und die kalten hellgrauen Augen.
Zunächst unternahm er, an Steuerbord beginnend, einen Rundgang durch das Gefängnis. Er ging gemessenen Schrittes wie bei einer Beerdigung und drehte den Kopf mit der Gleichmäßigkeit eines Uhrwerks von einer Seite auf die andere. Bei den Pritschen der Kranken blieb er stehen, nahm ohne jedes Anzeichen von Furcht die Kranken in Augenschein und tuschelte mit dem Arzt, der mehrfach energisch den Kopf schüttelte. Dann setzte er seine Runde fort, schritt an den Bettkästen am Vormast entlang und kam den Gang auf der Backbordseite wieder herunter.
Vor Dring und dem über ihm liegenden Issac Rogers blieb er abermals stehen, blickte zu Boden, winkte einem der Seesoldaten und befahl ihm, die Nachttöpfe hervorzuziehen. Sie waren geleert und ausgespült. Sein Blick fiel auf Ike, der zitterte, obwohl sein Kopf in Joey Longs Schoß lag.
»Dieser Mann ist krank«, sagte er mehr zu Johnstone als zum Doktor. »Lassen Sie ihn zu den anderen bringen.«
»Mit Verlaub, Sir«, sagte Richard, vor Schreck jede Vorsicht vergessend. »Es ist nicht so, wie Sie denken. Hier bei uns hat sich niemand angesteckt. Er ist nur halb tot vor Seekrankheit, das ist alles.«
Auf dem Gesicht des Majors mischten sich Entsetzen und Mitgefühl. Er ergriff Ikes Hand und drückte sie. »Ich weiß aus eigener Erfahrung, was du durchmachst. Da hilft nur eins: Schiffszwieback und Wasser.«
Ein Major der Marineinfanterie, der unter Seekrankheit litt!
Die hellgrauen Augen ruhten kurz auf Richard, wanderten weiter zu seinen Gefährten in den letzten beiden oberen Kojen, registrierten die kurz geschorenen Haare, die feuchten Kleider und Lappen auf den Leinen, die zwischen den Balken gespannt waren, die frisch rasierten Gesichter, die ihn mit einem gewissen Stolz anblickten, der nichts mit Aufsässigkeit zu tun hatte. »Bei euch ist alles sehr sauber«, sagte er und zupfte an der Matte. »Wirklich, sehr ordentlich.«
Niemand antwortete.
Major Ross drehte sich um und stieg unterhalb der Luke, durch die ein frischer Luftzug hereinwehte, auf die Bank. Er hatte keinerlei Ekel vor den übel riechenden Dünsten gezeigt, die durch das Gefängnis waberten, doch da oben fühlte er sich sichtlich wohler.
»Ich bin Major Robert Ross«, rief er mit Kasernenhofstimme, »Kommandeur der Marineinfanterie bei dieser Expedition und Vizegouverneur von Neusüdwales. Ich gebiete über euch und euer Leben. Gouverneur Phillip hat sich um andere Angelegenheiten zu kümmern. Für euch bin ich allein zuständig. Die Zustände auf diesem Schiff sind alles andere als zufrieden stellend. Männer sterben an Bord, und ich werde herausfinden, warum. Das ist Mr William Balmain, der Schiffsarzt der Alexander. Er tritt morgen seinen Dienst an. Leutnant Johnstone ist der befehlshabende Offizier an Bord, Leutnant Shairp sein Stellvertreter. Wie es scheint, habt ihr in den letzten zwei Monaten kaum frische Lebensmittel bekommen. Das wird sich ändern, solange das Schiff im Hafen liegt. Wir werden dieses Deck ausschwefeln, deshalb müssen wir einen Großteil von euch verlegen. Nur die zweiundsiebzig Mann am Achterschott bleiben an Bord und packen mit an.«
Er winkte den beiden Leutnants. Sie setzten sich zu seinen Füßen auf den Tisch und holten Papier, Tinte und Federkiel aus einer Schreibmappe, die Leutnant Shairp mitgebracht hatte. »Ich werde nun eine Zählung vornehmen«, rief der Major. »Wenn ich auf einen Mann deute, nennt er mir seinen Namen und den Namen des Gefangenenschiffs, von dem er kommt. Fangen wir an.« Er deutete auf Jimmy Price.
Die Prozedur zog sich in die Länge. Major Ross war ein gründlicher Mensch, doch seine beiden Helfer taten sich schwer. Schreiben war offensichtlich nicht ihre Stärke. Nach dem zwanzigsten Namen kletterte der Major vom Tisch und sah nach, was sie zu Papier gebracht hatten.
»Ihr Hornochsen! Analphabeten! Wollt ihr eure Beförderung in den Wind schreiben? Hohlköpfe! Idioten! Zu blöd, um in einem Bordell eine Hure zu finden!«
Puh, dachte Richard, was für ein jähzorniger Mensch! Er putzt seine jungen Offiziere ohne Bedenken vor den Sträflingen herunter.
Als die Seesoldaten wieder abzogen, war die Dunkelheit nur schwer zu ertragen. Ein Schleier hatte sich gelüftet und die ganze monströse Scheußlichkeit des Gefängnisses enthüllt, doch das goldene Licht war angenehm gewesen, und irgendwie hatte der Anblick der vielen Männer, die mit Eulenaugen in ihren Kojen hockten, das Grauen auf ein menschliches Maß gestutzt. Als die letzte Laterne fort war, wuchs es wieder. Es war Nacht geworden. Major Ross hatte ihnen frische Lebensmittel versprochen, doch dachte niemand daran, ihnen etwas zu essen zu bringen.
 
Das Ausschwefeln bestand darin, dass man in jedem Winkel unter dem Oberdeck Schwarzpulver zur Explosion brachte und dann rasch die Luken verschloss.
In der Frage, ob die an Bord zurückgebliebenen Sträflinge Handschellen tragen sollten oder nicht, gerieten Johnstone und Shairp aneinander. Johnstone setzte seinen Willen durch, und die Hände blieben frei. Der unterlegene Shairp stieg in die Jolle und besuchte einen Kameraden an Bord eines anderen Schiffes, das in die Botany Bay segeln sollte. Es waren inzwischen noch einige Schiffe dazugestoßen, eins davon fast so groß wie die Alexander.
»Das ist die Scarborough«, erklärte Stephen Donovan, der vierte Maat, und kraulte den orangefarbenen Kater auf seinem Arm. »Und das da drüben sind die Lady Penrhyn - Sie kennen sie - und noch die Prince of Wales, weil man auf den fünf Truppentransportern nicht alle untergebracht hat. Die Charlotte und die Friendship sind nach Plymouth gesegelt, um das Kontingent aus Dünkirchen zu holen.«
»Und die drei da drüben an der Küste, die gerade Fracht von den Leichtern übernehmen?«, fragte Richard. Er wandte den Kopf und schickte einen drohenden Blick in Richtung Bill Whiting, dem die relative Freiheit offenbar die Zunge löste und der drauf und dran war, einen Tuntenwitz zu reißen, der Stephen Donovan nicht sonderlich gefallen dürfte.
»Das sind die Versorgungsschiffe Borrowdale, Fishburn und Golden Grove. Wir nehmen so viele Vorräte an Bord, dass wir in der Botany Bay drei Jahre damit auskommen«, sagte Mr Donovan. Er sah Richard wieder zärtlich an.
»Und wie lange brauchen wir für die Fahrt in die Botany Bay nach Meinung der Admiralität?«, fragte Tommy Crowder.
Crowder war nicht nach Mr Donovans Geschmack, und so richtete er seine Antwort lieber an Richard Morgan, der ihn zutiefst faszinierte. Nicht so sehr wegen seines Äußeren, obwohl er zweifellos blendend aussah, sondern wegen seiner reservierten Art, weil er den Eindruck eines Mannes machte, der seine Gedanken gerne für sich behielt. Eine Führernatur, aber von einem ganz anderen Schlag als Johnny Power, der als Themse-Schiffer mit der Besatzung in gutem Einvernehmen stand.
»Nach Einschätzung der Admiralität vier bis sechs Monate«, antwortete Mr Donovan, ohne Crowder eines Blickes zu würdigen.
»Das wird nicht reichen«, sagte Richard.
»Ganz meine Meinung. Die Admiralität geht bei ihren Berechnungen immer davon aus, dass der Wind günstig steht, dass nie ein Mast bricht, nie eine Spiere über Bord geht, nie ein Segel zerreißt oder eine Gording lose wird.« Er kraulte die schnurrende Katze unterm Kinn.
»Haben Sie auch einen Hund?«, fragte Richard.
»Mistviecher. Rodney ist die Bordkatze der Alexander und nimmt es mit jedem Köter hier auf, deswegen legt sich keiner mit ihm an. Er ist nach Admiral Rodney benannt, unter dem ich in Westindien gedient habe. Dort haben wir vor Jamaika die Franzosen verprügelt.« Eine Bulldogge schlich um sie herum, und Donovan schürzte verächtlich die Lippen. Rodney folgte seinem Beispiel, und die Bulldogge suchte schleunigst das Weite. »Wir haben siebenundzwanzig Hunde an Bord, und alle gehören Seesoldaten. Die Spaniels und Terrier sind ja gar nicht so übel, sie jagen Ratten, aber die Jagdhunde sind bloßes Haifischfutter. Hunde gehen über Bord, Katzen nie.« Wie um seine Behauptung zu untermauern, küsste er Rodney auf den Kopf und setzte ihn auf die Reling. Unbeeindruckt vom Plätschern in der Tiefe, legte sich Rodney hin, zog die Vorderpfoten ein und schnurrte weiter.
»Wohin hat man eigentlich die anderen Sträflinge gebracht?«, fragte Will Connelly.
»Einige auf die Firm, andere auf die Fortunee, die Kranken in ein Hospital und den Rest auf den Leichter da drüben.« Donovan deutete übers Wasser.
»Für wie lange?«
»Für mindestens ein bis zwei Wochen, möchte ich meinen.«
»Aber auf dem Leichter werden die Männer erfrieren.«
»Keineswegs. Sie werden jeden Abend in Handschellen und aneinander gekettet in ein Lager an Land gebracht. Besser auf einem Leichter als auf einem Gefangenenschiff.«
 
Tags darauf kam William Balmain, der Schiffsarzt der Alexander, mit zwei Kollegen an Bord, offenkundig um nun, da die Kranken fort waren, das Schiff zu inspizieren. Der eine Kollege war John White, der ranghöchste Arzt der Expedition, wie Stephen Donovan den Sträflingen zuraunte, der andere der ihnen bereits bekannte Doktor aus Portsmouth, den Leutnant Shairp gleich nach dem Einlaufen der Alexander geholt hatte.
Da den Sträflingen noch keine Arbeit zugeteilt worden war, lungerten sie in unmittelbarer Nähe der Ärzte herum und spitzten die Ohren. Auch die Besatzung platzte vor Neugier, war allerdings zu beschäftigt, um dem Gespräch der Doktoren zu lauschen, da just in diesem Augenblick Leichter mit Fracht längsseits gingen.
Der Arzt aus Portsmouth äußerte die Überzeugung, dass es sich bei der Krankheit um eine seltene Form der Beulenpest handele, doch White und Balmain widersprachen.
»Sie ist bösartig«, rief der Arzt. »Es ist die Beulenpest!«
»Gutartig!«, hielten die Schiffsärzte dagegen. »Es ist nicht die Beulenpest!«
Doch hinsichtlich der Präventivmaßnahmen herrschte Einigkeit : Die Zwischendecks sollten ein zweites Mal ausgeschwefelt, dann sorgfältig mit Teeröl geschrubbt und schließlich dick mit Tünche gestrichen werden, einem Gemisch aus ungelöschtem Kalk, Kreidepulver, Kleister und Wasser.
Stephen Donovan, der an Bord geblieben war, um das Verstauen der Fracht zu überwachen, war davon nicht angetan. An Deck stapelten sich Säcke, Kisten, Tonnen, Pakete und Fässer jeder Größe.
»Ich muss das Zeug unter Deck schaffen«, fuhr er White und Balmain an. »Wie soll das gehen, wenn Sie die Decks ausschwefeln und den ganzen Tag die Luken geschlossen halten? Das Einzige, was der Alexander helfen könnte, sind bessere Bilgepumpen!«
»Der Gestank kommt von den Leichen«, meinte Balmain hochnäsig, »gründlich ausschwefeln, dann verfliegt er nach ein oder zwei Wochen auf See.«
White war nach achtern gegangen, um festzustellen, wie sich die Fracht unter Deck schaffen ließ. Ein Blick durch die Gefängnisluke klärte ihn darüber auf, dass die Tische und Bänke entfernt worden waren. Darunter waren sechs Fuß breite Luken zum Vorschein gekommen, die direkt unter denen im Oberdeck lagen, sodass selbst die riesigen Wassertonnen mit Davits binnenbords gefiert und direkt in die Orloplast gesenkt werden konnten. Geschäftig kehrte er ins Vorschiff zurück, schob Balmain und Donovan beiseite und erteilte Befehle.
Die sechsunddreißig Steuerbordsträflinge wurden ins Gefängnis beordert, um das Deck zu schrubben und den gesamten Raum mit Essig zu reinigen, bevor er mit Schwarzpulver ausgeschwefelt werden sollte. Die Backbordinsassen eilten mit demselben Auftrag ins Logis der Seesoldaten im Frachtraum.
»Du meine Güte«, kreischte Taffy Edmunds dort. »Der arme Davy Evans hatte Recht - im Vergleich hiermit leben wir ja wie im Paradies, obwohl es himmlisch wäre, in einer Hängematte zu schlafen.«
Der Fußboden des Frachtraums war mit Bilgewasser überflutet, das Ekel erregend stank und zudem Dämpfe freisetzte, die die Zinnknöpfe an den roten Röcken der Seesoldaten schwarz anlaufen ließen. Der Raum war nur knapp sechs Fuß hoch, sodass man unter den Decksbalken den Kopf einziehen musste wie auf der Ceres.
Dort wurden Richard und die Backbordinsassen zu Zeugen eines denkwürdigen Streits zwischen Major Ross und Captain Sinclair. Er begann in dem Augenblick, als der Major die Holzleiter vom darüber liegenden Mannschaftslogis herunterkam.
»Bewegen Sie sich mal hier runter, Sie schlaffer Sack«, brüllte Ross. »Sehen Sie sich diese Schweinerei an.«
Vor den faszinierten Blicken der sechsunddreißig Sträflinge erschien mit besudelten Stiefeln Captain Sinclair auf der Leiter. Er tropfte förmlich an ihr herunter wie Sirup an einer Schnur. »Niemand«, keuchte er, als er endlich unten anlangte, »darf so mit mir sprechen, Major! Ich bin nicht nur der Kapitän dieses Schiffes, ich bin auch einer seiner Eigner.«
»Umso schwerer wiegt Ihre Schuld! Los, schauen Sie sich um. Sehen Sie sich an, wie die Seesoldaten Seiner Majestät seit Monaten hausen müssen! Fast drei Monate! Die Soldaten sind krank und verängstigt, und wer kann es ihnen verdenken! Ihre Hunde haben es besser, und genauso die Schweine und Schafe, die Sie an Bord halten, um sich den Bauch voll zu schlagen! Sie thronen da oben wie der Gockel auf dem Mist, haben eine Kabine für die Nacht und eine für den Tag und eine große Kajüte ganz für sich allein. Meine Offiziere dagegen hausen in einem stickigen Kabuff und müssen mit den Mannschaften essen! Das wird sich ändern, Sie voll gefressener Strumpf, oder ich werfe Sie eigenhändig in diese Jauchegrube!« Ross legte die Hand auf den Säbelknauf, und seine Miene ließ keinen Zweifel daran, dass er festen Willens war, die Drohung wahr zu machen.
»Ihre Männer bleiben hier, ich habe keine andere Unterkunft für sie«, entgegnete Sinclair. »Um die Wahrheit zu sagen, nehmen sie nur wertvollen Platz weg, den meine Firma dringend für Fracht benötigt, die wertvoller ist als eine Bande nichtsnutziger Trinker, die für die Marine zu dumm und für das Heer zu arm sind! Sie sind der Abschaum der Welt, Ross, Sie und Ihre Seesoldaten! Kein Wunder, dass die Seesoldaten für Tagediebe gelten. Sie stellen die Kombüse meiner Leute auf den Kopf, und ihre Köter scheißen vom Bugspriet bis zur Heckreling das Deck voll - sehen Sie sich meine Stiefel an! Hundekacke, Ross, widerliche Hundekacke. Zwei von meinen Hennen sind tot, außerdem vier Enten und eine Gans! Nicht zu reden von dem Mutterschaf, das ich erschießen musste, weil eine räudige Bulldogge sich in dem Tier verbissen hatte und nicht mehr auslassen wollte. Jawohl, aber zuerst habe ich dem Köter eins übergebrannt, Sie schottischer Hinterwäldler!«
»Wer ist hier ein Hinterwäldler, Sie Hurensohn aus Glasgow?«
Eine Pause trat ein, in der die Streithähne fieberhaft nach neuen, tödlichen Beleidigungen suchten und die Sträflinge aus Angst, man könnte sie bemerken und an Deck schicken, keinen Mucks machten.
»Die Lords der Admiralität haben den Tender der Firma Walton akzeptiert, und der ist genauso ausgestattet wie die Alexander«, sagte Sinclair, die Augen zwei funkelnde Schlitze. »Beschweren Sie sich bei Ihren Vorgesetzten, Ross, nicht bei mir! Als ich erfuhr, dass ich neben 210 Sträflingen auch noch 40 Seesoldaten an Bord nehmen sollte, war ich alles andere als erfreut. Ihre Leute bleiben hier, ob es Ihnen passt oder nicht.«
»Es passt mir nicht, Sie Elefantenarsch! Sie werden meine Leute ins Zwischendeck umquartieren und meine Offiziere standesgemäß unterbringen, oder ich beschwere mich an höherer Stelle über Sie, und wenn ich damit zu Lord Sydney und Mr Pitt laufen muss! Sie haben zwei Möglichkeiten, Sinclair. Entweder Sie lassen meine Leute und Ihre Mannschaft die Quartiere tauschen, oder Sie verlegen das Achterschott im Gefängnis um fünfundzwanzig Fuß nach vorn und schaffen so Platz für meine Leute. Jetzt, wo sich die Prince of Wales der Flotte angeschlossen hat, kann sie die verlegten Sträflinge aufnehmen. Und damit basta.« Ross schlug die weiß behandschuhten Hände zusammen.
»Mitnichten«, zischte Sinclair, dessen in Wallung geratene Fettberge einen homerischen Anblick boten. »Laut Vertrag soll die Alexander 210 Sträflinge befördern, nicht 140 Sträflinge und 40 Seesoldaten! Der Zweck dieser Expedition besteht nicht darin, eine Bande verlotterter Seesoldaten zu verwöhnen, sondern möglichst viele Schwerverbrecher aus England ans andere Ende der Welt zu expedieren. Ich behalte die volle Anzahl von Sträflingen und übernehme mit Ihrer gütigen Erlaubnis mit meiner Mannschaft die volle Verantwortung für ihre Bewachung. Die Sache ist doch ganz einfach, Major Ross. Ziehen Sie Ihre Seesoldaten von der Alexander ab. Ich sperre die Sträflinge für die Dauer der Überfahrt ins Gefängnis und lasse sie durch die Lukengitter versorgen, dann sind Ihre Leute überflüssig.«
»Lord Sydney und Mr Pitt werden das nicht zulassen«, erwiderte Ross überzeugt. »Das sind fortschrittlich denkende Männer, denen daran gelegen ist, dass die Sträflinge bei der Ankunft in der Botany Bay in einer besseren Verfassung sind als die Sklaven, die Sie auf Barbados abliefern! Wenn Sie die Männer ein Jahr lang einsperren, ist die Hälfte bei der Ankunft tot und die andere reif fürs Tollhaus. Deshalb kommen Sie nicht darum herum, innerhalb des nächsten Monats eine Achterhütte und eine Back zu bauen. Dann können Sie ein Deck höher ziehen und meinen Offizieren Ihr Achterdeck überlassen. Vergessen Sie nicht, dass Sie auch den Schiffsarzt, den Marineagenten und den Firmenagenten unterbringen müssen, und die haben alle Achterdeckrang. Die werden auch ohne Sie den ganzen Platz brauchen, Sie elender Wicht! Und Ihre Matrosen stecken Sie gefälligst dorthin, wo sie hingehören, in eine Back. Dann können meine Unteroffiziere und Mannschaften ins Zwischendeck ziehen, und ich sorge dafür, dass sie einen Herd bekommen, auf dem sie für sich und die Gefangenen kochen können.«
Hatten die grauen Augenschlitze des Majors zu Beginn der Rede noch Zorn versprüht, so funkelten sie jetzt listig. »Das«, entgegnete Sinclair, »würde die Firma Walton mindestens tausend Pfund kosten.«
Major Ross drehte sich um und erklomm die Leiter. »Schicken Sie die Rechnung an die Admiralität«, sagte er und verschwand. Captain Sinclair glotzte die Leiter an, dann schien er zum ersten Mal die Männer zu bemerken, die ihn schweigend umringten. »Ihr bildet eine Eimerkette und schafft die Brühe raus«, sagte er barsch zu Ike Rogers. »Und wenn ihr schon dabei seid, öffnet die Luke da vorn und schöpft die Steuerbordbilge aus. Die anderen nehmen sich die Backbordbilge vor. Ich kann den Gestank auf dem Achterdeck riechen.« Er blickte wieder zur Leiter. »Du, du und du«, sagte er zu Taffy, Will und Neddy, die alle groß gewachsen waren, »ihr nehmt mich auf die Schultern und schiebt mich die Leiter rauf.«
So geschah es. Kaum waren Sinclairs Schritte oben verklungen, brachen die Sträflinge in kreischendes Gelächter aus.
»Einen Moment lang dachte ich, du tunkst ihn mit der Fresse ins Bilgewasser, Neddy«, japste Ike.
»Ich hätte nicht übel Lust dazu gehabt«, erwiderte Neddy und wischte sich die Tränen aus den Augen. »Aber er ist der Kapitän, und mit dem Kapitän legt man sich besser nicht an. Major Ross dagegen ist es egal, mit wem er sich anlegt, so viel ist sicher.« Er kicherte. »Elefantenarsch! Sehr treffend! Ich wäre fast krepiert, als wir ihn die Leiter raufwuchten mussten.«
»Major Ross ist als Sieger aus dem Gefecht hervorgegangen«, sagte Aaron Davis nachdenklich, »aber er hat sich weit aus dem Fenster gelehnt. Wenn Captain Sinclair die Achterhütte und die Back tatsächlich baut, wird die Admiralität sich weigern, die Rechnung zu bezahlen, und Major Ross in den Hintern treten.«
»Das kann ich mir nicht vorstellen«, sagte Richard. »Er hat doch Recht. Ohne Achterhütte und Back kann die Alexander nicht so viele Leute aufnehmen.« Er seufzte. »Wer beteiligt sich an der Eimerkette? Das heißt, wenn wir Leutnant Johnstone dazu bewegen können, uns mehr Eimer zu bringen, denn ich möchte die faulige Brühe nicht mit unseren Nachttöpfen ausschöpfen. Jimmy, lauf zu dem Leutnant und schwatze ihm ein paar Eimer ab.«
 
Captain Sinclair ließ die Umbauten vornehmen, allerdings für erheblich weniger als tausend Pfund. Während die Sträflinge, die noch an Bord waren, sich mit Teeröl und Tünche abrackerten, ging die Beladung des Schiffs weiter, sodass sie einen guten Überblick bekamen, was wo verstaut wurde. Die Ersatzmasten wurden unter den Booten am Oberdeck festgelascht, während Spieren, Segeltuch und Tauwerk unter Deck wanderten. Die 160 Gallonen fassenden Wassertonnen, die mit Abstand schwersten Objekte, wurden jeweils zu mehreren zwischen anderer, leichterer Fracht verstaut. Fass um Fass mit Pökelfleisch kam an Bord, Sack um Sack mit Hartbrot, Trockenerbsen, Kichererbsen und Reis, dazu Fässchen mit Mehl, unzählige, in grobes Tuch eingeschlagene Pakete, die mit dem Namen des Eigentümers beschriftet waren, und ballenweise Kleidung, die offenbar für die Sträflinge bestimmt war, wenn sie ihre augenblicklichen Kittel abgetragen hatten.
Jedermann wusste, dass auch Fässer mit Rum an Bord waren. Kein Matrose und kein Seesoldat würde die Reise ohne einen Tropfen durchstehen. Rum machte die quälende Enge in den Quartieren und die miserable Verpflegung erträglich, deshalb durfte er nicht fehlen. Doch er wurde nicht in den Lagerräumen unter dem Gefängnis oder im Zwischendeck gelagert.
»Er ist nicht auf den Kopf gefallen, unser fetter Kapitän«, grinste William Dring aus Hull. »Vorn im Bug sind noch zwei Laderäume. Der obere ist fürs Brennholz, der untere hat eine Eisenluke, und dort ist der Rum. Vom Gefängnis aus kommt man nicht an ihn heran, denn das Bugschott ist zu dick und obendrein mit Nägeln beschlagen, genau wie das Achterschott. Ebenso wenig von der Brennholzlast aus, jedenfalls nicht ohne einen Heidenlärm zu machen. Das angebrochene Fass wird auf dem Achterdeck unter Verschluss gehalten, und der Kapitän übernimmt die Verteilung höchstpersönlich. Diebstahl ist ausgeschlossen, denn Trimmings passt auf.«
»Trimmings?«, fragte Richard. »Sinclairs Steward?«
»Ja, und dem Captain treu ergeben. Spioniert und schnüffelt überall herum.«
»Der Captain lässt die Umbauten übrigens von den eigenen Leuten vornehmen«, sagte Joe Robinson, Drings Freund, der als Seemann mit der Mannschaft Bekanntschaft geschlossen hatte. »Außerdem hat er von dem Leichter und der Fortunee fünf Sträflinge holen lassen, die mit einem Hammer umgehen können. In die Achterhütte sind ein paar hübsche Mahagoni-Paneele hinaufgewandert. Der Kapitän hat das komplette Kajütenmobiliar mitgenommen, sodass Major Ross das Achterdeck neu einrichten muss, worüber er nicht glücklich sein dürfte.«
Nein, glücklich war Major Ross nicht. Und es waren beileibe nicht nur Captain Sinclair und die Alexander, die ihm Verdruss bereiteten. Klatsch war an Bord der Hauptzeitvertreib, und so erfuhren die Sträflinge von den Seesoldaten, dass Ross erneut einen Streit vom Zaun gebrochen hatte, weil er keinen Reis an Bord nehmen wollte. Bedauerlicherweise enthielt der Kontrakt mit Mr William Richards junior einen Passus, der dem geschäftstüchtigen Lebensmittellieferanten erlaubte, einen bestimmten Teil des Weizenmehls durch Reis zu ersetzen. Reis war billig, und Richards hatte ein Lagerhaus voll davon, außerdem beanspruchte Reis wenig Stauraum, weil er beim Kochen aufging. Das Problem war nur, dass Reis im Gegensatz zu Weizenmehl keinen Schutz vor Skorbut bot.
»Das verstehe ich nicht«, sagte Stephen Martin, einer der beiden wortkargen Männer aus Bristol, die mit Crowder und Davis nach unten geschickt worden waren. »Wenn Mehl gut gegen Skorbut ist, warum dann nicht auch Brot? Brot ist doch aus Mehl.«
Richard besann sich, was sein Vetter James, der Apotheker, zu dem Thema einst gesagt hatte. »Vielleicht hängt es mit der Backmischung zusammen«, meinte er. »Unser Brot ist hart. Schiffszwieback. Es enthält ebenso viel Gerste und Roggen wie Weizen, wenn nicht sogar mehr. Gemüse und Obst sind natürlich am besten, auf See aber nicht zu kriegen. Mein Vetter importiert für ein paar Seekapitäne eingestampftes, gegorenes Weißkraut aus Bremen. Das ist billiger als Malzextrakt und ebenfalls sehr gut gegen Skorbut. Das Dumme ist nur, dass Seeleute kein Sauerkraut mögen und mit der Peitsche gezwungen werden müssen, es zu essen.«
»Was weißt du eigentlich nicht?«, fragte Joey Long, dem Richard wie ein wandelndes Lexikon vorkam.
»Ich selbst weiß nicht viel, Joey. Mein Vetter ist der Quell des Wissens. Ich brauchte ihm nur zuzuhören.«
»Und darin bist du ein Meister«, sagte Bill Whiting. Er trat zurück und begutachtete das Ergebnis ihrer Arbeit, die fast getan war. »Ein Gutes hat die Tünche ja. Es wird hier unten viel heller, selbst bei vergitterten Luken.« Er legte Will Connelly den Arm um die Schulter. »Wenn wir uns direkt unter der Luke an den Tisch setzen, haben wir sogar genug Licht zum Lesen.«
 
Anfang April waren die Sträflinge wieder vollzählig an Bord, und die Arbeiten an Back und Achterhütte schritten rasch voran. Captain Sinclair hatte beschlossen, das neue Quartier für die Mannschaft Binnenbords zu errichten, sodass auf beiden Seiten ein schmaler Durchgang frei blieb, der etwa drei Fuß breit war und einen leichten Zugang zum Bug ermöglichte, wo sich die Mannschaftslatrinen befanden. Für die Sträflinge, die während der Hygienemaßnahmen an Bord geblieben waren, war es ein Segen: Die Luken standen offen, und so konnten sie auf den Abtritt gehen und brauchten nicht die Nachttöpfe zu benutzen. Über der Luke vor dem Vormast wölbte sich nun ein hundehüttenähnlicher Aufbau, damit der Koch auch bei Regen trockenen Fußes in die Brennholzlast gelangen konnte, und auch die hintere Luke, die direkt vor dem Achterdeck ins Zwischendeck führte, war überdacht. Dagegen blieben die beiden Gefängnisluken einfache, mit einer Gräting aus Eisen versehene Deckluken, die bei Bedarf mit einem schweren Deckel verschalkt werden konnten.
Sobald die ersten Brecher das Deck überfluten, dachte Richard, werden sie die Luken verschließen, und dann sitzen wir für die Dauer des Unwetters im Dunkeln. Ohne Tageslicht, ohne Frischluft.
Obwohl die Sträflinge jeden Tag frisches Fleisch und Gemüse bekamen und sich am Oberdeck die Beine vertreten durften, stieg die Zahl der Kranken an Bord. Willy Wilton starb, wenn auch nicht an der mumpsartigen Krankheit. Er war das erste Opfer unter den Sträflingen aus dem Westen. Er hatte sich bei dem scheußlichen Wetter eine Erkältung zugezogen, die sich ihm auf die Brust legte. Bordarzt Balmain verordnete ihm heiße Umschläge, die den Schleim lösen sollten, das einzige Mittel gegen Lungenentzündung, doch Willy starb. Ike Rogers verwand seinen Tod nicht. Er war schon längst nicht mehr der großmäulige Rabauke, den Richard in Gloucester kennen gelernt hatte.
Auch andere starben. Die Zahl der Todesfälle im April erhöhte sich bis Ende des Monats auf zwölf. Und wieder griff die Krankheit auf die Seesoldaten über - Fieber, Lungenentzündung, Delirium, Bewusstlosigkeit. Drei verängstigte Seesoldaten desertierten, ein vierter am Letzten des Monats. Ein Sergeant, ein Trommler und vierzehn Soldaten kamen ins Hospital. Ersatz war nur schwer zu finden. Innerhalb der Flotte galt die Alexander mittlerweile als Todesschiff, und sie sollte diesem Ruf gerecht werden. Von Zeit zu Zeit wurden alle bis auf die ursprünglichen Insassen - 71 Mann seit Willy Wiltons Tod - von Bord gebracht, damit die Decks mit Essig gereinigt, ausgeschwefelt, mit Teeröl geschrubbt und getüncht werden konnten. Und jedes Mal fand Richards Backbordgruppe faulige Bilgen vor.
»Als hätte das Schiff überhaupt keine Pumpen«, sagte Mikey Dennison angewidert. »Sie funktionieren nicht.«
Drei weitere Männer starben. Damit stieg die Verlustliste seit dem 1. April auf 15, während die Gesamtzahl der Sträflinge von 210 auf 195 schrumpfte.
Am 11. Mai, über vier Monate nach Verlegung der Sträflinge auf das Todesschiff, traf die Nachricht ein, dass Gouverneur Phillip endlich an Bord seines Flaggschiffs Sirius gegangen sei und dass die aus elf Fahrzeugen bestehende Flotte am folgenden Tag Segel setzen würde. Doch nichts geschah. Die Matrosen des Versorgungsschiffs hatten ihre Löhnung nicht erhalten und rührten keinen Finger, solange sie nicht bezahlt wurden. Die Sträflinge auf der Alexander lagen meist in ihren Kojen und schliefen. Sie hatten endlich Decken bekommen, allerdings nur jeweils eine für zwei Mann.
Am 13. Mai, etwa eine Stunde nach Tagesanbruch - da die Sommersonnenwende näher rückte, wurde es früh hell -, stellte Richard beim Aufwachen fest, dass die Alexander Fahrt machte. Er hörte das Knarren der Spanten und das leise Streichen des Wassers an der Bordwand. Für Ike war das leichte Rollen schon zu viel. Er musste sich übergeben, doch seine Gefährten hatten Vorsorge getroffen und ihm den Essnapf des toten Willy gegeben, den Joey Long, wann immer nötig, in den Nachttopf leerte.
Robert Jefferies aus Devizes starb noch am selben Tag an Lungenentzündung. Für ihn und viele andere waren die Decken zu spät gekommen.
Noch am selben Tag passierten sie die Needles am Westzipfel der Isle of Wight. Die Alexander bewegte sich lebhafter als je zuvor auf der gemächlichen Fahrt von Tilbury nach Portsmouth. Sie stampfte leicht und rollte so heftig, dass die meisten Sträflinge seekrank wurden und in die Kojen flüchteten. Auch Richard verspürte einen Brechreiz, doch er verflog drei Stunden später wieder. Ob Leute aus Bristol automatisch »Seebeine« bekamen, wie es unter Matrosen hieß? Den anderen Bristolern - Connelly, Perrott, Davis, Crowder, Martin und Morris - erging es ähnlich. Die Jungs vom Land hatte es offensichtlich am schlimmsten erwischt, aber keinen so schlimm wie Ike Rogers.
Am nächsten Tag kamen Leutnant Shairp und Bordarzt Balmain durch die hintere Luke, etwas wackliger zwar als in ruhiger See, aber doch noch würdevoll genug, um Eindruck zu machen. Zwei Seesoldaten schafften den toten Robert Jefferies fort, während Shairp und Balmain sich an den Verschlägen den schwankenden Gang entlanghangelten, wobei der Leutnant geflissentlich darauf achtete, nicht in Erbrochenes zu fassen. Ihre Befehle lauteten wie immer: raus und Deck reinigen, raus und Nachttöpfe leeren, raus und Kojen putzen, einerlei wie seekrank die Männer waren. Wer seine Decke verschmutzt hatte, musste sie reinigen, wer sich besudelt hatte, musste sich waschen.
»Hoffentlich tun sie das jeden Tag«, sagte Connelly. »Denn dann bleibt es hier unten sauber.«
»Mach dir keine falschen Hoffnungen«, sagte Richard. »Das hat sich Balmain ausgedacht, nicht Shairp, und Balmain geht nicht methodisch vor. Mindestens die Hälfte der Leute hier unten hat sich in ihrem ganzen Leben noch nie gewaschen. Wenn wir hier bei uns auf Sauberkeit achten und die anderen mitziehen, so haben wir das meinem Vetter James und dem Umstand zu verdanken, dass ich jedem, der mich hören kann, so lange in den Ohren liege, bis er sich aus lauter Angst vor mir lieber wäscht.« Er grinste. »Haben sie sich erst mal ans Waschen gewöhnt, werden sie Gefallen daran finden, sauber zu sein.«
»Du bist ein komischer Vogel, Richard«, sagte Will Connelly. »Du kannst sagen, was du willst, aber auf der Backbordseite bist du unbestreitbar der Chef.« Er schloss die Augen und horchte in seine Gedärme hinein. »Mir geht es gut, also werde ich ein wenig lesen.« Er setzte sich mit seinen drei Bänden Robinson Crusoe direkt unter der Luke an den mittleren Tisch, schlug den ersten Band auf und war bald, ohne auf die Bewegung des Schiffs zu achten, in die Lektüre vertieft.
Richard rutschte mit seinem geografischen Weltalmanach neben ihn. Die getünchten Wände hatten alles verändert.
Zu dem Zeitpunkt, als die Alexander Plymouth passierte, hatten alle bis auf Ike Rogers und ein paar andere »Seebeine«. War man erst einmal daran gewöhnt, dass sich das Deck unter den Füßen hob und senkte, konnte man sogar den Gang entlangspazieren. Und so kam es, dass Richard bei einem Spaziergang dieser Art mit John Power, dem Chef im Bug, Bekanntschaft schloss.
Power war ein gut aussehender junger Mann, geschmeidig und behänd wie eine Katze, mit dunklen Augen, grimmigem Blick und der merkwürdigen Angewohnheit, beim Reden wild mit den Händen zu fuchteln wie ein Franzose oder Italiener. Überhaupt machte er den Eindruck eines Mannes, der ständig unter Hochspannung stand, freilich nicht weil er besorgt oder gereizt gewesen wäre, sondern weil er vor Energie strotzte und ein überschäumendes Temperament besaß. Und seine Augen verrieten, dass er das Risiko liebte.
»Richard Morgan!«, rief er, als Richard an seiner Koje am oberen Ende vorbeischlurfte, dort, wo Bugschott und Steuerbordwand zusammentrafen. »Willkommen in Feindesland.«
»Ich bin nicht dein Feind, John Power. Ich bin ein friedliebender Mensch, der sich nur um seine eigenen Angelegenheiten kümmert.«
»Und dazu gehört die ganze Backbordseite. Sehr sauber und ordentlich, wie ich höre. Alles in tadellosem Zustand.«
»Du kannst uns ja mal besuchen und dich selbst überzeugen.« Power glitt aus der Koje und folgte Richard. »Aus der Nähe betrachtet, bist du ja schon ziemlich alt, Morgan.«
»Im September bin ich achtunddreißig geworden, aber bis jetzt spüre ich mein Alter nicht übermäßig. Die fünf Monate auf der Alexander haben an meinen Kräften gezehrt, aber in Portsmouth durften wir arbeiten, das hat gut getan. Beim Bilgedienst müssen immer wir Bristoler ran - unsere Nasen halten den penetrantesten Gestank aus. Wo wart ihr in dieser Zeit eigentlich? Auf dem Leichter, der Firm oder der Fortunee
»Auf dem Leichter. Ich komme mit der Besatzung der Alexander gut aus, deshalb sind meinen Männern die Gefangenenschiffe in Portsmouth erspart geblieben.« Power stieß einen tiefen Seufzer aus. »Ich gedenke, auf der Alexander so bald wie möglich als Seemann zu arbeiten. Mr Bones, der dritte Maat, hat es mir versprochen. Dann bin ich bald wieder der Alte.«
»Ich dachte, wir müssten die ganze Fahrt über unter Deck bleiben.«
»Nicht, wenn es stimmt, was Mr Bones sagt. Gouverneur Phillip will nicht, dass wir hier unten vor die Hunde gehen. Er braucht in der Botany Bay Leute, die arbeiten können.«
Sie waren an der Salzwassertonne am Steuerbordschott angekommen und drehten wieder um. Power blickte verstohlen zu Will Connelly hinüber, der über seinen Defoe gebeugt am Tisch saß. »Können bei euch eigentlich alle lesen?«, fragte er mit einem Anflug von Neid.
»Sechs ja, und fünf davon stammen aus Bristol - Crowder, Davis, Connelly da drüben, Perrott und ich. In Bristol gibt es viele Armenschulen.«
»In London so gut wie keine. Früher habe ich es immer für Zeitverschwendung gehalten, Bücher zu lesen, schließlich hängt über jedem Laden ein Schild, das Auskunft darüber gibt, was einen drinnen erwartet.« Er breitete die Hände aus. »Heute bin ich anderer Meinung. Mit Lesen könnte man sich die Zeit vertreiben.«
»Wenn du erst in der Takelage bist, fehlt dir das Lesen nicht mehr. Bist du verheiratet?«
»Ich doch nicht!« Power drehte die Daumen nach unten. »Frauen sind Gift.«
»Nein, sie sind wie wir - es gibt gute, schlechte und durchschnittliche.«
»Wie viele von jeder Sorte kennst du denn?« Power grinste und entblößte gesunde weiße Zähne. Er war also kein Trinker.
»Mehr gute als schlechte, und keine durchschnittlichen.«
»Und Ehefrauen?
»Laut meiner Akte zwei.«
»Wie ich von Leutnant Johnstone erfahren habe, befinden sich keine Gerichtsakten an Bord!« Power ballte schadenfroh die Fäuste. »Hält man das für möglich? Das Innenministerium ist nicht in der Lage, Phillip eine Liste der Gefangenen zu schicken, deshalb weiß hier keiner, weshalb man uns verknackt hat und wie lange wir noch brummen müssen. Das werde ich ausnutzen, sobald wir in der Botany Bay sind.«
»Dann ist das Innenministerium anscheinend ebenso tüchtig wie das Bristoler Steueramt«, erwiderte Richard. Sie standen wieder vor Powers Koje, und Power schwang sich hinauf. So geschmeidig wie Stephen Donovan, dachte Richard, der nun, da sie wieder unter Deck eingesperrt waren, die Gesellschaft des vierten Maats vermisste. Donovan mochte ein warmer Bruder sein, aber er war belesen und kein Sträfling, deshalb konnte man sich mit ihm über andere Dinge unterhalten als das Gefängnis.
Nachdenklich kehrte Richard zu seiner Koje zurück. Er hatte von Power eine interessante Neuigkeit erfahren! Die Expeditionsführung hatte keine Ahnung, was die Sträflinge verbrochen und welche Reststrafe sie noch zu verbüßen hatten … Vielleicht konnte Power daraus Kapital schlagen. Andererseits war nicht auszuschließen, dass der Gouverneur das Strafmaß aller Gefangenen eigenmächtig auf vierzehn Jahre festsetzen würde. Schließlich konnte niemand daran gelegen sein, dass in der Botany Bay plötzlich alle Sträflinge behaupteten, sie hätten nur noch sechs oder zwölf Monate zu verbüßen.
 
Am 20. Mai, als die Alexander bei starkem Seegang durch strömenden Regen fuhr, brachte man die Sträflinge gruppenweise an Deck. Dort sollten ihnen die Fußeisen abgenommen werden. Die Kranken machten den Anfang, und auch Ike Rogers musste hinauf, obwohl es ihm so elend ging, dass Bordarzt Balmain ihm zweimal täglich ein Glas starken Madeirawein verordnet hatte.
Als Richard an die Reihe kam, stürmte es heftig. Die Sichtweite betrug nur wenige Meter. Jemand drückte ihn auf die Planken und spreizte ihm die Beine. Zwei Seesoldaten saßen nebeneinander auf Hockern. Einer schob einen Meißel unter die Fußfessel, der andere schmetterte seinen Hammer auf das dicke Ende. Ein stechender Schmerz fuhr Richard ins Bein, doch er achtete nicht darauf. Er streckte das Gesicht in den strömenden Regen, und sein Geist schwang sich empor zu den grauen Wolkenfetzen. Ein zweiter Schmerz, und das andere Bein war frei, und da saß er nun, triefend vor Nässe und trunken vor Glück.
Irgendjemand - er hatte keine Ahnung, wer - reichte ihm die Hand und half ihm auf. Benommen taumelte er fort, und es dauerte eine Weile, ehe er begriff, dass er nun, nach dreiunddreißig Monaten in Eisen, endlich von den Fesseln befreit war.
Kaum zurück im Gefängnis, begann er zu frösteln. Er schlüpfte aus den Kleidern, wrang das saubere Wasser in seinen Filterstein und hängte die nassen Sachen an die Leine, die sie zwischen der Salzwassertonne und einem Balken gespannt hatten. Dann trocknete er sich mit einem Lappen ab und zog neue Sachen an. Zur Feier des Tages.
Abends, als er zwischen fünf Männern lag, die ebenso glücklich waren wie er, und die Alexander, England hinter sich lassend, den Golf von Biscaya durchpflügte, schrieb er in Gedanken einen Brief an einen Menschen, der sehr wenig von seinem Vater, etwas mehr von Jem Thistlethwaite, sehr viel von Vetter James, dem Apotheker, und am meisten von William Henry hatte.
Ich vermag dir nicht zu sagen, was für ein Mensch ich geworden bin, noch welche Ursachen die Veränderung bewirkt haben. Die Haft und die Entbehrungen, die Misshandlungen und die Demütigungen waren es jedenfalls nicht. Denn ich glaube, dass der Mann, der ich heute bin, immer da war und nur auf eine Gelegenheit gewartet hat, in Erscheinung zu treten. Ich habe mir fest vorgenommen, zu überleben, doch das Überleben hat längst nicht mehr Vorrang. Es ist, als spürte ich hinter allem eine Absicht, einen Willen, der viel größer ist als meiner. Ich bin jetzt so wenig ein Schmetterling, wie ich vorher eine Raupe war. Doch wie sonst, wenn nicht mit diesem Bild, kann ich erklären, was mit mir geschehen ist? Mit meinem Geist, ja, mit meiner Seele. Der Mensch, der ich geworden bin, ist nicht bedeutender, nicht wertvoller, nicht edler, nicht besser. Aber er ist anders.
Ich habe in den vergangenen dreiunddreißig Monaten sehr viel gelesen, und schon das hat mich verändert. So hatte ich, obwohl in Ketten und der Niedrigste unter den Niedrigen, das große Glück, die Gedanken von Männern kennen zu lernen, gegen die ich ein bloßes Staubkorn bin. Ich habe die Früchte ihres Geistes geerntet und dadurch meinen eigenen Garten bestellt. Wäre dem nicht so, könnte ich jetzt nicht sehen, was ich sehe, könnte ich die Veränderung nicht erkennen.
Bei Shakespeare heißt es: Morgen und Morgen und dann wieder Morgen kriecht so mit kleinem Schritt von Tag zu Tag, zur letzten Silb auf unserm Lebensblatt; und alle unsre Gestern führten Narrn den Pfad des stäub’gen Tods. Wie könnte ich es auch nur annähernd so gut ausdrücken? Obgleich ich es anders meine, denn ich bin kein Macbeth. Ich möchte dir sagen, dass … Gestern war ich ein Narr auf dem Pfad des stäub’gen Tods. Heute bin ich nichts. Aber morgen, wenn denn zwei Hammerschläge auf hoher See eine so tiefe und unwiderrufliche Veränderung bewirken können, morgen wird der Mann, der ich heute bin, wieder nach vorn blicken. Teuerste Freunde, Blut von meinem Blut, mein Sohn, den ich über den Tod hinaus liebe, ich werde nie wieder nach Hause kommen. Ich wusste es in dem Augenblick, als die Eisen fielen. Auf irgendeine unergründliche Weise habt ihr mir Kraft gegeben, und diese Kraft muss ich in ein Land tragen, an dessen Existenz wir nicht im Traum gedacht haben, und dort etwas tun, ohne noch zu wissen, was. Nicht als König oder Gouverneur, nicht als Offizier, ja, nicht einmal als freier Mann. Und wenn ich eines Tages sterbe, werde ich wohl immer noch nicht wissen, was ich tun muss, doch ich werde es getan haben. Es ist ein Geheimnis, ein Geheimnis, das zu groß ist, als dass ich es ergründen könnte. Doch wenn es mir gelingt, dann euretwegen.
Ich habe meinen Frieden gefunden. Was gestern war, gehört für immer der Vergangenheit an, und während ich hier liege, in schwankender, tiefschwarzer Nacht, ist das Heute für mich ohne Bedeutung. Das Morgen bedeutet Hartbrot und Pökelfleisch. Doch das Morgen ist alles, was ich habe, und es ist genug.
Am Morgen betrachtete er seine Gefährten und versuchte, jeden so zu sehen, wie er sich selbst gesehen hatte. Was empfanden sie? Was hielten sie von diesem unerhörten, großartigen Experiment? Hatte einer von ihnen begriffen, dass sie die Heimat wahrscheinlich nie wieder sehen würden? Hatten sie noch Träume? Noch Hoffnung? Und wenn ja, was erträumten, was erhofften sie sich? Er würde es nie erfahren, denn keiner von ihnen wusste es. Hätte er sie darauf angesprochen, sie hätten geantwortet, was Männer immer antworteten: Geld, Reichtum, Liebe, Frau und Kinder, ein langes, bequemes, sorgenfreies Leben. Gewiss, auch er träumte von diesen Dingen, doch das meinte er nicht. Es gehörte nicht zu dem blendenden Lichtstrahl, der ihn inmitten der Trümmer seines Lebens getroffen hatte.
Er las Vertrauen und Zuneigung in den Blicken der anderen, und das war ein Anfang, aber eben nur ein Anfang. Irgendwie musste jedem von ihnen begreiflich gemacht werden, dass sie sich nicht auf Richard Morgan verlassen durften, dass sie ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen mussten. Der Anführer auf der Backbordseite konnte ihnen vielleicht ein Vater sein, niemals aber eine Mutter.
Die Gefangenen erhielten wieder die Erlaubnis, an Deck zu gehen, solange sie nicht alle gleichzeitig erschienen und der Mannschaft nicht im Weg standen. John Power war überglücklich. Zusammen mit Willy Dring und Joe Robinson durfte er ab sofort als Matrose arbeiten. Allerdings waren keineswegs alle Sträflinge darauf erpicht, nach oben zu gehen, wie Richard mit Befremden feststellte. Bei den Seekranken mochte es noch verständlich sein - der Golf von Biscaya hatte auch einige hingestreckt, die bislang verschont geblieben waren -, nicht aber bei den anderen, die, obwohl von ihren Eisen befreit, nur faul in ihren Kojen lagen oder am Tisch Karten spielten. Gewiss, die See war noch rau, doch die Alexander war nicht umsonst ein mächtiges Sklavenschiff. Es bedurfte schon größerer Brecher, um die Decks zu überspülen.
Die Sträflinge waren gerade mit dem unvermeidlichen Hartbrot, Pökelfleisch und scheußlichen Wasser aus Portsmouth verköstigt worden, als Leutnant Johnstone das Oberdeck freigab. Sechs Seesoldaten kamen mit Eimern ins Gefängnis herunter und kippten Salzwasser in die Tonnen, und gleich darauf erschien der gestrenge Leutnant Shairp, stapfte steifbeinig durch die Gänge und befahl nachlässigen Kojenbelegschaften, das Deck und ihre Pritschen zu reinigen. Im Vertrauen darauf, dass es bei ihnen nichts zu beanstanden gab, hievten sich Richard und seine Freunde durch die Luke an Deck. Nur Ike und Joey Long blieben zurück.
Sie traten an die Reling, um sich zum ersten Mal den Ozean anzusehen. Das Grau der See war mit einem stählernen Blau übergossen und trug noch viele Schaumkronen, doch sie konnten den Horizont sehen und somit auch die anderen Schiffe, einige an Backbord, andere an Steuerbord und zwei so weit achteraus, dass ihr Rumpf unter der Kimm stand und nur die Masten zu sehen waren. Ganz in der Nähe befand sich das andere große Sklavenschiff, die Scarborough, die mit ihren geblähten Segeln, ihren auswehenden Flaggen und ihrem stumpfen, die Wogen zerteilenden Bug einen prachtvollen Anblick bot. Sie hatte größere Deckaufbauten als die Alexander, was möglicherweise der Grund war, warum Zachariah Clark, der Firmenagent, es vorgezogen hatte, auf ihr zu fahren. Auch der Marineagent, Leutnant John Shortland, war abtrünnig geworden: Er hatte sich auf dem Versorgungsschiff Fishburn einquartiert, obwohl einer seiner beiden Söhne zweiter Maat auf der Alexander war. Der andere diente auf der Sirius. Der Nepotismus regierte.
Wie in Tilbury trennten sich Richards Männer, sowie sich die Gelegenheit bot, um ein wenig allein zu sein. Richard kletterte auf eines der Langboote, das kieloben auf den Ersatzmasten lag, und zählte die Schiffe. Eine Brigg, halb so groß wie die Alexander, segelte an der Spitze des Feldes, gefolgt von der Scarborough und der Alexander und schließlich der Supply, einer Slup, die an der Sirius hing wie ein Kind am Rockzipfel der Mutter. Das nächste Schiff war vermutlich die Lady Penrhyn, dann kamen die drei Versorgungsschiffe und ganz am Ende die beiden, von denen er nur die Masten sah. Also elf Schiffe, sofern keines ganz hinter der Kimm stand.
»Ich wünsche einen guten Tag, Richard Morgan aus Bristol«, sagte Stephen Donovan. »Was machen die Beine?«
Einerseits wollte Richard allein sein, andererseits freute er sich sehr, den schönen Donovan zu sehen, den er für zu intelligent hielt, um nicht zu merken, dass er seine sexuelle Neigung nicht teilte. Also lächelte er und nickte mit der gebotenen Höflichkeit. »Spielen Sie auf die Seekrankheit an oder auf die Eisen?«, fragte er.
»Die See macht Ihnen nicht zu schaffen, das sieht man. Ich meine die Eisen.«
»Sie müssten sie dreiunddreißig Monate lang getragen haben, um nachempfinden zu können, wie ich mich jetzt fühle, Mr Donovan.«
»Dreiunddreißig Monate! Was haben Sie verbrochen, Richard?«
»Ich soll von jemandem 500 Pfund erpresst haben.«
»Wie viel hat man Ihnen aufgebrummt?«
»Sieben Jahre.«
Donovan runzelte die Stirn. »Das verstehe ich nicht. Von Rechts wegen hätte man Sie hängen müssen. Sind Sie begnadigt worden?«
»Nein. Ich wurde gleich zu sieben Jahren Deportation verurteilt.«
»Die Jury war sich ihrer Sache wohl nicht sicher.«
»Dafür aber der Richter. Er wollte keine Gnade walten lassen.«
»Sie scheinen ihm nicht zu grollen.«
Richard zuckte die Schultern. »Warum sollte ich? Es war ja meine eigene Schuld.«
»Was haben Sie mit den 500 Pfund angestellt?«
»Ich habe den Wechsel nicht eingelöst, folglich konnte ich nichts davon ausgeben.«
»Ich habe gleich gewusst, dass Sie ein interessanter Mann sind.«
Das Gespräch weckte in Richard unangenehme Erinnerungen, deshalb wechselte er das Thema. »Sagen Sie mir, welche Schiffe wir sehen, Mr Donovan.«
»Das Schiff querab ist die Scarborough, das an der Spitze die Friendship - ein flotter kleiner Segler. Sie wird den anderen die ganze Fahrt über davonlaufen.«
»Warum? Ich bin kein Seemann.«
»Weil sie tipptopp in Schuss ist und mit ihren Zusatzsegeln jederzeit Fahrt machen kann, bei einem lauen Lüftchen ebenso wie in einem Sturm.« Donovan deutete mit ausgestrecktem Arm auf die Supply. »Die Slup da drüben ist wie eine Brigg getakelt, aber das bekommt ihr nicht gut. Sie fährt zwei Masten, deshalb wäre Harry Ball besser beraten, sie wie eine Schnau zu takeln. In schwerer See ist sie eine lahme Ente, weil sie sehr tief im Wasser liegt und nicht genug Segel beisetzen kann. Mit schwachem Wind läuft sie am besten. Ihr Zuhause ist der Ärmelkanal. Harry Ball muss auf gutes Wetter hoffen.«
»Und dort hinter den beiden Schiffen der Königlichen Marine, ist das die Lady Penrhyn?«
»Nein, die Prince of Wales, der zusätzliche Truppentransporter. Dahinter sehen Sie die Golden Grove, die Fishburn und die Borrowdale. Die beiden Schnecken am Schluss sind die Lady Penrhyn und die Charlotte. Ohne sie wären wir schon viel weiter, doch der Kommodore hat den strikten Befehl gegeben, dass alle Schiffe in Sichtkontakt bleiben müssen. Deshalb kann die Friendship keine Bramsegel setzen und wir keine Royals. Ach, es ist schön, wieder auf See zu sein!« Die leuchtend blauen Augen erblickten Leutnant Johnstone, der soeben auf dem Achterdeck erschien. Stephen Donovan sprang lachend vom Boot. »Es wird sich nicht vermeiden lassen, dass wir uns in Bälde wieder sehen, Richard.« Und damit eilte er dem befehlshabenden Offizier der Seesoldaten entgegen, mit dem er offenbar auf gutem Fuß stand.
Zwei vom gleichen Schlag?, fragte sich Richard, ohne seinen Platz zu verlassen. Sein Magen knurrte. Die frische Luft machte Appetit, aber mehr als die üblichen Rationen war nicht zu bekommen. Pro Tag ein Pfund Hartbrot, schlecht gewogen, und ein Dreiviertelpfund Pökelfleisch, noch schlechter gewogen, dazu zwei Quart Portsmouth-Wasser. Nicht annähernd genug. Oh, wie er sich nach den Proviantbooten auf der Themse und einem guten Essen sehnte!
Von den Kranken abgesehen, litten die Sträflinge ständig unter quälendem Hunger. Während Richard und seine Gefährten von der Backbordseite an Deck weilten, hatten ein paar Männer von der Steuerbordseite mit einem Eisenbolzen vom Großmast die Luken unter dem Gefängnis aufgebrochen. Rum fanden sie nicht, dafür aber eine Proviantlast mit Brot. Doch wie immer hielt einer nicht dicht, und so stiegen wenig später ein Dutzend Seesoldaten durch die hintere Luke und ertappten die Diebe dabei, wie sie die steinharten kleinen Laibe unter den Hungerleidern verteilten.
Sechs Männer wurden an Deck gezerrt und den Leutnants Johnstone und Shairp vorgeführt.
»Zwanzig Peitschenhiebe und wieder in Eisen legen«, befahl Johnstone knapp und nickte Corporal Sampson zu, der soeben aus dem Niedergang im Achterschiff getreten war. In der Hand hielt er eine Katze, die sehr viel unangenehmer war als ihr vierbeiniger Namensvetter, wie Mr Thistlethwaite es einst ausgedrückt hatte, ein Instrument mit einem dicken Griff aus Tau, das um einen Kern gewickelt war, und neun dünnen, in regelmäßigen Abständen mit Knoten versehenen Schnüren, an deren Ende eine bleifarbene Perle saß.
Richard wollte ins Gefängnis unter Deck flüchten, musste aber feststellen, dass alle Mann nach oben getrieben wurden, um der Züchtigung beizuwohnen.
Die sechs Männer mussten die Oberkörper freimachen - die Entblößung des Hinterteils lohnte sich bei zwanzig Peitschenhieben nicht -, und das erste Opfer wurde an den hüttenartigen Aufbau über der Achterluke gebunden. Das pfeifende Ding ließ sich ohne große Mühe handhaben. Die Haut platzte schon beim ersten Hieb auf, und wo die kleinen Bleikugeln trafen, entstanden augenblicklich große, tiefrote Schwellungen. Corporal Sampson verstand sein Handwerk, denn auch Seesoldaten bekamen die Katze, gewöhnlich zwölf Hiebe, bisweilen aber auch viel mehr. Ein Hieb lag dicht neben dem anderen, und nach dem zwanzigsten zierte den Rücken ein Muster aus blutigen Streifen und Schwellungen von der Größe einer Kinderfaust. Am Ende wurde dem Opfer ein Eimer Salzwasser über den Rücken geschüttet, was ihm spitze Schreie entlockte, dann nahm der Nächste seinen Platz ein. Während Corporal Sampson sich die sechs Delinquenten der Reihe nach vorknöpfte - mit unbeteiligter Miene, denn er schien seine Arbeit weder zu hassen noch zu lieben -, legte man denjenigen, die er abgefertigt hatte, Fußfesseln und eine lange Kette an wie auf der Ceres. Niemand schickte sie unter Deck. Leutnant Johnstone nickte nur kurz und ließ seinen Zuchtmeister und die zwölf bleichen Seesoldaten wegtreten.
Richard war speiübel. Er sprang von dem Langboot, stürzte zur Reling, beugte sich über die Seite und würgte, doch sein Magen war leer, und so starrte er nur in das Wasser drei Meter unter ihm. Das Wasser war so klar, dass er die durchscheinenden Quallen, die in der Dünung trieben, deutlich sah. Wie luftige Geister kamen sie ihm vor, eingehüllt in hauchdünne Seide, mit gekrausten Rändern und langen, glänzenden Tentakeln.
Ein Geräusch ließ ihn zusammenzucken. Ein länglicher, schillernder Körper schoss aus dem Wasser, flog im hohen Bogen durch die Luft und fiel klatschend in die See zurück. Ein Delfin? Ein Tümmler? Das Tier war nicht allein. Ein ganzer Trupp tummelte sich fröhlich im Wasser und spielte mit der schmutzigen, altersschwachen Alexander Fangen.
Tränen liefen Richard über die Wangen, doch er wischte sie nicht weg. Dies alles gehörte dazu. Die Schönheit Gottes und die Hässlichkeit des Menschen. Welchen Platz konnte der Mensch in einer so wunderbaren Welt einnehmen?
 
Die Alexander lief die Kanarischen Inseln an, doch die neunschwänzige Katze hatte alle ernüchtert. Außerdem hatte John Power von seinem Freund, Mr Bones, erfahren, dass ein gewisser Nicholas Greenwell, ein Sträfling, den er flüchtig kannte, am Tag, bevor die Flotte Portsmouth verlassen hatte, begnadigt und heimlich von Bord geschmuggelt worden war.
»Zuerst ist mir gar nicht aufgefallen, dass das Arschloch fehlt, und dann habe ich ihn für tot gehalten«, sagte Power zu Richard und Mr Donovan auf dem windigen Oberdeck. »Dieser blöde Hund! Zum Teufel, mich hätten sie begnadigen sollen, nicht Greenwell!«
Power beteuerte unablässig seine Unschuld. Er sei nicht der Mann gewesen, der bei Charles Young, über dessen Verbleib nichts bekannt war, im Boot gesessen habe, als eine Vierteltonne Edelhölzer der Ostindischen Kompanie von einem Londoner Kai verschwunden sei. Der Nachtwächter hatte Young wieder erkannt, aber er hatte nicht beschwören wollen, dass Power der zweite Mann gewesen sei. Die Geschworenen gingen wie üblich auf Nummer sicher und sprachen Power schuldig. Der Richter schloss sich ihnen an und verurteilte ihn zu sieben Jahren Deportation.
»Mich hätten sie begnadigen sollen«, brüllte Power unglücklich. »Greenwell war schlicht und einfach ein Räuber! Aber ich habe eben keine Beziehungen, nur einen kranken Vater, für den ich jetzt nicht mehr sorgen kann! Sollen sie doch zum Teufel gehen, diese Arschlöcher!«
»Na, na, regen Sie sich nicht auf«, beschwichtigte ihn Donovan. »Jammern nützt jetzt auch nichts mehr. Denken Sie an die Katze und fahren Sie nach Hause, wenn Sie Ihre Strafe abgebüßt haben.«
»Bis dahin ist mein Vater tot.«
»Das können Sie nicht wissen. Und jetzt gehen Sie wieder an die Arbeit, sonst dürfen Sie wieder Däumchen drehen.«
Powers Wut verrauchte, seine Niedergeschlagenheit blieb. Er musterte den vierten Maat mit Tränen in den Augen, dann entfernte er sich.
»Ich wundere mich, dass Sie ihn nicht mögen«, sagte Richard, der fand, dass es höchste Zeit war, gewisse Dinge anzusprechen. »Wieso einen sehnigen, alten Kerl wie mich?«
Das schöne Gesicht heuchelte Erstaunen, doch die Augen funkelten. »Wenn ich Sie mag, Richard, so bleibt es doch eine unerwiderte Liebe. Wie sagt das Sprichwort: Die Katze sieht den Bischof an und er ist ein geweihter Mann.«
»Irischer Bauer!«
»Schlammspringer.«
»Was ist denn ein Schlammspringer?«, fragte Richard verdutzt.
»Ein merkwürdiger Fisch mit amphibischer Lebensweise, von dem ich mal gelesen habe. Ich glaube, bei Sir Joseph Banks, ich weiß nicht mehr genau. Jedenfalls läuft der Fisch über Schlamm.«
 
Weitere Männer starben und die Zahl der Sträflinge an Bord der Alexander schrumpfte auf 188.
Etwa um dieselbe Zeit, als Thomas Gearing aus Oxford im Sterben lag, tauchte Teneriffa aus dem Nebel und Sprühregen auf. Die See war so ruhig, dass die Gefangenen, die man unter Deck geschickt hatte, kaum bemerkten, wie ihr Schiff im Hafen vor Anker ging.
Die Seesoldaten, die drei Wochen lang nichts anderes zu tun gehabt hatten, als die Häftlinge zu füttern und mit ihrem Schicksal zu hadern, versahen ihren Dienst nun wieder mit größerem Ernst. Ihre lästigste Aufgabe war die Kocherei. Sergeant Knight oblag es, das gekochte Pökelfleisch mithilfe einer Waage, die Leutnant Shortland, der Marineagent, höchstpersönlich überprüft hatte, zu portionieren. Da Shortland dieser Prozedur fernblieb, zerlegte Sergeant Knight das Fleisch in ungleiche Stücke: ein halbes Pfund für jeden Sträfling, anderthalb Pfund für jeden Seesoldaten. Auch mit den Erbsen und dem Hafermehl, das den Sträflingen zustand, nahm es Sergeant Knight nicht genau. Er beglückte sie damit nur sonntags nach dem Gottesdienst. Er war es leid, für dieses Verbrechergesindel das Kindermädchen zu spielen - wiegen, sonst noch was? Selbst wenn Leutnant Shairp herunterkam und ihm auf die Finger sah, machte Knight keine Anstalten, das Fleisch vorschriftsmäßig zu portionieren, und Shairp sagte kein Wort. Da hielt man sich besser raus!
Natürlich blieben Spannungen nicht aus, wenn vierzig Männer auf engstem Raum zusammenleben mussten, doch dies war nicht der einzige Grund, warum die Seesoldaten grollten. Der Umzug ins Zwischendeck hätte sie eigentlich versöhnen sollen, doch er tat es nicht. Gewiss, in diesem merkwürdig geschnittenen Raum, der unter der Decke viel breiter war als am Boden, ließ es sich aushalten, auch wenn die Ruderpinne, die an der Decke entlanglief, quietschte, kreischte und rasselte und gelegentlich, wenn der Rudergänger das Ruder umlegte, gegen einen Mann stieß, der in seinem Schwingbett unter der Decke schlief. Durch mehrere Luken kamen Frischluft und Tageslicht, der Mief war erträglich, und die Matrosen waren so anständig gewesen, das Zwischendeck einigermaßen sauber zu hinterlassen.
Doch all diese Verbesserungen vermochten einen Verlust nicht aufzuwiegen: Die Soldaten bekamen nicht die volle Ration Rum, die ihnen täglich zustand, nämlich ein halbes Pint. Captain Sinclair, der den Schnaps ausgab, hatte sich darauf verlegt, den Rum mit Wasser zu so genanntem »Grog« zu verdünnen. In Portsmouth hatte es deshalb einen Aufschrei der Empörung gegeben, und in den Tagen danach war der Rum so ausgeschenkt worden, wie es sich gehörte, nämlich unverdünnt. Doch seit den Scilly-Inseln wurden die Soldaten wieder mit Grog abgespeist, und das sorgte für böses Blut. Rum war für die Matrosen und Seesoldaten Anfang und Ende aller irdischen Freuden auf See, entsprechend groß war ihr Zorn auf den Kapitän. Sinclair freilich kümmerte das nicht. Er thronte oben in seiner Achterhütte, die er zu einer Festung ausgebaut hatte, und beabsichtigte, den Rum, den er jetzt hortete, später Gewinn bringend zu verkaufen. Wenn die Bande unbedingt unverdünnten Rum wollte, sollte sie gefälligst dafür bezahlen. Irgendjemand musste schließlich die neue Achterhütte finanzieren, denn die Admiralität würde dafür keinen Penny herausrücken.
Umso größer war die Freude der Männer, als sie im Hafen von Santa Cruz ankerten. Endlich konnten sie an Land gehen und sich so viel Rum beschaffen, wie sie nur trinken konnten. Doch in diesem Augenblick gab Major Ross den Befehl, den Urlaub der Seesoldaten auf ein Minimum zu beschränken! Leutnant Johnstone teilte ihnen in seinem schleppenden Tonfall mit, dass tagsüber eine volle Wache gestellt werden müsse, da Gouverneur Phillip nicht wünsche, dass man die Gefangenen ewig unter Deck einsperre. Außerdem werde der Gouverneur mit seinem Adjutanten, Leutnant King, dem Schiff einen unangemeldeten Besuch abstatten, solange es vor Teneriffa liege. Also wehe dem Seesoldaten, den er ohne vorschriftsmäßigen Lederkragen oder Gamaschen antreffe! Das Schiff sei mit verzweifelten Kriminellen voll gestopft und die Nähe Englands dulde kein Nachlassen in der Wachsamkeit. Sergeant Knight, der wegen seiner Proteste gegen die Ausgabe von Grog einem Kriegsgerichtsverfahren entgegensah, war von all dem ebenso wenig erbaut wie seine Untergebenen.
Dass kein höherer Offizier auf der Alexander weilte, machte alles noch schlimmer. Nun, da die Leutnants Johnstone und Shairp bequeme Kabinen auf dem Achterdeck bezogen hatten, waren sie, was ihr leibliches Wohl anging, in keinster Weise mehr auf ihren Untergebenen angewiesen. Sie hatten eigene Stewards und eine eigene Kombüse, durften Vieh an Bord halten und konnten, solange die Alexander auf See war, jederzeit nach Belieben mit einem Beiboot Freunde auf den anderen Schiffen besuchen. Und was die Mannschaften, die Trommler, die Unteroffiziere und den einsamen Sergeant anging, so hatten sie ihre Aufgabe, annähernd zweihundert Verbrecher zu füttern und zu bewachen, unterschätzt. Sie waren davon ausgegangen, dass man die Gefangenen in den Häfen unter Deck sperren würde. Nun mussten sie erfahren, dass dieser Spinner von Gouverneur darauf pochte, sie sogar im Hafen an Deck herumspazieren zu lassen!
Natürlich kam der Rum in dem Moment an Bord, als die Besatzung Landgang erhielt. Matrosen und Soldaten hatten zusammengelegt und auf diese Weise sichergestellt, dass auch diejenigen, die Wache hatten, sich mit Hochprozentigerem als Sinclairs Grog die trockenen Kehlen anfeuchten konnten. Und dies eine Mal war ihnen auch das Glück hold, denn die Alexander war das erste Schiff, das der Gouverneur am späten Nachmittag des 4. Juni inspizierte. Sogar der Captain bequemte sich aus seiner Achterhütte und plauderte höflich mit dem Gouverneur, während die Sträflinge in Reih und Glied auf dem Oberdeck standen, bewacht von den Dienst tuenden Seesoldaten, die zwar blutunterlaufene Augen und Schnapsfahnen hatten, aber die vorschriftsmäßigen Kragen und Gamaschen trugen.
»Was für ein Jammer«, klagte Phillip beim Rundgang durch das Gefängnis, »dass wir uns keine besseren Unterkünfte für diese Leute leisten können. Wie ich sehe, sind vierzehn Mann so krank, dass sie nicht antreten können. Ich bezweifle außerdem, dass sich in diesen Gängen mehr als vierzig Männer gleichzeitig die Beine vertreten können. Aus diesem Grund müssen wir die Gefangenen so oft wie möglich an Deck lassen. Wenn es Ärger gibt«, fügte er an Major Robert Ross und die Leutnants der Alexander gewandt hinzu, »legen Sie die Übeltäter ein paar Tage lang in Ketten.«
Richard stand mit den anderen an Deck und beobachtete den klein gewachsenen Gouverneur, der sehr jüdisch aussah mit seiner langen, schnabelartigen Nase, den beiden senkrechten Sorgenfalten, die den Rücken dieser Nase rahmten, seinen dunklen Augen, seinen vollen sinnlichen Lippen und seinen langen Haaren, die sich oben stark lichteten und über den Ohren kräuselten, ehe sie sich im Nacken zu einem Zopf vereinigten. Man hätte ihn glatt für Senhor Tomas Habitas’ Bruder halten können. Phillips Äußeres war die Antwort auf viele Fragen Richards, und hatte Mr Thistlethwaite nicht erwähnt, dass Phillips Vater Jakob hieß? Sir George Rose, der selbst Jude war, hatte Phillip wärmstens empfohlen. Ein Glück, dachte Richard, dass unsere Expedition in die Botany Bay in den Händen eines Mannes liegt, der einer alten und hochkultivierten Rasse angehört, eines Mannes, der Unmenschlichkeit verurteilt und in Kriminellen ganz normale, wenn auch bedauernswerte Menschen sieht.
Leutnant Philip Gidley King, Phillips Adjutant und Günstling, war noch keine dreißig, ein Engländer, in dessen Adern offenbar viel keltisches Blut floss, denn er redete ununterbrochen und hatte sichtlich Mühe, sein Temperament zu zügeln. Der Engländer in ihm offenbarte sich in der akribischen Aufzählung von Fakten, Zahlen, Statistiken, als die Gruppe an Deck ihre Runde machte. Major Ross war anzumerken, dass er King für einen Schwätzer hielt.
So wurde es Dienstag, ehe sich den Sträflingen erstmals Gelegenheit bot, einen Blick auf Santa Cruz und jenen Teil Teneriffas zu werfen, der von ihrem Liegeplatz aus zu sehen war. Zu Mittag hatten sie frisches Ziegenfleisch, gekochten Kürbis, eigenartiges, aber durchaus genießbares Brot und rohe saftige Zwiebeln bekommen. Viele verschmähten das Gemüse, doch Richard biss in seine Zwiebel wie in einen Apfel und kaute so heftig darauf herum, dass ihm der Saft übers Kinn lief und sich mit den Tränen vermischte, die ihm die scharfen Dünste in die Augen trieben.
Die kleine Stadt, in der es keine Bäume gab, machte einen verschlafenen Eindruck und lag in einer zerklüfteten, trockenen Landschaft. Der Berg, den Richard so sehnlichst zu sehen wünschte, seit er von ihm gelesen hatte, verschwand in einer grauen Wolkendecke, die nur über der Insel zu liegen schien, denn draußen auf See war blauer Himmel. Ein Esel mit Hut, den Richard am Kai stehen sah, war der erste wirklich neue Eindruck, den er von der Welt außerhalb Englands bekam. Proviantboote waren nicht zu sehen. Entweder gab es keine oder sie wurden von den Langbooten zurückgeschickt, die zwischen den vertäuten Transportschiffen patrouillierten. Die Alexander lag zwischen zwei Ankertrossen, die mithilfe schwimmender Fässer gespannt wurden. Richard erfuhr von einem der noch relativ nüchternen Matrosen, dass der Boden des Hafenbeckens mit scharfkantigen Eisenklumpen übersät war, die spanische Schiffe als Ballast mitführten und einfach ins Wasser kippten, wenn sie Fracht aufnahmen. Die Trossen wurden gespannt, damit sie sich an den Eisenstücken nicht durchscheuerten.
Wie monoton die Landschaft auch aussehen mochte, Richard liebte sie auf den ersten Blick. Von dieser kargen, offensichtlich vulkanischen Insel stammten seine kostbaren Filtersteine. Wie gern hätte er Vetter James, dem Apotheker, von Teneriffa erzählt.
Ihr Besuch fiel in eine günstige Jahreszeit, erfuhr Richard von einem anderen Matrosen, der die Insel bereits mehrmals besucht hatte. Es war warm, aber weder heiß noch schwül. Im Oktober war es hier unerträglich, und von Juli bis November wehten aus Afrika glühend heiße Winde herüber, die beißenden Sand mitbrachten. Und das, obwohl Afrika hunderte von Meilen entfernt war! Komisch, dachte Richard. Er hatte immer angenommen, in Afrika gebe es nur vor Feuchtigkeit dampfenden Dschungel. Offenbar nicht in diesen Breiten.
Am Mittwoch kam Stephen Donovan kurz nach Tagesanbruch ins Gefängnis herunter.
»Morgan«, sagte er barsch, »ich brauche Sie und Ihre Männer. Zehn genügen, aber machen Sie schnell.«
Ike Rogers ging es mit jedem Tag, den sie vor Anker lagen, etwas besser. Am Vortag hatte er seine Zwiebel mit solchem Genuss verspeist, dass einige Kameraden ihm ihre schenkten. Auch den Kürbis hatte er verschlungen, nur auf Fleisch oder Brot schien er keinen Appetit zu haben. Er war Besorgnis erregend abgemagert. Das vormals volle Gesicht war eingefallen, an seinen Handgelenken standen die Knochen hervor. Joey Long wollte nicht von seiner Seite weichen, und so beschloss Richard, stattdessen Peter Morris aus Tommy Crowders Koje mitzunehmen.
»Wieso nicht mich?«, fragte Crowder gereizt.
»Weil der vierte Maat keinen Schreiber sucht. Er braucht Leute, die zupacken können.«
»Dann nimm meinetwegen Peter«, sagte Crowder beruhigt. Er stand mitten in schwierigen Verhandlungen mit Sergeant Knight, die ihm zu einem Schluck Rum verhelfen konnten, wenn auch zu einem überhöhten Preis.
Donovan stapfte mit finsterer Miene auf und ab, als die zehn Sträflinge an Deck kamen. »Über die Seite ins Langboot«, bellte er. »Ich habe gerade genug nüchterne Männer, um die leeren Wassertonnen nach oben zu fieren, aber niemand, der die Tonnen zum Kai bringen und füllen kann. Das übernehmt ihr. Lademeister Dicky Floan wird euch befehligen. Ihr geht allein, weil nicht genug nüchterne Seesoldaten zu eurer Bewachung da sind. Wer von euch kann pullen?«
Nur die vier Bristoler konnten pullen, und das genügte nicht. Mr Donovan, der selbst nicht trank, sah noch verdrießlicher drein. »Dann müsst ihr geschleppt werden, nur weiß ich nicht, wo ich einen Leichter hernehmen soll, der das übernimmt.« Er erspähte den zweiten Maat, den Sohn des Marineagenten. »Mr Shortland, ich brauche einen Schleppleichter für das Boot mit den Wassertonnen. Irgendeinen Vorschlag?«
Shortland dachte kurz und angestrengt nach, dann beschloss er, seine Beziehungen spielen zu lassen, und signalisierte der Fishburn, auf der sein Vater fuhr. Die Fishburn antwortete prompt, und schon eine halbe Stunde später wurde das Langboot der Alexander mit den aufrecht stehenden Tonnen in Richtung Kai geschleppt.
Obwohl eine trockene und unwirtliche Insel, hatte Teneriffa ausgezeichnetes Wasser. Es stammte aus einer Quelle in der Nähe der Stadt Laguna und wurde in den üblichen, vermutlich aus Spanien importierten Ulmenrohren zum Hafenkai geleitet, wo es aus einer Reihe von Leitungen sprudelte und sich, wenn nicht gerade ein Schiff seine Tonnen füllte, ungenutzt ins Hafenbecken ergoss. Seit Portsmouth hatte die Alexander 4000 Gallonen verbraucht, daher mussten 26 der 160 Gallonen fassenden Behälter gefüllt werden, was jeweils zweieinhalb Stunden in Anspruch nahm.
Es war bereits nach acht, als die letzte Tonne gefüllt war und die zehn Sträflinge völlig erschöpft auf die Alexander zurückkehrten. Bei Einbruch der Nacht war der Hafen zum Leben erwacht. Unzählige kleine Fischerboote mit blinkenden Lampen tummelten sich auf dem Wasser, und wenn sie ihre Netze einholten, schimmerte darin eine wogende Masse.
»Ihr habt gute Arbeit geleistet«, sagte Donovan, nachdem Richard als Letzter die Jakobsleiter erklommen hatte. »Kommt mit.« Er führte sie zur Mannschaftsmesse in der Back. »Rein mit euch«, rief er. »Ich weiß, dass ihr noch nichts zu essen bekommen habt, und von den Seesoldaten ist keiner so nüchtern, dass er euch etwas kochen könnte, ohne das Schiff in Brand zu setzen. Dasselbe gilt für die Matrosen, aber Mr Kelly, der Koch, hat euch freundlicherweise etwas hingestellt, ehe er sich mit einer Buddel in seine Koje zurückgezogen hat.«
Solche Köstlichkeiten hatten sie seit sechs Monaten nicht mehr bekommen: kaltes Hammelfleisch, und zwar gebraten, nicht gekocht, Kürbiseintopf mit Zwiebeln und Kräutern, frische Brötchen, dick mit Butter bestrichen, und dazu Dünnbier zum Runterspülen.
Mit vollem Bauch wankten sie in ihre Kojen und schliefen durch bis zum Angelusläuten. Kurz nach dem Aufwachen gab es wieder etwas zu essen, diesmal Ziegenfleisch, frisches Maisbrot und rohe Zwiebeln.
Richard gab Ike das frische Butterbrötchen, das er am Vorabend unter dem Hemd versteckt hatte mitgehen lassen. »Versuch, das zu essen, Ike. Die Butter wird dir gut tun.«
Ike aß es. Nach drei Tagen und vier Nächten im Hafen bekam er langsam wieder etwas Farbe.
Job Hollister steckte den Kopf durch die Luke. »Kommt rauf, das müsst ihr euch ansehen«, rief er aufgeregt.
»Ist sie nicht großartig?«, fragte er, als Richard neben ihn an die Reling trat. »In Bristol habe ich kein Schiff gesehen, das auch nur halb so groß gewesen wäre.«
Es war ein holländischer Ostindienfahrer von 800 Tonnen, der selbst die Sirius in den Schatten stellte, obwohl er recht tief im Wasser lag. Bestimmt auf der Heimreise, dachte Richard, voll beladen mit Gewürzen, Pfeffer und Teakholz, Gütern, die im holländischen Ostindien im Überfluss produziert wurden. Und die Stahlkassette in der Kajüte des Kapitäns enthielt wahrscheinlich eine Schatulle mit kostbaren Saphiren, Rubinen und Perlen.
»Ich wette, die haben auf der Heimreise eine Menge Seeleute verloren«, sagte John Power und hielt kurz inne. »Bei unseren Ostindienfahrern ist das jedenfalls so.« Mr Bones winkte und Power eilte davon.
Da keine Wiederholung der offiziellen Inspektion zu erwarten war, hatten die Seesoldaten es sich gemütlich gemacht und tranken, zumal Sergeant Knight bei der eher improvisierten Verhandlung vor dem Kriegsgericht mit einer leichten Disziplinarstrafe davongekommen war. Gemeine Soldaten wie Elias Bishop und Joseph McCaldren, die an der »Grogrebellion« auf der Alexander beteiligt gewesen waren, hatten hundert Hiebe mit der neunschwänzigen Katze befürchtet und waren heilfroh, dass die Offiziere ihnen mehr Sympathien entgegenbrachten als Captain Sinclair. Die beiden Leutnants ließen sich nur selten an Bord blicken. Sie waren vollauf damit beschäftigt, mit Kameraden auf bequemeren Schiffen zu speisen, auf dem Markt von Santa Cruz um Gänse und Hühner zu feilschen oder Ausflüge ins Innere der Insel zu unternehmen und die Sehenswürdigkeiten des fruchtbaren Tafellands an der Bergflanke zu besichtigen.
Auch einige Sträflinge hatten sich erfolgreich Rum beschafft. Die Scarborough verkaufte außerdem holländischen Gin aus einem Fass, das sie vor den Scilly-Inseln aus dem Meer gefischt hatte, ein für englische Gaumen sehr scharfes und bitteres Getränk. Englischer Gin war süß wie Rum und im Übrigen der Hauptgrund, warum so viele Trinker verfaulte Zähne hatten. Tommy Crowder, Aaron Davis und ihre Kameraden schnarchten in der unteren Koje, nachdem sie dem von Sergeant Knight erstandenen Rum zugesprochen hatten. Überhaupt war das Schnarchen, das aus dem Gefängnis der Alexander drang, lauter als jemals zuvor seit ihrer Einschiffung. Am Freitag weilten nur Männer wie Richard, die ihr Geld lieber für wichtigere Dinge sparten, an Deck.
Am Samstag kam fünf Stunden nach Sonnenaufgang William Aston Long, der hochnäsige erste Maat, herunter und fragte nach John Power.
Power lag nicht in seiner Koje. Die Überraschung auf den Gesichtern der Gefangenen war nicht gespielt, und so zog Long mit grimmiger Miene wieder ab.
Mehrere Seesoldaten, noch benebelt vom Alkohol, brüllten durch die Luke, die Häftlinge sollten gefälligst an Deck erscheinen, aber dalli! Bestürzt krochen die Männer aus ihren Kojen oder sprangen von den Tischen auf, wo sie auf das Essen gewartet hatten.
Captain Duncan Sinclair kam missmutig aus seiner Achterhütte gewatschelt.
»Mein Vater hatte eine Sau, die sah genauso aus wie Captain Sinclair«, sagte Bill Whiting so laut, dass die gut dreißig Umstehenden ihn hören konnten. »Mir ist noch nie ein Keiler oder ein Stier untergekommen, der diesem Miststück das Wasser reichen konnte. Die Sau beherrschte alles, den Hof, die Scheune, den Hühnerstall, den Weiher, die Tiere und uns. Ein Ausbund von Bosheit! Selbst der Teufel hätte einen großen Bogen um sie gemacht. Beim geringsten Anlass griff sie an, und sie fraß sogar ihre Ferkel, nur um uns eins auszuwischen. Der Eber bibberte vor Angst, wenn er sie decken sollte. Sie hieß Esmeralda.«
Von diesem Tag an wurde Captain Sinclair von jedermann auf der Alexander nur noch »Esmeralda« genannt.
Die verkaterten Seesoldaten erhielten den Befehl, das Gefängnis auf den Kopf zu stellen. Als ihre Suche ergebnislos blieb, stellten sie das gesamte Schiff auf den Kopf, ja, sie suchten sogar in den aufgetuchten Segeln, doch John Power blieb spurlos verschwunden und mit ihm die Jolle der Alexander, deren Fehlen allerdings erst viel später bemerkt wurde, als jemand auf die Idee kam, nachzusehen.
Im Verlauf des Nachmittags kam Major Ross an Bord. Die bedauernswerten Seesoldaten sahen mittlerweile wieder halbwegs nüchtern aus, und die Leutnants Johnstone und Shairp waren umgehend von der Lady Penrhyn zurückbeordert worden, wo sie mit Captain James Campbell und seinen beiden Leutnants gespeist hatten. Nach der »Grogrebellion« war Ross fest entschlossen, auf der Alexander, die ihm von allen elf Schiffen der Flotte am meisten Unannehmlichkeiten bereitete, keinen weiteren Ärger zu dulden. Das Sterben unter den Sträflingen ging weiter, die Seesoldaten waren der unzufriedenste Haufen, den er je erlebt hatte.
»Finden Sie den Mann«, sagte er zu Captain Sinclair, »sonst wird Ihre Geldbörse um vierzig Pfund leichter. Ich habe den Gouverneur von dem Vorfall unterrichtet, und er ist nicht erfreut. Finden Sie ihn!«
Sie fanden ihn, freilich erst am Sonntagmorgen kurz nach Tagesanbruch, als die Flotte bereits Anstalten zum Auslaufen machte. Nachforschungen an Bord des holländischen Ostindienfahrers hatten ergeben, dass Power allein in der Jolle der Alexander hinübergepullt war und seine Dienste als Seemann angeboten hatte. Da er dieselbe Kluft trug wie viele Sträflinge, die der holländische Kapitän auf englischen Schiffen gesehen hatte, wurde er höflich abgewiesen und aufgefordert, sich zu entfernen, was er dann auch tat, allerdings nicht ohne vorher von einem Matrosen, der beim Anblick seiner kummervollen Miene Mitleid bekam, mit einem großen Becher Gin getröstet worden zu sein.
Es war die Jolle, die die Suchtrupps der Alexander als Erstes fanden. Sie war in einer einsamen Bucht mit der Fangleine an einen Felsen gebunden. Power, von Kummer und holländischem Gin übermannt, schnarchte hinter einem Steinhaufen und ergab sich widerstandslos. Sinclair und Long wollten ihn mit zweihundert Peitschenhieben bestrafen, doch der Gouverneur übermittelte den Befehl, ihn in Ketten zu legen und für vierundzwanzig Stunden ans Deck zu heften. Wie lange er die Eisen tragen sollte, stand noch nicht fest und lag im Ermessen des Gouverneurs.
Die Alexander stach in See. Chips, der Schiffszimmermann, heftete John Power mit dem Gesicht nach unten an Deck, indem er seine Handfesseln und Fußeisen an die Planken schraubte. Laut Befehl durfte niemand sich ihm nähern, bei Zuwiderhandlung drohte die Peitsche. Doch kaum senkte sich die Nacht über das Schiff, schlich Mr Bones zu ihm und gab ihm Wasser, das er aufleckte wie ein Hund.
Das Wetter war schön, die Sonne schien, und es wehte eine sanfte Brise, als die Flotte am Morgen aus dem Hafen der wolkenverhangenen Insel auslief. Diesmal blieb Teneriffa volle drei Tage in Sicht und der 3700 Meter in den Himmel ragende und von einem grauen Wolkenband umgebene Pico de Teide, auf dessen Gipfel Schnee glitzerte, bot einen unvergesslichen Anblick.
 
Am 15. Juni überquerten sie den Wendekreis des Krebses, ein Ereignis, das feierlich begangen wurde. Jeder Mann an Bord, der noch nie südlich dieser Linie geweilt hatte, musste keinem geringeren als Neptun persönlich vorgeführt werden. Das Deck war mit Muscheln, Netzen und Seetang geschmückt, und mitten drin stand eine große, mit Meerwasser gefüllte Kupferwanne. Zwei Seeleute bliesen auf Conchmuscheln, und im nächsten Moment wurde eine Furcht einflößende Gestalt aus der Back getragen, die auf einem Fass thronte und sich erst beim zweiten Hinsehen als Stephen Donovan entpuppte. Donovan trug eine Krone, die aus einem gezackten Messingring und Seetang bestand, und einen Bart aus Seegras. Sein Gesicht, seine nackte Brust und seine Arme waren blau angemalt, und von der Hüfte abwärts steckte er in dem Schwanz eines Schwertfisches, den man tags zuvor gefangen und ausgehöhlt hatte. In der einen Hand hielt er einen Dreizack, der nichts anderes war als die Harpune der Alexander - ein dreizackiges, mit Widerhaken versehenes Gerät, mit dem die Matrosen große Fische aufspießten. Zwei blau angemalte, mit Seetang behängte Matrosen führten jeden Mann nach vorn, fragten ihn, ob er die Linie schon einmal überquert habe, und wenn er verneinte, tauchten sie ihn in die Kupferwanne. Danach bespritzte Neptun ihn mit blauer Farbe und entließ ihn. Am lautesten johlten die Zuschauer bei der Taufe der Leutnants Johnstone und Shairp, obgleich die beiden in Kenntnis der Zeremonie vorsorglich alte Hosen angezogen hatten.
Es gab Rum für alle, auch für die Sträflinge. Hornpipes wurden hervorgeholt, und die Matrosen begannen, auf ihre eigentümliche Weise zu tanzen. Sie hüpften mit verschränkten Armen auf und ab, drehten sich im Kreis und wippten von einem Fuß auf den anderen. Danach sangen sie einige Shantys und forderten schließlich auch die Sträflinge auf, ein oder zwei Lieder zum Besten zu geben. Richard und Taffy trugen eine Weise von Thomas Tallis vor, stimmten als nächstes »Greensleeves« an und brachten die Übrigen dazu, mit ihnen Wirtshauslieder zu schmettern. Jeder erhielt eine randvolle Schüssel mit Mr Kellys Schwertfischsuppe, die selbst dem Schiffszwieback ein wenig Geschmack verlieh, wenn man ihn hineintunkte. Bei Einbruch der Dunkelheit wurden Laternen angezündet, dann sang man weiter, bis Captain Sinclair gegen zehn durch Trimmings, seinen Steward, ausrichten ließ, dass alle Seeleute bis auf die Wache gefälligst in ihren Kojen verschwinden sollten.
 
Die Nordostpassate trugen die Schiffe in flotter Fahrt nach Westen und Süden. Kein voll getakeltes Schiff konnte direkt vor dem Wind laufen. Ideal war ein Wind, der achterlicher als querab einkam, also schräg von hinten. Da die natürlichen Winde und Strömungen die Schiffe im Atlantik unweigerlich von der afrikanischen Küste fort und in Richtung Brasilien trugen, war jedermann klar, dass sie früher oder später in Rio de Janeiro landen würden. Die viel diskutierte Frage war nur, wann? Obwohl man in Teneriffa die Wassertonnen aufgefüllt hatte, hielt es Gouverneur Phillip für ratsam, die Kapverden anzulaufen und abermals Wasser zu bunkern. Die Inseln befanden sich in portugiesischem Besitz und lagen ziemlich genau westlich von Dakar.
Am 18. Juni zogen bei windigem, diesigem Wetter die ersten Kapverdischen Inseln vorüber: Sal, Boa Vista und Maio. Die Alexander flog nur so dahin und legte 165 Seemeilen am Tag zurück. Diese Zahl entsprach noch nicht einmal den tatsächlich gesegelten Meilen, sondern nur der in der gewünschten Richtung zurückgelegten Strecke. Ein Seetag dauerte von Mittag zu Mittag, da man mittags, wenn die Sonne am höchsten stand, mit dem Sextanten die geografische Breite bestimmen konnte. Die exakte geografische Länge wurde mithilfe von Chronometern ermittelt, allerdings hatte nur das Flaggschiff Sirius welche an Bord. Sobald die Besatzung der Sirius die Länge errechnet hatte, signalisierte sie das Ergebnis den anderen zehn Schiffen, indem sie entsprechende Flaggen hisste.
Am Morgen des 19. Juni kam die große und bergige Insel São Tiago in Sicht. Alles ging gut, bis die Flotte im geschlossenen Verband die Südostspitze umrundete, um in Praia vor Anker zu gehen. Dann war es auf einmal vollkommen windstill. Kein Lüftchen regte sich bis auf so genannte Katzenpfoten, leichte Windstöße aus allen Richtungen. Zu allem Überfluss herrschte ein starker Seegang, der die Schiffe auf die Küste zutrieb. Als der Gouverneur nach mehreren vergeblichen Manövern sah, dass die Scarborough und die Alexander nur noch eine halbe Meile von der Brandung entfernt waren, gab er der Flotte den Befehl, wieder offene See zu gewinnen. Es wurde kein zusätzliches Frischwasser gebunkert.
 
Solange die Nordostpassate bliesen, machte die Flotte gute Fahrt, doch Ende Juni flaute der stetige Wind ab und das Fortkommen hing nun davon ab, ob sich eine Brise finden ließ. Dies erforderte häufiges Überstaggehen und Warten. Der Rudergänger legte das Schiff auf einen anderen Bug, und dann warteten alle ab, ob dies dem Schiff einen Wind bescherte, der es in die gewünschte Richtung schob. Blieb der erhoffte Wind aus, wurde das Schiff erneut gewendet, und die Warterei begann von vorn. Wenden und warten, wenden und warten … Richard war dem Angelkommando zugeteilt worden, nicht weil er eine glückliche Hand als Fischer hatte, sondern weil er geduldig war. Wenn Männer wie Bill Whiting ihre Angel auswarfen, erwarteten sie, dass innerhalb einer Minute etwas anbiss. Sie hatten nicht die Geduld, nur an der Reling zu lehnen und, wenn nötig, stundenlang zu warten. Wenn die Sonne senkrecht vom Himmel brannte, war es an Deck nicht sehr angenehm, schon gar nicht für einen hellhäutigen Engländer. In dieser Hinsicht blieb Richard das Glück treu. Auf der Fahrt nach Teneriffa hatte er eine rosige Farbe angenommen, die danach in ein tiefes Braun übergegangen war. Dasselbe galt für Taffy, den schwarzhaarigen Waliser, und andere, dunklere Typen. Für blonde und sommersprossige Männer wie Bill Whiting und Jimmy Price brach hingegen eine schwere Zeit an. Ein ums andere Mal mussten sie unter Deck flüchten, sich die schmerzenden Sonnenbrände mit Richards Salbe einreiben oder Bordarzt Balmain um Hilfe bitten, der ihnen ohne viel Zartgefühl Zinkpaste auf die Haut klatschte.
Umso größer war Richards Freude, als er sah, dass die Matrosen zwischen Stagen und Wanten oder anderen Teilen des stehenden Guts Sonnensegel spannten, wobei sie geflissentlich darauf achteten, dass die Toppgasten nicht beim Aufentern behindert wurden.
»Ich staune«, sagte er zu Stephen Donovan. »Esmeralda ist offenbar daran gelegen, dass wir keinen Sonnenbrand bekommen.«
Donovan lachte schallend. »Richard! Das ist Esmeralda scheißegal! Nein, mit den Sonnensegeln soll Regenwasser gesammelt werden. Man stellt eine Tonne darunter, um es aufzufangen. Es ist eine Kunst, das Tuch so zu spannen, dass nur an einer Stelle ein Trichter entsteht. Ich glaube, wir haben den Passat verloren, und Esmeralda glaubt das offensichtlich auch.«
»Warum sind Sie eigentlich nur vierter Maat, Mr Donovan? Wenn ich an Deck herumgehe, habe ich den Eindruck, dass Sie fast genauso viel Verantwortung tragen wie Mr Long, und mit Sicherheit mehr als Mr Shortland oder Mr Bones.«
Die Winkel der blauen Augen legten sich in Falten, und ein Lächeln umspielte den Mund, doch auf Richard wirkte es ein wenig bitter. »Tja, Richard, ich bin aus Ulster und deshalb so etwas wie ein Ire, und obwohl ich in Westindien unter Admiral Rodney gedient habe, gehöre ich der Handelsmarine an. Esmeralda hat mich als zweiten Maat angeheuert, doch der Marineagent wollte ein Pöstchen für seinen Sohn. Esmeralda war sehr ungehalten, als er erfuhr, dass Mr Shortland als zweiter Maat an Bord kommen sollte - er und der Vater, Leutnant Shortland, sind einander spinnefeind. Am Ende zog Leutnant Shortland es vor, auf die Fishburn zu wechseln. Sein Sohn freilich blieb. Und da Mr Bones den Posten des dritten Maats partout nicht räumen wollte, wurde ich eben vierter. Somit haben wir jetzt einen für jede Wache, wenn Sie so wollen.«
Richard runzelte die Stirn. »Ich dachte, der Kapitän sei der Herr über sein Schiff und habe das letzte Wort.«
»Nicht wenn er mit der Königlichen Marine zusammenarbeitet. Die Firma Walton hofft auf weitere Aufträge, deshalb kommandiert Captain Francis Walton, einer aus der Familie, die Friendship. Esmeralda Sinclair ist Teilhaber von Walton & Company. Bei genauerer Betrachtung werden Sie feststellen, dass fast alle Kapitäne von Truppentransportern und Versorgungsschiffen Teilhaber ihrer Reedereien sind.« Donovan zuckte die Schultern. »Wenn das Experiment in der Botany Bay klappt, wird der Sträflingstransport ein einträgliches Geschäft.«
»Schön zu wissen«, grinste Richard, »dass wir armen Teufel einigen Leuten zu Wohlstand verhelfen.«
»Speziell Leuten wie William Richards junior. Er ist der Vertragspartner der Marine - und der Mann, dem Sie den Fraß verdanken, den Sie bekommen. Soll ihn der liebe Gott in der Hölle braten lassen. Und bitte, lieber Gott, schicke uns ein oder zwei Fische!«
Die Schnur in Richards Hand zuckte, ebenso die von Donovan, und von achtern ertönte der Freudenschrei eines Matrosen. Sie waren unversehens in einen Tunfischschwarm geraten und wuchteten die großen Fische in einem solchen Tempo an Bord, dass die Umstehenden aufgefordert wurden, Köder auf die Haken zu spießen, damit sie die Leinen wieder auswerfen konnten, ehe der Schwarm verschwand. Am Ende dieses kurzen Ausbruchs erfrischender Betriebsamkeit zappelten und zuckten über fünfzig große Tunfische auf den Planken, und die Matrosen und Seesoldaten wetzten ihre Messer und machten sich daran, sie zu schuppen, auszunehmen und zu zerlegen. Eine Arbeit, die den Sträflingen wegen der Messer untersagt war.
»Heute Abend gibt es jede Menge Fischsuppe«, sagte Richard zufrieden. »Im Übrigen bin ich froh, dass wir nicht mehr mittags essen. Mit vollem Magen schläft es sich besser. Ich weiß, unsere Leutnants beklagen, dass diese herrlichen Geschöpfe durstig machen, aber das Fleisch ist frisch!«
Das Meer war ein unterhaltsamer Gesellschafter, denn irgendetwas passierte immer. Richard hatte sich an den Anblick der großen Tümmler und der etwas kleineren Delfine zwar schon gewöhnt, die fischten, spielten und weit aus dem Wasser sprangen, doch seine Begeisterung war ungebrochen. Seinen ersten Hai und den ersten Wal sah er an einem Tag, als nahezu völlige Windstille herrschte und die langen Wellen der Dünung zu sanft waren, um sich zu brechen und Schaumkronen zu bilden. Richard sehnte sich danach, in dem kristallklaren Wasser zu schwimmen, und fragte sich, ob Mr Donovan oder einer der anderen Seeleute es ihm irgendwann auf der langen Fahrt beibringen würde. Er wunderte sich, warum sie nie ins Wasser gingen, nicht einmal an Tagen wie diesem, an denen man ohne Mühe wieder an Bord klettern konnte.
Dann kam er, der gefürchtete Hai. Doch Richard verstand nicht, warum sein bloßer Anblick ihm das Blut in den Adern gefrieren lassen sollte, denn der Hai war schön. Zuerst sah Richard die Rückenflosse, die wie ein Messer durchs Wasser schnitt. Der Hai steuerte auf die blutigen Tunfischabfälle zu, die neben dem Schiff und im Kielwasser trieben. Wie ein dunkler Schatten glitt er vorüber und schien für immer verschwunden. Er war gut fünfundzwanzig Fuß lang und in der Mitte so rund wie ein Fass, verjüngte sich vorn aber zu einem spitzen Maul und endete hinten in einem langen, spitz zulaufenden Schwanz mit einer gegabelten Flosse als Ruder. Ein stumpfes schwarzes Auge saß tellergroß in dem massigen Kopf. In dem Augenblick, in dem er das Fischgedärm erreichte, wälzte er sich auf die Seite und schöpfte es in seinen mit Furcht erregenden Zähnen bewehrten Rachen. Sein Bauch blitzte weiß auf, dann waren die Abfälle verschwunden. Er verschlang alles, was er finden konnte, dann schwamm er in Richtung der achteraus stehenden Schiffe, wo vielleicht weitere Leckerbissen auf ihn warteten.
Mein Gott! Richard hatte von Walen gehört und von Haien. Er wusste, dass Haie groß waren, aber dass sie fast an die Größe von Walen heranreichten, hätte er nicht im Traum gedacht. Und das Auge des Tieres verriet, dass es keine Seele besaß.
Der Wal tauchte etwa eine Kabellänge querab so plötzlich aus dem Meer auf, dass nur die Männer, die wie Richard an Steuerbord angelten, sahen, wie das Wasser förmlich explodierte und das mächtige Geschöpf die Oberfläche durchbrach. Ein schnabelförmiger Kopf, ein kleines intelligentes Auge, ein getüpfeltes Flossenpaar - gut zwölf Meter lang wölbte sich der prächtige, blau-graue Rücken aus dem Wasser. Dann fiel er zurück und verschwand in einer Wolke von Gischt. Einen Augenblick herrschte atemlose Spannung, dann stieg die herrliche Schwanzflosse in die Höhe, schwebte kurz in der Luft wie ein Banner und klatschte mit einem Donnerschlag mitten in den regenbogenfarbenen schillernden Schaum. Der Koloss des Meeres, großartiger als jedes Linienschiff.
Andere Wale tauchten auf, versprühten Fontänen aus Luft und Wasser, schwammen majestätisch neben den Schiffen her oder vollführten an der Oberfläche ihren gravitätischen Tanz. Eine Zeit lang tollte ein Muttertier mit Kalb um die Alexander herum. Die Mutter war schrecklich vernarbt und bewachsen, das Kalb makellos. Richard wäre am liebsten auf die Knie gesunken, um Gott für diese Gnade zu danken, doch er konnte den Blick nicht von den Walen abwenden. Wohin sie wohl unterwegs waren?
 
Nicht lange nach dem Abflauen des Windes setzten die ersten Böen ein und mussten ausgenutzt werden. Wolken zogen am Himmel auf und wuchsen unter bedrohlichem Grollen rasch zu dunkelblauen Gebirgen mit weißen Spitzen. Dann brach ein Sturm los. Die See geriet in Aufruhr, Regen peitschte, Blitze zuckten, Donner rollte. Eine Stunde später war der Himmel wieder blau und das Schiff lag bewegungslos in der Dünung.
Einige Sträflinge und Seesoldaten schliefen an Deck, doch Richard wunderte sich, dass es nicht mehr waren. Zumindest die Gefangenen waren es doch gewöhnt, auf harten Planken zu schlafen. Sobald es freilich Nacht wurde, was in diesen Breiten erstaunlich rasch geschah, entschieden sich die meisten für das stinkende Gefängnis. Eine Hängematte bot natürlich einen gewissen Komfort, wie stickig und schwül es unten auch sein mochte. Doch das Verhalten seiner Kameraden ließ nur einen Schluss zu: Offenbar fürchteten sie die Elemente.
Richard nicht. Er suchte sich ein Plätzchen an Deck, wo er den Matrosen nicht im Wege war, und wenn ein Gewitter über sie hinwegzog, bewunderte er das hinreißende Spiel der Blitze, spürte, wie sein Herzschlag stockte, wenn Blitz und Donner unmittelbar aufeinander folgten, und wartete, bis er völlig durchnässt war. Der Regen war das Beste von allem. Richard nahm jedes Mal seine Seife mit und stopfte seine Kleider unter eins der Langboote. Er genoss das Prickeln des Seifenschaums auf der Haut, wohl wissend, dass der Regen lange genug anhalten würde, um ihn wieder abzuwaschen. Alles Waschbare trug er nach oben - Matten, Kleider, selbst die Decken, obwohl sie zusehends einliefen und die anderen lautstark dagegen protestierten.
»Du schleppst alles, was nicht niet- und nagelfest ist, nach oben und wäschst es«, rief Bill Whiting empört. »Wie hältst du es da oben nur aus? Wenn das Schiff vom Blitz getroffen wird und untergeht, möchte ich lieber hier unten sein.«
»Die Decken können nicht weiter einlaufen, Bill, deshalb verstehe ich nicht, warum du dich so aufregst. In einer Stunde ist alles wieder trocken. Du bist so mit Schnarchen beschäftigt, dass du nicht mal merkst, wenn ich die Sachen hole.«
Dass Bill wieder munterer und frecher wurde, hatte sicher damit zu tun, dass sie in diesen Gewässern häufig Fisch zu essen bekamen, ein Aspekt, den Richard vor der Fahrt über den großen Teich nicht bedacht hatte. Das Brot war mittlerweile in einem beklagenswerten Zustand. Es wimmelte von fetten Maden, sodass die meisten beim Essen die Augen schlossen. Es war auch weicher geworden, was offensichtlich dem Umstand zu verdanken war, dass die widerlichen Dinger sich munter vermehrten. Das Pökelfleisch blieb naturgemäß verschont, doch auch Erbsen und Hafermehl beherbergten Untermieter. Zu allem Überfluss ging in Richards Gruppe das Malzextrakt zur Neige.
»Mr Donovan«, sagte er zu dem vierten Maat, der de facto zweiter Maat war, »könnten Sie mir einen Gefallen tun, wenn wir Rio de Janeiro anlaufen? Ich behellige Sie nur damit, weil ich Vertrauen zu Ihnen habe und sonst keinen Landgänger kenne, dem ich trauen kann.«
Das stimmte. In den vielen gemeinsamen Angelstunden war zwischen ihnen eine Freundschaft gewachsen, die so eng war wie die zwischen Richard und seinen Gefährten oder sogar noch enger. Stephen Donovan war ein ernster und doch heiterer Mensch, empfindsam und von beißendem Humor, und er erriet mit untrüglichem Gespür Richards Gedanken. Er war ihm ein Bruder, mehr als William es je gewesen war, und irgendwie spielte es keine Rolle mehr, dass Donovan nicht nur brüderliche Gefühle für ihn empfand. Anfangs hatten die Mitgefangenen über Richards seltsame Freundschaft gewitzelt, und seine häufigen Übernachtungen auf dem Oberdeck hatten der Angelegenheit eine pikante Note verliehen. Doch Richard schenkte den Anzüglichkeiten keine Beachtung und stellte sich taub. Er wusste, dass es klüger war, sich nicht zu verteidigen. Nach einiger Zeit beruhigten sich alle wieder und akzeptierten die Beziehung als eine normale Freundschaft - Mr Donovan befriedigte seine körperlichen Gelüste anderswo.
An dem Tag, an dem Richard sein Anliegen vortrug, angelten sie. Es war einer jener quälenden Tage, an denen die Fische nicht beißen wollten. Richard trug wie Donovan einen Strohhut. Er hatte ihn dem Zimmermannsgehilfen abgekauft, den es mehr nach Rum als nach Sonne dürstete.
Donovan betrachtete ihn erfreut. »Es wäre mir eine Freude, Ihnen einen Gefallen zu erweisen.«
»Wir haben nur sehr wenig Geld und brauchen einige Sachen wie Seife, Malzextrakt, ein paar Hausmittel gegen verschiedene Wehwehchen und Insektenstiche, Teeröl, neue Lappen, ein paar Rasiermesser und zwei Scheren.«
»Sparen Sie Ihr Geld für die Rückfahrt auf, Richard. Es wird mir ein Vergnügen sein, Ihnen die Sachen ohne Bezahlung zu besorgen.«
Richard schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht annehmen. Ich muss dafür bezahlen.«
Donovan hob eine Augenbraue und grinste. »Glauben Sie etwa, ich habe es auf Ihren Körper abgesehen? Das tut weh.«
»Aber nein! Ich kann nur keine Geschenke annehmen, weil ich selbst keine Geschenke machen kann!«
Donovan lachte. »Sie können das Geschenk getrost annehmen. Ich will nur Ihr Los erleichtern. Wir sind doch Freunde, Richard. Ist Ihnen das entgangen?«
Richard lächelte. »Nein, durchaus nicht. Danke, Mr Donovan, ich nehme das Geschenk an.«
»Sie könnten mir ein noch größeres machen.«
»Und wie?«
»Nennen Sie mich Stephen.«
»Das schickt sich nicht. Wenn ich ein freier Mann bin, wird es mir eine Freude sein, Sie Stephen zu nennen. Doch bis dahin steht es mir nicht zu.«
Ein Hai schwamm vorbei, ein Hammerhai, keine zwölf Fuß lang. In diesen Gewässern eine Kaulquappe. Er wendete, starrte sie ausdruckslos an und schwamm davon.
»Ein boshaftes Geschöpf«, sagte Richard. »Das Auge eines Wals verrät Gefühle, das eines Tümmlers auch. Bei diesem Biest habe ich das Gefühl, es kommt aus der tiefsten Hölle.«
»Oha! Man merkt, dass Sie aus Bristol stammen! Haben Sie je gepredigt?«
»Nein, aber wir haben Prediger in der Familie. Anglikaner. Der Vetter meines Vaters ist Pfarrer von St. James, und sein Vater hat in Crew’s Hole unter freiem Himmel vor Bergleuten gepredigt.«
»Ein tapferer Mann. Hat er es überlebt?«
»Ja. Vetter James wurde erst später geboren.«
»Leiden Sie nie unter den Versuchungen des Fleisches, Richard?«
»Früher ja. Ich kannte eine Frau, die jedem Mann das Tor zum Paradies öffnen konnte. Das war schrecklich. Ich kann leicht darauf verzichten.«
Donovans Leine zuckte. »Ich habe einen!«, schrie er. »Da hat einer angebissen!«
In der Tat. Der Hai war zurückgekehrt und hatte den Köder mitsamt Haken und Schwimmer geschluckt. Donovan riss sich den Hut vom Kopf und trampelte fluchend darauf herum.
 
Vielleicht lag es an der drückend schwülen Hitze, vielleicht hatte die Alexander dem Tod auch nur eine Atempause gegönnt, jedenfalls begann am 29. Juni wieder das Sterben. Bordarzt Balmain, der wegen des Gestanks nur sehr widerwillig ins Gefängnis hinabstieg, war mit einem Mal genötigt, einen Großteil seiner Zeit dort zu verbringen. Doch seine Arzneien bewirkten nicht viel, weder die Brechmittel noch die Abführmittel.
Wie groß doch die Macht des Aberglaubens war! Die Alexander durchpflügte gerade eine zähe, kobaltblau schimmernde See, als die ersten Krankheitsfälle auftraten, und die Sträflinge sahen darin den deutlichen Beweis, dass ein Fluch auf dem Schiff lag. Das Meer hatte sich in blaue Kiesel verwandelt, und alle würden jetzt sterben.
»Das sind doch Nautilusschnecken!«, rief Bordarzt Balmain aufgebracht. »Wir sind in einen riesigen Schwarm Nautilusschnecken geraten - portugiesische Kriegsschiffe, wie man sie bei der Marine nennt. Hellblau glänzendes Meeresgetier! Etwas ganz Natürliches und kein Zeichen für den Zorn Gottes! Himmeldonnerwetter noch mal!« Er fuchtelte mit den Armen und zog sich, an der Menschheit verzweifelnd, in seine Kabine auf dem Achterdeck zurück.
»Warum heißen sie portugiesische Kriegsschiffe?«, fragte Joey Long, als Richard an Ikes Krankenlager trat, um ihn abzulösen.
»Weil die portugiesischen Linienschiffe in derselben blauen Farbe gestrichen sind«, antwortete Richard.
»Nicht schwarz und gelb wie unsere?«
»Joey, wenn sie genauso gestrichen wären, wie könnte man dann Freund und Feind unterscheiden? Ist die Luft erst mal von Pulverdampf geschwängert, sind Flaggen und Hoheitszeichen kaum noch zu erkennen. Geh jetzt an Deck, du hockst mir zu viel hier unten.« Richard setzte sich neben Ike, zog ihm Hemd und Hose aus und wusch ihn mit einem Schwamm.
»Balmain ist ein Quacksalber«, krächzte Ike.
»Nein, er ist nur mit seinem Latein am Ende. Er weiß nicht, was er noch tun kann.«
»Weiß das überhaupt einer? Irgendwo?« Ike bestand nur noch aus Haut und Knochen. Die Haare waren ihm ausgefallen, seine Nägel hatten sich weiß verfärbt, seine Lippen waren geschwollen und rissig, seine Zunge belegt. Doch am schlimmsten fand Richard seine verschrumpelten Genitalien. Ach Ike!
»Los, mach den Mund auf.« Er drehte den Zipfel eines Lappens zusammen, tauchte ihn in gefiltertes Wasser und reinigte dem Straßenräuber damit behutsam Zähne und Zunge. Manchmal, so dachte er bei der Arbeit, ist es von Nachteil, wenn man groß ist. Wäre Ike so klein wie Jimmy Price, wäre er längst von seinen Leiden erlöst. Doch er war früher ein wahrer Muskelprotz gewesen, und das Leben war zäh. Kaum einer gab kampflos auf, die meisten klammerten sich ans Leben wie Napfschnecken an einen Felsen.
Der Gestank wurde immer schlimmer, und die Ursache war das Bilgewasser. Obwohl Balmain seit sieben Jahren Marinearzt war, fühlte er sich durch die Zustände auf der Alexander überfordert. Auf sein Drängen hin wurden Windsäcke angebracht, Trichter aus Leinwand, die durch Löcher in den Decksplanken Frischluft in die stickigen Winkel des Gefängnisses blasen sollten. Captain Sinclair hatte energisch dagegen protestiert, doch Balmain hatte darauf bestanden, und aus Sorge um den Ruf der Alexander, die mittlerweile als Todesschiff galt, hatte der Captain schließlich eingelenkt und Chips den Auftrag gegeben, die Löcher zu bohren. Aber wenn überhaupt, so gelangte nur sehr wenig Frischluft ins Gefängnis, und die Zahl der Fieberkranken stieg weiter.
Richard war zwar dünn, aber wohlauf, und auch seinen Kojengenossen und den vier anderen in Ikes Koje ging es gut. Willy Dring und Joe Robinson hatten das Unterdeck endgültig verlassen, sodass die drei Zurückgebliebenen - seit Portsmouth hatten sie einen Mann verloren - so viel Platz hatten wie normalerweise sechs Häftlinge. Und Tommy Crowders Koje stand mit Sergeant Knight in so gutem Einvernehmen, dass seine Leute ein recht angenehmes Leben führten. Trotz dieser positiven Anzeichen ahnte Richard freilich, dass der neuerliche Ausbruch der Krankheit böse Folgen haben würde.
Am 4. Juli starb erneut ein Mann und dreißig Sträflinge lagen im Fieber. Es war, als sei der Bauch der Alexander mit halb verwesten Leichen voll gestopft. Bordarzt Balmain schüttelte den Kopf. Wie konnten es die armen Teufel in diesem bestialischen Gestank nur aushalten?
Am nächsten Tag übermittelte die Sirius zwei Befehle. Der erste lautete, dass John Power die Ketten abgenommen werden sollten. Kaum war Power von den Eisen befreit, meldete er sich bei Mr Bones zum Dienst, denn es war ihm nicht ausdrücklich untersagt worden, wieder zu arbeiten. Der zweite Befehl missfiel den beiden Leutnants zutiefst: Die Wasserration für jeden Mann der Flotte, egal ob Matrose, Seesoldat oder Sträfling - Kinder und Frauen bekamen ohnehin weniger - wurde von vier Pints auf drei Pints gekürzt. Die Gefangenen sollten jeden Morgen ein Pint und am Nachmittag noch einmal zwei Pints erhalten. Ein Offizier sollte die Wasserausgabe überwachen, zwei Seesoldaten und zwei Sträflinge sollten dabei als Zeugen fungieren und, um Betrug oder Kungeleien vorzubeugen, bei jeder Ausgabe komplett ausgewechselt werden. Die Laderäume waren verschlossen zu halten, die angebrochenen Wassertonnen streng zu bewachen. Die Schlüssel nahmen die Offiziere in Gewahrsam. Wasser zum Kochen und Waschen sollte am Morgen ausgegeben werden, zusammen mit dem Wasser für die Tiere. Die Tiere tranken reichlich. Rinder und Pferde bekamen täglich zehn Gallonen.
Drei Tage später hatten die Flauten und Stürme ein Ende, und die Südostpassate begannen zu wehen, obwohl die Schiffe noch nicht einmal den Äquator überquert hatten. Die Stimmung stieg sofort, allerdings musste die Flotte hart arbeiten, um wenigstens annähernd hundert Meilen am Tag zurückzulegen. Mit knarrender Takelage pflügte sich die Alexander durch hohe Bugseen, wie gewöhnlich auf gleicher Höhe mit der Scarborough und dicht gefolgt von der Sirius und der Supply. Weit voraus lief die Friendship, über dem Bug Unmengen von Gischt, die sie abschüttelte wie ein Hund das Wasser.
Als die Silberknöpfe an Johnstones und Shairps roten Uniformröcken schwarz anliefen und der Gestank auf dem Achterdeck beinahe ebenso unerträglich wurde wie unter Deck, sprachen die beiden Leutnants und Bordarzt Balmain beim Captain vor. Sinclair hörte sie an, tat ihre Beschwerde aber als Unsinn ab. Er beklagte sich seinerseits darüber, dass die Gefangenen sein Brot stahlen, und verlangte, die Missetäter auszupeitschen.
»Sie sollten froh sein«, erwiderte Johnstone scharf, »dass die Gefangenen nicht Ihren Rum stehlen!«
Sinclair grinste und entblößte dabei schmutzige Zähne. »Andere Schiffe mögen Probleme mit ihrem Rum haben, Gentlemen, dieses Schiff nicht. Und jetzt verschwinden Sie und lassen mich in Ruhe. Ich habe Chips den Auftrag gegeben, die Bilgepumpe an Steuerbord zu reparieren. Sie arbeitet nicht richtig. Das ist zweifellos die Ursache für den Zustand der Bilge.«
»Wie soll ein Zimmermann ein Gerät reparieren, das hauptsächlich aus Metall und Leder besteht?«, erwiderte Balmain heftig.
»Beten Sie, dass es ihm gelingt. Und jetzt verschwinden Sie.«
 
Balmain hatte genug. Er signalisierte der Sirius und erhielt die Erlaubnis, mit einem Boot zur Charlotte überzusetzen und bei Marineadmiralarzt John White vorzusprechen. Unter Shairps Kommando nahm das Boot Kurs auf die Charlotte, einen schwerfälligen Segler, der weit zurücklag. Die Rückfahrt zur Alexander wurde zu einer Tortur, sogar für einen Mann wie Shairp, der selbst in schwerster See nicht mit der Wimper zuckte. Entsprechend übellaunig war Marineadmiralarzt White, als er die Jakobsleiter der Alexander erklomm.
»Mr White und Mr Balmain wünschen euch im Zwischendeck zu sehen«, sagte Stephen Donovan zu den Bristolern.
Streng genommen, dachte Richard, der von Mr Thomas eine Menge über Pumpen gelernt hatte, müssten die Pumpen der Alexander ein Deck tiefer gelegt werden, damit sie das Bilgewasser nicht so weit nach oben pumpen mussten. Doch die Alexander war ein Sklavenschiff und die Eigner wünschten keine Löcher so weit unten im Rumpf. Tatsache war, dass sich zwischen den Besuchen im Trockendock nie jemand um die Bilgen gekümmert hatte.
Im Quartier der Seesoldaten im Zwischendeck standen zwei Behälter, jeweils einer an Steuerbord und Backbord, beide mit einer Saugpumpe mit Schwengel ausgestattet. Ein Rohr leitete das Wasser aus den Behältern durch eine Klappe ins Meer. Die Steuerbordpumpe war zerlegt worden, die andere machte keinen Mucks.
»Gehen wir ganz runter«, sagte White mit aschfahlem Gesicht. »Wie kann es ein Mensch hier aushalten? Leutnant Johnstone, die Geduld Ihrer Männer ist lobenswert.«
Richard und Will Connelly öffneten die Luke zum Frachtraum und taumelten zurück. In der Last darunter war es stockdunkel, doch selbst die hinter ihnen stehenden Männer konnten das Plätschern des Wassers hören, das gegen die Trinkwassertonnen schwappte.
»Wir brauchen ein paar Laternen«, sagte White und hielt sich ein Taschentuch vor Mund und Nase. »Einer von uns wird da runtersteigen müssen.«
»Sir«, gab Richard höflich zu bedenken, »ich würde keine offene Flamme da reinhalten. Es könnte eine Explosion geben.«
»Aber ich muss hineinsehen!«
»Das ist nicht nötig, Sir, wirklich nicht. Wir hören doch alle, was los ist. Das Wasser aus den Bilgen hat den Laderaum überflutet. Das bedeutet, dass sie voll sind. Die beiden Pumpen funktionieren nicht und haben vielleicht noch nie funktioniert - beim letzten Mal haben wir die Bilgen mit Eimern ausgeschöpft. Dieses Problem haben wir seit Gallion’s Reach.«
»Wie heißen Sie?«, fragte White hinter dem Taschentuch hervor.
»Richard Morgan, Sir, ehemals in Bristol wohnhaft.« Richard grinste. »Wir aus Bristol sind Mief gewöhnt, deshalb werden wir immer zum Bilgedienst eingeteilt. Aber Ausschöpfen allein wird keine Abhilfe schaffen. Die Bilgen müssen jeden Tag leer gepumpt werden. Aber nicht mit Saugpumpen. Mit einer solchen Pumpe brauchen Sie eine Woche, um eine Tonne Wasser zu fördern, selbst wenn sie ordnungsgemäß arbeitet.«
»Ist der Zimmermann in der Lage, sie zu reparieren, Mr Johnstone?«
Johnstone zuckte die Schultern. »Fragen Sie Morgan, Sir. Er scheint sich damit auszukennen. Ich muss gestehen, dass ich von Pumpen nichts verstehe.«
»Ist der Zimmermann in der Lage, sie zu reparieren, Morgan?«
»Nein, Sir. In der Bilge befindet sich zu viel Schmutz. Wenn gepumpt wird, verstopft er Rohre und Zylinder dieser Größe. Die Alexander braucht Kettenpumpen.«
»Was kann eine Kettenpumpe, was diese Pumpen nicht können?«, fragte White.
»Sie beseitigt die Schweinerei da unten, Sir. Sie besteht aus einem einfachen Holzkasten mit einem viel größeren Fassungsvermögen als diese Zylinder. Angetrieben wird sie mithilfe einer flachen Messingkette, die oben über Holzzahnräder und unten über eine Holztrommel läuft. An der Kette sind Bretter angebracht, die sich auf dem Weg nach unten zusammenfalten und auf dem Weg nach oben aufklappen und eine Saugwirkung erzeugen. Ein guter Zimmermann kann alles bauen bis auf die Kette - das Gerät ist so einfach, dass zwei Männer, die die Zahnradtrommel drehen, in einer Minute eine Tonne Wasser fördern können.«
»Dann muss die Alexander mit Kettenpumpen ausgerüstet werden. Gibt es eine Kette an Bord?«
»Das bezweifle ich, Sir, doch die Sirius ist unlängst überholt worden und dürfte deshalb über Kettenpumpen verfügen. Ich könnte mir vorstellen, dass sie sogar Ersatzketten an Bord hat. Wenn nicht, dann vielleicht eins der anderen Schiffe.«
White wandte sich an Johnstone und Shairp. »Gut, ich setze auf die Sirius über und erstatte dem Gouverneur Bericht. In der Zwischenzeit lassen Sie Laderaum und Bilgen ausschöpfen. Alle Seesoldaten und Gefangenen, die nicht krank sind, sollen mit anpacken. Ich möchte nicht, dass die Männer aus Bristol alles alleine machen müssen.« Dann sah er Balmain durchdringend an. »Warum haben Sie nicht viel früher über die Zustände hier berichtet, wenn sie schon seit über sieben Monaten andauern? Der Kapitän dieses Schiffs ist ein Faulpelz. Aber Sie als Schiffsarzt haben die unbedingte Pflicht, die Gesundheit aller Männer an Bord zu erhalten, auch die der Gefangenen. Das haben Sie nicht getan, und Sie können sich darauf verlassen, dass ich den Gouverneur davon unterrichten werde.«
William Balmains Wangen färbten sich rot und seine schönen Gesichtszüge erstarrten vor Schreck und Wut. Ihn vor zwei Seesoldaten und vier Gefangenen abzukanzeln, war schändlich und entsprach ganz der Art, wie Major Ross mit unzuverlässigen Untergebenen umsprang. Jetzt war nicht der rechte Zeitpunkt, White zur Rede zu stellen, doch er schwor sich, Genugtuung zu fordern, sobald die Flotte die Botany Bay erreicht hatte. Seine Augen wanderten forschend über die Gesichter der Sträflinge, vermochten aber keine Anzeichen von Spott oder Häme zu entdecken. Er kannte diese Leute. Sie waren ihm aufgefallen, weil sie niemals krank wurden.
In diesem Augenblick erschien Major Robert Ross am Fuß der Leiter. Shairps Ausflug zur Charlotte hatte seine Neugier erregt. Ein kurzes Schnüffeln genügte, um ihn über die Natur des Problems aufzuklären. Balmain zog sich steif in seine Kabine zurück, um zu schmollen und Rachepläne zu schmieden, während White den Major ins Bild setzte.
»Ach ja«, meinte Ross und musterte Richard. »Sie sind der Mann, der bei seinen Leuten für Sauberkeit sorgt, ich erinnere mich gut an Sie. Sie verstehen also etwas von Pumpen, Morgan?«
»Jedenfalls genug, um zu wissen, dass die Alexander dringend eine Kettenpumpe benötigt, Sir.«
»Ganz meine Meinung. Mr White, Sie begeben sich auf die Sirius und anschließend auf die Charlotte. Mr Johnstone und Mr Shairp, Sie lassen alle Mann die Bilgen ausschöpfen. Und sägen Sie unterhalb der Stückpforten zwei Löcher in die Hulk, damit die Männer die Brühe direkt in die See kippen können.«
Als Major Ross und Marineadmiralarzt White tags darauf wieder an Bord kamen, brachten sie Leutnant Philip Gidley King mit. King warf einen Blick auf die Backbordpumpe, die Richard inzwischen zerlegt hatte, und lachte verächtlich. »Mit dem Ding saugen Sie nicht mal Sperma aus dem Schwanz eines Satyrs! Das Schiff muss mit Kettenpumpen ausgerüstet werden. Wo ist der Zimmermann?«
Englische Sorgfalt kombiniert mit keltischem Elan wirkte Wunder. Als Angehöriger der Königlichen Marine ranghöher als ein Leutnant der Marineinfanterie, blieb King so lange an Bord, bis Chips genau verstand, was er zu tun hatte, und auch dazu in der Lage war, dann verließ er das Schiff wieder und berichtete dem Kommodore, dass die hygienischen Verhältnisse auf der Alexander sich künftig beträchtlich verbessern dürften.
Die Alexander wurde freilich nie ein wirklich gesundes Schiff, denn das Gift saß in den Spanten. Doch wenigstens verflogen die Ausdünstungen mit der Zeit, und der Aufenthalt unter Deck wurde erträglicher. Und Esmeralda Sinclair? War er zufrieden, dass das Problem ohne Kosten für Walton & Co. behoben worden war? Mitnichten. Wer, in Dreiteufelsnamen, fragte er Trimmings von der Achterhütte herab, hatte zwei Löcher in sein Schiff gesägt?
 
Die Flotte überquerte den Äquator in der Nacht zum 16. Juli, und tags darauf geriet sie erstmals seit Portsmouth in einen schweren Sturm. Die Luken der Alexander wurden verschalkt, und tiefe Dunkelheit senkte sich über die Gefangenen, ein Albtraum für Männer wie Richard, die sich die meiste Zeit an Deck aufgehalten hatten. Ihr einziger Trost war, dass wenigstens der Gestank nicht mehr so schlimm war. Die Alexander segelte über Backbordbug, sodass sie mehr stampfte als rollte. Die Gefangenen hatten das merkwürdige Gefühl, zuerst erdrückt zu werden, wenn das Schiff sich aufbäumte, und dann schwerelos zu schweben, wenn es unter lautem Getöse ins Wasser zurückfiel, und sie wurden zwischen Schott und Trennwand hin und her geworfen. Viele, die sich bereits seefest gewähnt hatten, wurden wieder seekrank. Ike litt Qualen.
Zu große Qualen. Als der Sturm sich verzogen hatte und die Regentonnen so gefüllt waren, dass wieder normale Wasserrationen ausgegeben werden konnten, begriff jeder, selbst der untröstliche Joey Long, dass es mit Isaak Rogers zu Ende ging.
Ike rief nach Richard, und Richard kam und setzte sich Joey gegenüber, der Ikes Kopf in seinen Schoß gebettet hatte.
»Der Straßenräuber ist am Ende seines Wegs angelangt«, sagte Ike. »Ich bin froh darüber, Richard. Freu dich mit mir. Kümmere dich um Joey. Er wird es sich sehr zu Herzen nehmen.«
»Sei unbesorgt, Ike, wir werden uns alle um Joey kümmern.«
Ike hob einen knochigen Arm und deutete auf das Regal am Decksbalken. »Meine Stiefel, Richard. Du bist als Einziger groß genug, um sie zu tragen, und ich möchte, dass du sie bekommst. So wie sie sind, mit allem Drum und Dran, verstehst du?«
»Ich verstehe. Ich werde sie in Ehren halten.«
»Gut«, sagte er und schloss die Augen.
Eine Stunde später starb er, ohne die Augen noch einmal geöffnet zu haben.
Auf der Alexander waren so viele Männer gestorben, dass die Segelmacher von anderen Schiffen altes Tuch anfordern mussten. Isaak Rogers wurde in sauberen Kleidern in einen Sack eingenäht und an Deck getragen. Da Richard ein Gebetbuch der anglikanischen Kirche besaß, hielt er die Andacht, befahl die Seele Ikes in Gottes Hände und übergab den Leichnam der See. Er glitt von der Planke und versank augenblicklich, beschwert mit Basaltsteinen von jenem Strand auf Teneriffa, auf dem John Power geschlafen hatte. Die Eisenstücke waren auf dem Todesschiff ausgegangen.
 
Anfang August sichtete die Flotte am Kap Frio, eine Tagesreise nördlich der brasilianischen Hauptstadt, erstmals Land. Doch das gezackte Küstengebirge hatte denselben Effekt wie São Tiaga. Kaum hatten die Schiffe das Kap umsegelt, flaute der Wind ab, und sie mussten förmlich nach Rio de Janeiro kriechen. Sie trafen erst in der Nacht vom 4. auf den 5. dort ein, mitten im Winter, da Rio auf der südlichen Halbkugel lag. Die Überfahrt von Portsmouth nach Rio hatte 84 Tage oder genau 12 Wochen, die Überfahrt von Teneriffa nach Rio 56 Tage oder genau 8 Wochen gedauert. Die Flotte hatte 6100 Landmeilen zurückgelegt.
Es dauerte geraume Zeit, bis die Behörden der portugiesischen Kolonie der Flotte die Erlaubnis gaben, in den Hafen einzulaufen. Um drei Uhr nachmittags war es endlich so weit. Unter dem Gedonner von 13 Salutschüssen der Sirius, denen die Kanonen von Fort Santa Cruz antworteten, segelte die Flotte über die eine Meile breite Barre zwischen den Zuckerhüten.
Seit Tagesanbruch drängte sich auf der Alexander alles an der Reling und bestaunte die exotische Schönheit der Landschaft. Der südliche Zuckerhut war ein tausend Fuß hohes, mit Bäumen bekröntes Ei aus rötlich-grauem Felsen, der nördliche Zuckerhut kahl und weniger spektakulär. Daneben ragten andere Berge mit gezackten und abgeschnittenen Spitzen empor, deren Flanken dichter Dschungel und grüne Weiden mit grauen, blassgelben und rötlichen Felsvorsprüngen bedeckten. Lange gelbe Sandstrände schwangen sich am Ufer entlang, vor der Barre mit Brandung, dahinter ruhig und beschaulich. Kurz hinter der Barre, gegenüber einer der vielen Festungen, die Rio de Janeiro vor Seeräubern schützen sollten, gingen die elf Schiffe vorläufig vor Anker, ehe sie am nächsten Tag zu ihren Dauerliegeplätzen vor São Sabastião geschleppt wurden, wie die Stadt Rio eigentlich hieß. Die Stadt lag auf einer nahezu quadratischen Halbinsel an der Westküste und schickte tentakelartige Ausläufer in die Täler der bergigen Umgebung.
Der Hafen wimmelte von Proviantbooten. Die meisten wurden von spärlich bekleideten Schwarzen gesteuert und prunkten mit leuchtend bunten Sonnensegeln. Richard konnte die mit goldenen Kreuzen geschmückten Kirchtürme sehen, doch waren sie praktisch die einzigen hohen Gebäude in der Stadt. Niemand hatte den Sträflingen verboten, an Deck zu gehen, und nicht einmal John Power wurden Ketten angelegt. Dafür patrouillierten ständig Langboote um die sechs Transportschiffe und verscheuchten die Proviantboote.
Es war schön und sehr heiß, und kein Lüftchen regte sich. Wenn man doch nur an Land gehen dürfte! Aber das war unmöglich, wie alle Sträflinge begriffen. Gegen Mittag erhielt jeder ein großes Stück frisches Fleisch, dazu Süßkartoffeln und Bohnen, Reis und ein merkwürdig schmeckendes Brot, das, wie Richard später erfuhr, aus einer Wurzelknolle mit Namen Kassave oder Maniok gebacken wurde.
Doch das alles war vergessen, als die Boote zurückkamen und lachende Schwarze mit blitzenden weißen Zähnen hunderte und aberhunderte von Orangen an Deck warfen und die Gefangenen ein Spiel daraus machten, sie aufzufangen. Außer Richard kannten nur wenige diese Frucht. Er hatte gelesen, dass einige wohlhabende Familien »Orangerien« besaßen, und einmal hatte ihm Vetter James, der Apotheker, der Zitronen importierte und aus ihren Schalen Zitronenöl gewann, eine Orange gezeigt.
Manche der Früchte leuchteten in einem satten Orange, andere waren fast rot und hatten blutrotes Fruchtfleisch. Als die Sträflinge und Seeleute dahinter gekommen waren, wie leicht sich die ungenießbare Schale ablösen ließ, verschlangen sie gierig den zuckersüßen, saftigen Inhalt. Zur Abwechslung aßen sie immer wieder auch dicke, hellgelbe Zitronen oder lutschten an Limonen, die weniger saftig und geschmacklich irgendwo zwischen den sauren Zitronen und den süßen Orangen anzusiedeln waren. Am Ende der dritten Woche in Rio stellte Neddy Perrott fest, dass die blasseren Früchte unreif geerntet worden waren, und legte sich einen Vorrat der saftigen Kugeln an. Andere Sträflinge folgten seinem Beispiel. Einige, wie Richard, bewahrten Samen von Orangen und Zitronen auf.
Jeden Tag bekamen sie frisches Fleisch, Gemüse und Kassavebrot. Und als die Seesoldaten entdeckt hatten, dass der Rum in Rio zwar von minderer Qualität war, aber kaum mehr als Wasser kostete, war es um Disziplin und Diensteifer des Wachpersonals geschehen. Die beiden Leutnants waren nur noch selten an Bord, und Bordarzt Balmain unternahm ausgedehnte Ausflüge ins Landesinnere, um riesige, farbenprächtige Schmetterlinge und Blumen von wächserner Schönheit namens Orchideen anzusehen. Viele Matrosen und Seesoldaten brachten zahme Papageien mit prachtvollem Gefieder an Bord. Von den Hunden lebten nur noch zwei, den Rest hatten, wie von Stephen Donovan prophezeit, die Haifische gefressen. Rodney, der Kater, hatte mit seiner Partnerin für weiteren Nachwuchs gesorgt. Die hygienischen Verhältnisse auf der Alexander mochten sich gebessert haben, doch es wimmelte von Ratten und Mäusen.
Rio hatte auch eine weniger erfreuliche Seite: Die Stadt war ein Paradies für Schaben. Aus England kannte man nur die kleinen und vergleichsweise harmlosen Kakerlaken, doch die Biester hier waren riesig. Sie konnten fliegen, machten rasselnde Geräusche und verströmten dieselbe Art von Bösartigkeit wie die Haie. Aggressiv und verschlagen, griffen sie einen Menschen lieber an, als zu fliehen. Sie trieben die Männer an den Rand des Wahnsinns, vom ranghöchsten Offizier auf der Sirius bis hinunter zum gemeinsten Sträfling auf der Alexander.
Wer nicht an Land gehen durfte, schlief meist an Deck, obwohl auf dem Wasser nie Ruhe einkehrte. Rio schlief nie. Und es wurde auch nie dunkel. Kirchen und andere Gebäude blieben die ganze Nacht hell erleuchtet. Als hätten die wenigen Portugiesen und ihre unzähligen schwarzen Sklaven Angst vor der Dunkelheit. Nachdem Richard in den frühen Morgenstunden einmal den Grauen erregenden Ruf eines Tiers gehört hatte, der halb wie ein schriller Schrei, halb wie ein Brüllen klang, konnte er es ihnen nachempfinden.
Zwei- bis dreimal in der Woche wurde zu Ehren irgendeines Heiligen oder der Jungfrau Maria oder im Gedenken an ein Ereignis aus dem Leben Jesu ein Feuerwerk abgebrannt - das religiöse Leben der Stadt Rio stand nicht im Zeichen von Zucht oder Mäßigung, was bei Söhnen der schottischen Kirche wie Balmain und Shairp, die im Katholizismus einen sittenlosen, dekadenten Irrglauben sahen, Anstoß erregte.
»Ich wundere mich«, sagte Richard zu John Power, während sie die sprühenden bunten Funkengarben einer Rakete bewunderten, »dass du noch keinen Fluchtversuch unternommen hast, Johnny.«
Power verzog das Gesicht. »Hier? Ohne Portugiesisch zu können? Man würde mich spätestens am nächsten Tag schnappen. Außer den portugiesischen Sklaventransportern und Frachtseglern liegt im Hafen nur ein englischer Walfänger, der sich gerade das Unterwasserschiff reinigen lässt. Außerdem soll er kranke Marineangehörige von der Sirius und der Supply an Bord nehmen und nach England zurückbringen.« Er wechselte das Thema. »Ich sehe, dass Esmeralda sein Schiff wie gewöhnlich vernachlässigt. Er lässt es nie kielholen.«
»Hat dir Mr Bones nicht gesagt, dass die Alexander einen Kupferbeschlag hat?« Richard rieb sich die Brust, die vor Orangensaft klebte. »Ich gehe über die Seite und wasche mich.«
»Ich wusste gar nicht, dass du schwimmen kannst.«
»Kann ich auch nicht. Ich tauche nur unter und halte mich an der Leiter fest. Aber ich hoffe, dass ich die Leiter irgendwann nicht mehr brauche. Gestern habe ich sie losgelassen und mich tatsächlich ein paar Sekunden über Wasser gehalten. Dann habe ich es mit der Angst bekommen. Vielleicht geht es heute besser.«
»Ich kann schwimmen, aber ich traue mich nicht«, sagte Power wehmütig. Er hatte trotz der laschen Disziplin einen eigenen Aufpasser.
 
An einem der nächsten Tage war Richard gerade im Wasser, als Stephen Donovan in einem Mietboot zum Schiff zurückkehrte. Richard hatte noch immer nicht schwimmen gelernt. Sobald er die Leiter losließ, ging er unter. Deshalb musste er das Wasser verlassen, wenn ein Boot längsseits kam, und er wollte schon die Leiter hinaufklettern, als er sah, wer im Bug stand.
»Richard, sind Sie von Sinnen? Hier gibt es Haie!«, rief Donovan. »Ich an Ihrer Stelle würde das lassen.«
»Der Hafen von Rio hat so viel zu bieten, da wird sich kein Hai ausgerechnet für einen zähen Brocken wie mich interessieren«, erwiderte Richard grinsend. »Ich versuche, mir das Schwimmen beizubringen. Bisher mit kläglichem Ergebnis.«
Donovan zwinkerte verschmitzt. »Damit Sie nach Afrika schwimmen können, wenn die Alexander in einem Sturm untergeht? Keine Sorge, die Alexander hat einen guten Seiteneinfall und ist trotz ihres Alters in einem tadellosen Zustand. Die können Sie so weit überlegen, dass die Spieren ins Wasser tauchen, oder bei nachlaufender See fahren lassen, ohne dass sie sinkt.«
»Nein, damit ich, wenn wir in die Botany Bay kommen, wenigstens im Meer baden kann, falls die Eimer knapp werden. Ich weiß nicht, ob es dort Seen und Flüsse gibt. Sir Joseph Banks hat jedenfalls darauf hingewiesen, dass Süßwasser äußerst knapp ist und dass es sehr wenig Bäche gibt.«
»Verstehe. Sehen Sie mal, der Hund da drüben.« Donovan deutete auf Leutnant Shairps Scotchterrier Wallace, der in diesem Augenblick auf das Schiff zugeschwommen kam, angespornt von seinem Herrchen, das neben ihm in einem gemieteten Boot saß.
»Was ist mit ihm?«
»Wie er schwimmt. Wenn Sie das nächste Mal ins Wasser gehen und die Haie herausfordern, tun Sie einfach so, als hätten Sie vier Beine und nicht nur zwei. Sie legen sich auf den Bauch, strecken den Kopf aus dem Wasser und paddeln mit allen vieren wie eine Ente. Und schon können Sie schwimmen, Richard.« Donovan gab einem Schwarzen, der für ihn einen Haufen Pakete an Deck gebracht hatte, ein Sixpencestück. Der Schwarze strahlte. »Von der Strampeltechnik eines Hundes ist es nur ein kleiner Schritt zu den Wonnen des Schwimmens.«
»Johnny Power kann schwimmen, aber er traut sich nicht.«
»Ich frage mich, ob er auf Teneriffa so brav mitgekommen wäre, wenn er gewusst hätte, was ich heute erfahren habe.«
Richard horchte auf und legte den Kopf auf die Seite. »Reden Sie.«
»Als die Flotte aus dem Hafen von Portsmouth auslief, besaßen die Seesoldaten nur die Patronen in ihren Beuteln, keinen Schuss Pulver und keine einzige Kugel mehr.«
»Sie scherzen!«
»Nein, das ist mein voller Ernst.« Donovan gluckste und schüttelte den Kopf. »Wahrlich eine glänzend organisierte Expedition! Die haben schlicht vergessen, Munition zu liefern.«
»Du lieber Himmel!«
»Ich bin nur dahinter gekommen, weil Seine Exzellenz Gouverneur Phillip in Rio zehntausend Patronen bestellt hat.«
»Sie hätten also auf keinem der Schiffe eine ernsthafte Meuterei niederschlagen können.«
Mr Donovan sah Richard scharf an und öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, besann sich aber anders und kauerte neben den Paketen nieder. »Hier sind ein paar Sachen für Sie. Morgen besorge ich noch mehr. Wie ich höre, laufen wir bald aus.« Er stapelte die Pakete in Richards Arme. »Teeröl. Salbe von einem alten Kräuterweib. Die war so hässlich, dass sie einfach etwas von ihrem Gewerbe verstehen muss. Hier zermahlene Rinde, die angeblich Fieber heilt, wie sie mir geschworen hat. Und eine Flasche Laudanum gegen die Ruhr, falls das Wasser in Rio verseucht ist - die Ärzte befürchten es jedenfalls. Haufenweise frische Lappen und ein paar schöne Baumwollhemden, denen ich nicht widerstehen konnte - ich habe mir selbst welche besorgt und dabei an Sie gedacht. Sie tragen sich angenehm, bei Hitze gibt es nichts Besseres. Malz ist schwer zu bekommen - die Schiffsärzte waren schneller. Ich empfehle Ihnen, getrocknete Orangen- und Zitronenschalen zu kauen. Nach Meinung der Seeleute sind Zitrusfrüchte gut gegen Skorbut.«
Richards Augen ruhten mit Zuneigung und Dankbarkeit auf seinem Gegenüber, doch Donovan war zu klug, um mehr als darin zu sehen als einen Ausdruck freundschaftlicher Gefühle. Mehr war von diesem Mann nicht zu erhoffen, der ohne Zweifel geliebt hatte, aber nicht gewillt war, es wieder zu tun. Wen hatte er verloren? Und wie? Jedenfalls nicht die Frau, die ihm das Tor zum Paradies geöffnet hatte. Die hatte ihn, seiner Miene nach zu urteilen, eher abgestoßen. Auch keine andere Frau und keinen Mann. Eines Tages, so schwor Donovan sich, würde er die ganze Geschichte dieses Richard Morgan erfahren.
Als er am nächsten Morgen von Bord gehen wollte, erwartete ihn Richard an der Jakobsleiter.
»Noch eine Gefälligkeit?«, fragte Donovan.
»Nein, diesmal muss ich bezahlen.« Richard deutete auf die Decksplanken und bückte sich, als habe er etwas Interessantes entdeckt.
Donovan beugte sich ebenfalls hinunter, und niemand sah, wie sieben Goldmünzen von einer Hand in die andere wanderten.
»Warum tun Sie das? Für das Geld könnten Sie einen Topas von der Größe einer Zitrone kaufen oder auch einen Amethyst, der nicht viel kleiner ist.«
»Ich brauche Schmirgel und starken Fischleim. So viel Sie kriegen können.«
Donovan sah ihn verdutzt an. »Schmirgel? Fischleim? Wozu denn das um alles in der Welt?«
»Wahrscheinlich bekommt man die Sachen auch am Kap der Guten Hoffnung, aber wie ich fürchte, nur zu horrenden Preisen. In Rio de Janeiro ist alles viel billiger.«
»Das ist keine Antwort auf meine Frage. Sie sind ein Geheimniskrämer, mein Freund. Raus mit der Sprache, sonst besorge ich Ihnen die Sachen nicht.«
»Doch, das tun Sie auf jeden Fall«, sagte Richard mit einem breiten Grinsen, »aber es macht mir nichts aus, es Ihnen zu sagen.« Er blickte über die Bucht zu den dschungelbedeckten Hügeln im Norden. »Auf der Überfahrt habe ich lange darüber nachgedacht, was ich tun soll, wenn wir erst in der Botany Bay sind. Von den Sträflingen hat kaum einer einen Beruf erlernt. Ich selbst verfüge über gewisse Fertigkeiten, die mir bestimmt von Nutzen sein werden. Zum Beispiel könnte ich mir denken, dass man dort viel Holz zum Bauen benötigen wird. Ich kann Sägen schleifen. Und was noch wichtiger ist, ich kann Sägen herstellen, eine Kunst, die bei weitem seltener ist. Vielleicht ist es meinem Vetter James gelungen, meinen Werkzeugkasten an Bord eines der Schiffe zu bringen, vielleicht aber auch nicht. Dann brauche ich Schmirgel und Fischleim. Feilen dürfte die Flotte haben, aber wenn sie mit Werkzeugen ebenso mangelhaft ausgestattet ist wie mit Lebensmitteln, wird niemand an Schmirgel und Fischleim gedacht haben. Und ihre Geschichte von den Musketenpatronen hat mir zu denken gegeben. Was, wenn die Eingeborenen von Neusüdwales ebenso kriegerisch sind wie die Mohawks und uns belagern?«
»Gute Frage«, erwiderte Stephen Donovan ernst. »Und wozu brauchen Sie Schmirgel und Fischleim, Richard?«
»Ich mache mir daraus Schmirgelpapier und Feilen.«
»Brauchen Sie auch normale Feilen, falls die Flotte keine hat?«
»Ja, aber dafür reicht mein Geld nicht, und ich will Ihre Großzügigkeit nicht noch mehr in Anspruch nehmen. Ich hoffe auf meinen Werkzeugkasten.«
»Es ist schwer, Ihnen Auskünfte zu entlocken«, sagte Donovan lächelnd. »Genauso gut könnte man versuchen, Blut aus einem Stein herauszuquetschen. Aber ich will Sie nicht drängen. Eines Tages werde ich ohnehin alles erfahren.«
»Es lohnt sich nicht. Trotzdem danke.«
»Oh, keine Ursache, Richard! Hätte ich nicht ganz Rio nach Ihren Tinkturen und Salben abklappern müssen, hätte ich nicht halb so viele Sehenswürdigkeiten entdeckt. Vermutlich hätte ich wie Johnstone und Shairp nur im Kaffeehaus gehockt, mir klebrige Brötchen einverleibt, Rum und Portwein geschlürft und in der Hoffnung auf kostbare kleine Andenken portugiesische Beamte flattiert.« Und damit stieg er, vergnügt vor sich hin pfeifend, die Leiter hinunter.
 
Am 4. September begann, nach vierwöchigem Aufenthalt, das schwierige Manöver, elf Schiffe aus dem mit Inseln übersäten Hafen zu schleppen. Es dauerte bis zum nächsten Tag. Fort Santa Cruz und die Sirius übertrafen sich gegenseitig mit 21 Salutschüssen. Der Gouverneur hatte die tägliche Trinkwasserration bereits auf drei Pints heruntergesetzt, ein zarter Hinweis darauf, dass er dem Rio-Wasser ebenso wenig traute wie die Schiffsärzte.
Bei Einbruch der Nacht war das Land hinter ihnen versunken. Der Gouverneur hoffte, die 3300 Landmeilen bis zum Kap der Guten Hoffnung rasch hinter sich zu bringen. Von nun an ging es ostwärts und südwärts durch Gewässer, die bis zum Kap zwar kartografiert, aber kaum befahren waren. Bisher war die Flotte gelegentlich einem portugiesischen Kauffahrer begegnet, doch bis sie das Kap und die Route der großen Ostindienfahrer erreichte, würde sie voraussichtlich keine Schiffe mehr sichten.
Richard hatte seine Vorräte wieder aufgefüllt und sich zudem mit Schmirgel, Fischleim und mehreren guten Feilen versorgt. Seine Hauptsorge galt den Filtersteinen. Er selbst hatte zwar zwei in Reserve, doch seine fünf Gefährten besaßen nur jeweils einen. Und wenn Vetter James, der Apotheker, Recht hatte, verlor sich ihre Wirkung mit der Zeit. Also flocht er aus Tauen eine Art Korb, legte einen Filterstein hinein und hängte ihn ins Meer, sodass das Schiff ihn durchs Wasser zog. Richard betete, dass der Stein nicht von einem Hai entdeckt wurde. Einmal hatte ein Offizier seine Hosen zum Bleichen ins Wasser gehängt und damit einen Hai angelockt. Der Fisch hatte das Tau durchgebissen, das Beinkleid verschluckt und gleich darauf wieder angewidert ausgespuckt. Dasselbe würde mit dem Tropfstein geschehen. Und war das Tau erst mal gekappt, war der Stein verloren. Nach einer Woche zog Richard den Stein wieder heraus und legte ihn an Deck, um ihn Sonne und Regen auszusetzen. Gleichzeitig wanderte ein zweiter Stein ins Meer. Richard hoffte, mit allen durch zu sein, ehe ihre Wirkung nachließ.
Auf der Suche nach einer starken Strömung, die sie von Brasilien nach Afrika tragen konnte, segelten sie weiter nach Süden. Bald sichteten sie die ersten Pottwale, die ebenfalls südwärts wanderten. Riesige Geschöpfe, deren Schnauzen von der Seite wie kleine Klippen aussahen, unter denen ein lächerlich kleiner Unterkiefer mit Furcht einflößenden Zähnen saß. Die Pottwale hatten stumpfere Schwänze und kleinere Flossen als die Wale, die sie bisher gesehen hatten, und sie waren nicht so wendig. Tümmler, Delfine und Haie gab es hier jede Menge, doch essbare Fische waren schwer zu fangen, weil die Schiffe so schnell fuhren. Manchmal gerieten sie in einen Fischschwarm, der ihnen eine Fischsuppe bescherte, doch meist gab es nur Pökelfleisch und Hartbrot, das von Maden wimmelte. Niemand hatte großen Appetit. Doch die Sträflinge hatten einen großen Sack voll Orangen- und Zitronenschalen getrocknet und kauten jeden Tag ein kleines Stück.
Je weiter nach Süden sie kamen, desto häufiger sahen sie riesige Seevögel, so genannte Albatrosse. Eines Tages griff ein Seesoldat zur Muskete, weil es ihn nach gebratenem Albatross gelüstete. Doch die Matrosen fielen ihm entsetzt in den Arm. Es bringe Unglück, wenn man einen dieser Könige der Lüfte töte.
Die neue Krankheit brach zuerst unter den Seesoldaten aus, griff aber wenig später auch auf die Gefangenen über. Die Krankenpritschen waren wieder voll belegt, ein Gefangener starb mitten in einem schweren Unwetter. Bordarzt Balmain ging nun, da es angenehmer roch, eifriger seinen Pflichten nach. Wann immer das Wetter es erlaubte, ließ er das Deck ausschwefeln, schrubben und tünchen, obwohl die Prozedur offenkundig keinen praktischen Nutzen hatte außer den, dass sie Richard, Bill, Will, Neddy und anderen mehr Licht zum Lesen bescherte. Im Übrigen bewies Captain Sinclair bei Stürmen, dass er beileibe kein schlechter Seemann war. Bei günstigem Wind ließ er sofort mehr Segel setzen, und wenn der Wind wenige Minuten später zu stark wurde, ließ er die Segelfläche wieder verkleinern. Segel setzen, Segel reffen, Segel setzen, Segel reffen… Kein Wunder, dass John Power, Willy Dring und Joe Robinson sich kaum noch im Gefängnis blicken ließen. Die Maate brauchten jeden Mann, den sie kriegen konnten. Nichts war schlimmer als ein unterbesetztes Schiff, auf dem die Mannschaft zwischen den Wachen nicht genügend Zeit zum Ausruhen hatte.
Ende September ließen die Äquatorialstürme etwas nach, die See wurde ruhiger und die Gefangenen durften wieder an Deck. Die Alexander segelte bei jedem Wetter prächtig, und zu keinem Zeitpunkt kamen so schwere Seen über, dass die Luken verschalkt werden mussten. Seit Portsmouth war dies erst einmal der Fall gewesen.
Von Zeit zu Zeit, wenn es an Deck weniger zu tun gab, kehrte John Power ebenso begeistert wie erschöpft ins Gefängnis zurück, und mit ihm Willy Dring und Joe Robinson, die im Gegensatz zu ihm allerdings gereizt und nervös wirkten. Sie statteten der Clique um John Power am Bugschot nie einen Besuch ab, und das wunderte Richard, denn er hatte erwartet, dass sie sich bei der Arbeit mit Power anfreunden würden. Stattdessen wirkten sie irgendwie befangen, wenn sie ihn sahen.
Die Tage vergingen so gleichförmig wie die Wochen zuvor. Die Sträflinge unternahmen Ausflüge aufs Oberdeck, um zu fischen oder Tiere zu streicheln, sie lasen, sangen, würfelten oder spielten Karten und hatten wie immer Hunger. Alle magerten wieder ab, was bei der ungenießbaren Kost kein Wunder war, und die wenigen Pfunde, die sie in Rio zugelegt hatten, schmolzen rasch dahin. Auf der Backbordseite am Achterschott bemerkte niemand die Veränderung, das Umschlagen der Stimmung, die Tuscheleien. Richard fiel nur auf, dass Willy Dring und Joe Robinson sich in ihren Kojen verkrochen und ständig zu schlafen oder zu dösen schienen. Doch obwohl er es eigenartig fand, maß er dem keine Bedeutung bei. Immerhin mussten die beiden seit zwei Wochen schwer schuften.
Dann, am 6. Oktober, als Afrika nicht mehr fern war, kamen zehn Seesoldaten ins Gefängnis herunter und arretierten John Power. Er leistete Widerstand, wurde niedergeschlagen und unter den erstaunten Blicken der Sträflinge durch die hintere Luke nach oben geschafft.
 
Minuten später kamen die Seesoldaten zurück und holten William Pane und John Meynell, die beiden Männer aus Nottingham, die neben Powers Koje schliefen. Dann geschah nichts mehr. Aber Power, Pane und Meynell kamen nicht zurück.
Richard erfuhr die Geschichte von Stephen Donovan und einige Einzelheiten auch von Willy Dring und Joe Robinson.
Power und mehrere Besatzungsmitglieder hatten, ermutigt durch den Umstand, dass zwei Drittel der Seesoldaten dienstunfähig waren, eine Meuterei geplant.
»Etwas so Abenteuerliches und Verrücktes ist mir noch nie untergekommen«, sagte Donovan. »Sie wollten das Schiff in ihre Gewalt bringen, aber ohne einen durchdachten Plan. Ich habe nicht mitgemacht, und der junge Shortland auch nicht, da gehe ich jede Wette ein, und auch seine Eminenz Aston Long würde sich zu so etwas niemals hergeben, zumal ihm, nebenbei bemerkt, das Kapitänspatent winkt, wenn er nach Hause kommt. Und der alte Bones? Er bestreitet es, aber ich glaube ihm nicht, und Esmeralda glaubt ihm auch nicht. Die Meuterer wollten zuerst das Achterdeck und die Drehbasse in ihre Gewalt bringen, dann die Seesoldaten und die Sträflinge unter Deck sperren, das Ruder übernehmen und nach Afrika segeln. Esmeralda, Long, Shortland, mich und alle Besatzungsmitglieder, die nicht mitmachten, wollten sie zu euch ins Gefängnis stecken. Umbringen wollten sie meines Wissens niemanden.«
»Warten Sie hier«, sagte Richard und eilte ins Gefängnis hinunter, um Willy Dring und Joe Robinson zur Rede zu stellen.
»Wie viel habt ihr von der Sache gewusst?«, fragte er.
Er sah den beiden an, dass ihnen ein großer Stein vom Herzen fiel.
»Power hat uns eingeweiht und zum Mitmachen aufgefordert«, antwortete Dring. »Ich habe gesagt, er sei verrückt, und versucht, ihm die Sache auszureden. Danach hat er in unserer Gegenwart nicht mehr darüber gesprochen, obwohl er wusste, dass wir ihn nicht verraten würden. Und dann hat uns Mr Bones fortgeschickt.«
Richard kehrte an Deck zurück. »Dring und Robinson wussten Bescheid, wollten aber nicht mitmachen. Bones aber schon, glaube ich. Wie ist man dahinter gekommen?«
»Zwei Sträflinge haben Power bei Esmeralda verpfiffen.«
»Es gibt überall Verräter«, sagte Richard, halb zu sich selbst. »Meynell und Pane aus Nottingham. Ehrlose Schufte.«
»Na ja, Dring und Robinson haben sich nur an den Ehrenkodex der Diebe gehalten, und Meynell und Pane wollten sich an höherer Stelle beliebt machen. Sie nennen sie ehrlos. Wieso?«
»Weil es nicht der erste Verrat ist. Ich hatte die beiden schon seit längerem im Verdacht. Und jetzt, wo die Namen bekannt sind, fügt sich alles zusammen. Wo sind sie jetzt?«
»Auf der Scarborough, so weit ich weiß. Esmeralda ließ sich sofort zu Seiner Exzellenz übersetzen. Ich musste mit und ihm die Leiter raufhelfen. Die Sirius schickte zwei Dutzend Seesoldaten, und die Matrosen, die die beiden Verräter genannt hatten, wurden festgenommen. Mr Bones und einigen anderen können wir nichts nachweisen. Aber sie werden es nicht noch einmal versuchen, egal wie groß ihr Hass auf Esmeralda ist, weil er den Rum verdünnt und hinterher an sie verkauft.«
»Was geschieht mit Power?«, fragte Richard mit belegter Stimme.
»Er wird auf der Sirius ans Deck gefesselt. Auf die Alexander kommt er nicht mehr zurück, so viel ist sicher.« Donovan musterte Richard neugierig. »Sie mögen den Kerl, habe ich Recht?«
»Ja, sehr, obwohl ich geahnt habe, dass es kein gutes Ende mit ihm nehmen würde. Manche Menschen ziehen Schwierigkeiten förmlich an. Power ist so einer. Obwohl ich nicht glaube, dass er das Verbrechen begangen hat, für das man ihn seinerzeit verurteilt hat.« Richard wischte sich die Augen und schüttelte ärgerlich den Kopf. »Er wollte unbedingt nach Hause zu seinem kranken Vater.«
»Ich weiß. Aber falls es Ihnen ein Trost ist, Richard: Wenn Kapstadt erst hinter uns liegt und Johnny keine Chance mehr hat, nach Hause zu kommen, wird er, glaube ich, zur Ruhe kommen und sich zum Mustergefangenen entwickeln.«
Donovans Worte waren Richard kein großer Trost, möglicherweise deshalb, weil er das Gefühl hatte, dass er selbst seine Pflichten als Sohn nicht erfüllt hatte, denn seine Gedanken galten meist Vetter James, dem Apotheker, und nicht seinem Vater.
Eines freilich konnte er für John Power tun, und er tat es ohne Bedenken: Er sorgte dafür, dass die Namen der Verräter von Schott zu Schott bekannt wurden. Einmal Verräter, immer Verräter. In Kapstadt würden sich die Namen bis zur Scarborough herumsprechen. Und in der Botany Bay würde jeder Sträfling wissen, was Pane und Meynell getan hatten. Den beiden standen schwere Zeiten bevor.
Bordarzt Balmain wusste eine Antwort auf die gedrückte Stimmung und allgemeine Niedergeschlagenheit im Gefängnis: Er ließ wieder ausschwefeln, schrubben und tünchen.
 
Kapstadt war schön, gewiss, doch nach Ansicht der Gefangenen, die freilich auf den bloßen Augenschein angewiesen waren, konnte es Rio de Janeiro nicht das Wasser reichen. Rio bot nicht nur einen überwältigenden Anblick, sondern war auch eine lebensprühende Stadt voller fröhlicher, natürlicher Menschen. Kapstadt war dagegen eher eine herbe Schönheit. Die Sträflinge vermissten die lustig bunten Proviantboote, und die schwarzen Gesichter, die sie sahen, lächelten nicht. Das mochte am streng kalvinistischen, holländischen Charakter der Stadt liegen. Viele Häuser waren weiß gestrichen - was nicht die Lieblingsfarbe der Sträflinge auf der Alexander war -, und in der Stadt wuchsen nur wenig Bäume. Ein hoher Berg, oben flach und bewaldet, ragte hinter einer schmalen Küstenebene auf, und was in den Büchern stand, stimmte: Eine dichte weiße Wolkendecke senkte sich herab und breitete ein Tuch über den Tafelberg.
Die Flotte traf am 14. Oktober ein, 39 Tage nachdem sie in Rio ausgelaufen war. In Kapstadt war Frühling. Vor nunmehr 154 Tagen oder 22 Wochen hatte die Flotte Portsmouth verlassen, und obwohl sie mittlerweile 9400 Landmeilen zurückgelegt hatte, stand ihr noch eine weite Reise bevor. Zu keinem Zeitpunkt waren die elf Schiffe versprengt worden. Arthur Phillip, der Gouverneur und Kommodore, hatte seine kleine Herde gut zusammengehalten.
Der Aufenthalt in einem Hafen bedeutete für die Sträflinge ruhige Decks und bessere Verpflegung. Schon am ersten Tag nach dem Einlaufen kam frisches Fleisch an Bord, dazu köstliches weiches Brot, Kohl und eine Art dunkelgrünes Blattgemüse, das einen kräftigen Geschmack hatte. Der Appetit meldete sich zurück, und die Sträflinge gingen an die lebenswichtige Aufgabe, sich für die nächste und letzte Etappe zu stärken, die angeblich noch einmal 500 Meilen länger war als die Strecke von Plymouth nach Rio.
»Bislang hat es nur zwei Fahrten zu unserem Reiseziel gegeben«, sagte Stephen Donovan, enttäuscht, dass Richard keine Butter von ihm annahm. »Der Niederländer Abel Tasman hat bei seiner Reise vor über hundert Jahren Karten angefertigt, und natürlich besitzen wir auch die Karten von Captain Cook und seinem Untergebenen Captain Furneaux, der bei Cooks zweiter Fahrt bis zu einem tief im Süden gelegenen Land aus Eis vorgestoßen ist. Aber niemand weiß etwas Genaues. Wir werden mit unseren elf Schiffen versuchen, vom Kap der Guten Hoffnung nach Neusüdwales zu segeln. Ist Neusüdwales ein Teil von Neuholland, das zweitausend Meilen westlich davon liegt? Cook war sich nicht sicher, weil er nie eine Südküste entdeckt hat, die beide Gebiete verbindet. Er und Furneaux konnten lediglich nachweisen, dass Van-Diemens-Land nicht zu Neuseeland gehört, wie Tasman angenommen hatte. Wahrscheinlich ist es die Südspitze von Neusüdwales, das sich von Van-Diemens-Land zweitausend Meilen nach Norden erstreckt. Wenn das große Südland wirklich existiert, so ist es nie umsegelt worden. Aber wenn es existiert, dann muss es drei Millionen Quadratmeilen umfassen, also mehr als ganz Europa.«
Richards Herz begann zu pochen. »Soll das heißen, dass wir keine Lotsen haben?«
»Gewissermaßen. Nur Tasman und Cook.«
»Ist das der Grund, warum alle Entdecker um das Kap Hoorn herum in den Pazifik gefahren sind?«
»Ja. Selbst Captain Cook hat die Route ums Kap Hoorn bevorzugt. Das Kap der Guten Hoffnung gilt als der Seeweg nach Ostindien, Bengalen und China, nicht in den Pazifik. Sehen Sie sich den Hafen an. Auslaufende Schiffe, wohin das Auge blickt.« Donovan deutete auf mehr als ein Dutzend Fahrzeuge. »Ja, die segeln nach Osten, aber auch nach Norden. Sie nutzen eine Strömung im Indischen Ozean, die sie bis nach Batavia trägt. Wenn sie diese Breiten erreichen, setzt gerade der Sommermonsun ein. Mit ihm fahren sie weiter nach Norden, und mit den Winterpassaten dann wieder in Richtung Heimat, voll beladen. Drei große Meeresströmungen kommen ihnen dabei zu Hilfe. Die erste trägt sie durch die Straße zwischen Afrika und Madagaskar, die zweite ums Kap der Guten Hoffnung herum in den Südatlantik, die dritte an der afrikanischen Westküste entlang nach Norden. Winde sind wichtig, aber Strömungen sind bisweilen noch wichtiger.«
Donovans ernste Miene stimmte Richard besorgt. »Mr Donovan, was verschweigen Sie mir?«
»Sie merken auch alles. Gut, ich will offen sein. Die zweite Strömung, die am Kap der Guten Hoffnung, verläuft von Osten nach Westen. Ideal für die Heimreise, aber denkbar ungünstig in der entgegengesetzten Richtung. Ausweichen geht nicht, denn sie ist über hundert Meilen breit. Wer in nordöstlicher Richtung nach Ostindien segelt, kann sie bezwingen. Wir aber müssen die großen Westwinde weit südlich des Kaps suchen, und das ist für einen Seemann eine ungleich schwierigere Aufgabe. Unsere letzte Etappe wird sich in die Länge ziehen, denn der Weg nach Osten ist nicht leicht zu finden. Ich bin schon nach Bengalen und China gesegelt, daher kenne ich die Südspitze Afrikas gut.«
Richard sah den vierten Maat mit einer gewissen Verwunderung an. »Mr Donovan, warum haben Sie eigentlich für diese Reise ins Ungewisse angemustert, in eine Gegend, in der außer Captain Cook noch niemand gewesen ist?«
Die schönen blauen Augen funkelten. »Weil ich ein Teil der Geschichte sein will, so unbedeutend meine Rolle auch sein mag. Wir haben uns auf ein grandioses Abenteuer eingelassen. Wir unternehmen keine Routinefahrt in altbekannte Gegenden, auch wenn diese Gegenden so verlockende Namen wie China haben. Ich hatte nicht die Beziehungen, die man braucht, um Offiziersanwärter bei der Königlichen Marine zu werden oder an einer Expedition der Royal Society teilzunehmen. Als Esmeralda mir den Posten des zweiten Maats anbot, packte ich die Gelegenheit beim Schopf. Und meine Degradierung habe ich einfach hingenommen. Warum? Weil wir etwas tun, was keiner vor uns getan hat. Wir bringen über fünfzehnhundert Unglückliche in ein jungfräuliches Land, wo sie sich, ohne in irgendeiner Weise darauf vorbereitet zu sein, ein neues Leben aufbauen sollen. Als würden wir sie von Hull nach Plymouth befördern. Es ist ein Wahnsinn, verstehen Sie? Der Gipfel der Torheit! Was tun wir, wenn wir in der Botany Bay feststellen, dass man dort gar nicht leben kann? Uns nach China retten? Unmöglich mit so vielen Menschen. Viel zu weit weg. Mr Pitt und die Admiralität haben unser Schicksal bedenkenlos in Gottes Hand gelegt, Richard. Ohne Vorbereitung, ohne Planung. Eigentlich hätten sie vor zwei Jahren eine Expedition vorausschicken müssen, um das Land einigermaßen urbar zu machen. Aber das ist nicht geschehen. Es hätte zu viel Geld gekostet und England von keinem einzigen Häftling befreit. Was zählt schon das Leben der Gefangenen? Dem Parlament ist es bestenfalls ein oder zwei Anfragen wert, mehr nicht. Aber selbst wenn wir zu Grunde gehen, Richard, diese Expedition wird Geschichte schreiben, und ich werde dabei sein. Dafür setze ich gern mein Leben aufs Spiel.« Er holte Luft und ließ ein Lächeln aufblitzen. »Außerdem öffnet sie mir vielleicht die Tür zur Königlichen Marine. Wer weiß? Vielleicht befehlige ich eines Tages eine Fregatte.«
»Ich würde es Ihnen wünschen«, sagte Richard aufrichtig.
»Für Sie würde ich das alles aufgeben«, sagte Donovan schelmisch.
Richard nahm die Bemerkung wörtlich. »Mr Donovan! Mittlerweile kenne ich Sie gut genug, um zu wissen, dass Ihre tiefsten Neigungen nicht fleischlicher Natur sind. Das ist doch wieder nur eine typisch irische Übertreibung!«
»Ach, die fleischlichen Begierden!«, entgegnete Donovan ungeduldig. »Mit Verlaub, Richard, aber Sie sind ja schlimmer als ein papistischer Anhänger des Zölibats. Ist das eigentlich bei allen so, die aus Bristol kommen? Ich bin noch nie einem Mann begegnet, der wegen einer ganz natürlichen Sache so von Schuldgefühlen zerfressen wird. Seien Sie kein Narr! Ich rede von Freundschaft, Mensch, Freundschaft! Mit Frauen geht das nicht. Frauen werden klein gehalten. Wenn sie arm sind, müssen sie sich abschinden, wenn sie reich sind, sticken, zeichnen und malen sie ein wenig, und außerdem sprechen sie Italienisch und schikanieren die Dienerschaft. Ein gutes Gespräch ist mit einer Frau nicht möglich. Obwohl in diesem Punkt auch die meisten Männer zu wünschen übrig lassen.« Donovan versuchte, eine heitere Miene aufzusetzen. »Im Übrigen bin ich kein richtiger Ire. Als Nordire habe ich viel Wikingerblut in den Adern. Wahrscheinlich fahre ich deshalb so gern zur See und besuche gern fremde Länder. Der Ire in mir ist ein Träumer. Der Wikinger muss die Träume verwirklichen.«
Kapstadt bot allerdings wenig Anlass zum Träumen. Die holländischen Bürger, die die Stadt regierten, rieben sich bei der Aussicht auf satte Profite die Hände und zogen die Verhandlungen über die Verproviantierung der Flotte wochenlang hinaus. Es habe eine Hungersnot gegeben, zwei Missernten in Folge, Vieh sei knapp und so weiter und so fort. Gouverneur Phillip ertrug die endlosen Gespräche mit unerschütterlicher Geduld, wohl wissend, dass alles nur Taktik war, um die Preise in die Höhe zu treiben. Er hatte in Kapstadt nichts anderes erwartet.
Vielleicht begriff er auch besser als mancher Untergebene, dass die Gefangenen - und die Seesoldaten - die lange Pause brauchten, um durchzuhalten. Er hatte persönlich veranlasst, dass Orangen, Frischfleisch, Brot und jede Art von Gemüse, die zu kriegen war, an Bord gebracht wurden. Mit Ausnahme der Walfänger waren die Schiffe nicht darauf eingerichtet, ein Jahr lang hunderte von Passagieren zu befördern. Deshalb mussten die Leute im Hafen etwas Anständiges zu essen bekommen und so aufgepäppelt werden, dass sie die nächste Etappe durchstanden.
Captain Duncan Sinclair hatte einen heftigen Streit mit Mr Zachariah Clark, dem Agenten des Lieferanten, und ließ die erste Lieferung frisch gebackenen Hartbrots als »ungenießbares Sägemehl« zurückgehen. Er ließ so viele Tiere an Bord holen, wie die Decks fassen konnten, hauptsächlich Schafe und Schweine, aber auch Hühner, Enten, Gänse und Truthähne, sodass das Schiff bald einem Bauernhof glich. Wenn Sinclair aus seiner Achterhütte nach vorn blickte, sah er nur in Wolle gepackte Hinterteile. Heuballen und Futtersäcke wurden unter den Verschlägen im Gefängnis verstaut, sodass kaum noch Platz für die Nachttöpfe und die Habseligkeiten der Sträflinge blieb. Die Diebe unter ihnen waren mittlerweile bekannt, und so genügte meist der Besuch einer Abordnung, um vermisstes Eigentum wieder zu Tage zu fördern. Meist wurden versteckte Lebensmittel oder Rum gestohlen, den die Sträflinge verbotenerweise von Sergeant Knight gekauft hatten, der mittlerweile in ernsten Schwierigkeiten war, weil ein Seesoldat ihn gemeldet hatte. Nach so vielen Monaten auf See wäre manch einer auch vor einem Mord nicht zurückgeschreckt, um an Rum heranzukommen.
Von den brasilianischen Papageien hatte keiner überlebt, der Scotchterrier Wallace und Leutnant Johnstones Bulldogge Sophia dagegen erfreuten sich bester Gesundheit. Die Hündin war trächtig - worüber Shairp sich köstlich amüsierte -, und jeder an Bord war gespannt auf die Welpen. Rodneys Katzenfamilie war geschrumpft, weil man einige Kätzchen an andere Schiffe verschenkt hatte, doch er und die verbliebenen Katzen waren dick und rund.
Am Ende der ersten Novemberwoche kam der Proviant für die Reise an Bord, und Captain Sinclair ließ die Mannschaft den Teil des Rumpfes reinigen, der nicht mit Kupfer beschlagen war. Was Bordarzt Balmain auf die Idee brachte, das Gefängnis und das Quartier der Seesoldaten wieder einmal ausschwefeln, schrubben und tünchen zu lassen. Er war geradezu überwältigt von den Eindrücken, die er von seinen Ausflügen in die Vorberge mitgebracht hatte, von der Schönheit der exotischen Pflanzenwelt und ihrer verschwenderischen Frühjahrsblüte. Was für seltsame Blüten es dort gab! Einige sahen aus wie mit pastellfarbenem Plüsch bezogene Reichsäpfel!
»Ich wusste doch, dass ich Mr Donovan noch um einen Gefallen bitten wollte«, rief Richard und klatschte den Pinsel an die Wand. »Ich wollte ihn bitten, allen Tünchehändlern der Stadt zu sagen, dass sie unserem Schiffsarzt keine Unze von dem Zeug verkaufen sollen.«
Als die Flotte am 12. November den stark frequentierten Hafen verließ, lief gerade ein amerikanischer Kauffahrer aus Boston ein. Dessen Besatzung hatte offenbar noch nie einen solchen Massenexodus erlebt und drängte sich gaffend an der Reling. Der Aufenthalt hatte dreißig Tage gedauert und alle Schiffe waren randvoll beladen. Die weiblichen Gefangenen hatten die Friendship räumen müssen, um Platz für Schafe und einige Stück Vieh zu schaffen. Die Lady Penrhyn beförderte einen Hengst, zwei Stuten und ein Fohlen, Tiere, die für den Gouverneur reserviert waren. Doch sie war nicht das einzige Schiff, das neben Schafen, Schweinen und Geflügel auch Pferde und Rinder an Bord hatte, und so war jetzt schon abzusehen, dass die Wasserversorgung ein großes Problem werden würde. Der Unterbringung der Pferde wurde größte Aufmerksamkeit geschenkt. Sie durften sich nicht hinlegen, und ihre Bewegungsfreiheit musste auf wenige Zoll beschränkt werden. Ein Pferd, das so viel Platz hatte, dass es umfallen konnte, war dem Tode geweiht. Auch die Rinder wurden regelrecht in Watte gepackt.
 
Die letzte große Etappe begann genau so, wie Stephen Donovan es vorausgesagt hatte. Die Flotte hatte mit Gegenwind und Gegenstrom zu kämpfen und geriet obendrein in kleinere Stürme, die schwere Seen aufpeitschten. Wer anfällig war, wurde wieder seekrank. Schließlich befahl der Kommodore die Flotte ins Kielwasser der Sirius, und dort blieben die elf Schiffe, während Captain John Hunter, der Kommandant der Sirius, vergeblich nach einem günstigen Wind suchte. Die Stürme legten sich am nächsten Tag, und wieder begann das quälende Überstaggehen und Warten.
In dreizehn langen Tagen legten sie nur 249 Meilen in südöstlicher Richtung zurück. Die Wasserration wurde wieder auf drei Pints täglich gekürzt, eine Zumutung für alle, denn selbst vier Pints waren nicht genug. Die Leutnants der Alexander stöhnten über den Befehl, da seine Ausführung und Überwachung regelrecht in Arbeit ausartete. Sergeant Knight war bis auf weiteres vom Dienst suspendiert worden, und so mussten die Leutnants auf drei sehr mittelmäßige Unteroffiziere zurückgreifen, während Knight, über seine Suspendierung keineswegs unglücklich, in seiner Hängematte döste und den Rum schlürfte, den er von Esmeralda bezog. Major Ross hatte gehofft, die Suspendierung würde Knight, der nun keinen Sold mehr bekam, zur Mäßigung anhalten. Er konnte nicht ahnen, wie viel Geld der Sergeant unterwegs mit dem Verkauf von Rum an Männer wie Tommy Crowder verdient hatte.
 
Gerüchte kursierten, wonach Gouverneur Phillip die Absicht habe, die Flotte aufzuteilen und mit zwei oder drei Schiffen so zügig wie möglich vorauszusegeln und die lahmen Enten nachkommen zu lassen. Die Charlotte und die Lady Penrhyn waren hoffnungslose Fälle, aber auch die Versorgungsschiffe und die Sirius machten zu wenig Fahrt. Die Navigatoren hatten alle Möglichkeiten ausgeschöpft, um einen günstigen Wind zu finden, ohne jeden Erfolg.
Schließlich fügte sich Gouverneur Phillip ins Unvermeidliche und beschloss, die Flotte aufzuteilen, selbst auf die Supply zu wechseln und die Alexander, die Scarborough und die Friendship mitzunehmen, während Captain Hunter auf der Sirius das Kommando über die sieben langsameren Schiffe übernehmen sollte. Die Supply sollte allein voraussegeln. Leutnant Shortland, der Marineagent, sollte an Bord der Alexander gehen, von dort aus die Scarborough und die Friendship befehligen und die drei Schiffe zusammenhalten.
Der Entschluss des Gouverneurs fand keine ungeteilte Zustimmung. Wenn überhaupt, so befanden viele Offiziere und Ärzte, dann hätte er die Flotte gleich hinter Rio de Janeiro aufteilen sollen. Und Richard, der zufällig ein Gespräch zwischen Johnstone und Shairp belauschte, die maulten, weil sie ihr Reich auf dem Achterdeck teilen sollten, fand, dass die Maßnahme nicht zu Phillip passte. Phillip war eine Glucke, die sich nur ungern von ihren Küken trennte. Oh, wie er sich sorgen würde! Richard schätzte, dass die erste Gruppe mindestens zwei Wochen vor Hunters Abteilung vor Anker gehen würde.
Alle Sträflinge, die Erfahrung als Gärtner, Bauern, Zimmerleute oder Sägewerker hatten, und es waren erschreckend wenige, wurden auf die Scarborough und die Supply verlegt, obwohl auf der Alexander deutlich mehr Platz war. Niemand wollte wertvolle Arbeitskräfte im Gefängnis des Todesschiffs unterbringen. Eng wurde es dagegen auf dem Achterdeck der Alexander. Leutnant Shortland kam von der Fishburn herüber und brachte Berge von Ausrüstung mit, und Zachariah Clark, der Firmenagent, musste von der Scarborough weichen, da Major Ross seine Kabine beanspruchte. Auch Leutnant James Furser, Quartiermeister der Seesoldaten und Ire, wurde auf die Alexander abkommandiert.
»Ich könnte mich totlachen«, sagte Donovan zu Richard, als sie auf dem Oberdeck das Kommen und Gehen der Boote beobachteten. »Die beiden schottischen Seesoldaten können ihren neuen irischen Kameraden nicht ausstehen, Clark ist, gelinde ausgedrückt, ein komischer Kauz, und Shortland ist von dem Schiff, auf dem er ursprünglich fahren sollte, alles andere als angetan. Balmain tobt, weil er einen Großteil seiner botanischen Sammlung, mit der er die Tageskajüte voll gestopft hat, hinauswerfen muss. Mr Bones und ich sind froh, dass wir dort sind, wo wir immer waren, in der Back.«
»Ob es ihnen gefallen wird, wenn Wallace nachts um zwei beschließt, den Mond anzuheulen?«
»Es gibt Schlimmeres. Sophia schnarcht wie ein Sägewerk. Sie hat ihr Lager in Zachariah Clarks Koje aufgeschlagen, aber er traut sich aus Angst vor ihr nicht, sie rauszuwerfen.«
Die Trennung erfolgte am 25. November bei ruhiger See und schwachem Wind. Sowie alle umgezogen waren, verließ Gouverneur Phillip die Sirius unter einem dreifachen Hurra der gesamten Besatzung und stieg, den Gruß erwidernd, in ein Langboot. Er wurde zur Supply gepullt, die, um mit Stephen Donovan zu sprechen, ein guter Segler war, solange günstige Bedingungen herrschten, bei schwerem Wetter aber rollte und viel Wasser machte. Eine Slup mit Brigg-Besegelung, die eigentlich wie eine Schnau hätte getakelt werden müssen.
Eine halbe Stunde nach Mittag setzte die Supply Segel, und auch die drei anderen Rennboote, wie man sie getauft hatte, nahmen unter Führung der Alexander Fahrt auf. Kurios war, dass just in dem Moment, als Phillip an Bord der Supply ging, eine günstige Brise aufkam und Hunter beschloss, den Rennbooten nachzujagen. So blieben die sieben Bummler bis zum Mittag des nächsten Tages in Sichtweite, ehe ihr Rumpf unter der Kimm verschwand und die See schließlich auch ihre Masttopps verschluckte. Bei dieser Art von Wetter lief die Supply den anderen mühelos davon. Bei Einbruch der Nacht war sie außer Sicht, und die Alexander, die Scarborough und die Friendship kreuzten im Abstand von einer Kabellänge - exakt zweihundert Yards - nebeneinanderher.
Zwei Tage später begann wieder das Überstaggehen und Warten.
»Ich glaube nicht, dass es eine Route nach Osten gibt«, sagte Will Connelly zu Stephen Donovan, der Freiwache hatte und an die Reling gekommen war, um sich ein Abendessen zu angeln.
Donovan kicherte. »Wir sind drauf und dran, sie zu finden, Will. Siehst du die braunen Vögel da hinten?«
»Ja, sie sehen aus wie Mauersegler.«
»Das sind Sturmschwalben, Vorboten von Stürmen - richtigen Stürmen. Und heute ist ein öliger Tag.«
»Was bedeutet ›ölig‹?«, fragte Taffy Edmunds, der zusammen mit Bill Whiting dazu abgestellt worden war, die Schafe auf dem Achterdeck zu hüten. Im Gefängnis hatte das große Heiterkeit ausgelöst, den Schafhirten selbst behagte es aber durchaus, denn beide kamen von Bauernhöfen, sie waren nur viel zu schlau, um es zuzugeben.
»Heute ist doch ein schöner Tag, nicht wahr?«, fragte Donovan.
»Ja, sehr schön. Die Sonne ist draußen, kein Wind.«
»Aber der Himmel ist nicht blau, Taffy. Und die See auch nicht. Wir Seeleute nennen das ›ölig‹, weil der Himmel und die See so aussehen, als wären sie mit einem dünnen Fettfilm überzogen - trüb und leblos. Am Nachmittag werden ein paar weiße Wölkchen wie Papierfetzen über den Himmel jagen. Ein kräftiger Wind wird sie in großer Höhe vor sich her treiben, aber wir hier unten werden ihn nicht spüren. Und morgen früh sind wir mitten in einem wütenden Sturm. In ein paar Stunden werdet ihr erfahren, was es heißt, eine Route nach Osten zu suchen.« Donovan stieß einen Freudenschrei aus. »Da hat einer angebissen.« Er zog einen Fisch heraus, der Ähnlichkeit mit einem Kabeljau hatte, und hüpfte davon.
»Ihr habt’s gehört«, sagte Richard. »Besser, wir gehen runter und warnen die anderen.«
»Ölig«, sinnierte Taffy. Er ging in Richtung Achterdeck, wo Bill Futter aus einem Eimer verstreute. »Bill! Unsere Schafe! Wir bekommen einen Sturm. Den Vater aller Stürme.«
Als die Wolkenfetzen über den Himmel jagten, aßen sie gerade, doch am nächsten Tag brachte ihnen niemand etwas zu essen. Der Sturm wütete immer schlimmer, warf das Schiff herum wie einen kleinen Ball. Die Bordwände ächzten, und im Bauch des Schiffes dröhnte es wie im Innern einer Trommel, obwohl die Luken noch nicht geschlossen waren.
Etwa um dieselbe Zeit, als die Insassen des Gefängnisses begriffen, dass sie nichts zu essen bekommen würden, bis das Wetter sich etwas beruhigte, stieg Richard auf den Tisch, schob den Oberkörper durch die hintere Luke und blickte in die Runde. Auf allen vier Seiten hing die See drohend über der Alexander. Die Versuchung war zu groß. Er stemmte sich vollends hinaus und suchte sich am Großmast einen sicheren Platz, von wo aus er den Ozean beobachten konnte, der das Schiff wie entfesselt bedrängte. Es gab Gegenseen, Querseen, Heckseen, und alles zur gleichen Zeit. Die Takelage stöhnte und ächzte, was bei dem Getöse von Wind und Meer allerdings nur zu hören war, wenn er das Ohr an den Großmast legte. Wasserkaskaden stürzten von den Segeln herab, während Seeleute von Spiere zu Spiere krochen, Segel refften und andere bargen. Bug und Bugspriet tauchten ins Wasser und bäumten sich im nächsten Moment wieder auf, von Regen und riesigen Brechern gepeitscht, während eine zweite Welle gegen die Backbordseite, eine dritte gegen die Steuerbordseite und eine vierte gegen das Heck krachte. Richard band sich mit einem Tau fest. Die mächtigen Seen fegten mit einer solchen Wucht übers Deck, dass ihnen niemand ohne Sorgleine widerstehen konnte.
Von der Scarborough oder der Friendship war nichts zu sehen. Erst als die Alexander auf den Kamm einer riesigen Woge getragen wurde und dort eine Sekunde lang baumelte, konnte er einen Blick auf die bedauernswerte Friendship erhaschen. Sie legte sich weit über, und die Seen schlugen über ihr zusammen. Dann sauste die Alexander in ein Wellental, und Wasser schoss einen halben Meter hoch übers Deck, und wieder ging es hinauf, höher und immer höher - es war herrlich! Die Alexander war, trotz allem, ein seetüchtiges altes Mädchen.
Kurz nachdem er aus dem Gefängnis geklettert war, hatte man die Luken verschalkt, ohne dass er es bemerkt hatte. Er war zu fasziniert von der Urgewalt dieses Sturms, der gewiss zu den stärksten gehörte, die jemals getobt hatten. Als die Nacht hereinbrach, band er sich los, kroch erschöpft und blau vor Kälte unter ein Langboot und richtete sich im Heu ein warmes und leidlich trockenes Nest her. So verschlief er den schlimmsten Teil, und als er, immer noch frierend, am nächsten Morgen erwachte, war der Himmel blau und die See tobte nicht mehr ganz so ungestüm. Die Luken standen offen. Richard ließ sich auf den Tisch hinabgleiten.
Die Freudenschreie, die ihn empfingen, erstaunten ihn. Er hatte sich eingebildet, die anderen seien seit Rio etwas selbstständiger geworden.
»Richard!«, rief Joey Long und drückte ihn mit tränenüberströmten Wangen. »Wir dachten, du bist ertrunken!«
»Ich doch nicht! Ich war so damit beschäftigt, den Sturm zu beobachten, dass ich nicht gemerkt habe, wie sie die Luken verschlossen haben. Und dann war ich ausgesperrt. Joey, beruhige dich. Mir geht es gut, mir ist nur kalt.«
Während er sich mit einem Lappen abtrocknete, erfuhr er von den anderen, dass John Bird, ein Gefangener vom Bugschott, in den Laderaum eingebrochen war und Brot verteilt hatte.
»Wir haben alle davon gegessen«, sagte Jimmy Price, »weil uns niemand etwas gebracht hat.«
Was Zachariah Clark allerdings nicht davon abhielt, die Auspeitschung John Birds zu verlangen. Schließlich habe der Mann seine Firma bestohlen.
Leutnant Furser ermittelte, wie viel Brot abhanden gekommen war, und erklärte, dass in etwa genauso viel fehle, wie unter normalen Umständen ausgeteilt worden wäre. Daher, so sagte er, werde keine Strafe verhängt und jeder Sträfling solle heute zu seinem Hartbrot eine doppelte Portion Pökelfleisch erhalten.
Captain Sinclair hatte in Zachariah Clark trotz ihrer Meinungsverschiedenheit in Kapstadt eine verwandte Seele gefunden, die ebenso habgierig war wie er. Kaum hatte Clark im Achterdeck der Alexander Quartier bezogen, begann Sinclair, den Firmenagenten zu seinen üppigen Mahlzeiten einzuladen - als Gegenleistung dafür, dass Clark in Sachen Rum beide Augen zudrückte. Da Sophia Clarks Kabine als Kinderstube in Beschlag genommen hatte, überließ ihm Esmeralda seine Tageskabine, die er ohnehin nicht benötigte. So kam es, dass Sinclair, als er von Fursers Entscheidung hörte, dem Seesoldaten durch Clark ausrichten ließ, John Bird müsse wegen unerlaubter Aneignung fremden Eigentums ausgepeitscht werden.
»Es fehlt nichts, was nicht ohnehin fehlen würde«, entgegnete Furser frostig, »also ziehen Sie Leine, Sie Arschgesicht!«
»Ich werde Captain Sinclair von Ihrer Unverschämtheit berichten!«, stieß Clark hervor.
»Von mir aus können Sie ihm berichten, bis Sie schwarz werden, Sie Arschgesicht, das ändert nicht das Geringste. Hier bestimme ich, was mit den Gefangenen geschieht, und nicht die fette Esmeralda.«
Die Matrosen der Alexander erzählten jedem, der es hören wollte, dass sie noch nie einen so schlimmen Sturm erlebt hätten. Vor allem die schrecklichen Seen, die gleichzeitig aus allen Richtungen kamen - das ließ nichts Gutes ahnen, ganz und gar nicht! Die Scarborough signalisierte, dass sie den Sturm unbeschadet überstanden hatte. An Bord der Friendship, die Sturzseen von hinten und von der Seite abbekommen hatte, war keine Faser trocken geblieben.
Doch die Ostroute war gefunden, und die drei Schiffe preschten, jeweils durch eine Kabellänge getrennt, nebeneinander durch die See und legten mindestens 160 Meilen pro Tag zurück. Sie hatten mittlerweile den 40° südlicher Breite erreicht und stießen noch weiter nach Süden vor. Anfang Dezember gerieten sie abermals in einen Sturm. Er war noch schlimmer als der letzte, tobte sich zum Glück aber schneller aus. Obwohl es Sommer war, herrschte eisige Kälte. Die ärmsten und weniger weit blickenden Sträflinge, die nur dünnes Leinenzeug besaßen, rutschten zusammen, um sich gegenseitig zu wärmen, obwohl sie dank der Todesfälle über zusätzliche Decken verfügten. Auch das Stroh kam ihnen sehr gelegen.
Unter den Gefangenen und Seesoldaten brach die Ruhr aus, und wieder starben Männer. Die Scarborough und die Friendship übermittelten, dass auch bei ihnen die Ruhr grassierte. Richard beschwor seine Männer, jeden Tropfen Wasser mit den gereinigten Filtersteinen zu filtern. Wenn alle Schiffe betroffen waren, musste das Trinkwasser verseucht sein. Diesmal unterblieb der Befehl zum Ausschwefeln und Tünchen, wohl weil Bordarzt Balmain begriffen hatte, dass er damit eine Meuterei auslösen würde.
Obwohl die Friendship mehr Segel gesetzt hatte als je zuvor, konnte sie mit der Alexander und der Scarborough nicht mithalten, die täglich 180 Meilen und mehr zurücklegten. Am Ende der ersten Dezemberwoche wurde es wieder etwas wärmer, und Shortland ließ die beiden Sklavenschiffe Segel wegnehmen, damit die Friendship aufkommen konnte. An einem der folgenden Morgen gerieten sie in einen dichten, weißen Nebel, der von innen heraus schimmerte wie eine riesige Perle, schaurig schön und bedrohlich. Die Alexander lud ihre Kanonen mit Pulver und feuerte sie in regelmäßigen Abständen ab, und ein Seemann schlug die Schiffsglocke an der Steuerbordreling. Gedämpfter Geschützdonner und leises Läuten von der Scarborough und der Friendship bestätigten, dass sie im Abstand von einer Kabellänge ihren Kurs hielten. Dann, gegen zehn Uhr, riss der Nebel plötzlich auf, die Sonne kam hervor, und eine kräftige Brise blähte die Segel.
Unmengen von Seegras trieben im Wasser - nach Meinung der Seeleute musste Land in der Nähe sein. Aber es war kein Land zu sehen, nur zahlreiche Rissosdelfine, die sich einen Spaß daraus machten, zwischen den drei Schiffen herumzuflitzen oder unter ihnen durchzutauchen. Zwischen dem Seegras mäanderten breite Bänder aus Fischsamen, von welcher Art, wusste niemand. Irgendwo im Süden lagen die Kerguelen, die »Inseln der Verlassenheit«, wo Cook einst sehr ungewöhnliche Weihnachten verlebt hatte.
Zwei Tage später war das ganze Meer plötzlich blutrot. Zuerst glaubten die ehrfürchtig staunenden Männer auf der Alexander, es handle sich um das Blut eines erlegten Wales. Doch dann begriffen sie, dass kein Meeresbewohner, und sei er noch so groß, genug Blut hatte, um den Ozean bis zum Horizont rot zu färben. Noch ein Geheimnis der Tiefe, das sie nicht lüften konnten.
»Langsam begreife ich, warum es Sie in ferne Länder zieht«, sagte Richard zu Donovan. »Ich hatte eigentlich nie den Wunsch, weiter zu reisen als von Bristol nach Bath. Diese kleine Welt war mir vertraut. Aber man kann nur wachsen, wenn man aus seiner beschränkten, vertrauten Welt herausgerissen wird. Vorausgesetzt, man geht an der Ungewissheit nicht zu Grunde, wie einige da unten im Gefängnis. Die Umgebung prägt den Menschen. Sie hat mich geprägt und tut es vielleicht immer noch.«
»Heimatgefühle sind normal, Richard. Dass ich keine habe, mag daran liegen, dass ich arm war und mich danach sehnte, aus Belfast herauszukommen und die Fesseln der Armut abzuwerfen.«
»Dann haben Sie eine Armenschule besucht?«
»Nein. Ein freundlicher Gentleman nahm mich unter seine Fittiche und brachte mir Lesen und Schreiben bei. Bildung, so sagte er - und er hatte Recht -, öffnet dir das Tor zu einem besseren Leben.«
Donovan lächelte, wie von einer lieben Erinnerung erfüllt. Richard wollte nicht tiefer in ihn dringen und wechselte das Thema.
»Warum hat sich die See rot verfärbt? Haben Sie so etwas schon mal gesehen?«
»Nein, aber davon gehört. Seeleute sind abergläubisch, und Sie werden feststellen, dass die meisten darin ein böses Omen sehen, ein unheilvolles Vorzeichen. Ich selbst weiß auch nicht, was es ist, doch ich bin davon überzeugt, dass es etwas ebenso Natürliches ist wie die fleischlichen Gelüste.« Donovan kräuselte viel sagend die Augenbrauen und schmunzelte über Richards Verlegenheit. Er wusste nur zu gut, dass Richard es nicht mochte, wenn man ihn prüde nannte, zumal er sich eingestehen musste, dass er es im Grunde tatsächlich war. »Vielleicht hat ein starkes Seebeben rote Erde vom Meeresgrund aufgewirbelt, vielleicht sind auch kleine Meerestiere der Grund.«
Sie gerieten in weitere schwere Stürme. Dann, am Tag der Sommersonnenwende, setzte heftiger Regen ein, der bald in Schnee überging und in einem Bombardement mit hühnereigroßen Hagelkörnern endete, das den Schafen nichts anhaben konnte, bei Menschen und Schweinen aber schmerzhafte blaue Flecken hinterließ. Sommerfreuden am 41° südlicher Breite!
 
Am Heiligabend erreichten die drei Schiffe den 42° südlicher Breite. Sie legten bei stürmischem Wetter 160 Meilen zurück. Es wurde nicht mehr dunkel, und der größte Wal, den sie bisher gesichtet hatten, begleitete sie. Er war blau-grau und gut hundert Fuß lang. Er hätte aus der kleinen Friendship leicht Kleinholz machen können, doch zum Glück wollte er den Schiffen anscheinend nur frohe Weihnachten wünschen.
Im Gefängnis herrschte weihnachtliche Stimmung. Das Essen, das die Sträflinge mitten am Nachmittag bekamen, bestand aus Erbsensuppe, dem üblichen Stück Pökelfleisch und dem üblichen Laib Hartbrot. Zur Feier des Tages erhielt jeder ein halbes Pint billigen Rum aus Rio. Und die Chance, einen Welpen zu gewinnen. Sophia hatte nämlich unter Balmains tätiger Mithilfe in Zachariah Clarks Koje fünf gesunde Junge zur Welt gebracht. Und keine gewöhnlichen. Zwei sahen aus wie Möpse, zwei eher wie Drahthaarterrier mit vorspringendem Unterkiefer, während der fünfte das Ebenbild seines Vaters Wallace war. Leutnant Shairp, der stolze Ersatzvater, überließ Balmain die freie Wahl, und der Arzt entschied sich für einen Mops. Leutnant Johnstone, die stolze Ersatzmutter, folgte seinem Beispiel. Das Paar mit dem lachsartigen Unterkiefer ging an Leutnant Shortland und den ersten Maat.
Kompliziert wurde es, als Leutnant Furser, der Ire, den fünften dankend ablehnte, weil er wie ein schottischer Terrier aussah. Diesen Gedanken behielt er allerdings für sich, denn schließlich war Weihnachten.
»Aber wer soll dann den kleinen MacGregor bekommen?«, fragte Shairp.
»Etwa Esmeralda oder sein Kumpan Clark?«
Das gesamte Achterdeck grinste höhnisch.
»Dann schlage ich vor«, fuhr Shairp fort, »wir schenken ihn den Gefangenen zu Weihnachten. Von denen hat keiner einen Hund.« Das gesamte Achterdeck war von der Idee begeistert und stieß mit einem Gemisch aus Portwein und Rum darauf an.
An Heiligabend, kurz nach dem Essen, erschienen die beiden Ersatzeltern im Gefängnis, Shairp mit dem kleinen MacGregor auf dem Arm. Beide Offiziere waren sturzbetrunken, was an den Festtagen keineswegs ungewöhnlich war. Kein Offizier der Marineinfanterie war nach dem Essen noch halbwegs nüchtern, keiner bis auf Leutnant Ralph Clark, der auf der Friendship Limonade schlürfte und seine Rumrationen bei den Zimmerleuten gegen eine Schreibmappe oder ein Kniepult eintauschte oder sich von Sträflingen ein Hemd oder Handschuhe nähen ließ.
Mit Spielkarten wurde um MacGregor gelost. Wer ein Karo-Ass zog, blieb im Rennen. Unter lautem Gejohle zogen drei Männer ein Karo-Ass. Shairp, der auf dem Tisch saß, rief nach drei Strohhalmen, war aber so betrunken, dass Johnstone sie halten musste.
»Der längste gewinnt!«, rief Shairp.
Joey Long zog ihn und vergoss Freudentränen.
»Long hat den längsten!« Shairp musste so lachen, dass er vom Tisch fiel und von Richard und Will wieder auf die Füße gestellt werden musste. Unterdessen nahm Joey das zappelnde Knäuel auf den Arm und bedeckte es mit Küssen.
»Wir lassen ihn bei der Mutter, bis wir in der Botany Bay sind«, rief Johnstone. »Sowie wir an Land gehen, kriegst du ihn.«
Gott hätte nicht gütiger sein können, dachte Richard, als er, müde vom Rum und ausnahmsweise einmal nicht von dem Wunsch beseelt, an Deck zu gehen, in den Schlaf sank. Seit Ikes Tod sieht der brave Joey keinen Sinn mehr im Leben. Jetzt hat er einen Hund, den er lieben kann. Gott hat ihn aus der Abhängigkeit von mir befreit, und ich bete, dass den anderen dasselbe Glück beschieden sein möge. Sobald wir dieses Gefängnis verlassen, dürfte es schwierig werden, zusammenzubleiben.
 
Ende Dezember legten die Schiffe täglich über 180 Meilen zurück, obwohl das Wetter denkbar schlecht war - schwere Seen, Böen und tosende Stürme am 43° südlicher Breite.
Das neue Jahr, 1788, begann mit Regen und Gegenwind. Die Neujahrsstürme bliesen gegen den Bug, und die drei Schiffe krochen mühsam zum 44° südlicher Breite. Dann endlich erwischten sie eine günstige Brise und schafften an einem Tag 191 Meilen. Als jeden Augenblick die Südspitze von Van-Diemens-Land in Sicht kommen musste, gab Leutnant Shortland den Schiffen den Befehl, die Ankertrossen anzustecken, für alle Fälle. Der Sturm nahm zu. Die Friendship segelte sich die Vormarsleesegelstenge ab, sodass das Segel in Fetzen ging. Land war noch immer nicht in Sicht.
Aus Angst vor Riffen und Klippen, die nicht in den Karten verzeichnet waren, ließ Shortland am Morgen des 4. Januar die Besatzungen aller Schiffe in Bereitschaft versetzen. Am Morgen darauf ertönte der lang ersehnte Ruf: »Land ahoi!« Da war sie, die Südspitze von Neusüdwales. Ein mächtiger Felsen.
Sobald sie das Kap umsegelt hatten, änderten sie ihren Kurs von Ost auf Nord zu Nordost. Die letzten tausend Meilen bis zur Botany Bay wurden die deprimierendsten der gesamten Reise. Das Ziel so nah und doch so fern! Gegenwind, Gegenstrom, alles hatte sich gegen sie verschworen. An manchen Tagen standen die drei Schiffe abends meilenweit südlich der Position vom Vortag, an anderen Tagen mussten sie immer wieder über Stag gehen und warten, ohne dass ein Ende abzusehen war. Dann wieder gab es Tage mit tückischen Böen. Eines Nachts segelte sich die Friendship das Vorstengestagsegel ab. Mühsam krochen sie bis zum 39° südlicher Breite hinauf und rutschten wieder bis zum 42° hinunter. Das Großstagsegel der Friendship ging in Fetzen - ihr fünfter Segelverlust seit Kapstadt. Sie mussten kämpfen, um überhaupt voranzukommen.
Die mühsame Fahrt mochte den Sträflingen weniger aufs Gemüt schlagen als den Navigatoren, doch die ungenießbare Kost hatte dieselbe Wirkung. Nur gelegentlich erhaschten sie einen Blick auf Neusüdwales. Die Entfernung war zu groß, um einen Eindruck zu bekommen. Ihre einzige Freude waren die zahllosen Robben, die übermütig zwischen den Schiffen tollten, regelrechte Clowns, die sich mit den Flossen auf die Brust schlugen, tauchten und sich prustend im Wasser wälzten. Und wo Robben waren, gab es auch Fische. Sämige Fischsuppe bereicherte wieder den Speisezettel.
Am 15. Januar hatten sie sich bis zum 35° südlicher Breite vorgekämpft, und gegen Mittag sichteten sie Kap Dromedar, das Captain Cook wegen seiner Ähnlichkeit mit den Wüstenschiffen so getauft hatte.
»Nur noch hundertfünfzig Meilen«, sagte Donovan, der Freiwache hatte und angeln wollte.
Will Connelly seufzte. Trotz des wolkenverhangenen Himmels war es so heiß, dass er sich nicht hinsetzen und lesen konnte, und so hatte er beschlossen zu angeln. »Allmählich glaube ich, dass wir die Botany Bay niemals erreichen, Mr Donovan. Seit Weihnachten sind vier Männer gestorben, und jeder weiß, woran. Nicht am Fieber oder an der Ruhr. Aus Verzweiflung, vor Heimweh, aus Hoffnungslosigkeit. Die meisten von uns leben mittlerweile über ein Jahr auf diesem Schiff - wir sind letztes Jahr am 6. Januar an Bord gegangen. Letztes Jahr! Wie sich das anhört. Ich glaube, die Männer sind gestorben, weil sie die Hoffnung verloren haben, jemals wieder von diesem grässlichen Schiff herunterzukommen. Hundertfünfzig Meilen, sagen Sie. Es könnten genauso gut zehntausend sein. Wenn wir in diesem Jahr etwas gelernt haben, dann wie weit es bis zum anderen Ende der Welt ist. Und wie fern wir der Heimat sind.«
Donovan presste die Lippen zusammen. »Die letzten Meilen bringen wir auch noch hinter uns«, sagte er schließlich, ohne den Blick von der Schnur zu wenden, an deren Ende ein Stück Kork schwamm. »Captain Cook hat vor diesem Gegenstrom gewarnt, aber wir kommen trotzdem voran. Wir brauchen nur eine günstige Brise aus Südost, und wir werden sie bekommen. Das Wetter schlägt um. Zuerst bekommen wir einen Sturm, dann eine Brise aus Südost. Ich irre mich nicht.«
Überstaggehen und warten, überstaggehen und warten. Die Robben waren verschwunden und hatten tausenden von Tümmlern Platz gemacht. Dann, nach einem drückend heißen Tag, explodierte der Himmel. Unter ohrenbetäubenden Donnerschlägen zuckten grelle Blitze nieder und färbten die schwarzen Wolken purpurn. Es begann wie aus Kübeln zu schütten, sodass der Regen trotz eines stürmischen Nordwestwinds senkrecht aufs Deck prasselte. Eine Stunde vor Mitternacht hörte der Spuk plötzlich auf, und aus Südwest blies eine kräftige Brise. Weiße Klippen zogen vorüber, Bäume, gelbe Klippen, Bäume, geschwungene goldene Strände, und schließlich kam die Einfahrt zur Botany Bay in Sicht.
Am Morgen des 19. Januar 1788 segelte die Alexander gegen 9 Uhr mit ihren beiden Begleiterinnen zwischen Kap Solander und Kap Banks hindurch in eine große, nur mäßig geschützte Bucht. Etwa fünfzig nackte schwarze Männer standen winkend auf einer Landzunge, und dort, mitten in der kabbeligen stahlblauen See, lag die Supply. Sie hatte die anderen Schiffe um einen Tag geschlagen.
 
Die Alexander hatte in 251 Tagen oder 36 Wochen über 16 000 Landmeilen zurückgelegt. Sie hatte 68 Tage im Hafen und 183 Tage auf See verbracht. Von den 225 Sträflingen hatten 177 das Ziel erreicht.
Die Anker wurden ausgebracht und Leutnant Shortland setzte auf die Supply über, um mit Gouverneur Phillip zu sprechen. Richard stand allein an der Reling und betrachtete lange das Land, in das er gemäß einem Kabinettsbefehl deportiert worden war. Hier also sollte er die nächsten vier Jahre bis zum 23. März 1792 verbringen. Im Südatlantik zwischen Rio de Janeiro und Kapstadt war er neununddreißig Jahre alt geworden.
Das Land, über das seine Augen glitten, war an der Küste flach, weiter im Süden und Norden leicht hügelig und bot mit seinen braunen, grauen und olivgrünen Tönen einen tristen Anblick. Desolat und reizlos.
»Was sehen Sie, Richard?«, fragte Stephen Donovan.
Richard sah ihn aus tränenverschleierten Augen an. »Weder die Hölle noch das Paradies. Es ist die Vorhölle, in der alle verlorenen Seelen landen.«