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Die Boeing 737 war bis ans Ende der Landebahn gerollt, hatte dort gedreht und stand nun so nah wie es ging an der vorderen Hüttenreihe. Aus der Nähe wirkte sie gigantisch. Ein riesiges Flugzeug, hoch, breit und lang, das vorübergehend in diese abgelegene Gegend eingefallen war, die Gebäude hinter sich weit überragte, zischte, brummte und pulsierte, ein aktives, lebendes Wesen in einer passiven, gefrorenen Landschaft. Seine Triebwerke liefen immer noch lärmend, die Zusammenstoßwarnleuchte unter dem Rumpf blinkte weiter rot, und seine vordere Tür stand weit offen. In der Maschine brannte Licht. Von der Kabine zur Landebahn hinunter führte eine gewöhnliche Leiter aus Aluminium. Im Vergleich zu dem riesigen Flugzeug wirkte sie fragil und kümmerlich.
Von Bord gegangen waren sieben Männer – oder eher sechs Männer und ein Junge. Plato war mit seinen anderthalb Metern unverkennbar, aber diese abstrakte Größenangabe ging an der Realität vorbei. Er wirkte breit, stämmig und muskulös wie ein großer Mann, bewegte sich gemessen, fast gravitätisch, besaß jedoch die Statur eines Kindes. Er war nicht zwergenhaft und auch keine Missgeburt. Rumpf und Gliedmaßen, Hals und Kopf waren durchaus wohlproportioniert. Er glich einem um exakt fünfundzwanzig Prozent verkleinerten Footballverteidiger. Das war alles. Ein harter Brocken en miniature. Ein Spielzeug.
Plato schien irgendwo zwischen vierzig und fünfzig zu sein. Zu einer schwarzen Daunenjacke trug er eine schwarze Wollmütze und schwarze Handschuhe. Anscheinend fror er sehr. Seine sechs Begleiter waren jünger, schätzungsweise Anfang dreißig, und ebenso gekleidet wie er: schwarze Daunenjacken, schwarze Wollmützen, schwarze Handschuhe. Sie waren durchschnittlich große Lateinamerikaner. Spanischer, nicht indianischer Abstammung, weder klein noch groß, aber auch sie schienen unter der Kälte zu leiden.
Der Pumpenlaster beschrieb einen weiten Bogen und parkte mit dem Enteisungswagen hinter sich unter einer Tragfläche der Boeing. Die beiden Fahrer stiegen aus. Sie ließen keine Reaktion auf die abartige Kälte erkennen. Sie stammten aus Rapid City und wussten, was Kälte war. Sie trugen ebenfalls Daunenjacken, waren beide weiß, mittelgroß und hager. Harte Typen, ländliche Wurzeln, auf die bloßen Notwendigkeiten reduziert. Arme, Beine, Köpfe, Körper. Wahrscheinlich Anfang dreißig, aber wie vierzig aussehend. Vermutlich schon einige Generationen von der Farm entfernt.
Reacher blieb noch einen Augenblick auf seinem Platz, genoss die Wärme und beobachtete.
Plato bewegte sich innerhalb eines lockeren Kordons, den seine sechs Männer bildeten. Dafür gab es eigentlich keinen Grund. Vielleicht aus Gewohnheit, vielleicht um seine Wichtigkeit zu unterstreichen. Und Plato und seine Mannschaft waren bewaffnet. Jeder von ihnen hatte eine MP5K von Heckler & Koch an einem Nylongurt um den Hals hängen. Kurze, gedrungene Waffen, schwarz und tödlich. Mit dreißig Schuss im Magazin. Sie ruhten stolz und unübersehbar auf den dicken Jacken. Griffe rechts, Mündungen links. Alle sieben Männer waren also Rechtshänder. Alle sieben Männer hatten auch Rucksäcke. Schwarzes Nylon. Die Rucksäcke schienen bis auf etwas Schweres auf ihrem Boden leer zu sein. Stablampen, vermutete Reacher. Für die unterirdische Anlage. Und bestimmt Reservemagazine für die Maschinenpistolen. Von denen konnte man nie genug haben. War die MP5K auf Dauerfeuer eingestellt, verschoss sie ein volles Magazin in nur zwei Sekunden.
Maschinenpistolen. Die besten Freunde von Munitionsherstellern.
Reacher stieg aus dem Fahrerhaus des Pumpenlasters. Die Kerle aus Rapid City schienen die Kälte und den Wind kaum zu spüren, aber die sieben Mexikaner zitterten wie Espenlaub. Auf ihren Gesichtern stand ein ungläubiger Ausdruck. Als sie an einem milden Abend an Bord ihres Flugzeugs gegangen waren, hatten sie gewusst, dass es am Zielort kalt sein würde, aber dieses Wort zu verstehen und die Kälte zu spüren, waren zwei völlig verschiedene Dinge. Platos MP hüpfte ein wenig auf seiner Brust, so heftig bebte er am ganzen Körper. Er lief in kleinen Kreisen herum und stampfte mit den Füßen auf. Aber das tat er vielleicht auch aus Verärgerung. Er war sichtlich irritiert. Sein braunes Gesicht wirkte verschlossen, und seine Lippen waren ein schmaler Strich.
Die Männer aus Rapid City deuteten diese Warnsignale nicht richtig.
Der Kerl, der den Pumpenlaster gefahren hatte, trat vor, breitete die Hände aus und lächelte auf eine Weise, von der er wohl hoffte, sie wirke listig, und sagte: »Da wären wir also.«
Eine überflüssige Feststellung. Plato sah ihn ausdruckslos an und fragte: »Und?«
»Wir wollen mehr Geld.« Dahinter steckte anscheinend ein Plan. Offensichtlich mit seinem Kumpel diskutiert und abgesprochen. Geschwätz an der Bar. Nach dem dritten Bier unwiderstehlich. Oder nach dem vierten. Man zeigt dem Kerl etwas, das er dringend braucht – und dann zieht man’s zurück und verlangt mehr.
Erfolg garantiert.
Plato fragte: »Wie viel mehr?«
Gutes Englisch, fast akzentfrei, wegen seines vor Kälte starren Gesichts und des Triebwerklärms im Hintergrund etwas langsam und leicht undeutlich.
Der Fahrer des Pumpenlasters war es gewöhnt, bei Triebwerkslärm zu reden. Er arbeitete auf einem Flughafen.
Er sagte: »Das Gleiche noch mal.«
»Doppelt so viel?«
»Genau.«
Platos Blick glitt über drei seiner Kerle hinweg, dann fixierte er den vierten Mann. Sein Spanisch war wegen der Kälte so langsam, dass Reacher ihm leicht folgen konnte, als er fragte: »Kennst du dich mit diesen Geräten aus?«
Der vierte Mann sagte: »Ich denke schon.«
»Denkst du’s, oder weißt du’s?«
»Ich hab’s schon gemacht. Flugzeuge betanken, meine ich. Viele Male. Mit der Enteisung kenne ich mich nicht so aus. Die brauchen wir bei uns nicht. Aber wie schwierig kann sie schon sein? Im Prinzip werden die Klappen und Ruder nur eingesprüht.«
»Sag mir ja oder nein.«
»Ja.«
Plato drehte sich wieder nach den Kerlen aus Rapid City um. Packte mit behandschuhten Händen seine MP5K und durchsiebte die Oberkörper der beiden. Einfach so. Mit der auf Dauerfeuer eingestellten Maschinenpistole. Erst einen, dann den anderen. Zwei kurze Feuerstöße knapp nacheinander. Jeder mit neun oder zehn Schuss. Unglaublich hohe Feuergeschwindigkeit. Ohrenbetäubender Krach. Heißes, blendend helles Mündungsfeuer. Ein Strom von ausgeworfenem Messing. Die leeren Patronenhülsen sprangen und rollten klirrend davon. Die beiden Kerle brachen in einem Blutnebel aus ihren durchsiebten Körpern und in einer Federwolke aus ihren zerfetzten Jacken zusammen: erst einer, dann der andere, beide mit einem faustgroßen blutigen Loch in der Brust. Sie fielen Seite an Seite und waren mit auseinandergerissenem Herzen tot, bevor sie den Boden berührten. Sie plumpsten hin und blieben liegen, Lumpen und Fleisch, zwei kleine Haufen nebeneinander.
Der Wind riss den Pulverdampf mit sich, die Schussknalle verhallten, und das Heulen der Triebwerke kam zurück.
Sechs Meter über ihnen schaute der Pilot aus der Kabinentür der Boeing.
Reacher war beeindruckt. Lange Feuerstöße, eng zusammengefasst. Sehr gute Kontrolle über den Abzug, großartig gezielt, fast kein Ansteigen der Mündung. Und das alles mit Handschuhen. Darin hatte Plato Übung. Das stand außer Zweifel.
Niemand sprach.
Plato bewegte den rechten Daumen, betätigte die Entriegelung und ließ das zu zwei Dritteln leere Magazin scheppernd auf den Beton fallen. Dann streckte er die flache Hand aus und wartete. Der ihm am nächsten stehende Mann hastete um ihn herum, öffnete Platos Rucksack und holte ein volles Magazin heraus. Er klatschte es in Platos wartende Hand. Plato ließ es klickend einrasten, ruckte kurz daran, um sich zu vergewissern, dass es festsaß, und wandte sich dann Reacher zu.
Er sagte: »Sie müssen Chief Holland sein.«
Reacher sagte: »Ja.«
»So lernen wir uns endlich kennen.«
»Ja.«
»Wieso ist die Tür nicht offen und die Ausrüstung bereitgestellt?«
Reacher gab keine Antwort. Er fragte sich: Welche Ausrüstung?
Plato sagte: »Ich habe Ihre Tochter weiter in der Hand, wissen Sie.«
Reacher fragte: »Wo ist sie?«
»Sie ist mit den anderen weitergezogen. Sie lebt ihren Traum.«
»Geht es ihr gut?«
»Bisher schon. Aber meine Drohung gegen sie besteht weiter.«
Reacher sagte: »Mein Wagen hat eine Panne. Die Ausrüstung liegt noch im Kofferraum.«
»Wo ist Ihr Wagen?«
»Am anderen Ende der Landebahn.«
Plato antwortete nicht direkt. Das Zeichen eines guten Führers. Sinnlos, sich über etwas aufzuregen, was sich nicht ändern ließ. Er wandte sich nur einem seiner Kerle zu und befahl ihm auf Spanisch: »Nimm den Enteisungswagen, und hol das Zeug, das wir brauchen, aus Chief Hollands Wagen.«
Der Mann ging zu dem Enteisungswagen. Plato wandte sich wieder an Reacher und fragte: »Wo ist der Schlüssel des Gebäudes?«
Reacher zog ihn aus der Tasche und hielt ihn hoch. Plato trat aus seinem menschlichen Kordon. Reacher wusste, dass sich ihm zwei Möglichkeiten boten: den Schlüssel in Platos Auge treiben oder ihn fallen lassen und Platos Kinn mit einem gewaltigen Uppercut treffen, der dem Mexikaner das Genick brach.
Aber er tat nichts dergleichen. Plato hatte fünf Maschinenpistolen hinter sich. Binnen Sekunden würden fünfundsiebzig Neun-Millimeter-Geschosse in der Luft sein. Die meisten würden ihn verfehlen. Aber nicht alle.
Der Enteisungswagen rumpelte davon.
Plato blieb vor Reacher stehen. Sein Schädeldach befand sich genau auf Höhe von Reachers Brustbein, sein Kinn auf Höhe von Reachers Taille. Ein winziger Mann. Ein taffer Bursche en miniature. Ein Spielzeug. Was den Uppercut betraf, musste Reacher umdenken. Schlechte Idee. Es war fast unmöglich, einen Schlag so tief anzusetzen. Da war es besser, das Schädeldach mit einem senkrecht geführten Ellbogenstoß zu zertrümmern.
Oder ihn zu erschießen.
Plato nahm den Schlüssel.
Er sagte: »Jetzt ziehen Sie Ihre Jacke aus.«
Reacher fragte: »Was?«
»Ziehen Sie Ihre Jacke aus.«
»Wozu?«
»Widersprechen Sie mir?«
Sechs Hände an sechs Maschinenpistolen.
Reacher sagte: »Ich habe Sie etwas gefragt.«
Plato sagte: »Sie und ich gehen in den Untergrund.«
»Wieso ich?«
»Weil Sie schon unten waren. Keiner von uns kennt sich dort aus. Sie sind unser einheimischer Fremdenführer.«
»Dabei kann ich meinen Parka anlassen.«
»Richtig. Aber Sie tragen Zivil – also kein Koppel mit Halfter. Das Wetter ist kalt, und der Reißverschluss Ihrer Jacke ist hochgezogen. Folglich stecken Ihre Pistolen in den Außentaschen. Ich bin ein cleverer Kerl. Folglich habe ich nicht den Wunsch, eine unbekannte Umgebung gemeinsam mit einem bewaffneten Gegner zu erkunden.«
»Ich bin Ihr Gegner?«
»Ich bin ein cleverer Kerl«, wiederholte Plato. »Sicherheitshalber muss ich davon ausgehen, dass jeder mein Feind ist.«
Reacher entgegnete: »Es ist kalt.«
Plato sagte: »Das Grab Ihrer Tochter wird kälter sein.«
Sechs Hände an sechs Maschinenpistolen.
Reacher zog den Reißverschluss seines Parkas auf, ließ ihn von den Schultern gleiten und achtlos zu Boden fallen. Er plumpste schwer auf den Beton. Die Pistolen, die Revolver, die Schachtel Munition, das Handy. Kunststoff, Metall und Pappe. Fünfunddreißig Grad unter null. Windig. Ein Baumwollpullover. Binnen Sekunden zitterte er heftiger als alle anderen.
Plato blieb stehen. Lange kann’s nicht dauern, dachte Reacher, bis der Enteisungswagen zurückkommt und der Fahrer den demolierten Ford beschreibt. Folglich auch nicht lange, bis jemand bei einem Blick die Doppelreihe entlang die beschädigte Hütte entdeckt. Nicht lange, bevor jemand die anderen Hütten durchsucht. Nicht lange, bevor jemand peinliche Fragen zu stellen beginnt.
Zeit, in die Gänge zu kommen.
»Okay, dann los«, sagte er.
3.33 Uhr.
Noch zweiundzwanzig Minuten.