12

Der Anwalt stellte seinen Wagen auf dem Firmenparkplatz ab und zog seine Überschuhe an. In der Eingangshalle des Gebäudes zog er sie wieder aus und steckte sie in eine Plastiktüte, die er mit in den Aufzug nahm. Seine im Vorzimmer sitzende Sekretärin wünschte ihm einen guten Morgen. Er gab keine Antwort. Er wusste noch nicht, ob dies ein guter Morgen war oder nicht. Er streckte nur eine Hand nach den Telefonnotizen aus.

Es waren insgesamt acht.

Drei betrafen unwichtige interne Abläufe.

Vier betrafen legale Rechtsfälle.

Der unterste gelbe Zettel enthielt die Bitte um ein Mandantengespräch im Gefängnis, bei dem um zwölf Uhr wichtige Fragen im Zusammenhang mit Fall 517713 besprochen werden sollten.

Reacher blieb noch einige Zeit an dem Schreibtisch sitzen, dann machte er einen Rundgang und fand Peterson in einem der Büros zwischen Eingang und Bereitschaftsraum. Dort waren die Schreibtische zu einem Quadrat in der Raummitte zusammengerückt. Ab Hüfthöhe verschwanden alle Wände hinter Korktafeln. Peterson war eben damit beschäftigt, die Tatortfotos vom Tag zuvor an die Wände zu pinnen. Die Gesamtaufnahme, die Nahaufnahmen. Schneebedeckter Boden, stumpfe Gewalteinwirkung gegen die rechte Schläfe. Kein Blut.

Peterson erklärte: »Wir haben gerade den Autopsiebericht erhalten. Er ist eindeutig bewegt worden.«

»Hat er noch andere Verletzungen?«

»Ein paar Blutergüsse.«

»Gibt es in Bolton gefährliche Gebiete?«

»Manche sind übler als andere.«

»Haben Sie die Bars kontrolliert?«

»Worauf?«

»Frisch geputzte Böden, verdächtige Flecken.«

»Glauben Sie, dass er bei einer Schlägerei in einer Bar umgekommen ist?«

»Irgendwo in einem Viertel mit niedrigen Mieten, nicht in der Kampfzone.«

»Wieso?«

»Erzählen Sie mir, was der Pathologe über die Waffe gesagt hat.«

»Sie war stangenförmig rund, ziemlich glatt, vermutlich bearbeitetes Holz oder Metall, vielleicht ein Zaunpfahl oder das Fallrohr einer Regenrinne.«

»Keines von beiden«, sagte Reacher. »Zaunpfähle und Fallrohre haben überall den gleichen Durchmesser. Schwer festzuhalten, schwer wirkungsvoll einzusetzen. Ich tippe auf einen Baseballschläger. Und die sind im Winter relativ selten zu finden. Sie werden in Schränken, Garagen, Kellern und auf Dachböden aufbewahrt. Manchmal liegen sie allerdings unter Theken, wo der Barkeeper rasch drankommt. Natürlich nicht in guten Stadtvierteln, und in der Kampfzone würde man vermutlich eine Schrotflinte nehmen.«

Peterson sagte nichts.

Reacher fragte: »Wo gehen die Gefängniswärter zum Trinken hin?«

»Glauben Sie, dass es einer von ihnen war?«

»Zum Tangotanzen braucht man zwei. Und Gefängniswärter sind Handgreiflichkeiten gewöhnt.«

Peterson schwieg einen Augenblick. »Sonst noch was?«

Reacher schüttelte den Kopf. »Ich bin mal unterwegs. Komme später wieder.«

Es schneite noch immer stark. Petersons Streifenwagen war bereits unter einer dicken Schneedecke verschwunden. Reacher klappte die Kapuze des geliehenen Parkas hoch und ging daran vorbei. Er erreichte den Gehsteig und sah erst nach links, dann nach rechts. Schneeflocken wirbelten um ihn herum, gerieten unter die Kapuze, fingen sich in Haar und Augenbrauen und drangen sogar bis zu seinem Nacken vor. Genau gegenüber lag ein am Rand mit Bäumen bepflanzter Stadtplatz, dahinter eine Ladenzeile. Die Entfernung war zu groß und das Schneetreiben zu dicht, als dass genau zu erkennen gewesen wäre, was es dort drüben gab. Aber aus einem Abluftrohr eines dieser Gebäude stieg eine weiße Dampfwolke auf, die vermuten ließ, dass sich dort eine chemische Reinigung oder ein Schnellrestaurant befand, womit die Aussichten auf ein spätes Frühstück fünfzig zu fünfzig standen.

Reacher machte sich auf den Weg, stapfte durch den von Räumfahrzeugen aufgehäuften hohen Schnee und überquerte den Platz mehr rutschend als gehend. Seine Nase, aber auch die Ohren und das Kinn wurden gefühllos. Die Hände ließ er in den Hosentaschen. Der Laden mit der Dampfwolke erwies sich als ein Coffeeshop. Reacher trat in schwüle Hitze. Eine Theke und vier Tische. An einem davon saß Jay Knox, der Busfahrer. Das Geschirr auf seinem Tisch zeigte, dass er vor längerer Zeit reichlich gefrühstückt haben musste. Reacher blieb ihm gegenüber stehen und legte eine Hand auf die Lehne, wie um den Stuhl herauszuziehen – eine stumme Frage. Sein Aufkreuzen schien Knox weder zu freuen noch zu ärgern. Er wirkte geistesabwesend und etwas mürrisch.

Reacher setzte sich unaufgefordert hin und fragte: »Alles in Ordnung bei Ihnen?«

Knox zuckte mit den Schultern. »Ich bin bei Leuten untergebracht.«

»Und?«

»Na ja, wahrscheinlich sind sie ganz nett.«

»Aber Sie haben dort nicht gefrühstückt.«

»Ich dränge mich nicht gern auf.«

»Hat man Ihnen keines angeboten?«

»Ich mag sie nicht besonders, okay?«

Reacher schwieg.

Knox fragte: »Wo hat man Sie untergebracht?«

»Bei dem Cop, der im Bus war.«

»Warum sind Sie dann hier? Haben Sie bei Ihrem Cop kein Frühstück gekriegt?«

Reacher fragte nur: »Gibt’s was Neues?«

»Die Abschleppwagen sind heute Morgen gekommen. Sie haben den Bus aus dem Graben gezogen. Aus Minneapolis ist ein Ersatzbus unterwegs. Müsste eintreffen, sobald der Schneesturm nachlässt.«

»Nicht so übel.«

»Aber er kommt mit dem eigenen Fahrer. Was bedeutet, dass ich bis Seattle lediglich mitfahren werde. Was wiederum bedeutet, dass ich seit gestern Nachmittag vier Uhr keinen Lohn mehr kriege.«

»Nicht so gut.«

»Sie sollten was wegen dieser verdammten Brücke tun.«

»Haben Sie Ihre Passagiere wiedergesehen?«

»Die sind hier und dort verstreut. Eine trägt den Arm in der Schlinge, und eine andere hat das Handgelenk eingegipst. Aber im Allgemeinen meckern sie nicht zu sehr herum. Ich glaube nicht, dass jemand schon einen Anwalt angerufen hat. Einige nehmen die Sache sogar von der positiven Seite, als wäre dies eine Magic Mystery Tour.«

»Nicht so übel«, wiederholte Reacher.

Knox gab keine Antwort. Stand nur ruckartig auf, nahm Sachen von einem Wandhaken, setzte eine Wollmütze auf, wickelte sich einen Schal um den Hals und zwängte sich in eine dicke Jacke – den Größen und Farben nach zu schließen alles geliehen. Er nickte Reacher kurz zu – ein missmutiges Lebewohl – und verließ das Lokal.

Die Bedienung kam an den Tisch, und Reacher bestellte das größte Frühstück auf der Karte.

Und eine Kanne Kaffee.

10.55 Uhr.

Noch einundvierzig Stunden.

Der Anwalt ließ seine Aktentasche im Büro, aber er nahm die Überschuhe in ihrer Plastiktüte mit. Nachdem er sie in der Eingangshalle angezogen hatte, ging er über den Parkplatz zu seinem Wagen. Er schnallte sich an, startete den Motor, schaltete die Sitzheizung und die Scheibenwischer ein. Er wusste, dass die Interstate weiter gesperrt war. Aber es gab Ausweichrouten. Lange, schnurgerade Straßen, die in South Dakota bis zum Horizont reichten.

Er streifte die Überschuhe ab, trat aufs Bremspedal und stellte den Wählhebel auf Drive.

Reacher hatte sein Riesenfrühstück etwa zur Hälfte verspeist, als Peterson hereinkam. Klar war, dass Reacher davon beeindruckt sein sollte, wie leicht Peterson ihn gefunden hatte. Was Reacher vielleicht gewesen wäre – oder auch nicht –, wenn er gewusst hätte, wo Peterson ihn schon überall gesucht hatte.

Peterson legte eine Hand auf die Lehne des Stuhls, auf dem Knox gesessen hatte. Reacher forderte ihn mit einer Bewegung seiner vollen Gabel auf, Platz zu nehmen. Peterson setzte sich und sagte: »Tut mir leid, dass Sie bei uns kein Frühstück bekommen haben.«

Reacher kaute, schluckte und erwiderte: »Kein Problem. Sie sind ohnehin sehr großzügig.«

»Kim leidet unter der Einsamkeit. Es ist nicht ihre liebste Zeit, wenn die Jungen und ich das Haus verlassen. Sie verkriecht sich meist in ihrem Zimmer.«

Reacher schwieg.

Peterson antwortete: »Sind Sie schon mal einsam gewesen?«

Reacher sagte: »Manchmal.«

»Kim würde sagen, dass Sie nicht wissen, was Einsamkeit ist. Erst wenn Sie in South Dakota Tag für Tag auf einer Veranda hinter dem Haus gesessen, sich umgeschaut und in hundert Meilen Umkreis nichts gesehen haben.«

»Ist sie nicht von hier?«

»Doch. Aber auch was man seit Langem kennt, braucht man nicht zu mögen.«

»Vermutlich nicht.«

»Wir haben die Bars überprüft und eine mit frisch gescheuertem Fußboden gefunden.«

»Wo?«

»Norden. Wo die Gefängniswärter abends hingeh’n.«

»Auskunftswillige Zeugen?«

»Nein, aber der Barkeeper ist verschwunden. Gestern mit seinem Pick-up abgehauen.«

»Okay«, sagte Reacher.

»Danke«, sagte Peterson.

»Nichts zu danken.« Reacher spießte einen halben Dotter und ein Stück Schinken auf und schob beides in den Mund.

»Ist Ihnen sonst noch was eingefallen?«, fragte Peterson.

»Ich weiß, wie der Mann, den Sie eingelocht haben, Verbindung zu seinen Leuten hält.«

»Wie?«

»Er hat drinnen einen Freund gewonnen. Oder sich jemanden gefügig gemacht. Ihr Kerl bläut dem zweiten Kerl ein, was er sagen soll, und der zweite Kerl erzählt es seinem Anwalt. Sie überwachen das falsche Sprechzimmer.«

»Anwaltsbesuche gibt es jeden Tag zu Dutzenden.«

»Dann sollten Sie anfangen, alle zu überprüfen.«

Peterson schwieg einen Augenblick. »Sonst noch was?«

Reacher nickte. »Ich brauche einen Laden für Herrenkleidung. Das habe ich Ihrer Frau mehr oder weniger versprochen. Billig und nicht zu modisch. Gibt’s hier einen, der solche Sachen verkauft?«

Das Bekleidungsgeschäft, das Peterson ihm empfahl, lag einen langen Block westlich des Stadtplatzes. Es führte strapazierfähige Kleidung für kernige Farmer. Es gab Sommer und Wintersachen, die sich äußerlich nicht viel voneinander unterschieden. Die meisten Artikel stammten von unbekannten Herstellern, aber es gab auch bekannte Marken – alles zweite Wahl mit sichtbaren Mängeln. Die Farbauswahl war beschränkt, dafür waren die Preise selbst für Schuhe billig. Reacher begann ganz unten mit wasserdichten schwarzen Stiefeln. Dann machte er mit Oberbekleidung weiter. Hatte er die Wahl, entschied er sich wie immer für Olivgrün oder Blau. Olivgrün, weil er in der Army gewesen war; blau, weil eine Frau ihm einmal erzählt hatte, es betone seine blauen Augen. Diesmal nahm er olivgrüne Sachen, weil sie am besten zu dem geliehenen beigen Parka passten. Er wählte eine Hose mit Flanellfutter, ein T-Shirt, ein Flanellhemd und einen dicken Baumwollpullover. Dazu kamen weiße Unterwäsche und schwarze Handschuhe sowie eine khakifarbene Wollmütze.

Alles zusammen kostete hundertdreißig Dollar, aber weil Reacher bar zahlte, gab der Ladenbesitzer sich mit hundertzwanzig zufrieden. Bei vermutlich vier Tagen Tragezeit waren das dreißig Dollar am Tag. Also über zehntausend Dollar im Jahr nur für Kleidung. Verrückt, würden manche sagen. Aber Reacher gefiel dieser Stil. Er wusste, dass die meisten Leute weit weniger als zehn Riesen im Jahr für Klamotten ausgaben. Sie hatten ein paar gute Sachen, die sie in Schränke hängten und in Kellern wuschen. Aber die Kleiderschränke und Waschmaschinen waren von Häusern umgeben, und ein Haus zu kaufen oder zu mieten, zu unterhalten und zu versichern, kostete weit mehr als zehn Riesen pro Jahr.

Wer war also in Wirklichkeit verrückt?

Er zog sich in der Umkleidekabine um und stopfte sein altes Zeug in die Abfalltonne hinter dem Ladentisch. Dann setzte er die Mütze auf und zog sie sich über die Ohren. Anschließend klappte er die Kapuze des geliehenen Parkas darüber und zog den Reißverschluss hoch. Er schlüpfte in die Handschuhe und trat auf den Gehsteig hinaus.

Und fror trotzdem.

Die Luft war eisig wie in einer Kühlzelle. Er spürte sie im Magen, in den Rippen, den Beinen, am Hintern, in den Augen, im Gesicht, in der Lunge. Wie zur schlimmsten Zeit in Korea, aber damals war er jünger gewesen und von der Army hingeschickt und dafür bezahlt worden. Dies war etwas anderes. Schneeflocken tanzten und wirbelten um ihn herum. Der auffrischende Wind ließ sein Gesicht brennen. Seine Nase begann zu laufen. Seine Augen tränten heftig. Er musste immer wieder Schutz in Hauseingängen suchen. So verwandelte sich der zehnminütige Rückweg zur Polizeistation in eine zwanzigminütige Odyssee.

Als er eintraf, herrschte dort völliges Chaos.

11.55 Uhr.

Noch vierzig Stunden.

Die Hälfte aller Telefone der Polizeistation schien zu klingeln. Der Alte am Empfang hielt zwei Hörer in den Händen und sprach in beide gleichzeitig. Peterson befand sich allein im Bereitschaftsraum. Er stand hinter seinem Schreibtisch, einen Telefonhörer mit baumelndem Spiralkabel zwischen Kopf und Schulter eingeklemmt, und gestikulierte mit beiden Händen. Machte dabei knappe, energische Bewegungen, als läge die Stadt Bolton auf seinem Schreibtisch wie auf einer Karte vor ihm.

Reacher sah und hörte zu. Die Situation erklärte sich von selbst. Dazu brauchte man kein Genie zu sein. An einer Person war ein Schwerverbrechen verübt worden, und Peterson entsandte Leute zum Tatort, während er gleichzeitig sicherstellte, dass alle sonstigen Verpflichtungen weiter erfüllt wurden. Der Tatort schien am rechten Schreibtischrand zu liegen, also vermutlich im Osten von Bolton. Die Verpflichtungen lagen leicht südwestlich der Stadtmitte, wo Janet Salter wohnen musste. Die gefährdete Zeugin. Peterson setzte dort mehr Leute ein als am Tatort, was bedeuten konnte, dass er angemessen vorsichtig oder das Opfer am Tatort schon nicht mehr zu retten war.

Oder beides.

Einige Minuten später beendete Peterson das Gespräch und legte auf. Er wirkte sorgenvoll. Dem Polizeialltag ist er gewachsen, aber bei allem anderen kommt er leicht ins Schwimmen. Er sagte: »Wir haben einen Mann aufgefunden, der in seinem Wagen erschossen worden ist.«

»Wer?«

»Dem Kennzeichen nach ein Anwalt aus einem benachbarten County. Er hat fünf Mandantenbesprechungen im Gefängnis gehabt. Alle seit der Verhaftung des Bikerbosses. Wie Sie gesagt haben. Er war ihr Kurier. Und jetzt steht ihr Plan. Also machen sie Hausputz und sorgen dafür, dass die Beweiskette unterbrochen wird.

»Noch schlimmer«, meinte Reacher.

Peterson nickte. »Ja, ich weiß. Ihr Mann ist nicht hierher unterwegs. Wir haben ihn verpasst. Er ist schon hier.«