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Peterson fuhr mit dem Streifenwagen nach Hause, was Reacher für ungewöhnlich hielt. Seiner Erfahrung nach lieferten Cops ihre Wagen nach Dienst bei der Fahrbereitschaft ab und fuhren mit Privatautos heim. Dann stieg die nächste Schicht ein, während die Motoren und Sitze noch warm waren. Peterson erklärte jedoch, das Bolton Police Department verfüge über reichlich Fahrzeuge und jeder hiesige Beamte habe eines zugeteilt bekommen. Alle müssten aber im Umkreis von zehn Autominuten um die Polizeistation wohnen.
Peterson wohnte nur drei Autominuten weit weg: eine Meile vom östlichen Stadtrand entfernt in einem alten Farmhaus, das er selbst ausgebaut hatte. Das Wohnhaus war ein massiver Holzbau, rot gestrichen und weiß abgesetzt, mit warmem gelbem Licht in einigen Fenstern. Daneben stand eine ebenfalls rot gestrichene Scheune. Auf beiden Dächern lag hoher Schnee. Das die Gebäude umgebende Land lag weiß, eben und still da. Das quadratische, ungefähr einen halben Hektar große Grundstück wurde durch Stacheldraht an weiß bereiften Pfosten begrenzt. Von dem Zaun ragte nur ungefähr ein halber Meter aus dem Schnee.
Die Einfahrt war Y-förmig geräumt. Eine Abzweigung führte zu der Scheune, die andere zur Vorderseite des Hauses. Peterson parkte in der Scheune. Der große alte Bau mit offener Front war dreigeteilt. In einem Abteil stand ein Pick-up von Ford mit montiertem Schneeräumschild; ein zweites diente als Brennholzlager. Reacher und Peterson stiegen aus dem Wagen, gingen auf der geräumten Fläche zurück, bogen scharf ab und hielten auf das Haus zu.
Die massive hölzerne Haustür war in demselben Rot gestrichen wie das Farmhaus. Sie wurde geöffnet, als Peterson und Reacher sie schon fast hätten berühren können. In der Diele stand eine Frau. Sie war ungefähr in Petersons Alter, überdurchschnittlich groß und schlank. Ihr blondes Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengefasst. Zu einer schwarzen Hose trug sie einen Wollpullover mit kompliziertem Strickmuster.
Vermutlich Mrs. Peterson.
Alle drei verharrten höflich. Peterson wollte raus aus der Kälte, seine Frau nicht zu viel Wärme entweichen lassen und Reacher nicht unaufgefordert hereinplatzen. Nach kurzem Zögern öffnete die Frau die Haustür etwas weiter, sodass Peterson und sein Gast über die Schwelle treten konnten. Die Diele hatte einen gebohnerten Holzboden, eine niedrige Decke und tapezierte Wände. Links ging es ins Wohnzimmer, rechts ins Esszimmer. Geradeaus im rückwärtigen Teil des Hauses lag die Küche. Irgendwo bullerte ein Holzofen. Reacher konnte ihn riechen: heißer Stahl und eine Spur von Rauch.
Peterson machte sie miteinander bekannt. Er sprach halblaut, was Reacher an schlafende Kinder im ersten Stock denken ließ. Seine Frau Kim schien alles über den Busunfall und die Suche nach Notunterkünften zu wissen. Sie erklärte, sie habe ihm das Schlafsofa im Hobbyraum hergerichtet. Das sagte sie entschuldigend, als wäre ein richtiges Schlafzimmer besser gewesen.
Reacher sagte: »Ma’am, der Fußboden wäre in Ordnung gewesen. Tut mir sehr leid, dass ich Ihnen so viel Mühe gemacht habe.«
Sie erwiderte: »Ach, das war keine Mühe.«
»Morgen früh kann ich hoffentlich weiter.«
»Ich glaube nicht, dass Sie das können. Vor Tagesanbruch schneit’s erst richtig.«
»Dann vielleicht im Lauf des Tages.«
»Die Interstate bleibt geschlossen, fürchte ich. Stimmt’s, Andrew?«
Peterson sagte: »Wahrscheinlich.«
Seine Frau meinte: »Sie können gern bei uns bleiben, solange Sie müssen.«
»Ma’am, das ist sehr großzügig. Ich danke Ihnen.«
»Ist Ihr Gepäck noch im Auto?«
Peterson sagte: »Er hat keins. Angeblich kommt er ohne Besitztümer aus.«
Kim schwieg. Ihre Miene war ausdruckslos, als fiele es ihr schwer, diese Informationen zu verarbeiten. Dann musterte sie Reachers Jacke, sein Hemd, seine Hose. Reacher sagte: »Ich gehe morgen früh einkaufen. Das tue ich immer. Ich besorge mir alle paar Tage neue Sachen.«
»Statt sie in die Wäsche zu geben?«
»Ja.«
»Warum?«
»Weil’s logisch ist.«
»Sie werden eine warme Jacke brauchen.«
»Sieht ganz so aus.«
»Kaufen Sie keine. Viel zu teuer für ein paar Tage. Wir können Ihnen eine leihen. Mein Vater trägt Ihre Größe. Eine seiner Jacken hängt hier, damit er sie hat, wenn er uns besucht. Und eine Mütze und Handschuhe.« Kim wandte sich ab, öffnete den Garderobenschrank, beugte sich tief hinein und nahm mit einiger Mühe einen Bügel von der Kleiderstange. Brachte einen riesigen schlammfarbenen Parka mit dicken Daunenwülsten zum Vorschein. Er war alt und abgetragen und an vielen Stellen dunkler überklebt, wo man alle möglichen Abzeichen und Aufnäher entfernt hatte. Die Formen auf den Ärmeln waren Winkel.
»Cop im Ruhestand?«, fragte Reacher.
»Highway Patrol«, antwortete Kim. »Sie dürfen ihre Sachen behalten, wenn die Rangabzeichen entfernt werden.«
Die Daunenjacke besaß eine Kapuze mit Pelzbesatz, und in einer Tasche steckte eine Pelzmütze, in der anderen ein Paar gefütterte Lederhandschuhe.
»Probieren Sie sie an«, forderte sie Reacher auf.
Wie sich herausstellte, hatte ihr Vater nicht Reachers Größe. Der Parka war eine Nummer zu groß. Aber größer war besser als kleiner. Reacher zog sie zurecht und begutachtete die Stelle am Ärmel, wo sich einst die Winkel befunden hatten. Er lächelte. Das gefiel ihm. Seine Sergeanten hatte er immer gemocht. Sie leisteten gute Arbeit.
Die Jacke roch nach Mottenkugeln, die Mütze nach dem Haar eines anderen Mannes. Sie war aus beigem Nylon und mit Kaninchenfell besetzt.
»Danke«, sagte Reacher. »Sehr freundlich von Ihnen.« Er schlüpfte wieder aus der Jacke. Kim nahm sie ihm ab und hängte sie an einen Haken neben der Tür, wo schon Petersons Polizeiparka hing. Dann gingen sie zusammen in die Küche, die im rückwärtigen Teil des Hauses fast die gesamte Hausbreite einnahm. Außer den üblichen Küchenmöbeln gab es hier noch einen zerschrammten Tisch mit sechs Stühlen, einen Wohnbereich mit einem durchgesessenen Sofa, zwei Sesseln und einem Fernseher. An der linken Wand der Wohnküche stand der Holzofen. Er wummerte wie eine Lokomotive. Neben dem Ofen befand sich eine Tür.
»Diese Tür führt in den Hobbyraum«, erklärte Kim. »Sie können gleich reingehen.«
Weil Reacher annahm, damit sei er für die Nacht entlassen, drehte er sich um und wollte sich nochmals bedanken. Aber dann sah er, dass Peterson ihm folgte. Kim sagte: »Er will mit Ihnen reden. Das merke ich, weil er nicht mit mir spricht.«
Der Mann, der den Auftrag hatte, die Zeugin und den Anwalt zu liquidieren, machte sich daran, die Pistole zu reinigen, die er dafür bekommen hatte. Die Waffe war eine Glock 17, nicht alt, nicht neu, oftmals bewährt, gut erhalten. Er zerlegte sie, reinigte sie, ölte sie, setzte sie wieder zusammen. Die Griffschalen waren geriffelt, und in den winzigen Vertiefungen hatte sich etwas Schmutz angesammelt. Er entfernte ihn mit einem in Testbenzin getauchten Wattestäbchen. Im unteren Drittel war der Herstellername eingeprägt: eine übermäßig komplizierte und etwas amateurhafte Grafik mit einem G, das eine Weltkugel umspannte. Man konnte das G leicht als bloßen Umriss wahrnehmen und deshalb übersehen. Auf den ersten Blick schien der Hersteller LOCK zu heißen. Auch das Firmenzeichen war verschmutzt. Der Mann tränkte ein neues Wattestäbchen mit Benzin und hatte das Zeichen in einer Minute gesäubert.
Petersons Hobbyraum war ein kleiner, dunkler, quadratischer, männlicher Raum. Er lag in der hinteren Hausecke und besaß zwei Außenwände und zwei Fenster. Die karierten Vorhänge aus dickem Wollstoff waren zurückgezogen, offen. In die beiden anderen Wände waren drei Türen eingelassen: die zur Wohnküche und vermutlich zu einer Toilette und einem begehbaren Kleiderschrank. Die restliche Wandfläche verschwand hinter Flohmarktschränken und einem alten Schreibtisch, auf dem ein kleiner Kühlschrank stand. Auf dem Kühlschrank tickte ein altmodischer Wecker mit zwei Metallklingeln. Im Raum selbst standen ein skandinavisch anmutender niedriger Ledersessel und ein zweisitziges Sofa, das durch Ausziehen in ein schmales Bett verwandelt worden war.
Reacher setzte sich auf die Bettkante. Peterson nahm zwei Flaschen Bier aus dem Kühlschrank, öffnete die Schraubverschlüsse, warf sie in den Papierkorb und gab eine der Flaschen Reacher. Dann ließ er sich in den Ledersessel sinken.
Er sagte: »Wir haben hier eine Situation.«
Reacher sagte: »Ja, ich weiß.«
»Wie viel wissen Sie?«
»Ich weiß, dass Sie eine Bande Biker, die Meth herstellen, mit Samthandschuhen anfassen. Als hätten Sie Angst vor ihnen.«
»Wir haben keine Angst vor ihnen.«
»Wozu dann die Samthandschuhe?«
»Dazu kommen wir später. Was wissen Sie noch?«
»Ich weiß, dass Sie über eine ziemlich große Polizeistation verfügen.«
»Okay.«
»Was auf eine ziemlich große Anzahl Polizisten schließen lässt.«
»Sechzig Frauen und Männer.«
»Und alle verfügbaren Leute sind tagsüber und den ganzen Abend im Einsatz, sodass zuletzt der Chief, der dienstfrei hat, und sein Stellvertreter, der dienstfrei hat, ausrücken müssen, wenn ein Bürger um zehn Uhr abends anruft. Was darauf zu beruhen scheint, dass die meisten Ihrer Leute Straßensperren bemannen. Im Prinzip kontrollieren Sie das ganze Stadtgebiet.«
»Weil?«
»Weil Sie fürchten, dass jemand von außerhalb nach Bolton kommen könnte.«
Peterson nahm einen großen Schluck von seinem Bier und fragte dann: »War der Busunfall echt?«
Reacher antwortete: »Ich bin nicht Ihr Mann.«
»Das wissen wir. Sie konnten nichts beeinflussen. Aber vielleicht ist der Fahrer unser Mann.«
Reacher schüttelte den Kopf. »Sicher viel zu kompliziert. Hätte tausendfach schiefgehen können.«
»Hat er wirklich gegen das Schleudern angekämpft?«
»Im Gegensatz wozu?«
»Vielleicht dazu, dass er’s verursacht hat.«
»Hätte er nicht einfach den Motor abgestellt und eine Panne vorgetäuscht? Nicht weit von der Ausfahrt entfernt?«
»Zu offenkundig.«
»Ich habe geschlafen. Aber was ich nach dem Aufwachen gesehen habe, hat real gewirkt. Ich glaube nicht, dass er Ihr Mann ist.«
»Aber er könnte es sein.«
»Möglich ist alles. Ich an seiner Stelle wäre als Häftlingsbesucher gekommen. Von Chief Holland weiß ich, dass es die in Massen gibt. Die Motels sind sechs Tage in der Woche voll.«
»Die kennen wir alle ziemlich gut. Dort draußen sitzen nicht viele mit kurzen Haftstrafen ein. Die Gesichter bleiben ungefähr gleich. Und wir überwachen sie. Kreuzt jemand auf, den wir nicht kennen, fragen wir im Gefängnis nach, ob er auf der Liste steht. Und die meisten Besucher sind ohnehin Frauen und Kinder. Wir erwarten einen Mann.«
Reacher zuckte mit den Schultern. Nahm einen Schluck aus der Flasche. Das Bier war ein Miller. Neben ihm begann der kleine Kühlschrank zu summen. Als Peterson die Tür geöffnet hatte, war warme Luft in den Innenraum gelangt. Darauf hatte der Thermostat jetzt angesprochen.
Peterson sagte: »Der Bau des Gefängnisses hat drei Jahre gedauert. Hunderte von Bauarbeitern waren daran beteiligt. Sie wohnten fünf Meilen westlich von hier in einem Lager, auf einem ehemaligen Gelände der U. S. Army. Sie bauten Hütten und stellten Wohnwagen auf. So ist ein richtiges kleines Dorf entstanden. Dann sind sie wieder abgezogen.«
»Wann?«
»Vor einem Jahr.«
»Und?«
»Dann sind die Biker eingezogen. Sie haben die Siedlung besetzt.«
»Wie viele?«
»Im Augenblick sind’s über hundert.«
»Und?«
»Sie verkaufen Methamphetamin. In rauen Mengen. Entlang der Interstate nach Osten und Westen. Ein Riesengeschäft.«
»Nehmen Sie sie hopp.«
»Das ist nicht so einfach. Um ihr Lager durchsuchen zu können, bräuchten wir einen begründeten Verdacht. Normalerweise ist das kein Problem. Ein Meth-Labor in einem Trailer existiert nur zwei, drei Wochen. Dann fliegt es in die Luft, und man braucht nur der Feuerwehr nachzufahren. Bei der Herstellung wird mit allen möglichen explosiven Chemikalien hantiert. Aber diese Leute arbeiten sehr sorgfältig. Bisher hat’s noch keinen Unfall gegeben.«
»Aber?«
»Wir haben Glück gehabt. Ein großer Dealer aus Chicago ist nach Westen gekommen, um wegen eines Großeinkaufs zu verhandeln. Er hat sich mit dem Bikerboss hier in Bolton getroffen. Ganz zivilisiert auf neutralem Boden. Er hat eine Probe von der Ladefläche eines Pick-ups weg gekauft – auf dem Parkplatz des Restaurants, in dem wir gegessen haben.«
»Und?«
»Wir haben eine Zeugin, die die ganze Übergabe beobachtet hat. Der Kerl aus Chicago konnte flüchten, aber wir haben den Stoff und das Geld sichergestellt und den Biker verhaftet. Er sitzt jetzt im Bezirksgefängnis und wartet auf seinen Prozess.«
»Sie haben ihren Boss geschnappt? War das nicht Grund genug, das Lager zu durchsuchen?«
»Sein Pick-up ist in Kentucky zugelassen. Sein Führerschein stammt aus Alabama. Er behauptet, aus dem Süden hergefahren zu sein. Angeblich lebt er nicht hier. Es ist uns nicht gelungen, ihm eine Verbindung zu den Bikern nachzuweisen. Wir können keinen Durchsuchungsbefehl mit der Begründung beantragen, dass er sich wie die anderen Kerle dort draußen kleidet. Darauf lassen Richter sich nicht ein. Sie wollen handfestere Beweise sehen.«
»Was haben Sie also vor?«
»Wir verhandeln mit ihm. Wir bieten ihm eine Verfahrensabsprache an und bekommen dafür die Informationen, die wir brauchen, um den ganzen Laden hochgehen zu lassen.«
»Hat er zugestimmt?«
»Noch nicht. Er setzt auf Abwarten. Er spekuliert darauf, dass die Zeugin Sachen vergisst. Oder stirbt.«
»Wer ist die Zeugin?«
»Eine nette alte Dame hier in der Stadt. Weit über siebzig. War früher Lehrerin und Bibliothekarin. Hundertprozentig glaubwürdig.«
»Ist denn damit zu rechnen, dass sie Sachen vergisst oder stirbt?«
»Natürlich! So arbeiten diese Leute. Sie schüchtern Zeugen ein. Oder bringen sie um.«
»Deshalb machen Sie sich Sorgen wegen Fremden, die nach Bolton kommen. Sie glauben, sie könnten es auf Ihre Zeugin abgesehen haben.«
Peterson nickte. Schwieg.
Reacher nahm einen großen Schluck aus seiner Flasche und fragte: »Wieso muss es unbedingt ein Fremder sein? Könnten die Biker nicht rüberkommen und die Sache selbst in die Hand nehmen?«
Peterson schüttelte den Kopf. »Jeder Biker, der in die Stadt kommt, wird auf Schritt und Tritt überwacht. Wie Sie heute Abend gesehen haben. Jeder achtet auf sie. Also wird’s kein Biker sein. Das wäre völlig sinnlos. Ihre ganze Strategie beruht darauf, uns keinen begründeten Verdacht zu liefern.«
»Okay.«
Peterson fuhr fort: »Jemand anders ist hierher unterwegs. So muss es sein. In ihrem Auftrag. Jemand, den wir nicht erkennen werden, wenn er aufkreuzt.«