40

Nach drei Stunden in der Luft begann Plato unruhig zu werden. Was keine Überraschung war. Sein Leben glich einem Computerspiel. Ständig tauchten neue Gefahren, neue Bedrohungen auf. Auf jede einzelne musste wirkungsvoll und umfassend reagiert werden. Von der wichtigsten Sache bis zur unwichtigsten. Dabei waren nicht einmal die unwichtigen Dinge trivial. Er gab jeden Monat allein hundertfünfzig Dollar für Gummibänder aus. Nur um das Geld bündeln zu können, das er auf die Bank brachte. Es gab keine kleinen Probleme. Und jede Menge große. Und seine Leistung wurde nicht nur nach Umsätzen, sondern auch nach seinem Auftreten beurteilt. Jede Krise wurde als Schwäche ausgelegt. Besonders in seinem Fall.

Verrückterweise war er als Kind groß gewesen. Bis zum siebten Lebensjahr war er eher größer als seine Altersgenossen gewesen. Mit acht Jahren hatte er noch gut mithalten können, und mit neun war er durchschnittlich groß gewesen. Dann hatte er zu wachsen aufgehört. Niemand wusste, weshalb. Niemand wusste, ob daran ein Gendefekt, eine Krankheit oder Umweltfaktoren schuld waren. Vielleicht Quecksilber oder Blei oder irgendein anderes Schwermetall. An Hunger oder Verwahrlosung hatte es jedenfalls nicht gelegen: Er hatte liebevolle, kompetente Eltern gehabt. Anfangs hatten sie seine Kleinwüchsigkeit ignoriert und geglaubt, sie werde sich von selbst »auswachsen«. Aber das tat sie nicht. Deshalb hatte sich erst sein Vater, dann seine Mutter von ihm abgewandt.

Jetzt wandte sich keiner mehr von ihm ab.

Sein Mobiltelefon war eingeschaltet. Normale Regeln galten nicht für ihn. Es klingelte, und er meldete sich. Sein Mann vor Ort. Irgendein Kollege bei der Polizei hatte zu viel rausgekriegt und war umgelegt worden. Plato war das egal. Ein Kollateralschaden. Unwichtig. Irgendein anderer Kerl schnüffelte herum und würde ebenfalls beseitigt werden müssen. Ein ehemaliger Militärpolizist. Auch das war Plato egal. Unwichtig. Nicht sein Problem.

Aber dann endlich die wichtige Nachricht: Die Zeugin war tot.

Plato lächelte.

Er sagte: »Sie haben gerade ein Leben gerettet.«

Dann telefonierte er selbst. Mit Brooklyn, New York. Er verkündete die Nachricht. Das letzte Hindernis war nun beseitigt. In South Dakota gab es definitiv keine Probleme mehr. Dafür konnte er garantieren. Der Russe erklärte sich bereit, das Geld sofort zu überweisen. Plato, der aufmerksam zuhörte, glaubte das Klicken einer Computermaus zu hören.

Er lächelte erneut.

Der Handel war perfekt.

Er klappte das Handy zu und sah aus seinem Fenster. Sitz 1A, der beste in der Maschine. In seinem Flugzeug. Er blickte auf das nächtliche Amerika hinunter. Dunkel und riesig, mit einzelnen verstreuten Lichtern. Noch siebenundfünfzig Minuten. Dann war wieder einmal Showtime. Eine weitere Herausforderung. Ein weiterer Triumph.

Reacher ging nach oben und fand Janet Salters Schlafzimmer. Es lag nach hinten hinaus über der Bibliothek. Ein angenehmer Raum, der leicht nach Puder und Lavendel roch. Das dazugehörige Bad befand sich halb über der Küche. Der Spiegelschrank über dem Waschbecken diente als Medizinschränkchen. Zwischen Toilettenartikeln stand dort eine Schachtel mit Munition des Kalibers .38, die noch achtundachtzig der ursprünglich hundert Patronen enthielt.

Reacher steckte die Patronenschachtel ein und schloss die Schranktür. Er ging wieder die Treppe hinunter und in die Bibliothek, blieb vor Janet Salter stehen, schob ihr Buch und ihren weichen Arm beiseite und zog den Revolver aus der Tasche ihrer Wolljacke. Die Waffe war immer noch voll geladen. Er steckte sie ein, brachte Buch und Arm wieder in die vorherige Lage und verließ den Raum.

Der Cop, der den Anwalt, Andrew Peterson und Mrs. Salter erschossen hatte, saß in seinem Wagen und starrte durch die Frontscheibe nach draußen. Er befand sich auf seinem Posten innerhalb der Absperrung und war persönlich für zweihundert Meter Schneelandschaft links und zweihundert Meter Schneelandschaft rechts verantwortlich. Allerdings hätte kein Ausbrecher etwas anderes als die Straße benützt. Das Gelände war zu jeder Jahreszeit zu flach, um Schutz zu bieten. Die Hunde hätten ihn in wenigen Minuten aufgespürt. Querfeldein zu fliehen und sich in Gräben und Geländeeinschnitten zu verbergen war etwas aus alten Sträflingsfilmen in Schwarz-Weiß, die spät nachts im Satellitenfernsehen liefen. Nein, heutzutage benutzten clevere Ausbrecher die Straße, indem sie unter einem aus dem Gefängnis kommenden Lieferwagen festgeschnallt flüchteten.

Nicht dass es tatsächlich einen Ausbrecher gab. Das hatte Plato klargestellt. In einem modernen Gefängnis gab es alle möglichen Hohlräume: Lüftungskanäle unter der Decke, Kabelschächte im Boden, jeweils mit Inspektionsöffnungen. Alle völlig sicher, weil sie nirgends ins Freie führten. Aber sehr nützlich, wenn ein Ausbruch simuliert werden sollte. Mit einem Sandwich und einer Urinflasche konnte ein Kerl es zehn bis zwölf Stunden darin aushalten.

Was genügen würde.

Der Cop kontrollierte seine Waffen. Gewohnheit. Instinkt. Erst seine Dienstpistole, die in ihrem Halfter steckte, dann seine zweite Waffe. Durchgeladen. Eine Patrone in der Kammer, vierzehn weitere im Magazin.

Die vierzehn im Magazin würde er nicht brauchen.

Reacher unternahm einen letzten Rundgang durch Janet Salters Haus. Er war sich ziemlich sicher, dass er nicht hierher zurückkehren würde, und es gab bestimmte Dinge, die er sich einprägen musste. Er betrachtete die Haustür, die Küchentür ins Freie, die Kellertür, die Küche, die Eingangshalle, die Bibliothek, Janet Salters Position und das Buch auf ihrem Schoß. Sie würde fünf bis acht Minuten gebraucht haben, vermutete er, um es sich so bequem zu machen, nachdem sie zuvor in größter Panik gewesen sein musste. So lange würde es gedauert haben, um sich in der beruhigenden Anwesenheit eines städtischen Cops zu entspannen.

Rechnete man die eine Minute dazu, die ihre Beschützer gebraucht haben würden, um das Haus fluchtartig zu verlassen, hatte jemand seinen Posten in dem Kordon mit sechs bis neun Minuten Verspätung eingenommen.

Daran würde sich jemand erinnern.

Vielleicht.

Wenn die Anwesenheit kontrolliert worden war.

Wenn der Kerl überhaupt seinen Platz eingenommen hatte.

Reacher schloss den Reißverschluss seines Parkas, stülpte sich die Mütze über den Kopf und klappte die Kapuze darüber. Zog seine Handschuhe an, öffnete die Haustür und trat wieder in die Kälte hinaus. Sie fiel über ihn her, nahm ihm den Atem, quälte ihn, ließ ihn zittern. Aber er ignorierte sie. Reine Willenssache. Er schloss die Tür, stieg die Stufen zur Einfahrt hinunter und bog in Richtung Polizeistation ab. Unterwegs blieb er in so hohem Maß wachsam, dass er das Gefühl hatte, tausendmal schneller seine Waffe ziehen und schießen zu können als jeder Gegner.

Ich fürchte den Tod nicht.

Der Tod fürchtet mich.

Angst in Aggression verwandeln.

Schuldgefühle in Aggression verwandeln.

In der Polizeistation war nur der zivile Dispatcher hinter der Empfangstheke zurückgeblieben: eine große, hagere Gestalt von ungefähr siebzig Jahren. Er saß missmutig auf seinem Hocker. Reacher fragte, was es Neues gebe. »Nichts«, entgegnete der Mann. Reacher fragte, wie lange die Polizei im Einsatz bleiben werde. Der Kerl sagte, das wisse er nicht. Das Department habe keine Erfahrung mit solchen Dingen. Es habe noch nie einen Ausbruch gegeben.

»Auch heute Nacht hat’s keinen gegeben«, erklärte Reacher. »Der Kerl hält sich irgendwo versteckt.«

»Glauben Sie?«

»Ja, das tue ich.«

»Auf welcher Grundlage?«

»Gesunder Menschenverstand«, antwortete Reacher.

»Dann geben sie wahrscheinlich noch eine Stunde zu. Die Absperrung hat eine Meile Radius. Nach zwei Stunden dürfte klar sein, dass der Mann schon durch ist oder vielleicht gar nicht kommt.«

»Erzählen Sie mir, wie der Anwesenheitsappell für Ihre Leute abläuft.«

»Für den bin ich zuständig. Über Funk. Ich gehe die Liste durch, sie antworten aus ihren Wagen oder über ihre Kragenmikrofone. Ich hake sie ab.«

»Wie war’s heute Abend?«

»Alle vollzählig.«

»Niemand abwesend?«

»Niemand.«

»Stottern? Zögern?«

»Nichts dergleichen.«

»Wann hat der Appell stattgefunden?«

»Ich habe damit angefangen, als ich die Sirene hörte. Das Ganze dauert ungefähr fünf Minuten.«

»Die Bestätigung kommt also von den Leuten selbst. Nicht wahr?«

»Ich verstehe nicht, was Sie meinen.«

Reacher sagte: »Sie wissen nicht wirklich, wo sie sind oder was sie tun. Sie wissen nur, ob sie sich auf Ihren Anruf hin gemeldet haben.«

»Ich frage sie, wo sie sich befinden. Sie sagen es mir. Sie sind in Position oder kurz davor. Und der Gefängnisdirektor kann sie auch überprüfen.«

»Wie?«

»Er kann sich von einem der Wachttürme aus umsehen. Das Land ist flach. Oder er kann sich in unser Funknetz einklinken und die Anwesenheit kontrollieren.«

»Hat er das heute Nacht gemacht?«

»Das weiß ich nicht.«

Reacher fragte: »Wer war heute als Letzter in Position?«

»Kann ich nicht sagen. Zu Anfang des Alphabets sind alle unterwegs. Gegen Ende zu sind sie bereits vor Ort.«

»Sagen sie jedenfalls.«

»Warum sollte ich daran zweifeln?«

»Sie müssen Chief Holland verständigen«, sagte Reacher. »Mrs. Salter ist tot.«

Reacher machte einen Rundgang durch die leere Polizeistation und warf einen Blick in den Bereitschaftsraum, in Hollands Dienstzimmer, in die Toiletten und zuletzt in den Raum, in dem die Tatortfotos an den Wänden hingen: von dem Biker und dem Anwalt. Er setzte sich mit dem Rücken zu dem Biker hin und betrachtete den Anwalt. Wie der Mann hieß, wusste er nicht. Er wusste überhaupt nicht viel über ihn. Aber er wusste genug, um die Parallelen zwischen diesem Mann und Janet Salter zu erkennen. Ein Mann, keine Frau, eine schneebedeckte Straße, keine behaglich warme Bibliothek, aber sie waren beide halb kluge, halb lebensuntüchtige Menschen gewesen, denen trügerische Sicherheit suggeriert worden war. Der Schalthebel in Stellung P und das ganz heruntergefahrene linke Fenster bedeuteten nichts anderes als Janet Salters bequeme Haltung und das Buch auf ihren Knien.

Man muss ihre Motive verstehen, ihre Lebensumstände, ihre Ziele, ihre Sehnsüchte, ihre Ängste, ihre Bedürfnisse. Man muss wie sie denken. Sehen, was sie sehen. Sie sein.

Beide waren ganz bei der Sache gewesen, nicht teilweise, nicht nur halb. Sie hatten volles Vertrauen gehabt. Sie hatten sich buchstäblich geöffnet. Türen, Fenster, Herzen, Verstand. Nicht besorgt, nicht misstrauisch.

Beide hatten sich vorbehaltlos auf ein Gespräch eingelassen.

Nicht jeder Cop hätte ihnen das antun können.

Es war jemand gewesen, den beide kannten, mit dem sie manchmal sprachen, der ihnen vertraut war.

Peterson hatte gefragt: Was würde Ihre Eliteeinheit als Nächstes tun?

Antwort: Reacher oder Susan oder jeder andere Kommandeur des 110th Special Unit hätte die Füße auf den verbeulten Schreibtisch gelegt und zwei eifrige Leutnants losgeschickt, um das Leben der beiden zu erforschen und feststellen zu lassen, wen sie im Bolton PD gekannt hatten – in absteigender Reihenfolge. Dann brauchte man nur noch die Listen nebeneinanderzulegen, um den wahrscheinlichsten Namen zu finden.

Reacher hatte keine eifrigen Leutnants.

Aber es gab andere Methoden.

Eine Minute später hörte Reacher Schritte, die auf dem Korridor näher kamen. Unrhythmisch. Eine Sohle trat klatschend auf, die andere schleifte ein Stück weit. Der Alte vom Empfang. Er hinkte leicht. Er steckte den Kopf zur Tür herein und sagte: »Chief Holland ist hierher unterwegs. Er verlässt seinen Posten dort draußen. Das dürfte er nicht, aber tut’s trotzdem.«

Reacher nickte. Schwieg.

Der alte Mann sagte: »Echt schlimm, was Mrs. Salter passiert ist.«

»Stimmt.«

»Wissen Sie, wer’s war?«

»Noch nicht. Hat irgendjemand angerufen?«

»Wer zum Beispiel?«

»Vielleicht ein Nachbar. Immerhin ist ein Schuss gefallen.«

»Im Hausinneren?«

»In ihrer Bibliothek.«

Der alte Mann zuckte mit den Schultern. »Die Häuser stehen weit auseinander. Praktisch jedes hat Dreifachisolierverglasung, und in einer Nacht wie dieser sind alle Fenster fest geschlossen.«

Reacher sagte nichts.

Der alte Kerl fragte: »Ist’s einer von uns?«

»Wie kommen Sie darauf?«

»Chief Holland hat eine Versammlung einberufen. Kurz vor der Sirene. Kann mir sonst keinen anderen Grund vorstellen. Kann mir auch keine andere Methode vorstellen. Wie der Anwalt erschossen worden ist, mein ich, dann Mr. Peterson und nun Mrs. Salter. Alle drei leicht und schnell, einfach so. Das muss einer von uns gewesen sein. Und dann haben Sie gefragt, wer heute Nacht als Letzter in Position war.«

»Waren Sie selbst Cop?«

»Dreißig Jahre lang hier in Bolton.«

»Ihre Vermutung stimmt leider.«

»Ich wollte, ich bekäme den Kerl in die Hände!«

»Sie haben heute Nacht mit ihm gesprochen. Irgendwann. Kurz davor oder kurz danach.«

»Alle haben ganz normal geklungen.«

»Kennen Sie sie gut?«

»Nicht die neuen Männer.«

»War irgendwer besonders gut mit Mrs. Salter bekannt?«

»Das waren viele. Sie gehört zum Inventar … hat zum Inventar gehört.«

Elf Kilometer höher und sechshundertfünfzig Kilometer weiter südlich klingelte Platos Mobiltelefon erneut. Das Geld, das er von dem Russen kassiert hatte, war auf seinem Weg um die Welt. Von einem Staat zum nächsten, zwielichtig und von Mal zu Mal schwieriger zu verfolgen, eine automatische Weltumrundung, die fast sieben Stunden lang dauern würde. Irgendwo gab es immer Banken, die geöffnet hatten. Das Guthaben erschien auf einem Bildschirm in Hongkong und löste einen Code aus, der besagte, der Kontoinhaber sei zu benachrichtigen. Also wählte der Bankangestellte eine Telefonnummer, und sein Anruf wurde über fünf Zwischenstationen weitergeleitet, bevor das Telefon in der Boeing hoch über Nebraska klingelte. Plato meldete sich und nahm die Mitteilung kommentarlos entgegen. Er war schon der reichste Mann, den er kannte. Er war Plato, die anderen waren es nicht. Nicht seine Eltern, nicht der Russe, nicht sein alter Geschäftspartner Martinez, kein Mensch.

Nach dem kurzen Gespräch mit Plato wählte der Bankangestellte in Hongkong eine weitere Nummer. Brooklyn, New York. Dort war es nach drei Uhr morgens, aber der Anruf wurde sofort entgegengenommen – von dem Russen, der besser zahlte als Plato.

Weit besser.

Der Angestellte sagte: »Ich habe ihm mitgeteilt, das Geld sei auf seinem Konto.«

Der Russe sagte: »Machen Sie die Überweisung jetzt rückgängig.«

Der Angestellte klickte und scrollte.

»Fertig«, erklärte er.

Der Russe sagte: »Danke.«

Von Brooklyn aus rief der Russe in Mexico City an – eine Nummer in der Leitung einer dortigen Strafverfolgungsbehörde mit einem langen Namen, den der Russe nicht einmal andeutungsweise übersetzen konnte. Ein Oberst meldete sich. Der Russe erklärte ihm, alles laufe genau nach Plan.

Der Oberst sagte: »Plato befindet sich schon in der Luft. Er ist vor über drei Stunden gestartet.«

Der Russe sagte: »Ja, ich weiß.«

Der Oberst sagte: »Ich will fünfzehn Prozent.«

Der Russe schwieg einen Augenblick. Er gab vor, verärgert zu sein. Er hatte zehn Prozent zugesichert. Sie hatten nie über etwas anderes als eine Beteiligung von zehn Prozent gesprochen. Insgeheim hatte er jedoch damit gerechnet, zwanzig Prozent abgeben zu müssen. Er hatte es auf achtzig Prozent von Platos Geschäft abgesehen gehabt. Fünfundachtzig Prozent wären ein unerwarteter Bonus. Praktisch ein Geschenk. Der Oberst war ein Mann ohne Tiefgang, ohne besonderen Ehrgeiz. In jeder Beziehung beschränkt. Deshalb war er nicht schon längst General.

Der Russe entgegnete: »Sie verhandeln knallhart.«

Der Oberst sagte: »Machen Sie, was Sie wollen.«

»Das klingt, als bliebe mir keine Wahl.«

»So ist es.«

Langes Schweigen, nur um der Wirkung willen.

»Okay«, meinte der Russe. »Sie bekommen Ihre fünfzehn Prozent.«

Der Oberst sagte: »Danke.«

Der Russe legte auf, dann wählte er nochmals – eine Nummer, von der er wusste, dass sie zu einem nicht aufspürbaren Prepaidhandy gehörte, das in Virginia auf einem Nachttisch lag. Dort war es wie in Brooklyn nach drei Uhr morgens. Dieselbe Zeitzone. Das Mobiltelefon gehörte einem zahmen DEA-Agenten, den der Schwager eines Freundes des russischen Cousins in der Hand hatte. Der Kerl meldete sich nach dem ersten Klingeln, und der Russe erklärte ihm, alles laufe genau nach Plan.

Der Kerl fragte: »Geben Sie mir Ihr Wort darauf?«

Der Russe lächelte. Das war DEA-Politik in Reinform. Der korrupte DEA-Agent des Schwagers eines Freundes des russischen Cousins hatte die Entscheidung von Platos korruptem DEA-Agenten korrigiert und entschieden, der Russe könne Platos US-Geschäft übernehmen, solange er das staatliche Meth in dem unterirdischen Lager in South Dakota nicht antaste. Tatsächlich wäre es sogar besser, wenn das staatliche Meth ganz verschwinden würde. Der Stoff war in jeder Beziehung zu peinlich. Peinlich, dass es ihn noch gab, peinlich, dass er in Vergessenheit geraten war, und peinlich, dass er überhaupt existierte. Selbst korrupte Kerle besaßen noch etwas wie Korpsgeist.

Der Russe antwortete: »Ich gebe Ihnen mein Wort darauf.«

Der Kerl in Virginia sagte: »Danke.«

Der Russe musste nochmals über die Absurdität des Ganzen lächeln. Aber er würde sein Versprechen halten. Wieso auch nicht? Klar, dort unten lag eine Schatzkammer, aber er dachte in längeren Zeiträumen. Und was er nie besessen hatte, würde ihm auch nicht fehlen. Und schließlich hatte er nie etwas dafür bezahlt.

Er legte wieder auf, schrieb auf einem anderen Smartphone eine SMS und versandte sie.

Elf Kilometer über Nebraska, drei Reihen hinter Plato, auf Sitz 4A vibrierte ein auf stumm gestelltes Handy in einer Tasche: ein einziger spürbarer Impuls an der Muskulatur eines Oberschenkels. Der fünfte der sechs entbehrlichen Mexikaner zog es heraus und sah aufs Display. Er war der Mann, der Plato mit dem Range Rover zum Flugplatz gefahren hatte. Er zeigte das Display seinem Nachbarn auf 4B, der als sechster Mann bei der Autofahrt auf dem Beifahrersitz des Range Rovers gesessen hatte. Beide Männer nickten. Keiner von ihnen sprach. Sie lächelten nicht einmal. Dazu waren sie beide zu nervös.

Die SMS lautete: Auftrag ausführen.

Eine Minute später hörte Reacher draußen Hollands Wagen vorfahren. Er hörte das gedämpfte Brummen des Motors und das Knacken des Eises unter seinen Reifen. Dann plötzlich Stille, als der Motor abgestellt wurde, und das leise Knarren und Zuschlagen der Fahrertür sowie das Geräusch von Hollands Stiefeln im Schnee. Er hörte, wie die Tür zum Eingangsbereich geöffnet wurde, hörte Hollands Schritte auf dem Korridor; dann erschien er selbst und stand im Türrahmen: sichtlich gebeugt, deprimiert, bedrückt, als wäre er mit seiner Kraft am Ende.

Holland fragte: »Wissen Sie das bestimmt?«

Reacher nickte. »Kein Zweifel möglich.«

»Weil sie manchmal noch leben.«

»Diesmal nicht.«

»Sollen wir sicherheitshalber nachsehen?«

»Zwecklos.«

»Womit ist sie erschossen worden?«

»Neun Millimeter, mitten in die Stirn. Genau wie die beiden anderen.«

»Irgendwelche Spuren?«

»Keine.«

»Dann sind wir so weit wie zuvor. Wir wissen noch immer nicht, wer er ist.«

Reacher nickte.

»Aber ich weiß, wie ich’s rauskriegen kann«, sagte er.