22
Der Chevy lief mit dem letzten Tropfen Benzin, als wir den National Airport erreichten. Wir stellten ihn auf dem Parkplatz für Langzeitmieter ab und marschierten zum Terminal. Die Entfernung betrug ungefähr eine Meile. Um diese Zeit verkehrten keine Shuttlebusse. Es war mitten in der Nacht und der Flughafen praktisch menschenleer. Im Terminal mussten wir einen Angestellten aus seinem Büro hinter den Schaltern holen. Ich gab ihm die beiden letzten gestohlenen Reisegutscheine, und er buchte für uns die erste Morgenmaschine nach Los Angeles. Vor uns lag eine lange Wartezeit.
»Welchen Auftrag haben wir?«, fragte Summer.
»Drei Verhaftungen«, sagte ich. »Vassell, Coomer und Marshall.«
»Wegen?«
»Serienmorden. Mrs. Kramer, Carbone und Brubaker.«
Sie starrte mich an. »Kannst du das beweisen?«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich weiß genau, was passiert ist, wann, wie, wo und warum. Aber ich kann nicht das Geringste beweisen. Wir werden uns auf Geständnisse verlassen müssen.«
»Die bekommen wir nicht.«
»Das lass meine Sorge sein«, sagte ich. »Es gibt bewährte Mittel.«
Sie zuckte zusammen.
»Dies ist die Army, Summer, kein Nähkränzchen.«
»Erzähl mir von Carbone und Brubaker.«
»Ich habe Hunger und muss was essen«, sagte ich.
»Wir haben kein Geld mehr«, gab Summer zu bedenken.
Die meisten Ladenlokale hatten ohnehin geschlossen. Vielleicht gab es im Flugzeug etwas zu knabbern. Wir nahmen unser Gepäck zu einem Sitzbereich mit, vor dessen sechs bis sieben Meter langem Fenster nichts als pechschwarze Nacht zu sehen war.
»Erzähl’s mir«, bat sie.
»Alles ist noch immer eine Kette aus verrückten Vermutungen.«
»Lass hören.«
»Okay, fangen wir mit Mrs. Kramer an. Warum ist Marshall nach Green Valley gefahren?«
»Weil das der nahe liegendste Ort für einen ersten Versuch war.«
»Aber das stimmt nicht. Green Valley war so ziemlich der unwahrscheinlichste Ort. Kramer hat sich in den letzten fünf Jahren kaum jemals dort blicken lassen. Das muss sein Stab gewusst haben. Diese Leute sind oft mit ihm gereist. Trotzdem haben sie sich dafür entschieden, und Marshall ist geradewegs hingefahren. Weshalb?«
»Weil Kramer ihnen gesagt hatte, er fahre dorthin?«
»Richtig! Er hat behauptet, er sei bei seiner Frau, um zu vertuschen, dass er in Wirklichkeit mit Carbone zusammen war. Aber warum hat er es sie überhaupt wissen lassen?«
»Keine Ahnung.«
»Weil es Leute gibt, denen man so etwas sagen muss.«
»Wer ist das?«
»Stell dir vor, du wärst ein reicher Mann, der mit seiner Geliebten reist. Willst du dich für eine Nacht von ihr trennen, musst du ihr etwas erzählen. Wenn du ihr erklärst, dass du nur des äußeren Scheins wegen deine Ehefrau besuchst, muss sie das akzeptieren. Es gefällt ihr vielleicht nicht, aber sie muss sich damit abfinden. Das gehört einfach mit zum Deal.«
»Kramer hatte keine Geliebte. Er war schwul.«
»Er hatte Marshall.«
»Nein«, sagte sie. »Ausgeschlossen!«
Ich nickte. »Kramer hat Marshall hintergangen. Marshall war sein Geliebter. Die beiden hatten eine Beziehung. Marshall war nicht als Nachrichtenoffizier ausgebildet, aber Kramer machte ihn trotzdem zu einem, um ihn in seiner Nähe zu haben. Die beiden waren ein Paar. Aber Kramer hat auch gern ein Auge auf andere geworfen. Er hat Carbone irgendwo kennen gelernt und angefangen, sich heimlich mit ihm zu treffen. Also hat Kramer Marshall an Silvester erklärt, er besuche seine Frau, was Marshall ihm auch glaubte. Deswegen ist Marshall nach Green Valley gefahren. Er dachte, dass Kramer sich dort aufhielt, dass er der einzige Mensch sei, der das todsicher wusste. Er hat Vassell und Coomer mitgeteilt, wo Kramer sich aufhielt. Aber Kramer hatte ihn belogen. Wie’s Leute in Beziehungen tun.«
Summer machte eine nachdenkliche Pause. Sie starrte schweigend in die Nacht hinaus.
»Hat sich das irgendwie auf die dortigen Ereignisse ausgewirkt?«, fragte sie.
»Ich glaube schon«, antwortete ich. »Mrs. Kramer hat mit Marshall gesprochen, vermute ich. Sie muss ihn aus ihrer Zeit in Deutschland gekannt haben und wusste wahrscheinlich von seinem Verhältnis mit ihrem Mann. Generalsfrauen sind im Allgemeinen ziemlich clever. Vielleicht hat sie sogar gewusst, dass ein zweiter Mann im Spiel war. Möglicherweise war sie sauer und hat Marshall damit aufgezogen. Daraufhin ist Marshall wütend geworden und ausgerastet. Vielleicht hat er Vassell und Coomer deshalb nicht sofort eingeweiht. Weil der Kollateralschaden nicht nur als Folge des Einbruchs, sondern vor allem wegen dieses Streits entstanden war. Darum habe ich gesagt, Mrs. Kramer sei nicht nur wegen des Aktenkoffers ermordet worden.«
»Das sind alles nur Vermutungen.«
»Mrs. Kramer ist tot. Das ist keine Vermutung.«
»Aber alles andere sind Mutmaßungen.«
»Marshall ist einunddreißig, ledig.«
»Das beweist gar nichts.«
»Richtig. Beweise gibt’s keine, sind vorläufig Mangelware.«
Summer schwieg einen Augenblick. »Wie ist es dann weitergegangen?«
»Vassell, Coomer und Marshall haben angefangen, ernstlich nach dem Aktenkoffer zu fahnden. Dabei waren sie uns gegenüber im Vorteil, weil sie wussten, dass sie keine Frau, sondern einen Mann suchten. Marshall ist am zweiten Januar nach Deutschland zurückgeflogen und hat Kramers Dienstzimmer und seine Unterkunft durchsucht. Er hat etwas gefunden, das sie zu Carbone führte. Vielleicht ein Tagebuch, einen Brief, ein Foto oder eine Telefonnummer in einem Adressbuch. Irgendwas. Er ist am dritten Januar zurückgekommen. Sie haben einen Plan ausgeheckt, anschließend Carbone angerufen, ihn erpresst und eine Übergabe für den nächsten Abend vereinbart. Den Aktenkoffer gegen den Brief oder das Foto oder was sie sonst in der Hand hatten. Carbone ist auf den Deal eingegangen. Ihm kam der Tausch recht, weil er Aufsehen vermeiden wollte - und Brubaker schon über den Inhalt der Tagesordnung informiert war. Er hatte nichts zu verlieren, aber alles zu gewinnen. Vielleicht war das nicht das erste Mal, dass ihm sowas passierte. Doch diesmal hatte er Pech, denn Marshall hat ihn bei der Übergabe ermordet.«
»Marshall? Marshall war nicht mal in Bird.«
»Doch, das war er«, sagte ich. »Darauf bist du selbst gekommen. Du hast mir einen Vorschlag gemacht, als wir losgefahren sind, um Detective Clark wegen des Brecheisens zu befragen. Weißt du noch? Als Willard telefonisch hinter mir her war? Du hast mir etwas vorgeschlagen!«
»Was denn?«
»Marshall befand sich im Kofferraum ihres Wagens, Summer. Coomer fuhr, Vassell saß vorn neben ihm, und Marshall lag im Kofferraum. So sind sie durchs Tor gekommen. Dann hat der Wagen, rückwärts eingeparkt, im hintersten Winkel des Parkplatzes beim O Club gestanden. Rückwärts eingeparkt, weil Coomer das Kofferraumschloss entriegelt hat, bevor er ausgestiegen ist. Marshall hat den Deckel von innen zugehalten. Dann sind Vassell und Coomer reingegangen und haben sich ein gusseisernes Alibi beschafft. Unterdessen harrt Marshall noch fast zwei Stunden im Kofferraum aus, bis alles still geworden ist. Dann klettert er heraus und fährt weg. Deshalb hat die erste Nachtpatrouille den Wagen gesehen und die zweite nicht. Marshall holt Carbone an der vereinbarten Stelle ab, und sie fahren zusammen in den Wald. Carbone hat den Aktenkoffer dabei. Marshall öffnet den Kofferraum und gibt Carbone einen Briefumschlag oder dergleichen. Carbone wendet sich dem Licht des Mondes zu, um zu prüfen, ob er das Versprochene erhält. Währenddessen zieht Marshall das Brecheisen heraus und schlägt zu. Nicht nur wegen des Aktenkoffers. Den bekäme er ohnehin, weil der Tausch klappt. Und Carbone kann es sich auf keinen Fall leisten, später darüber zu reden. Nein, Marshall schlägt auch zu, weil er wütend und eifersüchtig ist. Auch aus diesem Grund ermordet er ihn. Dann greift er sich den Briefumschlag wieder und wirft ihn mit dem Aktenkoffer in den Kofferraum. Das Weitere kennen wir. Marshall, der entschlossen war, Carbone zu beseitigen, hat alles dabei, was er für sein Täuschungsmanöver braucht. Dann fährt er zurück und wirft unterwegs das Brecheisen aus dem Fenster. Er stellt den Wagen am ursprünglichen Platz ab und versteckt sich wieder im Kofferraum. Vassell und Coomer kommen aus dem O Club und fahren durch die Wache.«
»Und wie geht’s weiter?«
»Sie sind unruhig. Inzwischen wissen sie auch, dass ihr Handlanger Mrs. Kramer umgebracht hat. Das macht sie nervös und besorgt. Sie finden keine Stelle, an der sie einen Mann, dessen Kleidung vielleicht blutbesudelt ist, aus dem Kofferraum lassen können. Der erste wirklich sichere Ort ist der Rastplatz eine Stunde nördlich. Sie parken weit von den anderen Autos entfernt und lassen Marshall aussteigen. Der übergibt ihnen den Aktenkoffer. Sie fahren weiter und verbringen sechzig Sekunden damit, den Aktenkoffer zu durchsuchen. Dann werfen sie ihn nach einer Meile aus dem Auto.«
Summer überlegte angestrengt.
»Das ist nur eine Theorie«, gab sie zu bedenken.
»Kannst du unsere Erkenntnisse irgendwie anders erklären?«
Sie dachte darüber nach. Dann schüttelte sie den Kopf.
»Was war mit Brubaker?«, fragte sie.
Eine Stimme aus den Deckenlautsprechern rief unseren Flug auf. Wir stellten uns an. Draußen war es noch immer stockfinster. Ich überschlug die Zahl der Mitreisenden, weil ich hoffte, einige Sitze würden leer bleiben. Aber danach sah es nicht aus. Die Maschine würde ziemlich voll werden. Für Leute, die in Washington lebten, musste L. A. im Januar ein recht verlockendes Ziel sein.
»Was war mit Brubaker?«, wiederholte Summer ihre Frage.
Wir gingen den Mittelgang entlang und fanden unsere Plätze: einen am Fenster und einen in der Mitte. Am Gang saß bereits eine Nonne. Sie war ziemlich alt. Ich hoffte, dass ihr Gehör nicht mehr so gut war, denn ich wollte keine Lauscher. Sie rutschte zur Seite, um uns durchzulassen. Summer nahm neben ihr Platz, während ich mich ans Fenster setzte. Ich schnallte mich an. Es gab keine Warteschlange und binnen drei Minuten waren wir in der Luft.
»Was Brubaker angeht, bin ich mir weniger sicher«, sagte ich. »Wie ist er in die Sache hineingeraten? Haben sie ihn oder hat er sie angerufen? Er hat in der Silvesternacht von der Tagesordnung erfahren. Als aktiver Soldat wollte er vielleicht selbst Druck ausüben. Oder Vassell und Coomer haben einfach den schlimmsten Fall angenommen. Sie haben sich möglicherweise ausgerechnet, dass ein alter Unteroffizier wie Carbone seinen Kommandeur anrufen würde. Deshalb weiß ich nicht sicher, wer wen angerufen hat. Wahrscheinlich haben sie sich gegenseitig gedroht - oder Vassell und Coomer haben vorgeschlagen, zum Vorteil aller zusammenzuarbeiten.«
»Ist das realistisch?«
»Keine Ahnung. Die integrierten Einheiten werden ziemlich unkonventionell ausfallen. Brubaker wäre dann sehr beliebt gewesen, weil er schon Erfahrungen mit unkonventioneller Kriegsführung hatte. Also haben Vassell und Coomer ihn vielleicht mit der Aussicht auf eine strategische Allianz geködert. Jedenfalls vereinbarten sie für den vierten Januar spätabends ein Treffen. Den Ort muss Brubaker vorgeschlagen haben. Er kannte ihn von seinen Fahrten zwischen Fort Bird und dem Golfhotel. Und er schien arglos gewesen zu sein, sonst hätte er Marshall nicht hinter sich sitzen lassen.«
»Woher weißt du, dass Marshall hinter ihm gesessen hat?«
»Eine Frage der Höflichkeit«, erklärte ich. »Als Oberst wollte er mit einem General und einem weiteren Oberst reden. Also hat er Vassell den Beifahrersitz und Coomer den Sitz rechts hinten angeboten, um sich ihnen beiden zuwenden zu können. Marshall hat er hinter sich einsteigen lassen und nicht weiter beachtet. Der Mann war nur ein Major. Wer brauchte ihn?«
»Hatten sie vor, ihn zu ermorden? Oder ist das eher zufällig passiert?«
»Das war Absicht, keine Frage. Sie hatten bereits einen Plan. Ein entfernter Ort, an dem sie die Leiche zurücklassen würden, Heroin, das Marshall aus Deutschland mitgebracht hatte, eine geladene Waffe. Also haben wir letztlich richtig vermutet - aber rein zufällig. Dieselben Leute, die Carbone ermordet hatten, sind geradewegs durchs Haupttor rausgefahren, um danach auch Brubaker zu liquidieren.«
»Ein doppeltes Täuschungsmanöver«, stellte Summer fest. »Die Sache mit dem Heroin und dass sie ihn nicht nach Norden, sondern nach Süden gebracht haben.«
»Amateurhaft«, sagte ich. »Den Gerichtsmedizinern in Columbia müssen die falsch verteilten Leichenflecken und die Hitzespuren vom Auspuffrohr sofort aufgefallen sein. Vassell und Coomer hatten nur Glück, dass die Mediziner uns das nicht sofort mitgeteilt haben. Außerdem haben sie Brubakers Wagen am Tatort stehen lassen. Das war ein schlimmer Fehler.«
»Sie müssen übermüdet gewesen sein. Stress, nervöse Anspannung, die viele Fahrerei. Sie sind vom Friedhof Arlington nach Bird gekommen, nach Smithfield rauf-, nach Columbia runter- und wieder zum Dulles Airport raufgefahren. Bestimmt achtzehn Stunden reine Fahrzeit. Kein Wunder, dass sie ab und zu einen Fehler gemacht haben. Aber sie wären damit durchgekommen, wenn du Willard nicht ignoriert hättest.«
Ich nickte. Sagte nichts.
»Der Fall steht auf tönernen Füßen«, meinte Summer, »um nicht zu sagen auf äußerst tönernen Füßen. Er basiert nicht mal auf Indizien, sondern lediglich auf Spekulationen.«
»Als ob ich das nicht wüsste! Darum brauchen wir Geständnisse.«
»Du musst dir alles gut überlegen, bevor du jemanden mit Tatvorwürfen konfrontierst. Du könntest sonst hinter Gitter kommen. Wegen falscher Anschuldigungen.«
Ich hörte Aktivitäten hinter mir, und dann tauchte eine Stewardess mit dem Frühstück auf. Die Nonne bekam ihr Tablett, dann Summer und zuletzt ich. Es gab kalten Orangensaft und ein warmes Schinken-Käse-Sandwich. Das war alles. Summer und ich hatten das kärgliche Mahl rasch aufgegessen, aber die Nonne rührte ihr Tablett nicht an. Sie ließ es einfach vor sich stehen. Ich stieß Summer den linken Ellbogen in die Rippen.
»Frag sie, ob sie das essen will«, sagte ich.
»Das kann ich nicht.«
»Sie ist zur Mildtätigkeit verpflichtet.«
»Das kann ich nicht«, wiederholte sie.
»Doch, das kannst du.«
Sie seufzte. »Okay, Augenblick noch.«
Aber sie verpasste ihre Chance. Sie wartete zu lange. Die Nonne riss die Folie auf und begann ihr Sandwich zu essen.
»Verdammt«, schimpfte ich.
»Tut mir Leid«, meinte Summer.
Ich sah sie an. »Was hast du gesagt?«
»Ich habe gesagt, dass es mir Leid tut.«
»Nein, davor. Was du zuletzt gesagt hast.«
»Ich habe gesagt, dass ich sie das nicht einfach fragen kann.«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, bevor das Frühstück gekommen ist.«
»Ich habe gesagt, dass der Fall auf tönernen Füßen steht.«
»Noch davor.«
Sie überlegte. »Ich habe gesagt, dass Vassell und Coomer damit durchgekommen wären, wenn du Willard nicht ignoriert hättest.«
Ich nickte. Dachte eine Minute lang über diese Tatsache nach. Dann schloss ich die Augen.
 
Ich öffnete sie erst in Los Angeles wieder. Draußen wurde es gerade hell. Eine Lautsprecherstimme teilte uns mit, in Kalifornien sei es sieben Uhr morgens. Summer und ich waren zwei volle Tage nach Westen unterwegs gewesen. Ich hatte eine Weile geschlafen und war eigentlich nicht müde. Aber ich hatte Hunger.
Wir gingen von Bord und zur Gepäckausgabe. Dort warteten Fahrer auf Leute, die sie abholen sollten. Ich sah mich um. Stellte fest, dass Calvin Franz niemanden geschickt hatte. Stattdessen war er selbst gekommen. Das war mir nur recht. Nun wusste ich, dass wir uns in guten Händen befanden.
»Ich hab Neuigkeiten für dich«, sagte er.
Ich machte ihn mit Summer bekannt. Er schüttelte ihr die Hand und nahm ihr die Reisetasche ab. Sein Humvee parkte im Halteverbot. Aber die Cops ignorierten es geflissentlich. Diese Wirkung haben Humvees mit schwarz-grünem Tarnanstrich oft. Wir stiegen rasch ein. Ich ließ Summer vorn sitzen und nahm auf dem Rücksitz Platz.
»Sie haben den Grand Marquis gefunden«, teilte uns Franz mit.
Er ließ den großen Turbodiesel aufheulen und fuhr los. Fort Irwin lag knapp nördlich von Barstow - ungefähr dreißig Meilen quer durch L. A. Ich schätzte, dass die Fahrt im morgendlichen Berufsverkehr ungefähr eine Stunde dauern würde.
»Er hat in Andrews gestanden«, fuhr Franz fort. »Am fünften Januar dort abgestellt.«
»Als Marshall nach Deutschland zurückgerufen wurde«, sagte ich.
Franz nickte. »So steht’s im Wachbuch am Haupttor. Von Marshall mit einem Aufkleber des Transportation Corps geparkt. Unsere Männer haben ihn auf einem Anhänger zum FBI geschafft. Das war die schnellste Methode. Sie mussten ein paar Gefälligkeiten einfordern. Das Bureau hat die ganze Nacht daran gearbeitet. Erst widerwillig, dann jedoch mit rasch wachsendem Interesse. Anscheinend passen die Spuren zu einem Fall, in dem das FBI gerade ermittelt.«
»Brubaker«, sagte ich.
Er nickte wieder. »Auf der Kofferraummatte sind Spuren von Brubaker gefunden worden. Genau gesagt Blut und Gehirnmasse. Die Matte war mit Papierhandtüchern gesäubert worden, aber nicht gründlich genug.«
»Sonst noch was?«, fragte ich.
»Ja. Zum Beispiel weitere Blutspuren anderer Herkunft, nur geringe Mengen davon, wie von einem Jackenärmel oder einer Messerklinge.«
»Carbones Blut«, erklärte ich. »Weil Marshall anschließend im Kofferraum gelegen hat. Haben sie das Messer gefunden?«
»Nein«, sagte Franz. »Aber der Kofferraum ist innen voll von Marshalls Fingerabdrücken.«
»Kein Wunder«, meinte ich. »Er hat mehrere Stunden darin verbracht.«
»Unter der Kofferraummatte hat eine einzelne Erkennungsmarke gelegen«, sagte Franz. »Als wäre die Halskette gerissen.«
»Carbones?«
»Von wem sonst.«
»Amateurhaft«, sagte ich. »Sonst noch was?«
»Das Übliche. Der Wagen war nicht besonders gut aufgeräumt. Jede Menge Haare und Fasern, Pizzakartons, Getränkedosen, solche Dinge.«
»Auch Joghurtbecher?«
»Einer«, sagte Franz. »Im Kofferraum.«
»Erdbeer- oder Himbeergeschmack?«
»Erdbeere. Marshalls Fingerabdrücke am Aufreißer des Aludeckels. Offenbar eine kleine Zwischenmahlzeit.«
»Aufgerissen hat er ihn«, bemerkte ich. »Aber nicht gegessen.«
»Und ein leerer Briefumschlag«, fuhr Franz fort. »An Kramer beim XII. Korps in Deutschland adressiert. Luftpost, vor einem Jahr abgestempelt. Ohne Absenderangabe. Ein fester Umschlag wie für Fotos, aber ohne Inhalt.«
Ich schwieg. Er sah mich im Rückspiegel an.
»Hilft euch irgendwas davon weiter?«, fragte er.
Ich grinste. »Damit haben wir uns von bloßen Spekulationen zu Indizien hochgearbeitet.«
»›Ein riesiger Sprung für die Menschheit‹«, sagte er.
Ich dachte an Carbone, Brubaker und Mrs. Kramer - und Mrs. Reacher. Anfang Januar 1990 waren überall auf der Welt Menschen gestorben.
 
Wie sich zeigte, brauchten wir für die Fahrt nach Fort Irwin über eine Stunde. Vermutlich hatten die Leute Recht, wenn sie über den Verkehr in L. A. jammerten. Auf dem Stützpunkt herrschte der übliche Betrieb. Irwin umfasste ein riesiges Stück Mojavewüste. Hier war in ständigem Wechsel irgendein Panzerregiment stationiert, das als Heimmannschaft fungierte, wenn andere Einheiten auf den Truppenübungsplatz kamen. Es herrschte ständig eine Atmosphäre wie bei Frühjahrsübungen. Da das Wetter immer gut war, machte es den Soldaten Spaß, bei strahlendem Sonnenschein mit ihren teuren Spielsachen herumzukurven.
»Willst du gleich das Geschäftliche erledigen?«, fragte Franz.
»Behältst du sie im Auge?«
Er nickte. »Diskret.«
»Okay, dann gehen wir erst frühstücken.«
Ein O Club der U.S. Army war das ideale Ziel für Leute, die nach einem langen Flug mit Bordverpflegung halb verhungert ankamen. Das Frühstücksbüfett war üppig lang. Es gab die gleichen Gerichte wie in Deutschland, aber der Orangensaft und die Obstteller sahen in Kalifornien überzeugender aus. Ich aß so viel wie eine Schützenkompanie und Summer noch mehr. Franz hatte bereits gefrühstückt. Ich schüttete so viel Kaffee in mich hinein, wie ich nur konnte. Dann schob ich meinen Stuhl zurück, atmete tief durch und stand auf.
»Okay«, sagte ich. »Los geht’s.«
Wir fuhren zu Franz’ Dienststelle, und er fragte bei seinen Jungs nach. Marshall war bereits draußen auf einer der Schießbahnen, aber Vassell und Coomer hielten sich in einem der Gemeinschaftsräume der Unterkunft für durchreisende Offiziere auf. Franz fuhr uns mit seinem Humvee hin.
Die hiesige Unterkunft für durchreisende Offiziere sah genauso aus wie die beim XII. Korps in Deutschland. Lange Reihen identischer Zimmer umgaben einen sandigen Innenhof. Auf einer Seite lagen die Gemeinschaftsräume: Fernsehraum, Tischtennis, Bibliothek, Aufenthaltsräume. Franz führte uns durch eine Tür und trat zur Seite, sodass wir Vassell und Coomer erblickten, die sich in Ledersesseln gegenübersaßen. Mir wurde bewusst, dass ich sie davor nur einmal gesehen hatte, und zwar in meinem Dienstzimmer in Bird. Das kam mir unverhältnismäßig vor, wenn man berücksichtigte, wie viel Zeit ich damit zugebracht hatte, über sie nachzudenken.
Beide trugen Kampfanzüge in dem neuen Wüstentarnmuster, das die Leute Schokoladenchips nannten. Sie wirkten darin immer noch wie verkleidete Rotarier.
Sie starrten mich beide an.
Ich holte tief Luft.
Hohe Offiziere.
Falsche Anschuldigung.
Weil der Fall auf so tönernen Füßen steht, könntest du hinter Gitter kommen.
»General Vassell«, sagte ich, »und Oberst Coomer, ich nehme Sie wegen Verschwörung und Verabredung zum gemeinschaftlichen Mord fest.«
Ich hielt den Atem an.
Aber keiner der beiden ließ eine Reaktion erkennen. Keiner sagte ein Wort. Sie gaben einfach auf, fügten sich ins Unvermeidliche. Als hätten sie diesen Augenblick von Anfang an erwartet. Ich atmete aus. Auf schlechte Nachrichten reagierten Menschen im Allgemeinen erst mit Trauer, dann mit Zorn und Widerspruch. Aber das hatten diese Männer längst hinter sich. Sie waren am Ende dieses Prozesses angelangt, an dem sie nur noch die Tatsachen akzeptieren konnten.
Die restlichen Formalitäten überließ ich Summer. Das Militärstrafgesetzbuch schrieb genau vor, welche Ankündigungen und Warnungen ausgesprochen werden mussten. Diesen Teil absolvierte Summer flüssiger, als ich’s gekonnt hätte. Ihre Stimme war klar, ihr Auftreten professionell. Weder Vassell noch Coomer reagierten in irgendeiner Weise. Kein Toben, kein Bitten, keine wütenden Unschuldsbeteuerungen.
»Handschellen?«, fragte Summer mich.
Ich nickte.
»Natürlich«, sagte ich. »Und führen Sie sie zu Fuß in den Arrest ab. Durch den ganzen Stützpunkt, damit alle sie sehen können. Sie sind eine Schande für die Army.«
 
Ich ließ mir erklären, wo ich hinmusste, und fuhr mit Franz’ Humvee los, um Marshall zu verhaften. Er sollte als Beobachter in einer Hütte in der Nähe eines nicht mehr benutzten Ziels, eines veralteten Panzers des Baumusters Sheridan, sitzen. Ich wurde angewiesen, auf den bestehenden Fahrspuren zu bleiben, damit ich keine Blindgänger oder Wüstenschildkröten überfuhr.
Ich verließ den Stützpunkt um Punkt halb zehn Uhr - allein. Ich wollte nicht auf Summer warten. Sie war damit beschäftigt, Vassell und Coomer durch das Aufnahmeverfahren zu schleusen. Ich kam mir wie am Ende einer langen Reise vor. Ich nahm eine geliehene Pistole mit, aber meine Entscheidung, allein loszufahren, war trotzdem falsch.