22
Der Chevy lief mit dem letzten Tropfen Benzin, als
wir den National Airport erreichten. Wir stellten ihn auf dem
Parkplatz für Langzeitmieter ab und marschierten zum Terminal. Die
Entfernung betrug ungefähr eine Meile. Um diese Zeit verkehrten
keine Shuttlebusse. Es war mitten in der Nacht und der Flughafen
praktisch menschenleer. Im Terminal mussten wir einen Angestellten
aus seinem Büro hinter den Schaltern holen. Ich gab ihm die beiden
letzten gestohlenen Reisegutscheine, und er buchte für uns die
erste Morgenmaschine nach Los Angeles. Vor uns lag eine lange
Wartezeit.
»Welchen Auftrag haben wir?«, fragte Summer.
»Drei Verhaftungen«, sagte ich. »Vassell, Coomer
und Marshall.«
»Wegen?«
»Serienmorden. Mrs. Kramer, Carbone und
Brubaker.«
Sie starrte mich an. »Kannst du das
beweisen?«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich weiß genau, was
passiert ist, wann, wie, wo und warum. Aber ich kann nicht das
Geringste beweisen. Wir werden uns auf Geständnisse verlassen
müssen.«
»Die bekommen wir nicht.«
»Das lass meine Sorge sein«, sagte ich. »Es gibt
bewährte Mittel.«
Sie zuckte zusammen.
»Dies ist die Army, Summer, kein
Nähkränzchen.«
»Erzähl mir von Carbone und Brubaker.«
»Ich habe Hunger und muss was essen«, sagte
ich.
»Wir haben kein Geld mehr«, gab Summer zu
bedenken.
Die meisten Ladenlokale hatten ohnehin
geschlossen. Vielleicht gab es im Flugzeug etwas zu knabbern. Wir
nahmen unser Gepäck zu einem Sitzbereich mit, vor dessen sechs bis
sieben Meter langem Fenster nichts als pechschwarze Nacht zu sehen
war.
»Erzähl’s mir«, bat sie.
»Alles ist noch immer eine Kette aus verrückten
Vermutungen.«
»Lass hören.«
»Okay, fangen wir mit Mrs. Kramer an. Warum ist
Marshall nach Green Valley gefahren?«
»Weil das der nahe liegendste Ort für einen ersten
Versuch war.«
»Aber das stimmt nicht. Green Valley war so
ziemlich der unwahrscheinlichste Ort. Kramer hat sich in den
letzten fünf Jahren kaum jemals dort blicken lassen. Das muss sein
Stab gewusst haben. Diese Leute sind oft mit ihm gereist. Trotzdem
haben sie sich dafür entschieden, und Marshall ist geradewegs
hingefahren. Weshalb?«
»Weil Kramer ihnen gesagt hatte, er fahre
dorthin?«
»Richtig! Er hat behauptet, er sei bei seiner
Frau, um zu vertuschen, dass er in Wirklichkeit mit Carbone
zusammen war. Aber warum hat er es sie überhaupt wissen
lassen?«
»Keine Ahnung.«
»Weil es Leute gibt, denen man so etwas sagen
muss.«
»Wer ist das?«
»Stell dir vor, du wärst ein reicher Mann, der mit
seiner Geliebten reist. Willst du dich für eine Nacht von ihr
trennen, musst du ihr etwas erzählen. Wenn
du ihr erklärst, dass du nur des äußeren Scheins wegen deine
Ehefrau besuchst, muss sie das akzeptieren. Es gefällt ihr
vielleicht nicht, aber sie muss sich damit abfinden. Das gehört
einfach mit zum Deal.«
»Kramer hatte keine Geliebte. Er war
schwul.«
»Er hatte Marshall.«
»Nein«, sagte sie. »Ausgeschlossen!«
Ich nickte. »Kramer hat Marshall hintergangen.
Marshall war sein Geliebter. Die beiden hatten eine Beziehung.
Marshall war nicht als Nachrichtenoffizier ausgebildet, aber Kramer
machte ihn trotzdem zu einem, um ihn in seiner Nähe zu haben. Die
beiden waren ein Paar. Aber Kramer hat auch gern ein Auge auf
andere geworfen. Er hat Carbone irgendwo kennen gelernt und
angefangen, sich heimlich mit ihm zu treffen. Also hat Kramer
Marshall an Silvester erklärt, er besuche seine Frau, was Marshall
ihm auch glaubte. Deswegen ist Marshall
nach Green Valley gefahren. Er dachte, dass Kramer sich dort
aufhielt, dass er der einzige Mensch sei, der das todsicher wusste.
Er hat Vassell und Coomer mitgeteilt, wo Kramer sich aufhielt. Aber
Kramer hatte ihn belogen. Wie’s Leute in Beziehungen tun.«
Summer machte eine nachdenkliche Pause. Sie
starrte schweigend in die Nacht hinaus.
»Hat sich das irgendwie auf die dortigen
Ereignisse ausgewirkt?«, fragte sie.
»Ich glaube schon«, antwortete ich. »Mrs. Kramer
hat mit Marshall gesprochen, vermute ich. Sie muss ihn aus ihrer
Zeit in Deutschland gekannt haben und wusste wahrscheinlich von
seinem Verhältnis mit ihrem Mann. Generalsfrauen sind im
Allgemeinen ziemlich clever. Vielleicht hat sie sogar gewusst, dass
ein zweiter Mann im Spiel war. Möglicherweise war sie sauer und hat
Marshall damit aufgezogen. Daraufhin ist Marshall wütend geworden
und ausgerastet. Vielleicht hat er Vassell und Coomer deshalb nicht
sofort eingeweiht. Weil der Kollateralschaden nicht nur als Folge
des Einbruchs, sondern vor allem wegen dieses Streits entstanden
war. Darum habe ich gesagt, Mrs. Kramer sei nicht nur wegen des
Aktenkoffers ermordet worden.«
»Das sind alles nur Vermutungen.«
»Mrs. Kramer ist tot. Das ist keine
Vermutung.«
»Aber alles andere sind Mutmaßungen.«
»Marshall ist einunddreißig, ledig.«
»Das beweist gar nichts.«
»Richtig. Beweise gibt’s keine, sind vorläufig
Mangelware.«
Summer schwieg einen Augenblick. »Wie ist es dann
weitergegangen?«
»Vassell, Coomer und Marshall haben angefangen,
ernstlich nach dem Aktenkoffer zu fahnden. Dabei waren sie uns
gegenüber im Vorteil, weil sie wussten, dass sie keine Frau,
sondern einen Mann suchten. Marshall ist am zweiten Januar nach
Deutschland zurückgeflogen und hat Kramers Dienstzimmer und seine
Unterkunft durchsucht. Er hat etwas gefunden, das sie zu Carbone
führte. Vielleicht ein Tagebuch, einen Brief, ein Foto oder eine
Telefonnummer in einem Adressbuch. Irgendwas. Er ist am dritten
Januar zurückgekommen. Sie haben einen Plan ausgeheckt,
anschließend Carbone angerufen, ihn erpresst und eine Übergabe für
den nächsten Abend vereinbart. Den Aktenkoffer gegen den Brief oder
das Foto oder was sie sonst in der Hand hatten. Carbone ist auf den
Deal eingegangen. Ihm kam der Tausch recht, weil er Aufsehen
vermeiden wollte - und Brubaker schon über den Inhalt der
Tagesordnung informiert war. Er hatte nichts zu verlieren, aber
alles zu gewinnen. Vielleicht war das nicht das erste Mal, dass ihm
sowas passierte. Doch diesmal hatte er Pech, denn Marshall hat ihn
bei der Übergabe ermordet.«
»Marshall? Marshall war nicht mal in Bird.«
»Doch, das war er«, sagte ich. »Darauf bist du
selbst gekommen. Du hast mir einen Vorschlag gemacht, als wir
losgefahren sind, um Detective Clark wegen des Brecheisens zu
befragen. Weißt du noch? Als Willard telefonisch hinter mir her
war? Du hast mir etwas vorgeschlagen!«
»Was denn?«
»Marshall befand sich im Kofferraum ihres Wagens,
Summer. Coomer fuhr, Vassell saß vorn neben ihm, und Marshall lag
im Kofferraum. So sind sie durchs Tor gekommen. Dann hat der Wagen,
rückwärts eingeparkt, im hintersten Winkel des Parkplatzes
beim O Club gestanden. Rückwärts eingeparkt, weil Coomer das
Kofferraumschloss entriegelt hat, bevor er ausgestiegen ist.
Marshall hat den Deckel von innen zugehalten. Dann sind Vassell und
Coomer reingegangen und haben sich ein gusseisernes Alibi
beschafft. Unterdessen harrt Marshall noch fast zwei Stunden im
Kofferraum aus, bis alles still geworden ist. Dann klettert er
heraus und fährt weg. Deshalb hat die erste Nachtpatrouille den
Wagen gesehen und die zweite nicht. Marshall holt Carbone an der
vereinbarten Stelle ab, und sie fahren zusammen in den Wald.
Carbone hat den Aktenkoffer dabei. Marshall öffnet den Kofferraum
und gibt Carbone einen Briefumschlag oder dergleichen. Carbone
wendet sich dem Licht des Mondes zu, um zu prüfen, ob er das
Versprochene erhält. Währenddessen zieht Marshall das Brecheisen
heraus und schlägt zu. Nicht nur wegen des Aktenkoffers. Den bekäme
er ohnehin, weil der Tausch klappt. Und Carbone kann es sich auf
keinen Fall leisten, später darüber zu reden. Nein, Marshall
schlägt auch zu, weil er wütend und eifersüchtig ist. Auch aus
diesem Grund ermordet er ihn. Dann greift er sich den Briefumschlag
wieder und wirft ihn mit dem Aktenkoffer in den Kofferraum. Das
Weitere kennen wir. Marshall, der entschlossen war, Carbone zu
beseitigen, hat alles dabei, was er für sein Täuschungsmanöver
braucht. Dann fährt er zurück und wirft unterwegs das Brecheisen
aus dem Fenster. Er stellt den Wagen am ursprünglichen Platz ab und
versteckt sich wieder im Kofferraum. Vassell und Coomer kommen aus
dem O Club und fahren durch die Wache.«
»Und wie geht’s weiter?«
»Sie sind unruhig. Inzwischen wissen sie auch,
dass ihr Handlanger Mrs. Kramer umgebracht hat. Das macht sie
nervös und besorgt. Sie finden keine Stelle, an der sie einen Mann,
dessen Kleidung vielleicht blutbesudelt ist, aus dem Kofferraum
lassen können. Der erste wirklich sichere Ort ist der Rastplatz
eine Stunde nördlich. Sie parken weit von den anderen Autos
entfernt und lassen Marshall aussteigen. Der übergibt ihnen den
Aktenkoffer. Sie fahren weiter und verbringen sechzig Sekunden
damit, den Aktenkoffer zu durchsuchen. Dann werfen sie ihn nach
einer Meile aus dem Auto.«
Summer überlegte angestrengt.
»Das ist nur eine Theorie«, gab sie zu
bedenken.
»Kannst du unsere Erkenntnisse irgendwie anders
erklären?«
Sie dachte darüber nach. Dann schüttelte sie den
Kopf.
»Was war mit Brubaker?«, fragte sie.
Eine Stimme aus den Deckenlautsprechern rief
unseren Flug auf. Wir stellten uns an. Draußen war es noch immer
stockfinster. Ich überschlug die Zahl der Mitreisenden, weil ich
hoffte, einige Sitze würden leer bleiben. Aber danach sah es nicht
aus. Die Maschine würde ziemlich voll werden. Für Leute, die in
Washington lebten, musste L. A. im Januar ein recht verlockendes
Ziel sein.
»Was war mit Brubaker?«, wiederholte Summer ihre
Frage.
Wir gingen den Mittelgang entlang und fanden
unsere Plätze: einen am Fenster und einen in der Mitte. Am Gang saß
bereits eine Nonne. Sie war ziemlich alt. Ich hoffte, dass ihr
Gehör nicht mehr so gut war, denn ich wollte keine Lauscher. Sie
rutschte zur Seite, um uns durchzulassen. Summer nahm neben ihr
Platz, während ich mich ans Fenster setzte. Ich schnallte mich an.
Es gab keine Warteschlange und binnen drei Minuten waren wir in der
Luft.
»Was Brubaker angeht, bin ich mir weniger sicher«,
sagte ich. »Wie ist er in die Sache hineingeraten? Haben sie ihn
oder hat er sie angerufen? Er hat in der Silvesternacht von der
Tagesordnung erfahren. Als aktiver Soldat wollte er vielleicht
selbst Druck ausüben. Oder Vassell und Coomer haben einfach den
schlimmsten Fall angenommen. Sie haben sich möglicherweise
ausgerechnet, dass ein alter Unteroffizier wie Carbone seinen
Kommandeur anrufen würde. Deshalb weiß ich nicht sicher, wer wen
angerufen hat. Wahrscheinlich haben sie sich gegenseitig gedroht -
oder Vassell und Coomer haben vorgeschlagen, zum Vorteil aller
zusammenzuarbeiten.«
»Ist das realistisch?«
»Keine Ahnung. Die integrierten Einheiten werden
ziemlich unkonventionell ausfallen. Brubaker wäre dann sehr beliebt
gewesen, weil er schon Erfahrungen mit unkonventioneller
Kriegsführung hatte. Also haben Vassell und Coomer ihn vielleicht
mit der Aussicht auf eine strategische Allianz geködert. Jedenfalls
vereinbarten sie für den vierten Januar spätabends ein Treffen. Den
Ort muss Brubaker vorgeschlagen haben. Er kannte ihn von seinen
Fahrten zwischen Fort Bird und dem Golfhotel. Und er schien arglos
gewesen zu sein, sonst hätte er Marshall nicht hinter sich sitzen
lassen.«
»Woher weißt du, dass Marshall hinter ihm gesessen
hat?«
»Eine Frage der Höflichkeit«, erklärte ich. »Als
Oberst wollte er mit einem General und einem weiteren Oberst reden.
Also hat er Vassell den Beifahrersitz und Coomer den Sitz rechts
hinten angeboten, um sich ihnen beiden zuwenden zu können. Marshall
hat er hinter sich einsteigen lassen und nicht weiter beachtet. Der
Mann war nur ein Major. Wer brauchte ihn?«
»Hatten sie vor, ihn zu ermorden? Oder ist das
eher zufällig passiert?«
»Das war Absicht, keine Frage. Sie hatten bereits
einen Plan. Ein entfernter Ort, an dem sie die Leiche zurücklassen
würden, Heroin, das Marshall aus Deutschland mitgebracht hatte,
eine geladene Waffe. Also haben wir letztlich richtig vermutet -
aber rein zufällig. Dieselben Leute, die Carbone ermordet hatten,
sind geradewegs durchs Haupttor rausgefahren, um danach auch
Brubaker zu liquidieren.«
»Ein doppeltes Täuschungsmanöver«, stellte Summer
fest. »Die Sache mit dem Heroin und dass sie ihn nicht nach Norden,
sondern nach Süden gebracht haben.«
»Amateurhaft«, sagte ich. »Den Gerichtsmedizinern
in Columbia müssen die falsch verteilten Leichenflecken und die
Hitzespuren vom Auspuffrohr sofort aufgefallen sein. Vassell und
Coomer hatten nur Glück, dass die Mediziner uns das nicht sofort
mitgeteilt haben. Außerdem haben sie Brubakers Wagen am Tatort
stehen lassen. Das war ein schlimmer Fehler.«
»Sie müssen übermüdet gewesen sein. Stress,
nervöse Anspannung, die viele Fahrerei. Sie sind vom Friedhof
Arlington nach Bird gekommen, nach Smithfield rauf-, nach Columbia
runter- und wieder zum Dulles Airport raufgefahren. Bestimmt
achtzehn Stunden reine Fahrzeit. Kein Wunder, dass sie ab und zu
einen Fehler gemacht haben. Aber sie wären damit durchgekommen,
wenn du Willard nicht ignoriert hättest.«
Ich nickte. Sagte nichts.
»Der Fall steht auf tönernen Füßen«, meinte
Summer, »um nicht zu sagen auf äußerst tönernen Füßen. Er basiert
nicht mal auf Indizien, sondern lediglich auf Spekulationen.«
»Als ob ich das nicht wüsste! Darum brauchen wir
Geständnisse.«
»Du musst dir alles gut überlegen, bevor du
jemanden mit Tatvorwürfen konfrontierst. Du könntest sonst hinter
Gitter kommen. Wegen falscher Anschuldigungen.«
Ich hörte Aktivitäten hinter mir, und dann tauchte
eine Stewardess mit dem Frühstück auf. Die Nonne bekam ihr Tablett,
dann Summer und zuletzt ich. Es gab kalten Orangensaft und ein
warmes Schinken-Käse-Sandwich. Das war alles. Summer und ich hatten
das kärgliche Mahl rasch aufgegessen, aber die Nonne rührte ihr
Tablett nicht an. Sie ließ es einfach vor sich stehen. Ich stieß
Summer den linken Ellbogen in die Rippen.
»Frag sie, ob sie das essen will«, sagte
ich.
»Das kann ich nicht.«
»Sie ist zur Mildtätigkeit verpflichtet.«
»Das kann ich nicht«, wiederholte sie.
»Doch, das kannst du.«
Sie seufzte. »Okay, Augenblick noch.«
Aber sie verpasste ihre Chance. Sie wartete zu
lange. Die Nonne riss die Folie auf und begann ihr Sandwich zu
essen.
»Verdammt«, schimpfte ich.
»Tut mir Leid«, meinte Summer.
Ich sah sie an. »Was hast du gesagt?«
»Ich habe gesagt, dass es mir Leid tut.«
»Nein, davor. Was du zuletzt gesagt hast.«
»Ich habe gesagt, dass ich sie das nicht einfach
fragen kann.«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, bevor das
Frühstück gekommen ist.«
»Ich habe gesagt, dass der Fall auf tönernen Füßen
steht.«
»Noch davor.«
Sie überlegte. »Ich habe gesagt, dass Vassell und
Coomer damit durchgekommen wären, wenn du Willard nicht ignoriert
hättest.«
Ich nickte. Dachte eine Minute lang über diese
Tatsache nach. Dann schloss ich die Augen.
Ich öffnete sie erst in Los Angeles wieder. Draußen
wurde es gerade hell. Eine Lautsprecherstimme teilte uns mit, in
Kalifornien sei es sieben Uhr morgens. Summer und ich waren zwei
volle Tage nach Westen unterwegs gewesen. Ich hatte eine Weile
geschlafen und war eigentlich nicht müde. Aber ich hatte
Hunger.
Wir gingen von Bord und zur Gepäckausgabe. Dort
warteten Fahrer auf Leute, die sie abholen sollten. Ich sah mich
um. Stellte fest, dass Calvin Franz niemanden geschickt hatte.
Stattdessen war er selbst gekommen. Das war mir nur recht. Nun
wusste ich, dass wir uns in guten Händen befanden.
»Ich hab Neuigkeiten für dich«, sagte er.
Ich machte ihn mit Summer bekannt. Er schüttelte
ihr die Hand und nahm ihr die Reisetasche ab. Sein Humvee parkte im
Halteverbot. Aber die Cops ignorierten es geflissentlich. Diese
Wirkung haben Humvees mit schwarz-grünem Tarnanstrich oft. Wir
stiegen rasch ein. Ich ließ Summer vorn sitzen und nahm auf dem
Rücksitz Platz.
»Sie haben den Grand Marquis gefunden«, teilte uns
Franz mit.
Er ließ den großen Turbodiesel aufheulen und fuhr
los. Fort Irwin lag knapp nördlich von Barstow - ungefähr dreißig
Meilen quer durch L. A. Ich schätzte, dass die Fahrt im
morgendlichen Berufsverkehr ungefähr eine Stunde dauern
würde.
»Er hat in Andrews gestanden«, fuhr Franz fort.
»Am fünften Januar dort abgestellt.«
»Als Marshall nach Deutschland zurückgerufen
wurde«, sagte ich.
Franz nickte. »So steht’s im Wachbuch am Haupttor.
Von Marshall mit einem Aufkleber des Transportation Corps geparkt.
Unsere Männer haben ihn auf einem Anhänger zum FBI geschafft. Das
war die schnellste Methode. Sie mussten ein paar Gefälligkeiten
einfordern. Das Bureau hat die ganze Nacht daran gearbeitet. Erst
widerwillig, dann jedoch mit rasch wachsendem Interesse.
Anscheinend passen die Spuren zu einem Fall, in dem das FBI gerade
ermittelt.«
»Brubaker«, sagte ich.
Er nickte wieder. »Auf der Kofferraummatte sind
Spuren von Brubaker gefunden worden. Genau gesagt Blut und
Gehirnmasse. Die Matte war mit Papierhandtüchern gesäubert worden,
aber nicht gründlich genug.«
»Sonst noch was?«, fragte ich.
»Ja. Zum Beispiel weitere Blutspuren anderer
Herkunft, nur geringe Mengen davon, wie von einem Jackenärmel oder
einer Messerklinge.«
»Carbones Blut«, erklärte ich. »Weil Marshall
anschließend im Kofferraum gelegen hat. Haben sie das Messer
gefunden?«
»Nein«, sagte Franz. »Aber der Kofferraum ist
innen voll von Marshalls Fingerabdrücken.«
»Kein Wunder«, meinte ich. »Er hat mehrere Stunden
darin verbracht.«
»Unter der Kofferraummatte hat eine einzelne
Erkennungsmarke gelegen«, sagte Franz. »Als wäre die Halskette
gerissen.«
»Carbones?«
»Von wem sonst.«
»Amateurhaft«, sagte ich. »Sonst noch was?«
»Das Übliche. Der Wagen war nicht besonders gut
aufgeräumt. Jede Menge Haare und Fasern, Pizzakartons,
Getränkedosen, solche Dinge.«
»Auch Joghurtbecher?«
»Einer«, sagte Franz. »Im Kofferraum.«
»Erdbeer- oder Himbeergeschmack?«
»Erdbeere. Marshalls Fingerabdrücke am Aufreißer
des Aludeckels. Offenbar eine kleine Zwischenmahlzeit.«
»Aufgerissen hat er ihn«, bemerkte ich. »Aber
nicht gegessen.«
»Und ein leerer Briefumschlag«, fuhr Franz fort.
»An Kramer beim XII. Korps in Deutschland adressiert. Luftpost, vor
einem Jahr abgestempelt. Ohne Absenderangabe. Ein fester Umschlag
wie für Fotos, aber ohne Inhalt.«
Ich schwieg. Er sah mich im Rückspiegel an.
»Hilft euch irgendwas davon weiter?«, fragte
er.
Ich grinste. »Damit haben wir uns von bloßen
Spekulationen zu Indizien hochgearbeitet.«
»›Ein riesiger Sprung für die Menschheit‹«, sagte
er.
Ich dachte an Carbone, Brubaker und Mrs. Kramer -
und Mrs. Reacher. Anfang Januar 1990 waren überall auf der Welt
Menschen gestorben.
Wie sich zeigte, brauchten wir für die Fahrt nach
Fort Irwin über eine Stunde. Vermutlich hatten die Leute Recht,
wenn sie über den Verkehr in L. A. jammerten. Auf dem Stützpunkt
herrschte der übliche Betrieb. Irwin umfasste ein riesiges Stück
Mojavewüste. Hier war in ständigem Wechsel irgendein Panzerregiment
stationiert, das als Heimmannschaft fungierte, wenn andere
Einheiten auf den Truppenübungsplatz kamen. Es herrschte ständig
eine Atmosphäre wie bei Frühjahrsübungen. Da das Wetter immer gut
war, machte es den Soldaten Spaß, bei strahlendem Sonnenschein mit
ihren teuren Spielsachen herumzukurven.
»Willst du gleich das Geschäftliche erledigen?«,
fragte Franz.
»Behältst du sie im Auge?«
Er nickte. »Diskret.«
»Okay, dann gehen wir erst frühstücken.«
Ein O Club der U.S. Army war das ideale Ziel für
Leute, die nach einem langen Flug mit Bordverpflegung halb
verhungert ankamen. Das Frühstücksbüfett war üppig lang. Es gab die
gleichen Gerichte wie in Deutschland, aber der Orangensaft und die
Obstteller sahen in Kalifornien überzeugender aus. Ich aß so viel
wie eine Schützenkompanie und Summer noch mehr. Franz hatte bereits
gefrühstückt. Ich schüttete so viel Kaffee in mich hinein, wie ich
nur konnte. Dann schob ich meinen Stuhl zurück, atmete tief durch
und stand auf.
»Okay«, sagte ich. »Los geht’s.«
Wir fuhren zu Franz’ Dienststelle, und er fragte
bei seinen Jungs nach. Marshall war bereits draußen auf einer der
Schießbahnen, aber Vassell und Coomer hielten sich in einem der
Gemeinschaftsräume der Unterkunft für durchreisende Offiziere auf.
Franz fuhr uns mit seinem Humvee hin.
Die hiesige Unterkunft für durchreisende Offiziere
sah genauso aus wie die beim XII. Korps in Deutschland. Lange
Reihen identischer Zimmer umgaben einen sandigen Innenhof. Auf
einer Seite lagen die Gemeinschaftsräume: Fernsehraum, Tischtennis,
Bibliothek, Aufenthaltsräume. Franz führte uns durch eine Tür und
trat zur Seite, sodass wir Vassell und Coomer erblickten, die sich
in Ledersesseln gegenübersaßen. Mir wurde bewusst, dass ich sie
davor nur einmal gesehen hatte, und zwar in meinem Dienstzimmer in
Bird. Das kam mir unverhältnismäßig vor, wenn man berücksichtigte,
wie viel Zeit ich damit zugebracht hatte, über sie
nachzudenken.
Beide trugen Kampfanzüge in dem neuen
Wüstentarnmuster, das die Leute Schokoladenchips nannten. Sie
wirkten darin immer noch wie verkleidete Rotarier.
Sie starrten mich beide an.
Ich holte tief Luft.
Hohe Offiziere.
Falsche
Anschuldigung.
Weil der Fall auf so tönernen
Füßen steht, könntest du hinter Gitter
kommen.
»General Vassell«, sagte ich, »und Oberst Coomer,
ich nehme Sie wegen Verschwörung und Verabredung zum
gemeinschaftlichen Mord fest.«
Ich hielt den Atem an.
Aber keiner der beiden ließ eine Reaktion
erkennen. Keiner sagte ein Wort. Sie gaben einfach auf, fügten sich
ins Unvermeidliche. Als hätten sie diesen Augenblick von Anfang an
erwartet. Ich atmete aus. Auf schlechte Nachrichten reagierten
Menschen im Allgemeinen erst mit Trauer, dann mit Zorn und
Widerspruch. Aber das hatten diese Männer längst hinter sich. Sie
waren am Ende dieses Prozesses angelangt, an dem sie nur noch die
Tatsachen akzeptieren konnten.
Die restlichen Formalitäten überließ ich Summer.
Das Militärstrafgesetzbuch schrieb genau vor, welche Ankündigungen
und Warnungen ausgesprochen werden mussten. Diesen Teil absolvierte
Summer flüssiger, als ich’s gekonnt hätte. Ihre Stimme war klar,
ihr Auftreten professionell. Weder Vassell noch Coomer reagierten
in irgendeiner Weise. Kein Toben, kein Bitten, keine wütenden
Unschuldsbeteuerungen.
»Handschellen?«, fragte Summer mich.
Ich nickte.
»Natürlich«, sagte ich. »Und führen Sie sie zu Fuß
in den Arrest ab. Durch den ganzen Stützpunkt, damit alle sie sehen
können. Sie sind eine Schande für die Army.«
Ich ließ mir erklären, wo ich hinmusste, und fuhr
mit Franz’ Humvee los, um Marshall zu verhaften. Er sollte als
Beobachter in einer Hütte in der Nähe eines nicht mehr benutzten
Ziels, eines veralteten Panzers des Baumusters Sheridan, sitzen.
Ich wurde angewiesen, auf den bestehenden Fahrspuren zu bleiben,
damit ich keine Blindgänger oder Wüstenschildkröten überfuhr.
Ich verließ den Stützpunkt um Punkt halb zehn Uhr
- allein. Ich wollte nicht auf Summer warten. Sie war damit
beschäftigt, Vassell und Coomer durch das Aufnahmeverfahren zu
schleusen.
Ich kam mir wie am Ende einer langen Reise vor. Ich nahm eine
geliehene Pistole mit, aber meine Entscheidung, allein loszufahren,
war trotzdem falsch.