7
Auf unserem Flug nach Westen verlängerten die Zeitzonen den Tag, statt ihn zu verkürzen. Um vierzehn Uhr landeten wir auf dem Dulles Airport. Ich verabschiedete mich von Joe. Er ging zum Taxistand, um in die Stadt zu fahren. Ich machte mich auf die Suche nach den Bussen und wurde verhaftet, bevor ich sie gefunden hatte.
Wer bewacht die Wächter? Wer verhaftet einen Militärpolizisten? In meinem Fall war es ein Trio von Warrant Officers direkt aus der Dienststelle des Kommandeurs der Militärpolizei: ein W4 und zwei W3. Der W4 hielt mir seinen Dienstausweis und den Haftbefehl hin, und dann zeigten die W3 mir ihre Berettas und Handschellen. Der W4 stellte mich vor die Wahl, mich anständig zu benehmen oder gewaltsam abgeführt zu werden. Ich lächelte flüchtig. Sein Auftreten gefiel mir. Er machte seine Sache gut. Ich bezweifelte, dass ich etwas anders oder besser gemacht hätte.
»Sind Sie bewaffnet, Major?«, sagte er.
»Nein.«
Hätte er mir das geglaubt, hätte ich mir Sorgen um die Army gemacht. Manche W4 hätten’s wahrscheinlich getan. Sie hätten sich von den besonderen Umständen dieses Falls einschüchtern lassen. Einen höheren Offizier aus dem eigenen Korps verhaften zu müssen, ist ein schwieriger Auftrag. Aber dieser spezielle W4 machte alles richtig. Als er mich Nein sagen hörte, nickte er seinen W3 zu, die mich daraufhin so blitzschnell abtasteten, als hätte ich Ja, mit einem Atomsprengkopf gesagt. Einer von ihnen nahm die Leibesvisitation vor, während der andere meinen Seesack durchsuchte. Beide arbeiteten sehr gründlich. Brauchten einige Minuten, bis sie ganz zufrieden gestellt waren.
»Muss ich Ihnen Handschellen anlegen?«, fragte der W4.
Ich schüttelte den Kopf. »Wo steht der Wagen?«
Er gab keine Antwort. Die beiden W3 nahmen ihre Position rechts und links und etwas hinter mir ein. Der W4 ging voraus. Wir überquerten den Gehsteig, passierten die Bushaltestellen und gingen zu der für Dienstfahrzeuge reservierten Fahrspur. Dort stand eine olivgrüne Limousine. Für meine Bewacher war dies der gefährlichste Zeitpunkt. Ein zum Äußersten entschlossener Mann würde jetzt alle Kräfte aufbieten, um die Flucht zu wagen. Das wussten sie, deshalb nahmen sie mich etwas enger zwischen sich. Sie waren ein gutes Team. Drei gegen einen, das verringerte meine Chancen auf ungefähr fünfzig zu fünfzig. Aber ich ließ mich von ihnen in den Wagen schieben. Später fragte ich mich, was passiert wäre, wenn ich in diesem Augenblick das Weite gesucht hätte. Manchmal wünschte ich mir, ich hätte es getan.
Der Wagen war ein ehemals weißer Chevrolet Caprice gewesen, bevor die Army ihn olivgrün umgespritzt hatte. Innen im Türrahmen war die ursprüngliche Farbe noch zu sehen. Er hatte Kunstledersitze und Fensterkurbeln statt elektrischer Fensterheber. Dies war die zivile Polizeiausführung. Ich rutschte über den Rücksitz, bis ich hinter dem Beifahrersitz angelangt war. Einer der beiden W3 zwängte sich neben mich auf den Rücksitz, der andere setzte sich ans Steuer. Der W4 saß vorn auf dem Beifahrersitz. Keiner von uns sprach ein Wort.
Wir brausten auf dem Washington Beltway nach Osten in Richtung Innenstadt. Joe mit seinem Taxi hatte nur ungefähr fünf Minuten Vorsprung. Dann bogen wir nach Südosten ab und fuhren durch Tysons Corner. Jetzt wusste ich genau, wohin wir unterwegs waren. Einige Meilen später entdeckte ich die ersten Wegweiser nach Rock Creek, einer Kleinstadt etwas über zwanzig Meilen nördlich von Fort Belvoir und ungefähr vierzig Meilen nordöstlich des Marine-Corps-Stützpunkts in Quantico - zumindest auf dem Papier mein ständiger Dienstort; denn dort war das 110th Special Unit stationiert. Somit war klar, wohin wir unterwegs waren. Aber ich hatte keine Ahnung, weshalb.
Das Stabsgebäude des Hundertzehnten enthielt nur Büros und Versorgungseinrichtungen, keine Haftzellen. Keine aufwändig gesicherten Räume. Also sperrten sie mich in einen Vernehmungsraum. Warfen einfach meinen Seesack auf den Tisch und schlossen die Tür ab. Dies war ein Raum, in dem ich früher selbst Kerle eingesperrt hatte. Also wusste ich, wie so etwas lief. Einer der W3 würde auf dem Korridor Wache halten. Vielleicht sogar beide. Also kippte ich den einfachen Holzstuhl nach hinten, legte die Füße auf den Tisch und wartete.
Ich wartete eine Stunde; fühlte mich unbehaglich, war hungrig und durstig. Hätten sie das gewusst, hätten sie mich vermutlich zwei Stunden oder noch länger warten lassen. So kamen sie nach ziemlich genau einer Stunde zurück. Der W4 trat als Erster ein und bedeutete mir mit einer Kinnbewegung, aufzustehen und ihm zu folgen. Die beiden W3 schlossen sich uns an. Ich wurde zwei Stockwerke höher geführt. Dort durch kahle graue Korridore nach links und wieder nach rechts. Nun wusste ich bestimmt, wohin wir unterwegs waren: zu Leon Garbers Dienstzimmer. Aber ich wusste nicht, weshalb.
Sie ließen mich vor seiner Tür Halt machen. Auf dem gerippten Glas des Türeinsatzes stand in goldenen Buchstaben KOMMANDEUR. Durch diese Tür war ich schon oft gegangen, aber noch nie als Festgenommener unter Bewachung. Der W4 klopfte an, wartete, öffnete die Tür und trat zur Seite, um mich eintreten zu lassen. Dann schloss er die Tür hinter mir und blieb mit seinen Leuten draußen auf dem Flur.
Hinter Garbers Schreibtisch saß ein Mann, den ich noch nie gesehen hatte. Ein Oberst im Kampfanzug. Auf seinem Namensschild stand Willard, U.S. Army. Er hatte eisgraues, wie bei einem Schuljungen gescheiteltes Haar, das dringend hätte geschnitten werden müssen. Er trug eine Nickelbrille. Sein Gesicht sah fahl und aufgedunsen aus. Er war klein und relativ stämmig, und die Art und Weise, wie seine Schultern den Kampfanzug nicht ausfüllten, zeigte mir, dass er nichts tat, um in Form zu bleiben. Er konnte nicht stillsitzen, rutschte nach links und zupfte an seiner Hose, wo sie sich über dem rechten Knie spannte. Bevor ich zehn Sekunden im Raum war, hatte er seine Haltung dreimal verändert. Vielleicht litt er an Hämorrhoiden. Vielleicht war er nervös. Er besaß weiche Hände. Abgekaute Fingernägel. Kein Ehering. Bestimmt geschieden. Keine Frau hätte ihn mit solchen Haaren herumlaufen lassen. Und keine Frau hätte dieses Herumrutschen und -zappeln ausgehalten. Jedenfalls nicht lange.
Ich hätte Haltung annehmen und zackig grüßen sollen: »Sir, Major Reacher meldet sich zur Stelle.« In der Army machte man das so. Aber der Teufel sollte mich holen, wenn ich das tat. Ich sah mich nur in aller Ruhe um und blieb vor dem Schreibtisch stehen, ohne Haltung anzunehmen.
»Ich verlange Erklärungen von Ihnen«, sagte der Kerl namens Willard.
Er rutschte erneut auf seinem Stuhl herum.
»Wer sind Sie?«, fragte ich.
»Das können Sie selbst sehen.«
»Ich kann sehen, dass Sie ein Oberst der U.S. Army namens Willard sind. Aber ich kann Ihnen nichts erklären, bevor ich weiß, ob Sie zu meinen Vorgesetzten gehören oder nicht.«
»Ich bin Ihr Vorgesetzter, junger Mann. Was steht an meiner Tür?«
»Kommandeur.«
»Und wo sind wir?«
»Rock Creek, Virginia.«
»Okay, damit ist Ihre Frage beantwortet.«
»Sie sind neu«, sagte ich. »Wir kennen uns noch nicht.«
»Ich habe diesen Posten vor achtundvierzig Stunden übernommen. Und jetzt kennen wir uns. Und jetzt will ich Erklärungen von Ihnen.«
»Zu welchem Thema?«
»Fangen wir damit an, dass Sie sich unerlaubt von der Truppe entfernt haben«, entgegnete er.
»Unerlaubt entfernt? Wann?«
»In den vergangenen zweiundsiebzig Stunden.«
»Stimmt nicht«, sagte ich.
»Wie das?«
»Meine Abwesenheit war von Oberst Garber genehmigt.«
»Das war sie nicht.«
»Ich habe seine Dienststelle angerufen.«
»Wann?«
»Vor meiner Abreise.«
»Haben Sie seine Erlaubnis erhalten?«
»Ich habe eine Nachricht hinterlassen. Wollen Sie behaupten, dass er mir die Erlaubnis verweigert hat?«
»Er war nicht hier, weil er einige Stunden zuvor nach Korea versetzt worden ist.«
»Korea?«
»Er befehligt unsere dortige Militärpolizei.«
»Das ist ein Job für einen Brigadegeneral.«
»Er übernimmt ihn stellvertretend. Die Beförderung dürfte noch dieses Jahr erfolgen.«
Ich sagte nichts.
»Garber ist fort«, sagte Willard. »Ich bin hier. Das militärische Karussell dreht sich weiter. Daran müssen Sie sich gewöhnen.«
Nun entstand eine Pause. Willard lächelte. Kein sympathisches Lächeln. Eher ein höhnisches Grinsen. Mir war der Teppich unter den Füßen weggezogen worden, und er beobachtete, wie ich zu Boden knallte.
»Gut, dass Sie so freundlich waren, Ihren Reiseplan anzugeben«, fuhr er fort. »Das hat unseren heutigen Einsatz sehr erleichtert.«
»Halten Sie eine Verhaftung für die angemessene Reaktion auf unerlaubte Abwesenheit?«, wollte ich wissen.
»Sie nicht?«
»Das war ein Missverständnis.«
»Sie haben den Ihnen zugewiesenen Posten unerlaubt verlassen, Major. Das sind die Tatsachen. Dass Sie vage gehofft haben, die Erlaubnis dafür zu erhalten, ändert nichts daran. Wir sind in der Army. Wir handeln nicht schon, bevor wir einen Befehl oder eine Erlaubnis erhalten. Wir warten, bis sie ordnungsgemäß eingegangen und bestätigt sind. Die Alternative wären Anarchie und Chaos.«
Ich schwieg.
»Wo waren Sie?«
Ich stellte mir meine Mutter vor, wie sie sich auf ihre Gehhilfe aus Aluminium stützte. Ich sah meinen Bruder vor mir, wie er mich beim Packen beobachtete.
»Ich habe einen Kurzurlaub gemacht«, antwortete ich. »Ich war am Meer.«
»Sie sind nicht etwa wegen unerlaubter Entfernung von der Truppe verhaftet worden«, erklärte Willard, »sondern weil Sie am Abend des Neujahrstages Ihren Dienstanzug getragen haben.«
»Ist das neuerdings ein Vergehen?«
»Sie haben Ihr Namensschild getragen.«
Ich sagte nichts.
»Sie haben zwei Zivilisten krankenhausreif geschlagen und dabei Ihr Namensschild getragen.«
Ich starrte ihn an. Dachte angestrengt nach. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass der Fettsack oder der Farmer mich angezeigt hatte. Ausgeschlossen! Sie waren dämlich, aber nicht so dämlich. Sie wussten, dass ich wusste, wo ich sie finden konnte.
»Wer behauptet das?«, fragte ich.
»Auf dem Parkplatz hatten Sie ein großes Publikum.«
»Einer von unseren Leuten?«
Willard nickte.
»Wer?«, erkundigte ich mich.
»Das brauchen Sie nicht zu wissen.«
Ich äußerte mich nicht dazu.
»Haben Sie etwas dazu zu sagen?«, fragte Willard.
Ich dachte: Vor dem Kriegsgericht sagt er nicht aus. Das steht fest. Das müsstest du jetzt sagen.
»Nein, nichts«, antwortete ich.
»Was sollte ich Ihrer Meinung nach mit Ihnen tun?«
Ich schwieg.
»Was sollte ich jetzt tun?«
Du solltest den Unterschied zwischen einem Blödmann und einem harten Burschen rauskriegen, Kumpel. Und das möglichst schnell.
»Ihre Wahl«, sagte ich. »Ihre Entscheidung.«
Er nickte. »Außerdem liegen mir Beschwerden von General Vassell und Oberst Coomer vor.«
»Die was besagen?«
»Die besagen, dass Sie sich ihnen gegenüber respektlos verhalten haben.«
»Stimmt nicht.«
»Genau wie Ihre unerlaubte Abwesenheit von der Truppe?«
Ich gab keine Antwort darauf.
»Nehmen Sie Haltung an!«, befahl Willard.
Ich sah ihn an. Zählte eintausend, zweitausend, dreitausend. Dann nahm ich Haltung an.
»Hat verdammt lange gedauert«, schimpfte er.
»Ich habe nicht den Ehrgeiz, einen Exerzierwettbewerb zu gewinnen«, sagte ich.
»Welches Interesse hatten Sie an Vassell und Coomer?«
»Die Tagesordnung für eine Kommandeurstagung der Panzertruppe ist verschwunden. Ich muss wissen, ob sie Geheiminformationen enthalten hat.«
»Es hat keine Tagesordnung gegeben«, erwiderte Willard. »Das haben Vassell und Coomer unmissverständlich erklärt. Mir genauso wie Ihnen. Dienstliche Fragen sind zulässig. Die dürfen Sie jederzeit stellen. Aber einem höheren Offizier bewusst nicht zu glauben, ist respektlos. Das grenzt fast an Renitenz.«
»Sir, solche Ermittlungen sind mein Beruf. Ich bin davon überzeugt, dass es eine Tagesordnung gegeben hat.«
Diesmal sagte Willard nichts.
»Darf ich fragen, wo Sie bisher waren?«
Er rutschte auf seinem Stuhl herum.
»Nachrichtendienst.«
»Geheimagent? Oder Schreibtischhengst?«
Er gab keine Antwort. Schreibtischhengst.
»Hat’s bei Ihnen Konferenzen ohne Tagesordnung gegeben?«, fragte ich.
Er starrte mich an.
»Direkte Befehle, Major«, sagte er. »Erstens: Sie hören auf, sich für Vassell und Coomer zu interessieren. Unverzüglich. Zweitens: Sie hören auf, sich für General Kramer zu interessieren. Wir wollen nicht, dass der Fall breitgetreten wird, nicht unter den gegebenen Umständen. Drittens: Sie beenden Leutnant Summers Beteiligung an Ermittlungen unserer Einheit. Sofort. Sie ist eine kleine Militärpolizistin, und nachdem ich ihre Personalakte gelesen habe, bleibt sie das auch, soweit ich Einfluss darauf habe. Viertens: Sie versuchen nicht, nochmals Kontakt mit den Zivilisten aufzunehmen, die Sie verletzt haben. Und fünftens: Sie versuchen nicht, den Augenzeugen, der in dieser Sache gegen Sie ausgesagt hat, ausfindig zu machen.«
Ich schwieg.
»Haben Sie die Befehle verstanden?«, schnarrte er.
»Ich hätte sie gern schriftlich«, sagte ich.
»Mündlich genügt. Haben Sie die Befehle verstanden?«
»Ja«, sagte ich.
»Wegtreten.«
Ich zählte eintausend, zweitausend, dreitausend. Dann salutierte ich und machte kehrt. Ich kam fast bis zur Tür, bevor er seinen letzten Schuss abfeuerte.
»Wie ich höre, sind Sie ein großer Star, Reacher«, erklärte er. »Also müssen Sie sich jetzt entscheiden, ob Sie ein großer Star bleiben oder ein arroganter Klugscheißer werden wollen. Und Sie sollten daran denken, dass niemand arrogante Klugscheißer leiden kann. Außerdem sollten Sie nicht vergessen, dass Sie an einem Punkt angelangt sind, an dem es darauf ankommt, ob die Leute Sie mögen oder nicht. Darauf wird’s sehr ankommen.«
Ich schwieg.
»Drücke ich mich klar genug aus, Major?«
»Kristallklar.«
Ich legte eine Hand auf die Klinke.
»Noch etwas«, sagte er. »Die Beschwerde wegen Brutalität und Körperverletzung lasse ich unbearbeitet. So lange ich irgend kann. Aus Respekt vor Ihren bisherigen Erfolgen. Sie können wirklich von Glück sagen, dass die Beschwerde intern eingegangen ist. Aber Sie müssen sich bewusst sein, dass sie weiterhin existiert.«
 
Ich verließ Rock Creek kurz vor siebzehn Uhr. Fuhr mit einem Bus nach Washington, D. C., und mit einem weiteren auf der I95 nach Süden. Dann entfernte ich meine Kragenabzeichen und legte die letzten dreißig Meilen nach Fort Bird per Anhalter zurück. So wurde ich schneller mitgenommen. Die einheimischen Autofahrer waren hauptsächlich Mannschaftsdienstgrade, ehemalige Soldaten oder ihre Angehörigen, und die meisten von ihnen standen Militärpolizisten misstrauisch gegenüber. Aus Erfahrung wusste ich, dass man ohne MP-Abzeichen schneller vorankam.
Ich hatte Glück und wurde wenige Minuten nach dreiundzwanzig Uhr am vierten Januar ungefähr zweihundert Meter vor dem Haupttor abgesetzt - nach etwas über sechs Stunden auf der Straße. North Carolina war stockfinster und kalt. So kalt, dass ich die zweihundert Meter joggte, damit mir wieder warm wurde. Dort kam ich außer Atem an. Ich wurde eingelassen und trabte zu meiner Dienststelle weiter. Drinnen war es behaglich warm. Die Sergeantin mit dem kleinen Sohn hatte Nachtdienst. Sie kochte gerade Kaffee und reichte mir einen Becher. Ich ging damit in mein Büro und fand auf dem Schreibtisch eine Notiz von Summer vor, die mit einer Büroklammer an einem schmalen grünen Ordner befestigt war. Der Ordner enthielt drei Listen. Die Frauen-mit-Humvees-Liste, die Frauenaus-Irwin-Liste und die aus dem Wachbuch am Haupttor kopierten Seiten für Silvester und Neujahr. Die beiden ersten Listen schienen ziemlich kurz zu sein. Die Wachbucheintragungen waren chaotisch. Die ganze Nacht lang hatten Partygänger das Haupttor passiert. Aber nur ein Name kam auf allen drei Listen vor: Lt/Col. Andrea Norton. Summer hatte ihren Namen an den drei Fundorten umringelt. Ihre Notiz lautete: Rufen Sie mich wegen Norton an. Ich hoffe, dass mit Ihrer Mom alles okay ist.
Ich fand die alte Telefonnotiz mit Joes Telefonnummer und rief zuerst ihn an.
»Hältst du durch?«, fragte ich ihn.
»Wir hätten bleiben sollen«, antwortete er.
»Sie hat der Pflegerin einen Tag freigegeben«, sagte ich. »Sie wollte nur diesen einen Tag.«
»Wir hätten trotzdem bleiben sollen.«
»Sie will kein Publikum.«
Er gab keine Antwort.
»Ich habe eine Frage«, sagte ich. »Hast du in deiner Zeit im Pentagon ein Arschloch namens Willard gekannt?«
Joe sagte lange nichts, stöberte in seinem Gedächtnis. Er war schon längere Zeit nicht mehr beim Nachrichtendienst.
»Untersetzter, kleiner Mann?«, fragte er dann. »Kann nicht stillsitzen? Rutscht dauernd auf dem Stuhl herum, zupft an seiner Hose? Er war ein Schreibtischhengst. Ein Major, glaube ich.«
»Jetzt ist er Oberst«, sagte ich. »Er hat gerade das Hundertzehnte übernommen. Er ist mein neuer Kommandeur in Rock Creek.«
»Vom Nachrichtendienst zur Militärpolizei? Das ist vollkommen logisch.«
»Nicht für mich.«
»Das ist die neue Theorie«, meinte Joe. »In diesem Punkt kopieren sie die Wirtschaft. Sie glauben, dass Ahnungslose gut sind, weil sie nicht an der Erhaltung des Status quo interessiert sind. Sie glauben, dass diese Leute neue Perspektiven eröffnen.«
»Irgendwas, das ich über diesen Menschen wissen sollte?«
»Du hast ihn als Arschloch bezeichnet, also scheinst du ihn schon zu kennen. Er war clever, aber auch ein Arschloch, das steht fest. Rachsüchtig, kleinlich, pedantisch, ausgesprochener Bürokrat, kennt alle dienstlichen Interna, sorgt nur für sich selbst, erstklassiger Arschkriecher, weiß immer genau, woher der Wind weht.«
Ich schwieg.
»Im Umgang mit Frauen hoffnungslos«, sagte Joe. »Das weiß ich noch gut.«
Ich sagte nichts.
»Er war ein Musterbeispiel für die Leute, von denen wir gesprochen haben«, erklärte Joe. »Er arbeitete in der Abteilung Sowjetunion. Soweit ich mich erinnere, hat er die Panzerproduktion und den Treibstoffverbrauch überwacht. Ich glaube, er hatte irgendeine Formel entwickelt, mit der sich aus dem Treibstoffverbrauch errechnen ließ, welche Ausbildung die sowjetische Panzertruppe erhielt. Damit war er ungefähr ein Jahr lang eine heiße Nummer. Aber ich glaube, er hat die Zeichen der Zeit erkannt und rechtzeitig die Kurve gekratzt. Das solltest du auch tun, zumindest darüber nachdenken. Wie wir’s unterwegs besprochen haben.«
Ich äußerte mich nicht.
»Jedenfalls solltest du dich vorsehen«, meinte Joe. »Ich würde Willard nicht als Boss haben wollen.«
»Ich komme schon zurecht«, entgegnete ich.
»Wir hätten in Paris bleiben sollen«, sagte er und legte auf.
 
Ich fand Summer im O Club in der Bar. Sie hatte eine Flasche Bier in der Hand und unterhielt sich mit mehreren W2. Als sie mich eintreten sah, ließ sie die anderen stehen und kam auf mich zu.
»Garber ist nach Korea versetzt worden«, sagte ich. »Wir haben einen Neuen.«
»Wen?«
»Einen Oberst Willard. Vom Nachrichtendienst.«
»Ist er für diesen Job qualifiziert?«
»Nein. Er ist ein Arschloch.«
»Macht Sie das nicht sauer?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Er befiehlt uns, die Finger vom Fall Kramer zu lassen.«
»Tun wir das?«
»Er befiehlt mir, nicht mehr mit Ihnen zu reden. Er sagt, dass er Ihr Versetzungsgesuch ablehnen wird.«
Sie war sichtlich betroffen und blickte zu Boden.
»Scheiße«, meinte sie.
»Tut mir Leid«, sagte ich. »Ich weiß, dass Sie sich diese Versetzung gewünscht haben.«
Sie sah mich wieder an.
»Ist das mit dem Fall Kramer sein Ernst?«, fragte sie.
Ich nickte. »Er meint alles ernst. Er hat mich auf dem Flughafen verhaften lassen, um das zu unterstreichen.«
»Verhaften?«
Ich nickte erneut. »Jemand hat mich wegen der beiden Typen auf dem Parkplatz verpfiffen.«
»Wer?«
»Einer der Soldaten, die zugesehen haben.«
»Einer von unseren Leuten? Wer?«
»Weiß ich nicht.«
»Scheiße!«
Ich nickte. »Das ist mir noch nie passiert.«
Sie schwieg wieder.
»Wie geht’s Ihrer Mom?«, fragte sie dann.
»Sie hat sich das Bein gebrochen«, sagte ich. »Keine große Sache.«
»Alte Leute können Lungenentzündung bekommen.«
Ich nickte erneut. »Sie hat sich röntgen lassen. Keine Lungenentzündung.«
»Darf ich die auf der Hand liegende Frage stellen?«, sagte sie.
»Gibt’s denn eine?«
»Schwere Körperverletzung an Zivilisten ist ein ernstes Vergehen. Offenbar gibt’s eine Anzeige und eine Zeugenaussage, die für eine Verhaftung ausgereicht haben.«
»Und?«
»Und warum laufen Sie dann noch frei hier herum?«
»Willard lässt die Anzeige vorerst ruhen.«
»Aber wieso, wenn er ein Arschloch ist?«
»Aus Respekt vor meinen früheren Erfolgen, hat er mir erklärt.«
»Nehmen Sie ihm das ab?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Mit der Anzeige muss irgendwas nicht in Ordnung sein«, sagte ich. »Ein Arschloch wie Willard würde sie verwenden, wenn er könnte, das steht fest. Meine früheren Erfolge sind ihm scheißegal.«
»An der Anzeige kann’s nicht liegen. Ein militärischer Augenzeuge ist geradezu ideal. Er sagt aus, was ihm befohlen wird. Das ist praktisch so, als hätte Willard die Anzeige selbst geschrieben.«
Ich sagte nichts darauf.
»Und wozu sind Sie überhaupt hier?«, fragte sie.
Ich hörte Joe sagen: Stell fest, wer dich so dringend in Fort Bird haben wollte, dass er dich aus Panama abgezogen und durch ein Arschloch ersetzt hat.
»Keine Ahnung«, gab ich zur Antwort. »Ich weiß überhaupt nichts. Erzählen Sie mir von Oberstleutnant Norton.«
»Wir sind nicht mehr mit dem Fall befasst.«
»Dann erzählen Sie’s mir nur interessehalber.«
»Sie kommt nicht in Frage. Sie hat ein Alibi. Sie war in einer Bar außerhalb des Stützpunkts. Die ganze Nacht über. Gemeinsam mit ungefähr hundert weiteren Gästen.«
»Wer ist sie?«
»Sie ist Dozentin an der Schule für psychologische Kriegsführung. Eine Psychologin mit dem Fachgebiet Psychosexualität, die sich darauf spezialisiert, die emotionale Stabilität eines Gegners durch Angriffe auf sein Männlichkeitsbewusstsein zu unterminieren.«
»Klingt nach einer Frau, mit der man Spaß haben kann.«
»Sie war zur Party in der Bar eingeladen. Jemand muss sie für eine Frau halten, mit der man Spaß haben kann.«
»Haben Sie überprüft, wer Vassell und Coomer hergefahren hat?«
Summer nickte. »Im Wachbuch am Haupttor steht er als Major Marshall. Ich habe mich über ihn informiert und festgestellt, dass er vom XII. Korps zur zeitweiligen Dienstleistung ins Pentagon abkommandiert ist. Irgendeine Art Wunderknabe. Er ist seit November hier drüben.«
»Haben Sie die Telefongespräche der beiden vom Hotel aus kontrolliert?«
Sie nickte erneut.
»Es hat keine gegeben«, sagte sie. »Vassell ist um null Uhr achtundzwanzig angerufen worden. Ich nehme an, dass das der Anruf vom XII. Korps in Deutschland war. Keiner der beiden hat nach draußen telefoniert.«
»Überhaupt nicht?«
»Kein einziges Mal.«
»Wissen Sie das bestimmt?«
»Ganz bestimmt. Alle Telefongespräche werden elektronisch vermittelt. Wählt man die Neun, um ein Amt zu bekommen, registriert der Computer das Gespräch automatisch. Das muss er wegen der Rechnung.«
Sackgasse.
»Okay«, sagte ich. »Vergessen Sie die ganze Sache.«
»Wirklich?«
»Befehl ist Befehl«, sagte ich. »Die Alternative wären Anarchie und Chaos.«
 
Ich ging in mein Dienstzimmer zurück und rief in Rock Creek an. Willard war um diese Zeit bestimmt nicht mehr da. Er gehörte zu den Leuten, die ihr ganzes Leben lang die Arbeitszeiten eines Bankers einhalten. Ich bekam einen Kompanieschreiber ans Telefon und bat ihn, ein Exemplar des Befehls herauszusuchen, mit dem ich von Panama nach Fort Bird versetzt worden war. Es dauerte fünf Minuten, bis er sich wieder meldete. Diese Zeit verbrachte ich damit, Summers Listen zu studieren. Sie waren voller Namen, die mir nichts sagten.
»Ich habe Ihren Versetzungsbefehl jetzt vor mir liegen, Sir«, sagte der Soldat am Telefon.
»Wer hat ihn unterschrieben?«, fragte ich.
»Oberst Garber, Sir.«
»Danke«, sagte ich und legte auf. Anschließend saß ich zehn Minuten lang da und fragte mich, warum alle Leute mich belogen. Doch dann vergaß ich diese Frage, weil mein Telefon wieder klingelte und ein junger Gefreiter der Militärpolizei, der sich auf einer routinemäßigen Streifenfahrt befand, mir meldete, er habe im Wald einen Ermordeten entdeckt. Der Tote war offenbar scheußlich zugerichtet. Mein Mann musste zweimal unterbrechen, um sich zu übergeben, bevor er seine Meldung beenden konnte.