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Wir gingen ins Motel zurück und brachten den Jungen dazu, uns die ganze Geschichte noch einmal zu erzählen. Er war mürrisch und nicht sehr gesprächig, aber er gab einen guten Zeugen ab. Das tun wenig hilfsbereite Leute oft. Sie versuchen nicht, einem zu gefallen. Sie versuchen nicht, einen zu beeindrucken. Sie erfinden nicht alles Mögliche, weil sie einem erzählen wollen, was man hören möchte.
Er hatte im Büro gesessen, allein, ohne irgendwas zu tun, als er gegen 23.25 Uhr hörte, wie eine Autotür zugeschlagen wurde. Dann war ein großer Turbodiesel angesprungen. Er schilderte das Krachen, mit dem der Rückwärtsgang eingelegt wurde, und das Klicken der einrastenden Differenzialsperre. Dann waren Reifengeräusche, Motorenlärm und knirschender Kies zu hören gewesen, als ein sehr großer, schwerer Wagen davonraste. Der Junge war von seinem Hocker aufgestanden und hinausgelaufen, um nachzusehen, hatte den Wagen aber nicht mehr zu Gesicht bekommen.
»Warum haben Sie im Zimmer nachgesehen?«, fragte ich ihn.
Er zuckte mit den Schultern. »Ich dachte, dort könnte es brennen.«
»Brennen?«
»Solche Sachen machen die Leute in Billigmotels. Sie setzen ihr Zimmer in Brand. Und dann hauen sie schleunigst ab. Nur so zum Spaß. Oder wegen sonst was. Keine Ahnung. Jedenfalls war’s ungewöhnlich.«
»Woher wussten Sie, in welchem Zimmer Sie nachsehen mussten?«
Über diesen Punkt schwieg er sich beharrlich aus. Summer bemühte sich, ihm eine Antwort zu entlocken. Dann setzte ich ihm zu. Wir wechselten uns als guter Cop und böser Cop ab. Schließlich gab er zu, Kramers Zimmer sei als einziges für die ganze Nacht vergeben gewesen. Alle anderen wurden stundenweise an Gäste vermietet, die nicht mit dem Auto, sondern zu Fuß aus der Bar herüberkamen. Deshalb war er sich auch ganz sicher, dass sich keine Nutte in Kramers Zimmer befunden hatte. Er war fürs Ein- und Auschecken verantwortlich. Kassierte die Stundenmiete und gab die Schlüssel aus. Kontrollierte ihr Kommen und Gehen. Daher wusste er immer, wer wo war. Das gehörte zu seinen Pflichten. Der Teil seiner Beschäftigung, von dem er niemandem erzählen durfte.
»Jetzt bin ich meinen Job los«, sagte er.
Das machte ihm solche Sorgen, dass ihm Tränen in die Augen traten, Summer beruhigte ihn. Danach berichtete er, wie er Kramers Leiche entdeckt, die Cops benachrichtigt und vorsichtshalber alle Stundengäste weggeschickt hatte. Deputy Chief Stockton war nach ungefähr einer Viertelstunde aufgekreuzt, ich eine Weile nach ihm. Bei meinem späteren Wegfahren hatte er die gleichen Autogeräusche wie zuvor gehört. Den gleichen Motorenlärm, das gleiche Heulen des Antriebsstrangs, die gleichen Rollgeräusche. Das klang überzeugend. Da er schon zugegeben hatte, dass das Motel ständig von Nutten genutzt wurde, gab es keinen Grund mehr, uns zu belügen. Und Humvees waren noch relativ neu und selten. Und ihr Fahrgeräusch war charakteristisch. Deshalb glaubte ich ihm. Wir traten hinaus ins Freie.
»Keine Nutte«, stellte Summer fest. »Stattdessen eine Frau vom Stützpunkt.«
»Eine Offizierin«, sagte ich. »Vielleicht eine ziemlich hohe. Eine, die ständig Zugang zu ihrem eigenen Humvee hat. Niemand holt sich vor einem Rendezvous einen Wagen von der Fahrbereitschaft. Und sie hat seinen Aktenkoffer. Sie muss ihn haben.«
»Sie ist bestimmt leicht zu finden. Sie wird mit Aus- und Einfahrtszeit im Wachbuch stehen.«
»Möglicherweise bin ich ihr sogar unterwegs begegnet. Wenn sie hier um kurz vor halb zwölf wegfuhr, war sie nicht vor Viertel nach zwölf wieder in Bird. Um diese Zeit bin ich gerade aufgebrochen.«
»Wenn sie direkt zum Stützpunkt zurückgefahren ist.«
»Ja, wenn.«
»Haben Sie unterwegs ein Humvee gesehen?«
»Ich glaube nicht.«
»Wer ist sie Ihrer Meinung nach?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Hier gilt, was wir für die vermeintliche Nutte angenommen haben. Eine Frau, die er irgendwo kennen gelernt hat. Vielleicht in Irwin, aber es kann überall gewesen sein.«
Ich starrte zur Tankstelle hinüber. Beobachtete die auf dem Highway vorbeifahrenden Autos.
»Vassell und Coomer könnten sie kennen«, meinte Summer. »Sie wissen schon, falls Kramer schon länger ein Verhältnis mit dieser Frau hatte.«
»Ja, das wäre möglich.«
»Wo sind die beiden Ihrer Meinung nach?«
»Keine Ahnung«, sagte ich. »Aber ich wette, dass ich sie finde, wenn ich sie brauche.«
 
Ich fand sie nicht. Sie fanden mich. Sie warteten in meinem geliehenen Dienstzimmer auf mich, als wir zurückkamen. Summer setzte mich vor meiner Tür ab und fuhr weiter, um den Wagen abzuliefern. Ich ging durchs Vorzimmer. Am Schreibtisch saß wieder die Sergeantin vom Nachtdienst. Die Frau aus den Bergen, die einen kleinen Sohn hatte und sich Sorgen wegen ihres Gehaltsschecks machte. Aus der Handbewegung, mit der sie auf die innere Tür zeigte, schloss ich, dass dort drinnen jemand war. Jemand mit viel höherem Dienstgrad als sie oder ich.
»Gibt’s Kaffee?«, fragte ich.
»Die Maschine ist an«, antwortete sie.
Ich nahm den Becher mit hinein. Mein Jackett war noch immer aufgeknöpft, mein Haar zerzaust. Ich sah genau wie ein Kerl aus, der von einer Schlägerei auf einem Parkplatz kommt. Ich ging geradewegs zu meinem Schreibtisch. Auf den Besucherstühlen an der Wand saßen zwei Männer, die mich anstarrten. Beide trugen Kampfanzüge mit dem Tarnmuster »Waldland«. Der eine hatte an seinen Kragenecken den Stern eines Brigadegenerals, der andere den Adler eines Oberst. Auf dem Namensschild des Generals stand Vassell, auf dem des Oberst Coomer. Vassell hatte eine Glatze, und Coomer trug eine Brille, und beide sahen aufgeblasen, alt, klein und weichlich genug aus, um im Kampfanzug ein wenig lächerlich zu wirken. Wie Rotarier auf dem Weg zu einem Maskenball. Mein erster Eindruck war, dass ich sie nicht besonders mochte.
Ich setzte mich in meinen Sessel und entdeckte auf der Schreibunterlage zwei exakt ausgerichtete Zettel. Der erste war eine Telefonnotiz, auf der stand: Ihr Bruder hat wieder angerufen. Dringend. Diesmal war eine Telefonnummer angegeben. Mit der Vorwahl 202. Washington, D. C.
»Sie grüßen höhere Offiziere wohl nicht?«, erkundigte sich Vassell.
Die zweite Telefonnotiz besagte: Anruf von Oberst Garber. Laut Polizei Green Valley ist Mrs. K. gegen zwei Uhr verstorben. Ich faltete beide Zettel einzeln zusammen und schob sie nebeneinander unter mein Telefon. Rückte sie so zurecht, dass ich beide genau halb im Blick hatte. Hob dann rechtzeitig den Kopf, um zu sehen, wie Vassell mich wütend anfunkelte. Seine Glatze lief allmählich rot an.
»Entschuldigung«, begann ich. »Was haben Sie gleich wieder gefragt?«
»Grüßen Sie höhere Offiziere nicht, wenn Sie einen Raum betreten?«
»Wenn sie Vorgesetzte sind«, sagte ich. »Aber Sie sind keine.«
»Das betrachte ich nicht als Antwort«, sagte er.
»Sehen Sie selbst nach«, erklärte ich. »Ich bin beim 110th Special Unit. Wir sind autark. Strukturell gehören wir nicht zum Rest der Army. Das muss so sein, wenn man’s sich recht überlegt. Wir könnten Sie nicht überwachen, wenn wir Ihnen unterstellt wären.«
»Ich bin nicht gekommen, um überwacht zu werden, junger Mann«, entgegnete er.
»Wozu sind Sie sonst hier? Für einen Höflichkeitsbesuch ist es ein bisschen spät.«
»Ich bin hier, um Ihnen ein paar Fragen zu stellen.«
»Fragen Sie nur«, sagte ich. »Anschließend habe ich ein paar Fragen an Sie. Und wissen Sie, was der Unterschied sein wird?«
Er gab keine Antwort.
»Ich werde aus Höflichkeit antworten«, sagte ich. »Sie werden antworten, weil das Militärstrafgesetzbuch es Ihnen vorschreibt.«
Er schwieg, musterte mich nur finster. Dann sah er zu Coomer hinüber. Dieser erwiderte seinen Blick und wandte sich dann an mich.
»Wir sind wegen General Kramer hier«, erklärte er. »Wir gehören zu seinem Stab.«
»Ich weiß, wer Sie sind«, sagte ich.
»Erzählen Sie uns von dem General.«
»Er ist tot«, sagte ich.
»Das wissen wir. Wir möchten Näheres über die Umstände erfahren.«
»Er hatte einen Herzinfarkt.«
»Wo?«
»In seinem Brustkorb.«
Vassell funkelte mich an.
»Wo ist er gestorben?«, fragte Coomer.
»Das darf ich Ihnen nicht sagen. Das betrifft noch laufende Ermittlungen.«
»In welcher Weise?«, wollte Vassell wissen.
»Auf vertrauliche Weise.«
»Es war irgendwo hier in der Nähe«, sagte er. »So viel ist inzwischen bekannt.«
»Nun, da haben wir’s«, sagte ich. »Worum geht’s bei der Konferenz in Irwin?«
»Was?«
»Bei der Konferenz in Irwin«, wiederholte ich. »Zu der Sie alle wollten.«
»Was soll mit der sein?«
»Ich muss wissen, was auf der Tagesordnung stand.«
Vassell sah zu Coomer, und Coomer wollte mir gerade etwas mitteilen, als mein Telefon klingelte. Meine Sergeantin rief aus dem Vorzimmer an. Summer war bei ihr, und sie wusste nicht, ob sie sie reinschicken sollte. Ich bejahte. Also wurde angeklopft, und Summer trat ein. Ich stellte sie den Besuchern vor. Sie zog einen freien Stuhl heran und setzte sich so neben mich, dass sie die beiden im Blick hatte. Zwei gegen zwei. Ich zog die zweite Telefonnotiz heraus und gab sie ihr: Laut Polizei Green Valley ist Mrs. K. gegen zwei Uhr verstorben. Sie faltete den Zettel auseinander, las die Mitteilung, legte ihn wieder zusammen und gab ihn mir zurück. Ich steckte ihn wieder unters Telefon. Dann fragte ich Vassell und Coomer erneut nach der Tagesordnung für Irwin und stellte fest, dass ihre Einstellung sich veränderte. Sie wurden nicht etwa auskunftsfreudiger, aber da jetzt eine Frau anwesend war, verzichteten sie auf offene Feindseligkeit und ersetzten sie durch selbstgefällige, gönnerhafte Höflichkeit.
»Das sollte eine reine Routinesache sein«, erklärte Coomer. »Bloß eines unserer regelmäßigen Palaver. Nichts wirklich Wichtiges.«
»Was erklärt, weshalb Sie dann doch nicht hingeflogen sind«, sagte ich.
»Natürlich. Wir haben’s für angebracht gehalten, hier zu bleiben. Sie wissen schon, wegen der Umstände.«
»Wie haben Sie von Kramers Tod erfahren?«
»Das XII. Korps hat uns angerufen.«
»Aus Deutschland?«
»Dort steht das XII. Korps, junger Mann«, antwortete Vassell.
»Wo haben Sie gestern übernachtet?«
»In einem Hotel«, sagte Coomer.
»In welchem?«
»Im Jefferson. In Washington, D. C.«
»Privat oder mit Militärgutscheinen?«
»Das Hotel ist für Stabsoffiziere zugelassen.«
»Wieso hat General Kramer nicht dort übernachtet?«
»Weil er andere Vereinbarungen getroffen hatte.«
»Wann?«
»Wann was?«, fragte Coomer.
»Wann hat er diese anderen Vereinbarungen getroffen?«
»Vor einigen Tagen.«
»Das Ganze war also kein plötzlicher Einfall?«
»Nein.«
»Wissen Sie, was er vereinbart hatte?«
»Offensichtlich nicht«, entgegnete Vassell. »Sonst würden wir Sie nicht fragen, wo er gestorben ist.«
»Sie dachten nicht, er besuche vielleicht seine Frau?«
»Hat er’s getan?«
»Nein«, sagte ich. »Wozu müssen Sie wissen, wo er gestorben ist?«
Nun entstand eine lange Pause. Ihre Einstellung änderte sich erneut. Die Selbstzufriedenheit fiel von ihnen ab und machte einer Art gewinnender Offenheit Platz.
»Wir müssen’s nicht wirklich wissen«, sagte Vassell. Er beugte sich nach vorn und sah kurz zu Summer, als wünschte er sich, sie wäre nicht anwesend. Als sollte diese neue Intimität nur von Mann zu Mann, nur zwischen uns beiden gelten. »Und obwohl wir keinerlei spezifische Informationen oder direkte Kenntnis besitzen, sind wir besorgt, General Kramers private Vereinbarungen könnten im Licht der Begleitumstände potenziell zu Peinlichkeiten führen.«
»Wie gut haben Sie ihn gekannt?«
»Auf beruflicher Ebene zweifellos sehr gut. Auf privater ungefähr so gut, wie jeder seine Offizierskameraden kennt. Also vielleicht doch nicht gut genug.«
»Aber Sie haben einen ganz allgemeinen Verdacht, wie seine Vereinbarungen ausgesehen haben könnten.«
»Ja«, sagte er. »Das haben wir.«
»Es war also keine Überraschung, dass er nicht im Hotel übernachtet hat?«
»Nein«, sagte er.
»Und es war keine Überraschung, als er Ihnen erzählt hat, er besuche nicht seine Frau?«
»Keine völlige, nein.«
»Sie konnten sich also ungefähr denken, was er vorhatte, aber Sie wussten nicht, wo.«
Vassell nickte. »Ungefähr.«
»Wussten Sie, mit wem er’s tun wollte?«
Vassell schüttelte den Kopf.
»Genaueres ist uns nicht bekannt«, meinte er.
»Okay«, sagte ich. »Ist nicht weiter wichtig. Sie kennen die Army bestimmt gut genug, um zu wissen, dass wir bei unseren Ermittlungen alles vertuschen würden, was potenziell zu Peinlichkeiten führen könnte.«
Nun entstand eine lange Pause.
»Sind sämtliche Spuren beseitigt worden?«, fragte Coomer. »Wo immer es sich abgespielt hat?«
Ich nickte. »Wir haben seine Sachen sichergestellt.«
»Gut.«
»Ich brauche die Tagesordnung für Irwin«, wiederholte ich.
Wieder eine Pause.
»Es hat keine gegeben«, erklärte Vassell.
»Garantiert hat’s eine gegeben«, sagte ich. »Wir sind in der Army. Nicht in einer Schauspielschule. Wir machen kein Improvisationstheater.«
»Es hat nichts Schriftliches gegeben«, sagte Coomer. »Die Tagung war wie gesagt keine große Sache, Major.«
»Womit haben Sie den heutigen Tag verbracht?«
»Mit der Verfolgung von Gerüchten über den General.«
»Wie sind Sie von Washington hergekommen?«
»Das Pentagon hat uns einen Wagen mit Fahrer zur Verfügung gestellt.«
»Sie wohnen nicht mehr im Jefferson?«
»Nein.«
»Also befindet sich Ihr Gepäck im Dienstwagen des Pentagon.«
»Richtig.«
»Wo steht der Wagen?«
»Unten vor Ihrem Stabsgebäude.«
»Das ist nicht mein Stabsgebäude«, sagte ich. »Ich bin nur hierher abkommandiert.«
Ich wandte mich zu Summer und wies sie an, die Aktenkoffer der beiden aus dem Wagen zu holen. Sie waren fuchsteufelswild, aber sie wussten, dass sie mich nicht daran hindern konnten. Zivile Auffassungen von ungerechtfertigter Durchsuchung, von Beschlagnahmung, Durchsuchungsbefehlen und begründetem Verdacht gelten ab dem Haupttor eines Militärstützpunktes nicht mehr. Während Summer unterwegs war, beobachtete ich die beiden. Sie waren verärgert, aber nicht besorgt. Also hatten sie die Wahrheit gesagt, was die Konferenz in Irwin betraf, oder die entsprechenden Papiere schon beseitigt. Trotzdem spielte ich die Sache pro forma bis zum Ende durch. Summer kam mit zwei identischen Aktenkoffern zurück. Sie glichen genau dem, den Kramer auf den Fotos im Silberrahmen bei sich hatte. Stabsoffiziere sind auf alle mögliche Weise Arschkriecher.
Ich durchsuchte die Aktenkoffer auf meinem Schreibtisch. In beiden fand ich Pässe, Flugtickets, Reisegutscheine und Terminplaner. Aber keine Tagesordnung für Fort Irwin.
»Entschuldigen Sie die Unannehmlichkeiten«, sagte ich.
»Zufrieden, junger Mann?«, fragte Vassell.
»Mrs. Kramer ist auch tot«, sagte ich. »Wissen Sie das?«
Ich ließ sie nicht aus den Augen und stellte fest, dass sie’s nicht gewusst hatten. Sie starrten mich und einander an, wurden blass und nervös.
»Wie?«, fragte Vassell.
»Wann?«, fragte Coomer.
»Letzte Nacht«, gab ich zur Antwort. »Sie ist ermordet worden.«
»Wo?«
»In ihrem Haus. Von einem Eindringling.«
»Wissen wir, wer es war?«
»Nein, das wissen wir nicht. Dies ist nicht unser Fall. Mrs. Kramer war Zivilistin.«
»Was ist passiert? Ein Einbruch?«
»Damit könnte es angefangen haben.«
Sie schwiegen. Summer und ich begleiteten sie nach unten und sahen zu, wie sie in den Pentagon-Dienstwagen stiegen. Er war ein Mercury Grand Marquis, einige Jahre jünger als Mrs. Kramers alter Dampfer und schwarz statt grün. Ihr Fahrer, ein großer Mann im Kampfanzug, trug Namensschild und Rangabzeichen in der kleinen Ausführung, und ich konnte bei Dunkelheit weder Namen noch Dienstgrad erkennen. Aber er wirkte nicht wie ein Mannschaftsdienstgrad. Er wendete auf der leeren Straße und rauschte mit Vassell und Coomer davon. Wir beobachteten, wie die Heckleuchten sich nach Norden entfernten, das Haupttor passierten und dann im Dunkel verschwanden.
»Was denken Sie?«, sagte Summer.
»Ich denke, dass sie voller Scheiße sind«, antwortete ich.
»Voller wichtiger Scheiße oder gewöhnlicher Stabsoffiziersscheiße?«
»Sie lügen«, sagte ich. »Sie sind nervös, sie lügen, und sie sind dumm. Wieso macht Kramers verschwundener Aktenkoffer mir Sorgen?«
»Vertrauliche Unterlagen«, meinte sie. »Was immer er nach Kalifornien mitnehmen wollte.«
Ich nickte. »Die beiden Kerle haben es vorhin für mich definiert. Es ist die Tagesordnung selbst.«
»Wissen Sie bestimmt, dass es eine gegeben hat?«
»Eine Tagesordnung gibt’s immer. Und sie steht immer auf Papier. Will man das Hundefutter in den K-9-Zwingern ändern, braucht man dazu siebenundvierzig einzelne Besprechungen mit siebenundvierzig Tagesordnungen. Also hat’s auch eine für Irwin gegeben, das steht fest. Ihre Existenz zu leugnen, war völlig idiotisch. Hatten sie etwas zu verbergen, hätten sie behaupten können, sie sei so geheim, dass ich sie nicht sehen dürfe.«
»Vielleicht ist die Tagung wirklich nicht sehr wichtig.«
»Bockmist! Sie ist sehr wichtig.«
»Weshalb?«
»Weil ein Zweisternegeneral hingereist ist. Und ein Einsternegeneral. Und weil gestern Silvester war, Summer. Wer fliegt schon an Silvester und übernachtet in einem miesen Etappenhotel? Und dieser Jahreswechsel wurde in Deutschland besonders gefeiert. Die Berliner Mauer ist gefallen. Wir haben nach fünfundvierzig Jahren endlich gesiegt. Die Partys müssen unglaublich gewesen sein. Wer hätte sie wegen irgendeiner unwichtigen Tagung versäumen wollen? Wenn solche Typen an Silvester ein Flugzeug besteigen, muss diese Konferenz in Irwin verdammt wichtig gewesen sein.«
»Mrs. Kramers Tod hat sie verstört. Mehr als der Fall Kramer selbst.«
Ich nickte. »Vielleicht haben sie Mrs. Kramer gemocht.«
»Sie müssen auch Kramer gemocht haben.«
»Nein, er ist nur ein taktisches Problem. Auf ihrer Ebene werden solche Dinge unsentimental betrachtet. Sie haben sich an ihn gehängt, und nun da er tot ist machen sie sich Sorgen, was das für sie bedeuten kann.«
»Vielleicht eine Beförderung.«
»Vielleicht«, sagte ich. »Aber falls Kramer sich als Belastung erweist, könnten sie mit ihm untergehen.«
»Dann müssten sie jetzt beruhigt sein. Sie haben ihnen zugesichert, alles Unangenehme zu vertuschen.«
Ihre Stimme klang jetzt fast ein wenig streng. Als wollte sie andeuten, ich hätte besser daran getan, ihnen nichts dergleichen zu versprechen.
»Wir schützen die Army, Summer«, erklärte ich. »Wie Familienangehörige. Dafür sind wir da.« Ich hielt inne. »Aber ist Ihnen aufgefallen, dass sie auch danach nicht die Klappe gehalten haben? Sie hätten meinen Hinweis akzeptieren sollen. Vertuschung gefordert, Vertuschung zugesichert. Frage und Antwort, Auftrag ausgeführt.«
»Sie wollten wissen, wo seine Sachen sind.«
»Ja. Und wissen Sie, was das bedeutet? Es bedeutet, dass auch sie Kramers Aktenkoffer suchen. Wegen der Tagesordnung. Kramers Exemplar ist das einzige, das sie nicht selbst in Händen halten. Sie waren hier, um festzustellen, ob ich es habe.«
Summer sah in die Richtung, in die ihr Wagen verschwunden war. In der Luft hingen noch immer Auspuffgase. Säuerlicher Katalysatorgeruch.
»Wie funktionieren zivile Rettungsdienste?«, fragte ich sie. »Nehmen wir mal an, Sie wären meine Frau und ich hätte einen Herzanfall. Was tun Sie dann?«
»Ich rufe neun-eins-eins an.«
»Und was passiert anschließend?«
»Der Krankenwagen fährt vor. Bringt Sie in die Notaufnahme.«
»Und nehmen wir mal an, ich käme tot an. Wo wären Sie inzwischen?«
»Ich hätte Sie ins Krankenhaus begleitet.«
»Und wo wäre mein Aktenkoffer?«
»Zu Hause«, sagte sie. »Wo Sie ihn zurückgelassen hätten.« Sie machte eine Pause. »Was? Sie glauben, dass letzte Nacht jemand in Mrs. Kramers Haus war, um den Aktenkoffer zu suchen?«
»Das wäre eine plausible Abfolge«, sagte ich. »Irgendwer hört, dass er einen tödlichen Herzinfarkt gehabt hat, nimmt an, der Tod sei im Krankenwagen oder in der Notaufnahme eingetreten, vermutet weiterhin, seine Frau habe ihn begleitet, fährt hin und erwartet, ein leeres Haus mit einem Aktenkoffer darin vorzufinden.«
»Aber Kramer war nie dort.«
»Trotzdem war’s eine vernünftige Annahme.«
»Sie verdächtigen Vassell und Coomer?«
Ich schwieg.
»Das ist verrückt«, meinte Summer. »Die beiden sind nicht der Typ für so was.«
»Lassen Sie sich durch ihr Aussehen nicht täuschen. Sie sind bei der Panzertruppe und haben ihr Leben lang geübt, alles niederzuwalzen, was sich ihnen in den Weg stellt. Aber in ihrem Fall stimmt das Timing nicht, glaube ich. Nehmen wir mal an, Garber hätte das XII. Korps frühestens um null Uhr fünfzehn angerufen. Nehmen wir weiterhin an, das Korps hätte frühestens um halb eins im Hotel Jefferson angerufen. Green Valley liegt siebzig Autominuten von Washington entfernt, und Mrs. Kramer ist um zwei Uhr gestorben. Dann hätten sie maximal zwanzig Minuten Zeit gehabt, um auf die Meldung zu reagieren. Sie waren gerade vom Flughafen angekommen, also hatten sie kein Auto und hätten sich erst eines besorgen müssen. Und sie hatten bestimmt kein Brecheisen bei sich. Niemand reist für alle Fälle mit einem Brecheisen im Koffer. Und ich bezweifle, dass am Neujahrsmorgen nach null Uhr noch ein Baumarkt geöffnet hatte.«
»Also ist noch jemand anders auf der Suche?«
»Wir müssen diese Tagesordnung finden«, sagte ich. »Sonst kommen wir nicht weiter.«
 
Ich schickte Summer mit drei Aufträgen los. Sie sollte erstens eine Liste aller weiblichen Offiziere in Fort Bird erstellen, die Zugang zu einem eigenen Humvee hatten, zweitens diejenigen von ihnen auflisten, die Kramer aus Fort Irwin in Kalifornien kennen konnten, und drittens im Hotel Jefferson in Washington anrufen und sich Vassells und Coomers genaue Ankunfts- und Abreisezeit sowie Auskunft über die von ihnen geführten Telefongespräche geben lassen. Ich ging wieder in mein Dienstzimmer, legte Garbers Mitteilung ab, breitete den Zettel mit der Telefonnummer meines Bruders vor mir aus und wählte die angegebene Nummer. Er meldete sich nach dem ersten Klingeln.
»He, Joe«, sagte ich.
»Jack?«
»Was gibt’s?«
»Hab einen Anruf gekriegt.«
»Von wem?«
»Von Moms Arzt.«
»Weswegen?«
»Sie stirbt.«