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Sanchez erklärte uns, die Gerichtsmediziner in Columbia hätten bei Brubaker unterschiedlich ausgebildete Totenflecke festgestellt, die ihrer Ansicht nach bewiesen, dass er schon ungefähr drei Stunden tot gewesen war, als man ihn auf der Gasse zurückließ. Toten- oder Leichenflecke bilden sich nach dem Tod eines Menschen. Das Herz bleibt stehen, der Blutdruck fällt ab, und das Blut sackt durch die Schwerkraft in die tiefsten Körperstellen. Dort bildet es nach einiger Zeit bläulich purpurrote Hautflecken. Drei bis sechs Stunden später wird diese Färbung wie bei einem entwickelten Foto permanent fixiert. Ein Mensch, der tot auf dem Rücken landet, hat dann eine blasse Brust und einen purpurroten Rücken. Das Umgekehrte gilt für einen Menschen, der aufs Gesicht fällt. Aber Brubaker wies überall Totenflecke auf. Die Gerichtsmediziner in Columbia vermuteten, er sei ermordet worden, habe danach ungefähr drei Stunden auf dem Rücken gelegen und sei dann auf den Bauch gedreht in der Gasse zurückgelassen worden. Was die Dreistundenfrist betraf, waren sie sich ihrer Sache ziemlich sicher, denn nach drei Stunden begann die Fixierung der Flecke. Sie hatten frühzeitig fixierte Totenflecke auf dem Rücken der Leiche und später dann auf deren Vorderseite gefunden. Außerdem einen breiten Streifen auf ihrem Rücken, wo das Fleisch erwärmt worden war.
»Er hat im Kofferraum eines Autos gelegen«, erklärte ich.
»Genau über dem Schalldämpfer«, sagte Sanchez. »Drei Stunden Fahrt, reichlich Hitze.«
»Das ändert vieles.«
»Es erklärt auch, warum sie seinen Chevy nicht in Columbia finden konnten.«
»Oder irgendwelche Zeugen«, sagte ich. »Oder die Patronenhülsen oder die Geschosse.«
»Was bedeutet das praktisch?«
»Drei Stunden mit dem Auto?«, sagte ich. »Nachts auf leeren Straßen? Ein Gebiet mit einem Radius bis zu zweihundert Meilen.«
»Das ist ein ziemlich großer Umkreis«, stellte Sanchez fest.
»Über dreihundertzwanzigtausend Quadratkilometer«, sagte ich. »Pi mal Radius hoch zwei. Was unternimmt das Columbia PD in dieser Sache?«
»Es lässt sie wie eine heiße Kartoffel fallen. Jetzt ist das FBI dafür zuständig.«
»Was hält das Bureau von dem angeblichen Drogenhandel?«
»Sie sind etwas skeptisch. Rechnen sich aus, dass Heroin nicht unbedingt unser Fall ist und wir eher auf Marihuana und Amphetamine stehen.«
»Schön wär’s«, sagte ich. »Ich könnte jetzt ein bisschen von beidem brauchen.«
»Andererseits wissen sie, dass die Delta-Männer überall im Einsatz sind. Pakistan, Südamerika. Dort kommt das Heroin her. Deshalb werden sie’s für den Fall, dass sie nicht weiterkommen, in Reserve halten - genau wie’s das Columbia PD getan hat.«
»Damit vergeuden sie ihre Zeit. Heroin? Ein Kerl wie Brubaker wäre lieber gestorben.«
»Sie vermuten, er könnte genau deshalb umgebracht worden sein.«
Am anderen Ende wurde aufgelegt. Ich schaltete den Lautsprecher aus und legte den Hörer auf die Gabel zurück.
»Wahrscheinlich ist es irgendwo im Norden passiert«, sagte Summer. »Brubaker ist in Raleigh losgefahren. Wir sollten seinen Wagen irgendwo dort oben suchen.«
»Nicht unser Fall.«
»Okay, das FBI sollte ihn dort suchen.«
»Das tun sie bestimmt schon.«
Dann klopfte jemand an die Tür, und ein MP-Korporal kam mit einer Klarsichthülle unter dem Arm herein. Er salutierte zackig, trat einen Schritt vor und legte die Hülle auf meinen Schreibtisch. Ging wieder einen Schritt zurück und salutierte nochmals.
»Fotokopien des Wachbuchs vom Haupttor, Sir«, meldete er. »Erster bis Vierter dieses Monats, Zeiten wie von Ihnen angegeben.«
Er machte kehrt und verließ mein Dienstzimmer. Ich betrachtete die Klarsichthülle. Sie enthielt sieben oder acht Blatt Papier. Nicht allzu schlimm.
»An die Arbeit!«, sagte ich.
 
Das Unternehmen »Gerechte Sache« kam uns wieder zu Hilfe. Die erhöhte Verteidigungsbereitschaft bedeutete, dass man viele Urlaube gestrichen hatte. Eigentlich ohne rechten Grund, weil die Geschichte in Panama keine große Sache war, aber so funktionierte das Militär eben. Zwecklos, die Verteidigungsbereitschaft abzustufen, wenn sie nicht herabgesetzt oder erhöht werden konnte, und zwecklos, sie überhaupt zu ändern, wenn das keine Konsequenzen nach sich zog. Zwecklos, ein kleines Auslandsdrama zu inszenieren, wenn das gesamte Establishment dabei nicht einen vagen Schauder verspürte.
Auch zwecklos, Urlaube zu streichen, ohne die Leute anderweitig zu beschäftigen. Deshalb waren zusätzliche Ausbildungseinheiten und tägliche Bereitschaftsübungen angesetzt. Die meisten waren anstrengend und begannen früh am Morgen. Für uns brachte das den großen Vorteil, dass fast alle, die an Silvester unterwegs gewesen waren, relativ früh zurückgekommen und in die Falle gegangen waren. Sie mussten die Wache gegen drei, vier oder fünf Uhr morgens passiert haben, denn nach sechs Uhr waren nur noch sehr wenige Einfahrten verzeichnet.
In den achtzehn Stunden, die uns am Neujahrstag interessierten, waren neunzehn Personen auf den Stützpunkt gekommen, zwei davon Summer und ich - von dem Besuch bei der Witwe in Green Valley und aus dem Walter Reed Hospital in Washington, D. C., zurückkehrend. Wir strichen uns von der Liste.
Am zweiten Januar hatten außer uns beiden sechzehn Personen das Tor passiert. Am dritten Januar waren es zwölf, am vierten bis zwanzig Uhr siebzehn gewesen. Insgesamt zweiundsechzig Namen in den in Frage kommenden sechsundachtzig Stunden. Neun davon, zivile Lastwagenfahrer, strichen wir von der Liste. Elf Personen tauchten mehrmals auf. Sie waren hereingekommen, hinausgefahren und wieder hereingekommen. Wie berufstätige Pendler. Meine Nachtschicht-Sergeantin gehörte zu ihnen. Wir strichen sie, weil sie eine Frau und klein war. Ansonsten strichen wir jeweils die zweite und alle weiteren Einfahrten durchs Haupttor.
Das ergab eine Liste mit einundvierzig Personen, alle mit Namen, Dienstgrad und abgekürzten Vornamen aufgeführt. Daran ließ sich nicht erkennen, welche Personen Männer und welche Frauen, und auch nicht, welche Männer groß und kräftig und Rechtshänder waren.
»Ich stelle erst mal fest, wer was ist«, erklärte Summer. »Ich habe noch die gesamten Personallisten. Auf denen stehen die vollständigen Namen.«
Ich nickte. Hängte mich ans Telefon. Trieb den Pathologen auf und bat ihn, sich sofort mit mir vor der Leichenhalle zu treffen.
 
Ich fuhr mit dem Chevy von meiner Dienststelle zu seiner, weil ich nicht wollte, dass jemand mich mit einem Brecheisen herumlaufen sah, parkte vor dem Eingang der Leichenhalle und wartete. Der Mann tauchte innerhalb von fünf Minuten auf - zu Fuß aus Richtung O Club. Wahrscheinlich hatte ich ihn vom Nachtisch weggeholt. Vielleicht sogar vom Hauptgang. Ich stieg aus, um ihn zu begrüßen, beugte mich wieder in den Wagen und nahm das Brecheisen vom Rücksitz. Er warf einen Blick darauf, schien zu verstehen, was ich wollte. Wir gingen in sein Dienstzimmer. Dort machte er Licht, schloss seine Schreibtischschublade auf und nahm das Brecheisen heraus, mit dem Carbone erschlagen worden war. Legte es auf den Schreibtisch. Ich legte das ausgeliehene Exemplar daneben. Wickelte es aus dem Seidenpapier. Richtete die beiden Werkzeuge parallel aus. Sie waren völlig identisch.
»Gibt’s große Unterschiede?«, fragte der Pathologe. »Bei Brecheisen?«
»Mehr, als man für möglich halten möchte«, antwortete ich. »Ich habe mir heute einen Vortrag über Brecheisen angehört.«
»Diese beiden sehen gleich aus.«
»Sie sind auch gleich. Wie Erbsen aus derselben Schote. Darauf können Sie Gift nehmen. Sie werden nur auf Bestellung angefertigt und sind weltweit einzigartig.«
»Haben Sie Carbone persönlich gekannt?«
»Nur flüchtig«, sagte ich.
»Wie war seine Haltung?«
»In welcher Beziehung?«
»Hat er sich krumm gehalten?«
Ich dachte an das düstere Innere des Striplokals und an den hell beleuchteten Parkplatz. Schüttelte den Kopf.
»Dafür war er nicht groß genug«, erwiderte ich. »Er sah drahtig, muskulös aus, hat sich ziemlich gerade gehalten. Wirkte sportlich, immer wie auf dem Sprung.«
»Okay.«
»Wieso?«
»Der Schlag wurde von schräg oben geführt. Nicht wie ein Axthieb, aber ein horizontaler Schwung, der vor dem Auftreffen etwas abgesackt ist. Vielleicht knapp unterhalb der Waagrechten. Carbone war eins achtundsiebzig groß. Hat er aufrecht dagestanden, war die Verletzung eins fünfundsechzig über dem Boden. Aber der Schlag ist von oben gekommen. Also war der Angreifer groß.«
»Das haben Sie uns bereits erklärt«, sagte ich.
»Nein, ich meine groß«, sagte er. »Ich habe mich eingehend damit befasst, mir den Ablauf überlegt. Der Kerl muss eins dreiundneunzig bis eins sechsundneunzig groß gewesen sein.«
»Wie ich«, sagte ich.
»Und auch so schwer wie Sie. Nicht leicht, jemandem den Schädel so zu zertrümmern.«
Ich stellte mir den Tatort vor. Erinnerte mich an einzelne trockene Grasbüschel und hier und da armdicke Äste auf dem Boden, aber im Prinzip war das Gelände ziemlich eben. Unmöglich, dass ein Mann höher als der andere gestanden haben konnte. Unmöglich, einen relativen Höhenunterschied anzunehmen, wenn es tatsächlich keinen gab.
»Eins dreiundneunzig bis eins fünfundneunzig«, sagte ich. »Könnten Sie das beschwören?«
»Vor Gericht?«
»Das war ein Dienstunfall«, entgegnete ich. »Wir gehen nicht vor Gericht. Diese Sache betrifft nur Sie und mich. Vergeude ich meine Zeit, wenn ich mich mit Kerlen befasse, die unter eins dreiundneunzig groß sind?«
Der Mediziner holte Atem.
»Eins neunzig«, sagte er. »Um ganz sicherzugehen. Um Luft für Fehler bei der Versuchsanordnung zu haben. Eins neunzig würde ich beschwören.«
»Okay.«
Er scheuchte mich aus der Tür, knipste das Licht aus und schloss wieder ab.
 
Als ich zurückkam, saß Summer untätig an meinem Schreibtisch. Sie war mit der Geschlechtsanalyse fertig. Dafür hatte sie nicht lange gebraucht. Wie der meiste Papierkram der Army waren die Personallisten umfassend, vollständig und alphabetisch geordnet.
»Dreiunddreißig Männer«, sagte sie. »Dreiundzwanzig Unteroffiziere und Mannschaften, zehn Offiziere.«
»Wer sind sie?«
»Von allem etwas. Bei Delta Force und Ranger herrscht völlige Urlaubssperre, aber sie hatten abends Ausgang. Sonst hätte Carbone am Neujahrstag nicht unterwegs sein können.«
»Ihn können wir streichen.«
»Okay, zweiunddreißig Männer«, sagte sie. »Der Pathologe gehört auch dazu.«
»Den können wir ebenfalls streichen.«
»Also einunddreißig. Und Vassell und Coomer stehen weiterhin auf der Liste. Sie waren am Neujahrstag und dann noch mal am Vierten hier.«
»Streichen«, sagte ich. »Sie haben hier zu Abend gegessen. Fisch und Steak.«
»Neunundzwanzig. Zweiundzwanzig Unteroffiziere und Mannschaften, sieben Offiziere.«
»Okay. Sie gehen jetzt zur Standortkommandantur und lassen sich aus ihren Personalakten die Gesundheitsbogen geben.«
»Wozu?«
»Um festzustellen, wie groß und schwer sie sind.«
»Bei dem Fahrer von Vassell und Coomer geht das nicht. Major Marshall. Er war nur ein Besucher. Seine Unterlagen liegen nicht hier.«
»Er hielt sich nicht in Bird auf, als Carbone ermordet wurde«, sagte ich. »Folglich können Sie ihn auch streichen.«
»Achtundzwanzig.«
»Schön, dann lassen Sie sich diese achtundzwanzig Gesundheitsbogen geben.«
Sie schob mir ein Stück Papier hin. Es war der weiße Notizzettel, auf den ich 973 geschrieben hatte. Die ursprüngliche Zahl der Verdächtigen.
»Wir machen Fortschritte«, meinte sie.
Ich nickte. Sie lächelte, stand auf und verließ den Raum. Ich nahm ihren Platz hinter dem Schreibtisch ein. Der Stuhl war noch warm. Ich genoss dieses Gefühl, bis es sich verflüchtigte. Dann nahm ich den Hörer ab und bat meine Sergeantin, mir den Leiter des hiesigen Versorgungsdepots ans Telefon zu holen. Sie brauchte ein paar Minuten, um ihn aufzutreiben.
»Ja, Sir?«, sagte der Mann. Das klang leicht verärgert.
»Ich habe eine Frage, Chief«, begann ich. »Die nur Sie beantworten können.«
»Nämlich?«
»Durchschnittsgröße und -gewicht eines Soldaten der U.S. Army.«
Der Mann antwortete nicht gleich, aber ich fühlte seine Verärgerung schwinden. Das Quartermaster Corps kauft jährlich Millionen von Uniformen und doppelt so viele Stiefel, alle mit Haushaltsmitteln, deshalb ist es nur logisch, dass es die Maße und Gewichte seiner Kunden auf den Zentimeter und das halbe Kilogramm genau kennt. Und es tut nichts lieber, als mit seinen Spezialkenntnissen zu glänzen.
»Kein Problem«, sagte der Mann. »Die männliche Bevölkerung der Vereinigten Staaten im Alter zwischen zwanzig und fünfzig Jahren ist durchschnittlich eins sechsundsiebzig groß und achtzig Kilo schwer. Im Vergleich zur Gesamtbevölkerung haben wir überdurchschnittlich viele Hispanics in der Army, was unsere Durchschnittsgröße auf eins vierundsiebzig drückt. Andererseits sind wir recht gut trainiert, was unser Durchschnittsgewicht auf zweiundachtzig Kilo erhöht, weil Muskeln im Allgemeinen schwerer als Fett sind.«
»Das sind die Zahlen für dieses Jahr?«
»Die aus dem letzten«, antwortete er. »Das neue Jahr ist erst ein paar Tage alt.«
»Wie sieht die Bandbreite bei der Größe aus?«
»Worauf wollen Sie hinaus?«
»Wie viele Männer haben wir, die eins neunzig oder größer sind?«
»Nur jeder Zehnte«, sagte er. »In der gesamten Army ungefähr neunzigtausend. Sagen wir ein volles Superbowl-Stadion. Auf einem Stützpunkt dieser Größe ungefähr hundertzwanzig - etwa ein halb leeres Flugzeug.«
»Okay, Chief«, sagte ich. »Danke.«
Ich legte auf. Jeder Zehnte. Summer würde mit achtundzwanzig Gesundheitsbogen zurückkommen. Neun Zehntel davon würden zu Männern gehören, die zu klein waren, um als Täter in Frage zu kommen. Mit Glück würden wir uns also nur mit zwei Kerlen befassen müssen, mit dreien, wenn wir Pech hatten. Zwei oder drei von ursprünglich neunhundertdreiundsiebzig Personen. Ein deutlicher Fortschritt. Ich sah auf die Wanduhr. Zwanzig Uhr dreißig. Ich musste unwillkürlich grinsen. Scheiße passiert eben, Willard, dachte ich.
 
Scheiße passierte tatsächlich, aber sie passierte uns, nicht Willard. Die Durchschnitts- und Mittelwerte spielten uns ihre kleinen arithmetischen Streiche, und Summer kam mit achtundzwanzig Bogen zurück, die ausschließlich kleine Kerle betrafen. Der Größte von ihnen war marginale eins fünfundachtzig groß und mit zweiundsiebzig Kilo dünn wie eine Bohnenstange. Und er war ein Militärgeistlicher.
In meiner Kindheit hatten wir einmal vier Wochen lang in einem Bungalow außerhalb irgendeines Stützpunktes gewohnt. Dort gab es keinen Esstisch. Meine Mutter telefonierte herum und erreichte, dass einer geliefert wurde. Er traf flach in einem Karton verpackt ein. Ich versuchte, ihr beim Zusammenbau zu helfen. Alle Teile waren vorhanden: eine Resopalplatte, vier verchromte Beine und vier große Stahlschrauben. Wir legten sie in der Essnische auf dem Fußboden zurecht. Tischplatte, vier Beine, vier Schrauben. Aber es war unmöglich, sie zusammenzusetzen. Wir knieten nebeneinander und mühten uns damit ab, doch wir schafften es nicht, den Tisch zusammenzubauen. Joe kam nach Hause, versuchte es und schaffte es nicht. Mein Dad versuchte es und schaffte es nicht. Wir aßen vier Wochen lang in der Küche. Wir versuchten noch immer, den Tisch zusammenzubauen, als wir wieder umzogen. Jetzt hatte ich das Gefühl, vor einem ähnlichen Problem zu stehen. Nichts passte zusammen. Zuerst sah alles bestens aus, aber dann geriet die gesamte Konstruktion ins Stocken und stellte einen vor unlösbare Rätsel.
»Das Brecheisen ist nicht von selbst auf den Stützpunkt gekommen«, sagte Summer. »Eine dieser achtundzwanzig Personen hat es mitgebracht. Es kann nicht anders reingekommen sein.«
Ich schwieg.
»Sollen wir zum Abendessen gehen?«
»Ich kann besser denken, wenn ich hungrig bin«, antwortete ich.
»Uns sind die Dinge ausgegangen, über die man nachdenken könnte.«
Ich nickte. Sammelte die achtundzwanzig Gesundheitsbogen wieder ein und schob sie ordentlich zusammen. Legte Summers ursprüngliche Liste mit dreiunddreißig Namen auf den Stapel. Dreiunddreißig minus Carbone, weil er das Brecheisen nicht mitgebracht und damit Selbstmord verübt hatte. Ohne den Pathologen, weil er kein überzeugender Verdächtiger und klein war und weil seine Probeschläge mit dem Brecheisen schwach gewesen waren. Auch ohne Vassell, Coomer und ihren Fahrer Marshall, weil ihre Alibis zu gut waren. Vassell und Coomer hatten im O Club gegessen, und Marshall war nicht einmal mitgekommen.
»Warum war Marshall nicht hier?«, fragte ich.
Summer nickte. »Das beschäftigt mich schon die ganze Zeit. Als ob Vassell und Coomer etwas vor ihm hätten verbergen wollen.«
»Sie haben hier nur zu Abend gegessen.«
»Aber Marshall muss mit ihnen auf Kramers Beerdigung gewesen sein. Also haben sie ihm ausdrücklich befohlen, sie nicht herzufahren.«
Ich nickte. Stellte mir die lange Reihe schwarzer Dienstwagen unter einem bleigrauen Januarhimmel auf dem Nationalfriedhof Arlington vor. Die Zeremonie, das Zusammenlegen der Fahne, den Ehrensalut über das Grab hinweg. Die Prozession zu den Limousinen zurück, barhäuptige Männer, das Kinn wegen der Kälte im Mantelkragen vergraben. Ich stellte mir vor, wie Marshall die hinteren Türen des Mercurys aufhielt, erst für Vassell, dann für Coomer. Er musste sie zum Parkplatz des Pentagon zurückgebracht haben und dort ausgestiegen sein, um Coomer den Platz am Steuer zu überlassen.
»Wir sollten mit ihm reden«, erklärte ich. »Uns genau erzählen lassen, was sie zu ihm gesagt oder welchen Grund sie ihm genannt haben. Das muss ein etwas peinlicher Augenblick gewesen sein. Nachdem er bis dahin ihr Liebling war, hat er sich bestimmt ausgeschlossen gefühlt.«
Ich wies meine Sergeantin an, mir Major Marshalls Telefonnummer zu besorgen. Erklärte ihr, er sei vom XII. Korps zur Dienstleistung ins Pentagon abkommandiert. Summer und ich saßen schweigend da und warteten. Ich betrachtete die Wandkarte und überlegte mir, dass wir die Stecknadel aus Columbia herausziehen sollten. Sie verfälschte das Bild. Brubaker war nicht dort ermordet worden, sondern irgendwo anders. Nördlich, südlich, östlich oder westlich davon.
»Rufen Sie Willard noch an?«, fragte Summer.
»Wahrscheinlich«, antwortete ich. »Vielleicht morgen.«
»Nicht vor Mitternacht?«
»Diese Befriedigung will ich ihm nicht gönnen.«
»Das ist riskant.«
»Er kann mir nichts anhaben.«
»Irgendwann vielleicht doch.«
»Spielt keine Rolle. Bald ist die Delta Force hinter mir her. Verglichen damit erscheint alles andere irgendwie theoretisch.«
»Rufen Sie Willard heute Abend an«, insistierte sie. »Das wäre mein Rat.«
Ich sah sie an.
»Als Freundin«, meinte sie. »Unerlaubte Entfernung von der Truppe ist eine ernste Sache. Hat keinen Zweck, alles noch schlimmer zu machen.«
»Okay.«
»Tun Sie’s jetzt. Warum nicht?«
»Okay.« Ich wollte den Telefonhörer abnehmen, aber bevor meine Hand ihn berührte, streckte meine Sergeantin den Kopf zur Tür herein. Sie teilte uns mit, Major Marshall halte sich nicht mehr in den Vereinigten Staaten auf. Seine vorübergehende Abkommandierung sei vorzeitig beendet und er sei nach Deutschland zurückbeordert worden. Er sei am fünften Januar am späten Morgen von der Andrews Air Force Base aus zurückgeflogen.
»Auf wessen Befehl?«, fragte ich.
»General Vassells«, antwortete sie.
»Okay.«
Sie schloss die Tür.
»Am fünften Januar«, sagte Summer.
»Am Vormittag nach den Morden an Carbone und Brubaker«, sagte ich.
»Er weiß etwas.«
»Er war nicht mal hier.«
»Weshalb hätten sie ihn sonst anschließend versteckt?«
»Das war Zufall.«
»Sie mögen keine Zufälle.«
Ich nickte.
»Okay«, sagte ich. »Fliegen wir also nach Deutschland.«