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Gareths Behauptung über ihre Konstitution zum Trotz fühlte sich Rose ziemlich ausgelaugt. Der Wein hatte sie auch nicht gerade munterer gemacht, also ließ sie sich, nachdem sie die Kinder gebadet, ihnen eine Gutenachtgeschichte vorgelesen und sie ins Bett gebracht hatte, erst einmal eine schöne heiße Wanne einlaufen. Sie gab einen großzügigen Schuss ihres besten, nach Rosen duftenden Aveda-Badeöls ins Wasser und zündete ein paar Kerzen an. Während sie in der Wanne lag und Schwaden aus Rosenduft ihre hochgesteckten Haare umwehten, dachte sie an den Blick, den Gareth ihr früher am Abend zugeworfen hatte. Sie hatte ihn schon einmal gesehen …
Ganz allmählich kehrte die Erinnerung zurück. In den wenigen Momenten, in denen es Rose gelang, sich selbst gegenüber ehrlich zu sein, musste sie sich eingestehen, dass sie ein kompliziertes Verhältnis zur Wahrheit hatte. Wie bei den meisten Menschen gab es auch in ihrem Leben Dinge, die sie niemals jemandem anvertraut hätte. Es gab solche, die manchen Leuten bekannt waren, anderen hingegen nicht. Und dann gab es noch einige wenige, über die außer ihr nur ein oder zwei weitere Menschen Bescheid wussten. Um diese vor Gareth geheim zu halten, hätte sie wahrscheinlich sogar getötet. Die Nacht am Strand in Griechenland mit Christos zählte dazu. Aber jetzt war sie ja die Einzige, die noch davon wusste. Damit dieses Geheimnis nicht ans Licht kam, würde sie niemanden töten müssen.
Sie räkelte sich in der Wanne. Es war eine unbewusste Bewegung, ausgelöst durch die Erinnerung an Christos. Eine neue Wolke Rosenduft wurde aufgewirbelt, und einen berauschenden Augenblick lang war sie wieder bei ihm; sein unvergleichliches Lächeln war wieder zum Greifen nah. Doch gleich darauf verwandelten sich seine Augen in Gareths, und ihr fiel ein, wann sie diesen Blick zuletzt bei ihm gesehen hatte. Während des Umbaus, als er so schrecklich depressiv gewesen war, hatte sie einmal einen Abend allein mit Andy verbracht. Um der Enge des Hauses und dem Miasma von Gareths übler Laune zu entfliehen, hatte sie einen Ausflug ins Pub vorgeschlagen. Natürlich hatte sie ganz genau gewusst, dass Gareth nicht mitkommen würde und folglich auf Anna aufpassen musste.
Nach dem Abendessen waren sie und Andy losgezogen. Gemächlich waren sie die Straße entlang in die blauschwarze Nacht hinein gewandert. Es war Frühlingsanfang, und die Hecke stand voller Knospen. Rose konnte die Blüten der Schlüsselblumen als helle Punkte am Straßenrand ausmachen wie sanfte Lichter, die sie auf ihrem Weg leiteten. Ein herrlich zitroniger Duft lag in der Luft, ein Duft nach Frische und Neuanfang. In ihrem schwangeren, geruchssensiblen Zustand glaubte Rose, darin den Geruch eines Neugeborenenköpfchens wahrnehmen zu können.
Sie saßen im Pub, und Andy trank drei Pints des lokal gebrauten Bitters, während Rose an einem kleinen Guinness nippte. Sie war eine unverhohlene Verfechterin des Starkbierkonsums während der Schwangerschaft, seit ihre erste Hebamme in London, eine altehrwürdige Dame aus Jamaika, ihr gesagt hatte, man könne es aufgrund seines Eisengehalts als eine Art Medizin betrachten.
Andy trank und redete. Zum ersten Mal erzählte er ihr von seiner romantischen, aber katastrophalen Ehe mit einer Französin und dass er danach nie wieder eine andere Frau hatte lieben können. Er erzählte ihr, wie er nach der Trennung von Françoise ursprünglich vorgehabt hatte, in die Vereinigten Staaten zurückzukehren, um wieder bei seinen Eltern zu sein, aber dann waren sie gestorben, und Bush wurde zum Präsidenten gewählt, und der Krieg gegen den Terror begann. Von diesen Entwicklungen abgeschreckt, war er nach Frankreich zurückgekehrt, wo er noch nicht alle Zelte abgebrochen hatte. Dort hatte er den doppelten Vorsatz gefasst, fortan mehr Kontakt zu seinem Bruder zu suchen und ein einfacheres Leben zu führen. Während sie Andy so zuhörte, fragte sich Rose einmal mehr, ob sie sich nicht vielleicht für den falschen Bruder entschieden hatte.
Bei der Erinnerung daran wand sie sich schuldbewusst in ihrem nach Rosen duftenden Bad. Doch dann rief sie sich ins Gedächtnis, dass Gareth zu jener Zeit absolut unausstehlich gewesen war und sie sich daher vermutlich von allem freisprechen konnte, was in jener Nacht im Pub und danach passiert war.
Wie sie so mit ihm zusammengesessen und ihr samtenes Guinness getrunken hatte, war es ihr so vorgekommen, als besäße Andy sämtliche von Gareths guten Seiten ohne die schlechten. Genau wie sein Bruder war er groß und gut aussehend. Er war kreativ und intelligent und herrlich verspielt, doch gleichzeitig fehlte ihm das, was Rose bei Gareth als die dunkle Seite seines Charakters kennengelernt hatte – das Negativ zu seiner Heiterkeit. Diesen speziellen Zug musste Gareth von seiner leiblichen Mutter mitbekommen haben – der Frau, die sich das Leben genommen hatte, bevor er Gelegenheit bekam, sie kennenzulernen. Zweifellos war sie an allem schuld.
Und dann griff Andy über den Bartisch mit seinen gedrechselten Beinen hinweg nach ihrer Hand.
»Verstehst du? Ich glaube, ich kann einfach nicht mit ansehen, wie mein Bruder dir weh tut.« Er hatte gerade erklärt, wieso er mit dem Gedanken spielte, abzureisen. »Wenn er so ist wie jetzt, dann würde ich ihn am liebsten umbringen. Und dass er dich damit so verletzt, macht es nur noch schlimmer. Ich habe Angst, Rose«, fuhr er mit gesenkter Stimme fort. »Ich habe Angst davor, was ich ihm antun könnte, wenn er so weitermacht.«
Rose zog ihre Hand weg und legte sie sich über den Mund. Andy holte sie zurück.
»Komm mit nach draußen«, sagte er, und ohne zu wissen, was sie tat, stand sie auf und folgte ihm durch das überfüllte Pub. Den wenigen Gästen, die sie kannte, winkte sie zum Abschied zu, als wolle sie demonstrieren, dass alles vollkommen harmlos war; dass sie nicht zu einem geheimen Stelldichein mit diesem Mann unterwegs war, während sie das zweite Kind seines Adoptivbruders erwartete.
Aber das war sie. Sie wusste es genau. Andy spendete ihr Nähe und Trost. Davon hatte sie, seit Gareth von der Schwangerschaft erfahren hatte, weiß Gott nicht viel bekommen. Von den Schmetterlingen in ihrem Bauch vorwärtsgetragen, kletterte sie hinter Andy her über das Gatter, das am anderen Ende des Dorfs zu den auf dem Hügel gelegenen Schrebergärten führte.
Dort, umgeben von Kohl, Lauch und Pastinaken, vögelten sie auf der harten Erde wie wilde Hunde. Am Ende brach Rose schlammbespritzt über ihm zusammen und schluchzte teils vor Erleichterung, teils vor Entsetzen über das, was sie getan hatten. Mitten zwischen dem Wintergemüse hatten sie eine Atombombe gebaut. Der Gedanke an das, was passieren würde, falls sie hochging, war lähmend.
»Es ist besser, wenn ich abreise«, erklärte Andy, als sie zurück zum Haus gingen.
»Nein.« Sie drehte sich zu ihm um. »Fahr nicht. Ich weiß nicht, was ich ohne dich machen soll.«
»Ich muss nachdenken«, sagte er.
Sie gingen zurück zum Nebengebäude und schlichen auf Zehenspitzen hinein, damit Gareth und Anna nicht wach wurden. Es war ein Uhr morgens und damit viel später, als sie heimgekommen wären, wenn sie ihren kleinen Abstecher nach dem Pub nicht gemacht hätten. Rose zog sich im Badezimmer aus und wusch sich gründlich, um alle Spuren von Andy zu beseitigen. Sie knüllte ihre schlammigen Sachen zusammen und vergrub sie ganz unten im Wäschekorb. Dann schlüpfte sie neben Gareth ins Bett, der sich von ihr wegdrehte. Sie wusste noch, wie sie auf dem Rücken gelegen und im Kopf alle Möglichkeiten durchgespielt hatte, bis sie zu dem Schluss gekommen war, dass es unter den gegebenen Umständen nur einen möglichen Ausweg gab: Gareth durfte nie etwas erfahren. Andy musste bleiben und so tun, als wäre nichts gewesen. Sie würden das Haus fertig bauen, sie würde ihr Baby zur Welt bringen, und dann würde alles gut werden. Diese Strategie hatte Rose schon früher angewandt, und sie würde funktionieren, das wusste sie.
Und? Ist alles gut geworden?, fragte sich Rose nun, als sie aus der Wanne stieg und sich abtrocknete. Sie holte sich die Körperlotion aus dem Regal, die sie passend zum Badeöl gekauft hatte, und rieb sich damit die Beine und den Bauch ein, der, so fiel ihr auf, durch die Krankheit ein wenig schlaff geworden war.
Am Morgen nach dem Vorfall in der Gartenkolonie hatte sie Gareths Augen gesehen. Daher kannte sie den Blick, den er ihr jetzt beim Abendessen zugeworfen hatte. Nach dem Frühstück hatte sie Andy abgepasst und ihm ihren Plan auseinandergesetzt. Er war zu einer anderen Entscheidung gelangt als sie: Er wolle weg, zurück in sein Haus in der Bretagne, damit sie alle ein bisschen Abstand voneinander hätten, wie er es ausdrückte. Es kostete sie viel Überredung, aber Rose wusste, dass sie einiges in die Waagschale werfen konnte, und schließlich blieb er genauso lange, wie er geblieben wäre, wenn das zwischen ihm und Rose nicht passiert wäre. Sie gingen nach wie vor vertraut miteinander um, ließen aber keine Berührungen mehr zu. Rose hatte den Verdacht, dass ihr dies leichterfiel als ihm. Wenn sie ganz ehrlich war – und sie hatte hinreichend bewiesen, dass ihr das schwerfiel –, dann hatte der Sex mit Andy eine ähnliche Wirkung gehabt, als hätte man den Deckel von einem Schnellkochtopf gerissen. Sie hatte enormen Druck abgelassen, und danach war es ihr – auch wenn die Sache mit gewissen Unannehmlichkeiten verbunden gewesen war – bessergegangen.
Nach seiner Abreise hatte Andy ihr noch mehrmals geschrieben. Er war damit kein Risiko eingegangen, weil er gewusst hatte, dass es Roses Aufgabe war, vors Haus zu gehen und die Post aus dem amerikanischen Briefkasten zu holen, den er zusammen mit Gareth aufgestellt hatte. Rose hatte die Briefe ungeöffnet ins Feuer geworfen. Sie hatte mit der Sache ein für alle Mal abschließen wollen.
Rose zog sich ein sauberes Nachthemd über, ein wunderschönes viktorianisches Gewand aus schwerem, weichem Baumwollstoff. Dann schlich sie ins Schlafzimmer und kletterte vorsichtig zwischen ihre beiden Töchter. Dort lag sie und blickte durchs Dachfenster zu den stecknadelkopfgroßen Sternen hinauf.
Dies alles hier, dachte sie. Das ist es doch wert gewesen. Nicht wahr?