16
Sie kamen erst bei Einbruch der Dunkelheit zurück. Ihre Gesichter kribbelten vom Tag in der Sonne. Rose, die ein wenig mehr Cava getrunken hatte, als gut für sie gewesen wäre, breitete die Reste vom Picknick auf dem Wohnzimmertisch aus, und die Kinder durften ausnahmsweise vor dem Fernseher zu Abend essen, während sich die Erwachsenen in die Küche zurückzogen, um noch eine Flasche zu öffnen.
Sie zündeten die Kerzen an und machten es sich in ihrem goldenen Schein gemütlich.
»Ich bin so froh, dass ich hier bin«, sagte Polly und schlang sich die Arme um den Körper. »Ich kann mir gar nicht vorstellen, irgendwo anders zu sein als hier bei euch, meinen zwei besten Freunden auf der ganzen Welt.«
Gareth blickte schmunzelnd in sein Glas, das er in seinen großen Händen hin- und herdrehte. Dann sah er auf und hob es hoch.
»Auf eine tolle Zeit.«
Sie stießen an.
Gegen zehn Uhr waren die Kinder auf dem Sofa eingeschlafen. Auf ihren Gesichtern klebten noch Spuren der Eton Mess, die Rose aus Resten von Baiser, Schlagsahne und Erdbeeren zusammengerührt hatte. Gemeinsam trugen sie die drei nach oben in ihre Betten.
»Zähne putzen können sie auch morgen früh noch, Rose«, meinte Gareth.
»Ja, ja«, erwiderte sie.
Als sie wieder unten waren, nahm Polly Rose und Gareth zusammen in die Arme.
»Schlaft gut, ihr beiden. Und noch mal danke schön.«
»Ganz ehrlich«, sagte Rose. »Hör auf, dich ständig zu bedanken, in Ordnung? Ab jetzt sind wir alle drei gleichberechtigt.«
»Sehe ich genauso«, fügte Gareth hinzu.
Sie begleiteten Polly noch bis zur Tür und sahen von der Schwelle aus zu, wie sie die gewundenen Stufen zum Nebengebäude hochlief.
»Solange sie da oben wohnen bleibt«, flüsterte Gareth Rose ins Ohr.
Sie lächelte und lehnte sich an ihn.
»Ich muss Flossie noch stillen, dann komme ich hoch«, sagte sie.
»Ich warte auf dich.«
Als sie ins Schlafzimmer kam, lag Gareth mit ausgestreckten Armen auf dem Rücken und schnarchte.
Der Arme, dachte Rose. Er ist es nicht gewohnt, den ganzen Tag zwei Jungs hinterherzujagen.
*
Gegen vier Uhr morgens wurde Rose wach. Zum allerersten Mal überhaupt hatte sich Flossie nicht wie sonst um zwei Uhr gemeldet, weil sie Hunger hatte. Zunächst machte sich Rose darüber keine Gedanken. Anna hatte ihr schlaflose Nächte beschert, bis sie zwei war; vielleicht meinte Flossie es ein wenig besser mit ihnen.
Durch die klare Nacht war das Haus ausgekühlt, und Rose konnte ihren Atem sehen, als sie durch den Flur zu Flossies Zimmer schlich. Auf dem Gras draußen leuchtete ein Überzug aus Reif.
Sie beugte sich über Flossies Bettchen, und die Kälte aus der Luft fuhr ihr tief in den Magen. Ihre Tochter lag völlig reglos da. Sie atmete in flachen, rasselnden Stößen, ihr Gesicht war schweißnass. Hastig nahm Rose sie hoch. Flossies Haut glühte, und sie lag schlaff in ihren Armen. Rose legte sie zurück ins Bettchen und knöpfte den Strampler auf. Auf Flossies Brust war ein purpurroter Ausschlag zu sehen.
Ihre Tochter fest an sich gepresst, stürzte Rose über den Flur und schrie nach Gareth.
*
»Wie ist die Nummer?«, drängte Rose, während Gareth im Adressbuch nach der Notfallnummer ihrer Hausärztin suchte.
»Ich finde, wir sollten einen Krankenwagen rufen«, meinte er.
»Aber Kate kann viel schneller hier sein, außerdem kennt sie uns.«
Kate war ihre Ärztin und die einzige Frau im Dorf, mit der Rose sich seit ihrem Umzug angefreundet hatte.
Rose wählte und wartete ungeduldig darauf, dass jemand abnahm. Komm schon, komm schon, dachte sie.
»Hallo?«, meldete sich Kates verschlafene Stimme.
Rose berichtete ihr, was passiert war.
»Bleibt, wo ihr seid. Ich bin sofort da«, sagte Kate.
*
Wie versprochen stand sie fünf Minuten später vor der Haustür. Sie hatte sich einen Dufflecoat über den Schlafanzug gezogen, und ihre Füße steckten in Birkenstock-schlappen. Sie warf einen einzigen Blick auf Flossie, dann befahl sie Gareth, den Notarzt zu alarmieren.
»Sie muss so schnell wie möglich ins Krankenhaus«, sagte sie zu Rose, während sie Flossies Lider anhob und ihr mit einer Taschenlampe in die dunklen Pupillen leuchtete. »Sie hat hohes Fieber, schlechten Muskeltonus – und da«, fügte sie hinzu, als sie den Strampelanzug aufknöpfte – »Ausschlag. Das könnte Meningitis sein.«
Rose holte tief Luft. Sie hatte es bereits geahnt.
»Es ist alles gut, Rose«, beruhigte Kate sie und legte ihr fest den Arm um die Schultern. »Wir haben es frühzeitig erkannt. Aber ich fürchte, ich muss ihr einen Zugang legen, damit der Notarzt, wenn er kommt, ihr sofort Antibiotika geben kann. Ich weiß, es ist nicht leicht, aber du musst ihren Arm festhalten. So.«
Sie zeigte Rose, wie sie Flossies ausgestreckten Arm halten musste, und stach ihr mit einer langen Nadel in eine Vene nahe der Innenseite des Handgelenks. Flossie wimmerte und strampelte, aber Rose hielt sie fest. Sie merkte, wie Kate immer wieder aufschaute, um sich zu vergewissern, ob es ihr gutging. Es ging ihr nicht gut. Mit ansehen zu müssen, was da mit ihrem Kind geschah, war so schrecklich, dass sie am liebsten auf dem Boden zusammengesunken wäre.
»Ich gehe rüber und wecke Polly«, meinte Gareth. »Sie muss sich um die anderen kümmern.«
»Rose, geh und zieh dich an, den Rest schaffe ich allein«, sagte Kate, während sie Flossies Hände mit Mullbinden umwickelte. »Das ist, damit sie sich den Zugang nicht rauszieht«, erklärte sie, als sie Roses besorgten Blick sah. »Geh jetzt.«
Es schien eine wahre Ewigkeit zu dauern, bis der Krankenwagen kam. Rose hatte Kates Anweisungen befolgt, sie war fertig angezogen. Kate hatte Flossie in eine Decke gewickelt und stand mit ihr bereit, um sie sofort hinaustragen zu können; Gareth, der zurückgekommen war, setzte eine Kanne Tee auf. Dann kam Polly hereingestürzt. Sie hatte eine Decke um die Schultern und konnte sich kaum auf den Beinen halten.
»Was ist denn passiert?«, nuschelte sie. »Ist sie …?«
»Sie ist stabil, aber in einem kritischen Zustand«, sagte Kate.
»Wann kommen sie denn endlich?«, rief Rose.
»Wann kommt wer? Was ist denn los?«
»Der Krankenwagen«, antwortete Kate. »Sie brauchen zwanzig Minuten. Es sind fünfzehn Meilen, und selbst mit Blaulicht schaffen sie es nicht schneller.«
»Kate, das ist Polly, unsere Freundin aus Griechenland«, stellte Gareth die beiden einander vor.
»Wir kennen uns schon«, meinte Polly.
»Ja. Hallo«, grüßte Kate.
»Sie wollte mir nicht geben, wonach ich gefragt hab«, sagte Polly und warf Rose ein Lächeln zu. »Britische Ärzte sind nicht ganz so freigiebig wie ihre griechischen Kollegen. Oh, ist das Tee? Genau das, was ich jetzt brauche.«
Gareth reichte ihr einen Becher. Er setzte sich mit Kugelschreiber und Notizblock an den Tisch und begann, eine Liste zu schreiben.
»Du schläfst in unserem Bett, Polly. Die Kinder müssen um neun Uhr in der Schule sein, jeder kriegt zwei Pfund fürs Mittagessen – normalerweise geben wir ihnen was mit, aber das lassen wir morgen mal ausfallen, alles klar?«
»Ja … dann stelle ich mir besser einen Wecker«, sagte Polly.
Endlich erschienen zwei grüngekleidete Sanitäter, ein Mann und eine Frau, gefolgt von einem jungen Arzt im Tweedjackett. Es waren nur drei Personen, aber als sie alle auf einmal in die Küche einfielen, wirkte der Raum plötzlich sehr beengt. Kate reichte Flossie an den Arzt weiter, der sie entgegennahm und sie mit einer fast tänzerisch anmutenden Drehung zur Tür hinaustrug, durch den Kräutergarten nach oben und in den wartenden Krankenwagen. Kate folgte ihm im Laufschritt und informierte ihn währenddessen über Flossies Zustand.
Rose, die hinter den beiden herlief, empfand die nüchterne Art, wie der Zustand ihrer Tochter analysiert, in Worte gefasst und zum Ausgangspunkt einer Behandlungsstrategie gemacht wurde, als seltsam beruhigend.
»Wir müssen sie so schnell wie möglich ins Krankenhaus bringen«, erklärte die Sanitäterin und kletterte in den Wagen. »Kommen Sie, die Mutter fährt mit.« Sie hielt Rose den Arm hin, um ihr hineinzuhelfen. Gareth wollte ihr folgen.
»Nein, bleib du hier, Gareth. Anna regt sich sonst bestimmt auf. Bitte«, sagte Rose, als der junge Arzt eine Infusion an Flossies Zugang anschloss.
»Aber ich will mitkommen«, protestierte Gareth. Er war bleich und biss sich auf die Unterlippe.
»Nein, nein, Gareth, bitte bleib hier«, wiederholte Rose. Sie hatte die Hand auf seine Brust gelegt, wie um ihn wegzuschieben. »Ich rufe dich vom Krankenhaus aus an. Du musst dich um Anna kümmern. Polly, pass gut auf ihn auf.«
Aber Polly war nicht mit nach draußen in die Kälte gekommen.
Kate sprang hinten in den Krankenwagen. »Dann ist noch Platz für einen mehr. Gareth, Rose hat recht. Es ist besser, wenn du hierbleibst und dich um Anna kümmerst. Eure Freundin ist nicht gerade besonders vertrauenswürdig«, meinte sie mit einem Blick auf Polly, die mit einer Tasse Tee am Küchenfenster stand und zu ihnen herübersah, als sei sie mit den Gedanken ganz woanders. »Ich sorge dafür, dass es Rose und Flossie gutgeht, und morgen komme ich vor der Praxis bei dir vorbei und erzähle dir alles.«
Die Sanitäter knallten die hinteren Türen zu, dann schoss der Krankenwagen hinaus in die Nacht. Das Nebengebäude erstrahlte im Blaulicht, und das kurze Aufheulen des Martinshorns, als der Wagen um die unübersichtliche Kurve auf die Straße fuhr, riss zweifellos das ganze Dorf aus dem Schlaf.