38
Rose wollte Anna nicht allein lassen, deshalb rief sie die Jungs und schickte sie mit der Einkaufsliste und zwei Zwanzig-Pfund-Scheinen zum Dorfladen. Sie gab Nico den Weidenkorb mit und musste schmunzeln, als sie sah, wie er vor dem zutiefst weiblichen Gegenstand zurückschreckte. Zuerst versuchte er, ihn sich über die Schulter zu schwingen wie eine etwas unhandliche Reisetasche, aber schließlich musste er einsehen, dass es nur eine mögliche Art gab, ihn zu tragen: in der Armbeuge.
»Wie Rotkäppchen«, neckte Rose ihn, als er sie finster ansah. Yannis kicherte hinter vorgehaltener Hand.
»Halt die Klappe, Zwerg«, fauchte Nico. Trotzdem musste Rose ihm Respekt zollen. Mannhaft schritt er die Stufen hinauf zur Straße. An der Haltung seiner Schultern konnte sie erkennen, dass er bereit war, sich gegen jeden Spott zu verteidigen, notfalls mit Fäusten.
Bei dem Anblick tat ihr das Herz weh. Was war nur in sie gefahren, dass sie es an diesen zwei armen, vernachlässigten Jungen ausließ? Und ihr Verhalten wurde nur noch schändlicher dadurch, dass sie nicht einmal sagen konnte – oder wollte –, worin dieses es überhaupt bestand.
Der Gestank einer vollen Windel breitete sich in der Küche aus. Rose klemmte sich Flossie unter den Arm und nahm sie mit nach oben ins Schlafzimmer, wo Anna vor sich hin döste. Rose hatte den Unfall ihrer Tochter ganz vergessen, und beim Anblick des Verbandes verschlug es ihr eine Sekunde lang den Atem.
Als Anna ihre Mutter hörte, regte sie sich und öffnete das gesunde Auge.
»Es tut weh, Mum.«
Rose legte Flossie aufs Bett und nahm die Tablettenschachtel, die Gareth in seiner Gedankenlosigkeit auf dem Nachttisch hatte liegen lassen. Sie las, dass der Patient je nach Stärke der Schmerzen alle zwei bis drei Stunden eine oder zwei Tabletten einnehmen solle. Sie vergewisserte sich, dass auch wirklich Annas Name auf der Packung stand und sie nicht irgendwie mit Pollys Medikamenten durcheinandergeraten war, dann sah sie auf die Uhr. Es war über zwei Stunden her, seit sie nach unten gegangen war und das Ruder wieder übernommen hatte, also konnte Anna die Tabletten ohne Bedenken nehmen. Aber wo in aller Welt waren die letzten zwei Stunden geblieben? Und hatte sie ihr Ziel erreicht? War sie wieder Herrin der Lage?
Sie strich sich mit der Hand über die Schürze, wie um unsichtbare Krümel wegzuwischen, dann setzte sie sich und gab Anna die Tabletten zusammen mit einem Glas Wasser, das seit Tagen neben ihrem Bett stand. Winzige Sauerstoffbläschen hafteten an der Innenseite des Glases, als wollten sie dem abgestandenen Milieu entfliehen.
»Puh, Mum«, sagte Anna und zog die Nase kraus.
Rose hatte die Windel ganz vergessen. Sie erhob sich und legte Flossie auf die Wickelunterlage am Boden, wo sie ihr erst die Strumpfhose auszog und sie dann von der vollen, aufgeweichten Windel befreite. Sie war gewaltig schwer. Rose hatte stets darauf bestanden, Stoffwindeln zu verwenden, aber während ihrer Krankheit mussten Gareth und Polly beschlossen haben, auf Pampers umzustellen, weil die weniger Arbeit machten.
Gareth und Polly.
»Wirf mir mal die Feuchttücher rüber«, bat sie Anna und zeigte auf die Plastikpackung, die auf Roses Seite neben dem Bett lag. Allmählich sah ihr Schlafzimmer aus wie ein Selbstbedienungskrankenzimmer. Es herrschte eine Atmosphäre des Ungewaschenen, die selbst der widerwärtige Gestank von Flossies Windel nicht überdecken konnte.
Rose atmete durch den Mund, während sie sorgfältig den hellbraunen Brei von Flossies Hintern wischte. Der Geruch von Exkrementen – selbst von denen ihrer eigenen Töchter – löste bei ihr Brechreiz aus. Sie fasste die stämmigen Beinchen ihrer Tochter und hob ihren Rücken an, damit sie auch dort saubermachen konnte, wo der Kot oben aus der Windel gequollen war. Flossie lag schlaff wie eine Puppe da und ließ alles über sich ergehen. Wo war ihr Temperament geblieben? Rose konnte sich noch gut an die erbitterten Kämpfe erinnern, die sie vor dem Krankenhausaufenthalt beim Wickeln ausgefochten hatten. Sie warf einen Blick zu Anna hinüber, die wie ein kleiner Geist in den Kissen lag. Munchs Krankes Kind.
Rose ließ den Kopf auf die Brust sacken und spürte das Pochen in ihrem Schienbein. Erschöpfung und Hunger saßen ihr nach überstandener Krankheit noch tief in den Gliedern.
Wie kaputt wir doch alle sind, dachte sie.
»Ich glaub, mir geht’s schon wieder besser«, meldete sich Anna vom Bett her. »Kann ich aufstehen?«
»Warte noch ein bisschen«, murmelte Rose. »Wenn du dich gut genug fühlst, kannst du zum Abendessen runterkommen.«
»Ich will aber fernsehen«, maulte Anna. »Mit Nico und Yannis. Hier oben ist es langweilig.«
Mit der schmutzigen Windel in der Hand stand Rose auf. Die frisch gepuderte und gewickelte Flossie hatte sie sich unter den Arm geklemmt, als trüge sie eine zusammengerollte Decke oder ein Bündel Feuerholz.
»Na gut, wenn du dich hier oben nicht beschäftigen kannst, dann komm eben mit runter.« Ihr Ton war gereizt. »Aber ich kann mich nicht um dich kümmern, ich muss Essen kochen.«
»Danke«, sagte Anna, leicht verstört angesichts der Reaktion ihrer Mutter, die nach deren Maßstäben fast einem Wutausbruch gleichkam. Sie stieg aus dem Bett, schlüpfte in ihre Hausschuhe und zog sich den Bademantel an. All das tat sie mit großem Bedacht, so als wolle sie ihrer Mutter unbedingt zeigen, was für ein braves Mädchen sie war.
Rose tat es ein wenig leid, und sie fügte hinzu: »Du könntest mir helfen, indem du mit deiner Schwester spielst.«
»Na klar.« Anna war sichtlich erleichtert darüber, dass ihre Mutter ihr wieder wohlgesinnt war.
Auf der Treppe musste Anna aufpassen. Es war nicht leicht, mit nur einem Auge die Entfernungen richtig einzuschätzen. Rose hielt ihre Hand und half ihr die Stufen hinunter.
Als sie die Küche betraten, kamen Nico und Yannis gerade vom Einkaufen zurück. Sie liefen die Stufen zur Haustür hinunter und schwangen den Korb zwischen sich hin und her. Wie so oft zankten sie sich, aber ihren Mienen nach zu urteilen, war es diesmal ausnahmsweise nichts Ernstes.
Sie kamen in die Küche geplatzt, und eine Welle jungenhafter Energie schwappte mit ihnen durch die Tür. Nico stellte den Korb auf den Tisch und fischte den zerknüllten Einkaufszettel aus seiner Hosentasche.
»Ein Kilo Bio-Lammgehacktes – check. Zwiebeln, Knoblauch, Rhabarber, Spaghetti, Dosentomaten – nur von Napolina –, frischer Parmesan, fettarme Biomilch, einen Becher Crème double, Haferflocken und ein Dutzend Bio-Freilandeier – check. Aber Maldon-Meersalz hatten sie nicht, deswegen hab ich normales Tafelsalz genommen. Ich hoffe, das ist okay.«
»Das ist gar kein Problem, Nico, vielen Dank«, sagte Rose. Natürlich war Tafelsalz nicht dasselbe wie Meersalz, aber Nico hatte die Situation abgewägt und eine Entscheidung getroffen. Sie freute sich, dass er Eigeninitiative bewiesen hatte. Gareth hätte an seiner Stelle höchstwahrscheinlich überhaupt kein Salz mitgebracht.
»Hier ist das Wechselgeld, Rose«, erklärte Yannis und häufte einen kleinen Berg Münzen auf den Tisch. »Sieben Pfund und einunddreißig Pence.«
Rose betrachtete die beiden Jungen, und wo sie kurz zuvor an sich und ihren Töchtern nur Fehlendes, Schadhaftes wahrgenommen hatte, sah sie in ihnen nichts als das Potential für Tugend und Wachstum. Wenn es etwas gab, an das sie sich klammern konnte, dann waren es diese zwei mageren Bengel.
»So, und jetzt ab mit euch. Geht spielen, während ich das Essen mache.«
Rose bereitete Fleischklößchen in Tomatensauce zu, und ganz allmählich stellte sich zwischen ihr und der Küche wieder eine Vertrautheit ein, als wäre es die Küche des Hauses, in dem sie aufgewachsen und in das sie nun zurückgekehrt war.
In Wirklichkeit wäre es gar nicht möglich gewesen, in ihr altes Haus zurückzukehren; es war schon vor langer Zeit verkauft worden, unmittelbar nachdem ihre Eltern sie auf die Straße gesetzt und sich von ihr losgesagt hatten. Und man siehe, was aus ihr geworden war. Sie wünschte sich, die beiden wären noch am Leben, dann hätte sie ihnen alles zeigen können – ihr Haus, ihren Garten, ihr Leben. Fingerdick hätte sie es ihnen aufs Brot geschmiert.
In den letzten Jahren ihrer Eltern hatte sie mit ihnen einen oberflächlichen Waffenstillstand geschlossen. Der Auslöser dafür war Annas Geburt gewesen. Ein Kind, das von allen Beteiligten gewünscht war, hatten ihr Vater und ihre Mutter akzeptieren können. Die unfassbare Bigotterie dieser Einstellung hatte einen brennenden Zorn in Rose entfacht. Selbst jetzt noch, nachdem so viel Zeit vergangen war, hatte sie das Gefühl, als würde eine geballte Faust in ihrem Inneren zurückgezogen, wie die Feder am Auslöser eines Flipperautomaten. Diese Faust konnte jeden Augenblick losgelassen werden, und dann würde ihnen alles um die Ohren fliegen.
Sie fragte sich, ob die Idee, nach Brighton zu fahren, vielleicht so indiskutabel war, dass sie sich würde weigern müssen mitzukommen. Aber was auf den ersten Blick wie eine Bedrohung aussah, konnte auch Chancen bergen. Zum einen wäre es vielleicht tatsächlich befreiend, sich – in Pollys unerträglichem Psychojargon – den Dämonen der Vergangenheit zu stellen. Und darüber hinaus gab es noch einen ganz pragmatischen Grund, nämlich dass die Reise ihr die ideale Gelegenheit bieten würde, mit Polly zu sprechen und erste Schritte einzuleiten, sie aus ihrem Leben zu verbannen. Die Reise konnte ein Neubeginn werden, der es ihrer Familie – und, wenn sie es geschickt anstellte, vielleicht auch den Jungs – ermöglichte, ihr wunderschönes Heim endlich mit der Vollkommenheit zu beseelen, für die es von Anfang an bestimmt gewesen war.
Sie bückte sich und öffnete die Ofentür des AGA, um nach den Fleischklößchen zu sehen, die fett und saftig in ihrer roten Sauce köchelten. Sie zerrupfte ein paar Basilikumblätter, tauchte sie in Olivenöl und streute sie darüber, bevor sie die heiße, schwere Tür wieder zuklappte und verriegelte. Sie war also doch nicht völlig aus der Übung. Durch diese Erkenntnis ermutigt, backte sie einen großen Vorrat an Haferkeksen, um die leeren Keksdosen aufzufüllen.
Nach getaner Arbeit schenkte sie sich ein großes Glas guten Rotwein ein. Sie stand in der Küche, den Blick auf das Nebengebäude gerichtet, und genoss das Bukett von schwarzen Johannisbeeren und Vanille, das ihr den Hals hinabwanderte und ihren Bauch mit Wärme füllte. Es war ein wunderschöner Abend. Hinter ihr sank die Sonne tiefer und tauchte den Himmel im Osten in leuchtendes Rosa. Hier und da waren winzige Wolkentupfer zu sehen. Ein Tiepolo-Himmel, dachte sie und rechnete fast damit, dass dicke kleine Putten herabgeflogen und durch den Garten in die Küche gepurzelt kämen, um ihr beim Auftragen des Abendessens zu helfen.
Je länger sie aus dieser neuen Perspektive über die Fahrt nach Brighton nachdachte, desto mehr wurde sie von einem Gefühl der Ruhe erfasst, das seine sanfte Hand über den Aufruhr in ihrem Inneren legte, der dort seit nunmehr zwei Wochen brodelte.
Die Hintertür öffnete sich. Gareth war früher als erwartet zum Abendessen erschienen. Seine Haare waren zerzaust, die Kleider staubig und voller Flecken. Er stand auf der Schwelle und blickte auf eine derart hektische Art um sich, dass Roses Ruhe im Nu dahin war.
»Hallo, Schatz. Hattest du einen schönen Tag?«, fragte sie in ihrer besten Doris-Day-Stimme.
»Haben wir noch eine Sicherung?«, erkundigte er sich.
»In der Schublade neben der Waschmaschine«, sagte sie und zeigte auf die Kammer, als wüsste er nicht, wo sie war.
»Scheiß neue Kaffeemaschine. Totaler Schrott«, knirsch-te er.
Mist, dachte sie.
»Ich gehe nach unten, lechze nach meinem Kaffee, und was passiert? Das Teil furzt einmal – puff –, und das war’s. Ich probiere es mit einer neuen Sicherung; wenn das nichts bringt, schicke ich das Scheißding zurück.«
»Dann hast du heute überhaupt noch keinen Kaffee getrunken?«, fragte sie. »Wie hast du das bloß ausgehalten?«
»Mit Whisky.« Er grinste.
»Aha.«
»Scheiße, fang jetzt bloß nicht damit an.« Er ging an ihr vorbei und verschwand in der Kammer, wo sie ihn in der Schublade herumkramen und fluchen hörte.
»Das Abendessen ist gleich fertig«, sagte sie.
»Ich nehme die hier nachher mit runter und versuche mein Glück«, erklärte er und legte die Sicherung und einen Philips-Schraubenzieher auf die Anrichte.
»Nico, kannst du rüberlaufen und deine Mum holen?«, rief Rose in Richtung Wohnzimmer. Nico, ihr kleiner Goldjunge, war mit einem Satz auf den Beinen, streifte sich die Turnschuhe über und rannte die Stufen zu Pollys Schlupfwinkel hinauf.
Sie wusste nicht, warum er sich heute solche Mühe gab, es ihr recht zu machen, aber es gefiel ihr.
»Anna und Yann, wärt ihr so lieb und könntet kellnern?«
Die zwei kamen sofort angelaufen und fingen an, den Tisch zu decken. Rose war so stolz auf sie, als wären sie tatsächlich wie kleine goldene Engel auf dem Sonnenuntergang herbeigeschwebt. Vielleicht lag es am Wein, aber sie setzte große Hoffnungen in den Verlauf des Abends.
Gareth ließ sich am Tisch nieder und schenkte sich ebenfalls ein Glas voll. Sie betrachtete seine aufgelöste Erscheinung und fragte sich, wie viel Whisky er im Laufe des Nachmittags wohl getrunken hatte.
»Aber im Ernst, wie läuft es denn mit deiner Arbeit?«, wollte sie wissen, während sie einen Salatkopf, den sie aus dem Frühbeet geholt hatte, in die Salatschleuder zupfte.
»Ich komme gerade ein bisschen vom Eigentlichen ab«, sagte er, den Blick in sein Glas gerichtet. »Meine Zeichnungen – mir ist klargeworden, dass ich in der letzten Zeit nicht genau genug hingeschaut habe – eigentlich sogar die ganzen letzten Jahre über, wegen des Umbaus und allem –, deshalb wende ich mich jetzt wieder der Welt da draußen zu, und ich zeichne und zeichne. Um meinem Hirn ein bisschen Erholung zu gönnen, verstehst du? Die Synapsen durchzupusten.« Seufzend rieb er sich die Augen. »Um ganz ehrlich zu sein, bin ich ein bisschen eingerostet.«
»Das wird schon wieder.« Sie beugte sich zu ihm und berührte seine Hand. »Ich glaube fest an dich.«
»Wirklich?«, sagte er und sah sie an. Etwas in seinen Augen ließ sie erstarren. Ihre Hand prickelte.
»Verzeihen Sie, Madam, Sir.« Yannis fuchtelte mit einem Tischset herum und schüttelte es aus, um es vor Gareth hinzulegen. Gareth löste sich von Rose und lehnte sich zurück.
»Isch danke Ihnen, mein ’ärr.« Yannis’ Kellner hatte sich aus unerfindlichen Gründen plötzlich in einen Franzosen verwandelt. »Darf isch Ihnen etwas bringen, mein ’ärr?«
»Danke, ich bin wunschlos glücklich«, erwiderte Gareth im redlichen Bemühen, auf das Spiel einzusteigen.
»Nischt mal ein paar kleine ’äppschen?«, hakte Anna nach, die Flossie in ihren Hochstuhl gesetzt hatte.
»Haben Sie zufällig Oliven da?«
»Isch wärde den Küschenchef fragen. Chef, ’aben wir Oliven?«
»Oui«, antwortete Rose, ging zum Kühlschrank und holte ein ziemlich altes Glas mit schwarzen Oliven heraus, die wie ein vergessenes Experiment aus dem Biologieunterricht in ihrer trüben Lake schwammen.
»’ier, bitte, mein ’ärr.« Yannis stellte das Glas schwungvoll vor Gareth auf den Tisch.
»Ich muss schon sagen, die Speisen in diesem Lokal sind ganz exquisit angerichtet«, lobte Gareth und rieb die Handflächen gegeneinander.
»Sie kommt nicht.« Atemlos kam Nico in die Küche gepoltert. »Sie hat gesagt, sie ist zu kaputt.«
»Was hat sie denn die ganze Zeit gemacht?«, fragte Rose, als sie den Topf mit Spaghetti vom Herd nahm.
»Sie musste den ganzen Haushalt schmeißen, während du krank warst, Rose. Vielleicht hätte sie einfach gern mal einen Abend für sich«, sagte Gareth, schraubte den Deckel vom Olivenglas ab und fischte mit der Gabel eine Olive heraus.
Rose hoffte, dass ihr empörtes Atemholen vom Schwall des Wassers übertönt wurde, als sie die Spaghetti in einen großen Durchschlag schüttete. Mit aufeinandergepressten Lippen stellte sie den Rest des Abendessens auf den Tisch. Sie musste sich sehr zusammennehmen, um die Töpfe und Pfannen nicht einfach hinzuknallen.
»Kannst du was davon reiben?«, sagte sie und legte ein Stück Parmesan, eine Microplane-Reibe und ein kleines Brett vor Gareth hin. Sie verteilte erst Spaghetti auf die Teller, dann die Fleischklößchen. Yannis reichte ihr die Teller an und stellte sie jedem mit einer kleinen Verbeugung hin.
»Ich meine ja nur«, fuhr Gareth fort, während er die letzten Krümel Parmesan von der Reibe aufs Brett klopfte. »Polly verfügt schließlich nicht über deine Konstitution.«
»Was soll denn das bitte heißen?«
»Schau dich doch mal an, Rose. Gestern hast du noch halb ertrunken mit irgendeinem Virus im Bett gelegen, und jetzt bist du schon wieder in voller Fahrt. Nicht jeder ist wie du.«
»Zum Glück«, kicherte Anna.
»Wie bitte?« Rose fuhr zu ihrer Tochter herum.
»Scherz«, meinte Anna und hob entschuldigend die Hände.
»Das ist nicht witzig, Anna«, sagte Gareth.
»Tut mir leid.« Anna blickte auf ihren Teller.
»Ist schon gut, Liebling.« Rose beugte sich über den Tisch und strubbelte ihr durchs Haar.
»Du bist ein Wunder, Rose. Ich muss schon sagen.« Gareth machte sich mit Messer und Gabel über seinen Teller her, wobei er es vermied, sie anzusehen. »Das schmeckt ganz phantastisch.«
»Nico, würdest du das hier nach dem Essen deiner Mum hochbringen?«, bat Rose, deckte den Extrateller für Polly mit einer Schüssel ab und stellte ihn auf den Küchentresen. Sie tat dies nicht, weil sie beweisen wollte, dass Gareth mit seinen Worten über ihre hausfraulichen Fähigkeiten recht hatte. Sie hätte es so oder so getan.
»Sie isst es eh nicht«, meinte Nico.
»Einen Versuch ist es wert.«
»Im Ernst, so jemanden wie dich gibt es kein zweites Mal«, sagte Gareth. »Diese Fleischklößchen sind der Hammer. Noch leckerer als sonst. Was hast du gemacht?«
»Das muss an dem besonderen Salz liegen, das Nico gekauft hat«, erklärte Rose und zwinkerte ihrem Verbündeten zu. Nico grinste wie eine Katze, die stundenlang auf dem Tisch gesessen und darauf gewartet hatte, dass sie endlich jemand streichelt.
»Unglaublich«, fügte Gareth hinzu und goss sich den Rest aus der Weinflasche ein. »Soll ich noch eine aufmachen?«
»Klar, warum nicht?« Rose zuckte mit den Schultern, als er aufstand und zum Weinregal ging.
Nach dem Dessert, bestehend aus Rhabarber-Crème-Brûlée, die Gareth als ein absolutes Wunderwerk bezeichnete, machten sich die Kinder ans Abräumen, während Gareth und Rose am Tisch sitzen blieben und die zweite Flasche leer tranken.
»Das ist schön«, meinte Rose. »Ein bisschen so wie früher.«
»Wann früher?«
»Ach, du weißt schon«, sagte Rose vage und ließ den Blick durch den Raum schweifen. »Kannst du das von Hand abwaschen?«, bat sie Nico, der gerade ihr Spezialmesser in die Geschirrspülmaschine stecken wollte. »Ach, wenn ich es mir recht überlege, mache ich es lieber selbst. Es ist verteufelt scharf.«
Als sie sich wieder zu Gareth umdrehte, hatte der gerade sein leeres Glas hingestellt und machte Anstalten, aufzustehen.
»Ich werde dann mal wieder«, verkündete er. »Diese Zeichnungen machen sich schließlich nicht von selbst.«
»Oh. Na dann. Vergiss die Sicherung nicht«, sagte Rose, als sie aufstand, um das Messer abzuwaschen.
»Dann bis morgen.« Er beugte sich zu ihr und gab ihr einen Kuss auf die Wange.
»Morgen?«
»Anna will heute Nacht bestimmt wieder bei dir schlafen, und Flossie ist ja auch noch da. Ich glaube, ich bekomme mehr Schlaf, wenn ich wieder im Atelier übernachte. Ich habe sowieso vor, noch bis spät in die Nacht zu arbeiten.«
»Okay«, sagte sie. »Okay.«
Er nahm die Sicherung und den Schraubenzieher, wandte sich ab und ging zur Tür hinaus, um auch diese Nacht weit weg von Rose zu verbringen.