36

Eine Sekunde nachdem Rose aufgewacht war, machte sich Panik in ihr breit, weil sie allein im Bett lag. Ihre Töchter waren verschwunden. Sie sah zum Wecker und stellte fest, dass es bereits nach zehn war. Natürlich waren die beiden schon auf, Anna war längst in der Schule. Rose lag im grauen Licht des durch Vorhänge abgeschotteten Zimmers und versuchte, sich daran zu erinnern, was in der Nacht passiert war. Der Hals tat ihr weh, und ihr Schienbein pochte. Sie wälzte sich auf den Rücken und spürte, wie ihre Wirbelsäule und Hüfte knackten. Sie fühlte sich, als wäre sie zusammengeschlagen worden.

Aus der Küche kam leise Musik. Jemand war unten. Gareth konnte es nicht sein, denn der hörte immer Radio 4, wenn er im Haus war. Wer passte dann auf Flossie auf? Eine jähe Angst ließ Rose aus dem Bett springen. Ihr Körpergeruch, schal und muffig, breitete sich im Raum aus. Sie schnappte sich ihren Kimono und stürzte auf den Flur hinaus.

Was sie vom Treppenabsatz aus sah, war noch viel schlimmer, als sie befürchtet hatte. Polly saß mit Flossie auf dem Schoß im Sessel und las ihr aus einem Bilderbuch vor. Beide sahen so glücklich aus, als wären sie dazu geboren worden, zusammen dort zu sitzen. Rose rang nach Luft und fuhr sich mit der Hand an die Brust. Polly hörte das Geräusch. Sie hob den Blick, und das Lächeln, das sie für Flossie aufgesetzt hatte, gefror auf ihren Zügen.

»Du sollst doch noch nicht aufstehen«, sagte sie zu Rose.

»Mir geht’s gut.«

»Du siehst aber nicht so aus«, erwiderte Polly, ohne sich zu rühren.

Rose kam die restlichen Stufen herunter und trat mit ausgestreckten Armen auf Polly zu.

»Gib mir Floss«, verlangte sie.

»Ich glaube nicht, dass das nötig ist. Ihr geht’s gut, nicht wahr, Floss?«

Flossie drehte sich um und sah zu Rose empor. Ein Lächeln spaltete ihr Gesicht. So wach und aufmerksam hatte sie seit Wochen nicht ausgesehen.

»Außerdem musst du dich schonen. Du bist noch krank. Und, Rose, bitte komm nicht nachts runter und räum auf. Ich kümmere mich um alles. Ich schaff das schon, okay? Es soll ja vorkommen, dass Leute die Dinge anders machen als du, schon mal drüber nachgedacht?«

Rose stand da, und ihr Mund öffnete und schloss sich wie der eines Fischs, den man aus seinem Aquarium genommen hatte.

»Wo ist Gareth?«, fragte sie schließlich.

»Weg.«

»Oh.« Rose ging zum Wasserkessel. »Ich mache mir eine Tasse Tee, und dann will ich Flossie wiederhaben.«

»Wenn’s sein muss. Tut mir leid, Floss.« Polly erhob sich und setzte Flossie auf einen Spielteppich, den Rose noch nie gesehen hatte. »Mummy will dich wiederhaben.«

Rose nahm ihre Tochter auf den Arm und floh mit ihr zurück nach oben. Der Tee war vergessen. Sie holte ein paar Bücher aus dem Kinderzimmer, dann ging sie zurück ins Elternschlafzimmer und kletterte ins Bett. Sie setzte Flossie neben sich und begann, ihr vorzulesen. Sie konnte das besser als Polly.

Eine Zeitlang vermochten die bunten Bilder Flossies Aufmerksamkeit zu fesseln, zumal Rose voller Elan begann und laut »Quack, quack, quack!« machte, als sie auf das Bild einer Ente zeigte. Doch schon bald ging ihnen beiden die Luft aus. Zu Roses Erleichterung begann Flossie kurz darauf, unruhig zu werden und auf Roses Brust einzuschlagen, so dass sie sie anlegen konnte. Sie erinnerte sich vage daran, dass Kate ihr etwas übers Stillen gesagt hatte, unterließ es aber ganz bewusst, sich die Einzelheiten des Gesprächs ins Gedächtnis zu rufen. Es war genau das, was sie beide jetzt brauchten. Nach ein paar stillfreien Tagen fanden sie nicht sofort zu ihrem gewohnten Rhythmus, aber lange dauerte es nicht. Rose spürte schon das vertraute Kribbeln des einsetzenden Milchflusses, als plötzlich die Tür aufging. Flossie erschrak und biss Rose in die Brustwarze. Rose schrie auf, wodurch Flossie zu weinen anfing.

»Siehst du? Ich hab doch gesagt, das ist noch zu viel für dich.« Polly war mit einer Tasse Tee ins Zimmer getreten. »Ich wollte dir den hier bringen. Du hast ihn eben unten vergessen. Und jetzt gib sie mir wieder.«

»Danke für den Tee, aber Flossie und mir geht es ausgezeichnet«, entgegnete Rose.

Mit gespitzten Lippen stellte Polly die Tasse auf Roses Nachttisch ab.

»Dann trink wenigstens den Tee. Du brauchst viel Flüssigkeit.« Sie drehte sich um und marschierte aus dem Zimmer, wobei sie die Tür mit einem lauten Knall hinter sich zuwarf.

»Puh, Floss. Was machen wir bloß mit ihr?«, sagte Rose. Schweigend trank sie ihren Tee. Die Vorhänge waren immer noch zugezogen, und der warme Lichtkegel der Nachttischlampe gab ihr das Gefühl, als befände sie sich in einem Kokon. Sobald Anna aus der Schule zurück war, würde Rose sie sich schnappen und sie hierherbringen, in ihr sicheres Versteck.

Ein Gefühl des Friedens begann, sie von innen zu wärmen, während sie ihren Tee trank. Sie entspannte sich ganz allmählich und überlegte, ob sie vielleicht noch ein bisschen schlafen sollte. Flossie war still geworden, ihre Lider flatterten und waren kurz davor, zuzufallen. Rose kuschelte sich neben sie, zog die Decke über sie beide und vergrub sich tief in der Urgeborgenheit ihres Betts.

Als sie lange Zeit später erwachte, stach ihr ein sauberer, medizinischer Geruch in die Nase. Es dauerte eine Weile, bis sie begriff, wo sie war. Im ersten Moment dachte sie, sie befände sich wieder im Krankenhaus, aber dann fiel ihr ein, dass sie mit Flossie im Arm eingeschlafen war.

Jetzt waren ihre Arme leer. Rose drehte sich mit einem Ruck um und musste gleich darauf einen Schrei unterdrücken, der ihr über die Lippen springen wollte.

Neben ihr im Bett lag nicht Flossie, sondern Anna. Eins ihrer Augen war mit einem großen Stück Gaze abgedeckt, das durch einen Kopfverband gehalten wurde. Roses hastige Bewegung hatte sie aufgeweckt, und ihr gesundes Auge öffnete sich träge.

»Anna! Was ist denn mit dir passiert?«

»Monkey hat mich gekratzt. Er hat versucht, meine Wimpern zu fangen. Erst fand ich’s lustig, aber dann hat er mich am Auge erwischt.« Anna sprach mit dünner Stimme. »Es war meine Schuld.« Ihr gesundes Auge füllte sich mit Tränen. »Du darfst Monkey nicht die Schuld geben.«

»Wie schlimm ist es denn?«, wollte Rose wissen. Warum hatte ihr niemand davon erzählt? Wie spät war es?

»Sie haben gemeint, es kommt wieder in Ordnung. Aber es ist ein ziemlich tiefer Kratzer. Tut ganz schön weh.«

»Mein armes Kleines«, sagte Rose und zog Anna an sich.

»Sie haben mir Tropfen gegeben, das hat sich angefühlt wie ein Messer im Auge. Aber jetzt ist es schon viel besser, ohne Licht.«

»Du Arme.«

Ein leises Klopfen ertönte an der Tür, und Gareth trat ein. Er hatte Flossie auf dem Arm.

»Hi, Schatz«, sagte er, setzte sich neben Anna aufs Bett und griff über sie hinweg nach Roses Hand.

»Was ist passiert, Gareth?« Rose setzte sich auf.

»Alles halb so wild, Rose. Sie haben gesagt, dass sie bald wieder sehen kann.«

»Bald wieder?«

»Im Moment ist es noch zu schmerzhaft für sie, das Auge zu öffnen, das ist alles. Die Hornhaut wurde verletzt. Wir müssen nur dafür sorgen, dass die Wunde sauber bleibt. Im Krankenhaus haben sie das Auge schon gespült, und –«

»Im Krankenhaus?«

»Ja.«

»Wann wart ihr denn im Krankenhaus?«

»Heute Morgen. Es ist kurz vor der Schule passiert, also bin ich schnell mit ihr nach Bath gefahren. Wusstest du das nicht?«

»Nein. Polly hat mir nichts davon gesagt.«

»Wahrscheinlich wollte sie dich nicht beunruhigen. Es ist nicht so schlimm, wie es aussieht oder sich anhört.«

»Meinst du nicht, dass ich das Recht habe, zu erfahren, wenn meine Tochter ins Krankenhaus muss?« Rose merkte, dass sie lauter geworden war. Sie atmete heftig. Anna sah sie mit ihrem gesunden Auge ängstlich an und lehnte sich instinktiv zu Gareth, der Roses Hand losgelassen und stattdessen den Arm um seine Tochter gelegt hatte.

»Siehst du? Genau das ist der Grund, weshalb es besser war, dir nichts zu sagen«, meinte er. »Dir geht es nicht gut. Du musst es ruhig angehen lassen.«

»Jetzt reicht es mir aber!«, sagte Rose. Sie stieg aus dem Bett und steuerte aufs Badezimmer zu. Sie war es ihren Töchtern und sich selbst schuldig, wieder das Ruder zu übernehmen. »Ich stehe auf. Ich mache Abendessen. Mir geht’s ausgezeichnet.«

Sie blieb kurz stehen, weil schwarze Punkte vor ihren Augen tanzten. Sie gab sich alle Mühe, nicht zu schwanken oder zu stolpern.

»Rose, bist du sicher, dass mit dir alles in Ordnung ist?«, fragte Gareth. Er hatte sich auf dem Bett umgedreht, so dass er jetzt mit dem Rücken ans Kopfteil gelehnt dasaß. Noch immer hatte er einen großen Arm beschützend um Anna geschlungen.

»Mir fehlt absolut gar nichts«, erwiderte Rose durch die Zähne, die sie zusammengebissen hatte, weil sie sich anstrengen musste, einerseits bei Bewusstsein zu bleiben und andererseits den in ihr aufwallenden Zorn zu unterdrücken. Wenn ihr an diesem Tag noch einmal jemand diese Frage stellte, dann würde sie explodieren, und zwar buchstäblich, wie sie befürchtete.

»Rose?«, fragte Gareth.

»Was?« Sag es ja nicht noch mal, dachte sie. Als sie sich zu ihm umdrehte, sah sie, dass sein Blick auf ihr verbundenes Schienbein gerichtet war.

»Rose, was hast du denn mit deinem Bein gemacht?«

»Ach, das ist nichts. Ich … bin hingefallen.«

Rose eilte ins Bad und schloss sich ein. Gegen die Tür gelehnt, stand sie da, bis sie sich wieder gefangen hatte.