Kapitel 9
Am Ende hatte man sich geeinigt. Aaron hatte das Gefühl, dass bei den Streithähnen, er mit eingeschlossen, die Erschöpfung den Ausschlag gegeben hatte und das von allen gleichsam empfundene Gefühl, einen kräftezehrenden Tag durchgemacht und überstanden zu haben. Auch der Tullamore Dew, dem sie tüchtig zusprachen, mochte sein Teil zu dem neubesiegelten friedlichen Miteinander beigetragen haben. Aufgaben wurden verteilt. Aufgaben wurden akzeptiert. Aaron sollte das Grab größer und tiefer schaufeln, Sweeney den Sarg zimmern, und Kitty und Lolly übernahmen es, den Leichnam herzurichten, eindeutig Frauenarbeit.
Sweeneys Bruder würde die Kühe melken, Lollys Schwester die Schweine versorgen, Kittys Roman wurde eine Ruhepause gestattet, und die Pflege von Aarons Seelenschmerz wurde ein weiteres Mal vertagt. Alle machten sich an die Arbeit.
Als Aaron hinausging, um für ein geräumigeres Grab zu sorgen, war Sweeney bereits dabei, mit Hilfe eines Brecheisens ein paar von Kittys Bücherregalen auseinanderzunehmen – die Bücher darauf allesamt Kandidaten für Überarbeitungen, von Elizabeth Bowen bis Virginia Woolf, und, schlimmer noch, eine neue Abteilung, die Joyce Carol Oates gewidmet war. Das Eichenholz würde einen stattlichen Sarg hergeben. Bretter im Ort zu kaufen, würde unweigerlich zu unerwünschten Fragen führen, und Sweeney war ein Mann, der ungern jemand belog, schon gar nicht seinen Freund Diarmid Dunne, bei dem er das Bauholz hätte erstehen müssen. Aaron selbst war verdonnert worden, ein Paar Socken, Unterhosen und ein sauberes Hemd herauszurücken, damit die Frauen das Skelett anständig ausstaffieren konnten. (Aaron hatte schon befürchtet, sein einziger guter Anzug würde daran glauben müssen und sein letztes Paar Schuhe, aber seine Größen passten nicht – das sei seine Schuld, wie man ihm zu verstehen gab –, und so blieb ihm der Rest seiner Garderobe unversehrt erhalten.)
Im Verlauf der Arbeit, mit der jeder beschäftigt war, gewann Aaron Einsichten darüber, warum die anderen drei Beteiligten von Anfang an für eine rasche Beerdigung gewesen waren. Als er Sweeney half, die Bücher von den konfiszierten Regalen zu räumen, wisperte der ihm ins Ohr: »Noch ehe das hier alles vorbei ist, wird sie gestehen. Seien Sie darauf gefasst. Ich weiß, sie ist Ihre Tante, aber ich weiß auch, dass sie damit herausrückt, noch ehe der Sarg in der Grube ist.« Aaron hatte nichts dazu gesagt, hatte nur weiter die gesammelten Werke von Aphra Behn aus dem Regal genommen.
Als er oben in seinem Zimmer seiner Tante das Hemd übergab, hatte sie in sachlichem Ton erklärt: »Interessier dich nicht allzu sehr für Lolly McKeever. Ich habe bei all dem hier mitgespielt, weil man sie so am besten dazu kriegt, einzugestehen, was sie getan hat. Noch bevor der Leichnam zur letzten Ruhe gebettet wird, gesteht sie.« Aaron hatte nichts dazu gesagt, ihr nur schweigend das Hemd, die Socken und die Unterhosen gereicht.
Als er Lolly Band 25 aus der ererbten Encyclopaedia Britannica, der Ausgabe von 1911, gebracht hatte, damit sie beim Sortieren der Knochen einen Anhaltspunkt hatte – den Artikel über Skelette –, hatte sie, ehe sie ihm das Buch abnahm, leicht seinen Arm berührt und geflüstert: »Ich bin so froh, dass Sie hier sind. Sie sind ein wichtiger Zeuge, wenn er bekennt. Keine Sorge. Er wird es tun. Noch ehe die Knochen aus dem Haus sind, wird er uns eröffnen, was er getan hat. Passen Sie gut auf.« Dann hatte sie ihm die Wange getätschelt. Aaron hatte nichts dazu gesagt. Er war nur flüchtig mit der Hand über die Stelle gefahren, die ihre Finger gestreift hatten.
Ein letzter Punkt bedurfte noch der Klärung. Die Sitte verlangte, dass die Frauen den Leichnam wuschen, ehe sie ihn ankleideten. Eine eigentliche Leiche, die man hätte waschen können, gab es nicht, und doch fand man, dass wenigstens andeutungsweise etwas in dieser Richtung geschehen musste. Kitty meinte, einmal kurz mit dem Staubwedel rübergehen, würde es tun; Lolly war für richtiges Einweichen. Schließlich einigte man sich darauf, dass Kitty jeden einzelnen Knochen mit einem nassen Tuch abwischen sollte. Lolly würde ihn dann mit einem sauberen Handtuch abtrocknen und ihn in die Kleidung stecken. Als Lolly auf Seife bestand, gab Kitty nach kurzem Überlegen nach und versprach sogar, die teure und wohlriechende Seife zu benutzen, die sie sich selbst nur als seltenen Luxus gönnte.
Ehe er sich noch weitere Schuldzuweisungen anhören musste, ging Aaron nach draußen. Er wollte aus dem Schuppen einen Spaten holen und ertappte sich dabei, dass er das Schwein vermisste. Er hielt Ausschau. Es war nirgends zu sehen. Nicht im Garten, nicht im hohen Gras, das sich bis zur Klippe erstreckte, nicht jenseits der Straße, und auch in dem von ihm so schändlich zugerichteten Grab von Declan Tovey suhlte es sich nicht. Vielleicht sollte er mal von der Klippe schauen, ob es womöglich vom Rand abgestürzt war. Doch wenn das wirklich geschehen war, wollte er es lieber nicht sehen, das Schwein auf einen Felszacken gespießt oder in einer Spalte festgeklemmt, aus der es sich zu befreien suchte, oder der fette rosa Körper auf dem schmalen Uferstreifen liegend wie irgendein Meeresgetier, das die tosenden Wogen an den Strand gespült hatten.
All diese Bilder hatte er vor seinem inneren Auge, es blieb ihm keine andere Wahl, er musste gehen und erkunden, was tatsächlich geschehen war. Er schuldete es dem Schwein. Sein Schicksal durfte sich nicht, von der Umwelt unbemerkt, vollenden. Wenigstens einen letzten Blick, ein schmerzliches Zusammenzucken, einen Schauder, ein Magenumdrehen sollte er ihm zum Abschied gönnen. Weit holten seine Schritte in dem sich sträubenden Gras aus, das seine Füße festzuhalten suchte; dabei knickten Halme, aber er trampelte die Wiese nicht nieder. So kam er der Klippe näher und fühlte sich gewarnt, beizeiten stehenzubleiben, nicht seine letzte Chance zu verspielen.
Die starken Wellen bäumten sich auf, als peitschte sie helles Entsetzen bei dem, was sie am Ufer sahen, fielen voller Mitleid und Kummer in sich zusammen, sandten den über das Wasser hochspritzenden Schaum gen Himmel, eine letzte verzweifelte Geste angesichts von so vielem, das aufs Äußerste gefährdet und dem Untergang geweiht war. Das Schauspiel konnte unmöglich nur dem Schwein gelten – falls es überhaupt das Schwein war, das die Wellen sehen konnten. Eine andere Vision – entweder prophetischer Natur oder sich just in diesem Moment darbietend – musste die Wogen derart in Wallung bringen, sie zu dieser Selbstzerstörung zwingen, zu der entschiedenen Gegenwehr, man möge ihnen einen erneuten Anblick dessen ersparen, was sich am Ufer oder dahinter offenbarte.
Bevor Aaron an den äußersten Rand der Klippe gelangte, blieb er stehen. Es war das Haus seiner Tante, das die Wogen sehen konnten, die vom Alter grau gewordenen Steine, das Schieferdach, blau schillernd im gleißenden Licht, die Fenster, in denen sich die flammenden Strahlen der untergehenden Sonne spiegelten. Es war Declan Toveys Grab, das die Wogen sehen konnten, der Steinhügel am Kopfende, die vom Wind gebeutelten Bäume, die sich gen Osten beugten, die zusammengedrängte Gruppe der Transporter – der von Sweeney und der von Lolly und daneben der Acura von seiner Tante. Und sie sahen auch den Steinwall, der die Straße begrenzte, das blühende Brombeergesträuch, das sich durch die Felsbrocken zwängte. Es war Sweeney, der dem Sarg Gestalt verlieh, den sie sahen, seine Tante und Lolly, die die zerbrochenen und schmuddligen Knochen wuschen. Und auch Aaron sahen sie, der sich durch das Gras kämpfte und dem äußersten Punkt der Klippe zustrebte. Aaron McCloud, in einen Mord verwickelt, mit allem, was er tat, mitschuldig an dem Tod eines Mitmenschen, schuldig durch sein Handeln, schuldig durch sein Nichthandeln – er hätte, entweder für alle offensichtlich oder durch einen vorgetäuschten Zufall, die Gebeine den gardaí überantworten müssen. Er hätte dafür Sorge tragen müssen, dass Jim den gefundenen Finger der rechtmäßigen Hand zuordnete und nicht mit ihm loszog, eines Märtyrers Ruhm und Ehre preisend. Er hätte mit dem, was ihm bei aller bis an die Grenzen gehenden Erschöpfung an moralischem und menschlichem Gefühl noch geblieben war, wenigstens einen, wenn nicht alle drei seiner Mitverschwörer überreden können, wenn schon nicht sich selbst zu stellen, so doch das unglückliche Häuflein Knochen den von Amts wegen Verantwortlichen zu übergeben, die ein solches Vorgehen honoriert und den Täter ermittelt hätten, der den Leichnam verbuddelt und sein Fleisch zur Düngung der Kohlköpfe seiner Tante bereitgestellt hatte. Man hätte den Lauf der Dinge der Mühle der Gerechtigkeit überlassen müssen, selbst wenn das Räderwerk seine Tante zermalmte, die er liebte, oder Lolly, die er begehrte, oder Sweeney, den er achtete. Im schlimmsten Falle war der ein elender Feigling, im günstigsten ein im Kopf Verwirrter.
Aaron erreichte das Ende des grasbewachsenen Feldes. Es war fast Abend geworden. Am Horizont standen ein paar Wolken, ohne weiterzuziehen, und boten der Sonne eine Chance, sich noch einmal zu zeigen, ehe sie für die Nacht verschwand. Hell leuchtende Strahlen schossen bereits gen Himmel, ihr Orange und Gold, das den westlichen Himmel überzog, suggerierten in ihrer Herrlichkeit, dass der Himmel und nicht die Hölle der Ort des immerwährenden Feuers sein müsste. Das Gras wurde feucht, die Luft kalt. Das Meer wirkte bedrohlich und kündete sein Wüten an, das es sich für die Dunkelheit vorgenommen hatte, seinen Rachefeldzug gegen das Land und die dort Lebenden wegen der vom Tageslicht enthüllten Trostlosigkeit, so dass dem Meer nichts verborgen geblieben war.
Grunzend kam das Schwein aus dem Geräteschuppen und trottete gemächlich in den aufgewühlten Garten, wobei dieses Mal sein Interesse mehr der Stelle galt, an der einst Rüben gediehen. Aaron konnte nun mit gutem, wenn auch aufgerütteltem Gewissen den Spaten nehmen und sich an sein verbrecherisches Werk machen.
Im Grab stand Wasser, fünfzehn Zentimeter hoch. Natürlich konnte Aaron das Loch tiefer ausheben, dann überlegen, wie er die Schweinesuhle ausschöpfte und Declan eine trockene und geeignete Ruhestätte verschaffte. Während er grub, ließen ihm Gedanken an Phila und dass er sie verlassen hatte, keine Ruhe, kamen immer wellenweise, auf und ab, und waren schließlich nicht mehr wegzudrücken. Das Schwein war neugierig geworden und schaute ihm bei seiner Buddelei zu, verwundert, wie sein Betätigungsfeld eine Vergrößerung erfuhr. Aaron mühte sich im Schweiße seines Angesichts, hievte schwere Erdklumpen nach oben und setzte sie sorgfältig seitlich vom Grab und mit gutem Abstand ab. Schon bald machte er eine Pause und sah das Schwein an.
»Ich bin Phila untreu geworden«, sagte er, seine Stimme klang traurig und resigniert. »Ich versuche, an sie zu denken, aber immer kommt etwas dazwischen. Ich möchte an sie denken, aber …« Er hielt inne, seufzte und schüttelte langsam den Kopf. Das Schwein blinzelte. »Ich habe sie nie geliebt«, gestand Aaron schließlich. »Alles, was ich wollte, war, dass sie mich liebte. Und als sie es nicht tat, gefiel ich mir darin, mich selbst zu bemitleiden, vor Kummer zu vergehen, mir die Haare zu raufen, die Kleider zu zerreißen, aber Liebe war das nicht.« Das Schwein wackelte mit den Ohren, blieb jedoch stehen.
»Es sah wie Liebe aus. Ich empfand es als Liebe. Eifersucht, sehnsüchtiges Verlangen, Schmachten, all das. Aber es war keine Liebe. Es war Besessenheit. Ich war von ihr besessen. Liebe, nein. Besessenheit.« Das Schwein blinzelte und wackelte mit den Ohren. »Es gibt einen Unterschied zwischen Liebe und Besessenheit, auch wenn ich der Einzige bin, der ihn kennt. Sie sollte mich lieben, damit ich sie nicht lieben musste. Und als sie es nicht tat, obsiegte die Besessenheit. Und das ist die reine Wahrheit.«
Das geduldige Schwein tat nichts. Aaron schwieg einen Moment, dachte schon daran, mit dem Graben fortzufahren, entschied sich aber, doch noch ein paar Worte zu sagen.
»Selbst Proust kannte ihn nicht. Den Unterschied zwischen Liebe und Besessenheit. Proust glaubte, Marcel liebte Albertine. Tat er aber nicht. Marcel wollte nur, dass Albertine ihn liebte – und als sie es nicht tat, obsiegte auch bei ihm die Besessenheit. Und als sie dann, als er überzeugt war, dass sie ihn tatsächlich liebte, sogar kam, um mit ihm zusammen zu leben, da hatte er keinerlei Vorstellung, was er mit ihr anfangen sollte, wo er doch nun hatte, was er wollte. Er hatte sich in seiner Besessenheit ausgetobt, ein anderes Verlangen gab es nicht. Besessenheit, nicht Liebe.« Er hielt inne, überdachte das eben Gesagte und war selbst erstaunt über seine Erkenntnis. Sein Blick ging über den Geräteschuppen, über das Weideland und hinaus auf die See. Halb ehrfürchtig, halb ungläubig sagte er: »Ich weiß mehr als Proust. Stell dir das mal vor. Ich. Mehr als Proust.«
Wie bei ihrer ersten Begegnung antwortete das Schwein mit einem Strahl Pisse aus dem Hintern, wie es bei einer Sau eben so ist. Und als der Strahl in sich zusammenfiel, machte es kehrt und vergewisserte sich, dass keine Rübe seine früheren Verwüstungen überlebt hatte.
Aaron wendete seine Aufmerksamkeit wieder dem Grab zu und dem Wasser, das jetzt bis zum Rand seiner noch verbliebenen Socke ging. Er zerrte sie sich vom Fuß, wrang sie aus und warf sie in Richtung Steinhügel, wo sie sich ziemlich oben an einem ausgezackten Stein verfing und dort wie die schmutzige Fahne eines Kobolds hing, der eine Niederlage erlitten hatte.
Aaron buddelte weiter, warf Schaufel für Schaufel mit Modder nach oben und kippte ihn weit genug von den Grabrändern ab, damit er ja nicht wieder auf dem Boden der Grube landete. Kein leichter Job, doch es gab ihm ein Gefühl der Solidarität mit den alten Existenzialisten, zu wissen, dass seine Anstrengungen zwar sinnlos waren, aber dass das Gebot zu handeln von einem verlangte, ihm, so gut man nur konnte, Folge zu leisten. Rutschte also eine Portion Schlamm in die Grube zurück, ließ er sich nicht entmutigen, sondern nahm es als Prüfstein seiner Ergebenheit gegenüber besagten, von anderen längst abgelösten Meistern mit ihrer aus eigenem Antrieb dramatisierten Resignation, die ihre Stümperhaftigkeit entschuldigte und sogar glorifizierte. Aaron McCloud war am Ende eins mit ihnen – denn immer mehr Schlamm rutschte und glitt in die Grube zurück.
Tom und Jim fuhren vor, als Aaron knöcheltief im Modder stand und das Wasser ihm bis zum Schienbein ging. Sie waren auf dem Rückweg zur Polizeistation, verlangsamten das Fahrtempo und hielten schließlich an, um einen Blick auf Aaron und seine schweißtreibende Arbeit zu werfen. Im Rücksitz ihres Wagens saß der vermeintliche Übeltäter, ein Jugendlicher in den Zwanzigern mit einer Mähne schwarzen Haares, das er nach hinten gekämmt hatte, und einem Spitzbart, der den Eindruck erweckte, er hätte einen Pakt mit dem Teufel geschlossen.
Tom und Jim kamen heran und blieben neben der Grube stehen. Sie sagten zunächst nichts, standen nur da und schauten zu.
»Was gedenken Sie da aufzubuddeln?«, fragte Tom.
»Ich buddele nicht auf. Ich buddele ein.«
»Ach so? Die Frechheit der McClouds ist nicht kleinzukriegen, wie?«
»Das möchte man hoffen.«
»Und was glauben Sie beim Einbuddeln zu finden, wenn ich fragen darf?«
»Ich hebe ein Grab aus.«
»Oh? Ein Grab soll das werden? Ist es für jemand Besonderen gedacht?«
»Für einen Mann, der ermordet wurde.«
»Ein Schlammloch für einen Ermordeten?«
»Wie ich gesagt habe, ja.«
»Oh, diese McClouds, diese McClouds. Und wer, bitteschön, könnte den Ermordeten ermordet haben?«
»Das weiß niemand. Wenn es jemand wüsste, wäre er ja wohl zu Ihnen gekommen, oder?«
»Wer weiß schon, wie sich jemand verhalten würde? Die Welt, junger Mann, ist der merkwürdigste Ort, der uns je vorgekommen ist. Und am merkwürdigsten von allen sind die Menschen, die da wohnen. Der Mann dort im Auto, zum Beispiel. Wir haben ihn weiter unten auf der Straße gefunden. Er biss an einer Springmaus herum, stellen Sie sich das mal vor. Ich mag gar nicht daran denken. So was in den Mund zu nehmen – eine Springmaus – sich windend und quiekend –, nie im Leben würde man auf so eine Idee kommen –, und der beißt darauf herum! Niemals möchte ich so etwas überhaupt sehen. Eine Springmaus, einfach so im Mund. Wie kann man nur auf so eine Idee kommen? Stellen Sie sich das mal vor!«
»Ja. Hab ich eben gemacht«, sagte Aaron. »Danke.«
»Sich windend …«
»Ja, danke. Und jetzt müssen Sie mich schon entschuldigen. Ich habe einen ermordeten Mann zu begraben.«
»Die Frechheit der McClouds blüht und gedeiht.«
»Danke. Ja.«
Nun meldete sich Jim zu Wort. »Schweine brauchen eine Suhle. Sie bereiten ihm da eine richtig gute. Kann nur hoffen, es weiß Ihre Arbeit zu schätzen.« Er drehte sich um zum Gehen, Tom tat desgleichen, gerade rechtzeitig, um zu sehen, dass der Gefangene das Weite suchte. »Da haben wir den Salat!«, sagte Jim. Und nach einer Reihe von derben Flüchen und einer Reihe von knirschenden Wendemanövern waren sie fort, in die Richtung entschwunden, aus der sie gekommen waren. Aaron hatte bei seiner Arbeit eher an Kräften gewonnen, als dass er sich ermattet fühlte, und stemmte sich mit Leichtigkeit aus der Grube. Die Hochstimmung, die man zu Recht denen zuschreibt, die körperlich arbeiten, war auch die seine, und auf dem Weg zur Küchentür, verdreckt und nach allem, nach Schwein und Fisch und Seetang und übelriechenden Ausdünstungen stinkend, sonnte er sich geradezu in der neuerworbenen Kompetenz als Grabausheber. Vielleicht musste er sich in Zukunft gar nicht mehr mit dem Schreiben herumplagen.
Als er das Haus betrat, hörte er aus dem Wohnzimmer Gläserklingen. Er durchquerte den Flur und ging hinein. Zwischen zwei Stühlen mit hohen Lehnen lag Declan aufgebahrt in seinem Sarg, einem stattlichen Kasten aus Eichenholz, gebettet auf einer Steppdecke – gelber Hahnenfuß auf blauem Grund –, der Kopf gestützt von einem Kissen in hellerem Blau als die Decke, mit größeren Blüten, aber auch Hahnenfuß. Auf den Schädel hatte man ihm seine Brewers Baseballkappe gepresst, ihr Schirm saß etwas schief über dem, was einst das Gesicht war, und verdeckte so, was einst Augen und Nase waren. Damit ihm der Mund nicht aufklappte, hatten sie das Klopfbrett – ein Dachdeckerwerkzeug aus Eisen in der Form eines Paddels, aber mit Rillen, oder auch wie eine längliche Pfanne zum Würstchenbraten – in die Hände gedrückt, gewissermaßen eine Ehrenbezeugung an seinen Beruf, wobei das breitere Ende den Unterkiefer abstützte. Als eine weitere Ehrenbezeugung hatte man ihm einen Rosenkranz aus braunen Perlen zwischen die Finger geschlungen, der beide Hände in heiligem Bund vereinte, so dass sie keinen Unfug anstellen konnten, bis gesegnetere Hände als die seinen sie wieder lösen würden für Segenstaten ohne Ende.
Um das Bild der Andachtsstätte zu vervollkommnen, hatte Kitty gelbe Schwertlilien und Hundszahn in einen irdenen Krug gestopft und dazwischen ein Büschel Heidekraut, damit das Gesteck nicht zu mickrig wirkte.
Lolly und Kitty saßen auf der Couch, jede mit einem Glas in der Hand, Lolly nippte daran, Kitty starrte auf die Erde, fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und holte tief Luft. Sweeney stocherte mit einem Schürhaken in den im Kamin brennenden Kohlen.
Aaron hatte ein weniger formelles Ritual erwartet: die Knochen in den Sarg packen, den Sarg in die Grube hinunterlassen, Schlamm und Erde daraufschippen, fertig. Aber offensichtlich dachte man, da Sweeney mit Eifer und Sachverstand den Sarg gezimmert hatte, Kitty und Lolly, begleitet von Streit und Kompromissen, die Knochen im frisch gebürsteten Anzug, in den sauberen Unterhosen, den Socken und dem sauberen Hemd verstaut hatten, dass ihrer Hände Arbeit nicht gleich beiseitegeschafft werden sollte.
»Wir brauchen ein paar Eimer, um das Wasser aus der Grube zu schöpfen«, sagte Aaron. »Aus dem Grab, mein ich. Ist jemand bereit zu helfen?«
»Setz dich erst mal ein Weilchen«, sagte Kitty. »Wir haben verbissen vor uns hingearbeitet, da dürfen wir uns eine kleine Pause gönnen. Bedien dich.«
Zwei neue Flaschen Tullamore Dew – Literflaschen – standen auf dem Kaffeetisch. Aaron warf einen Blick auf sie und meinte: »Vielleicht sollte ich mich umziehen.«
»Meinst du, das nützt?«
»Ich bin völlig durchnässt.«
»Das ist ja nichts Neues«, sagte Lolly.
»Ich trinke auf den Mann, der dort liegt«, sagte Sweeney. »Mögen Gott und Maria ihn willkommen heißen.« Er hob sein Glas Richtung Sarg, leerte es in einem Zug und füllte sich das nächste. Aaron ging zum Tisch, goss sich eine Spur Whiskey ein und richtete sein Glas nur andeutungsweise auf den Sarg.
»Mehr nimmst du nicht?«, fragte Kitty.
»Vielleicht später, wenn wir fertig sind.«
»Wir sind fertig. Wir müssen ihn nur noch im Kohlbeet versenken, und das geht im Nu.«
»Hier«, sagte Sweeney. »Mach einen vernünftigen Mannesschluck draus.« Er füllte Aarons Glas um etliche Zentimeter auf.
»Will sich keiner von euch beiden setzen?« Kitty langte zum Sessel und fegte ein dort liegendes Buch hinunter auf den Fußboden. »Kieran Sweeney, um den Toten zu ehren – ich weiß ja, du würdest die Gastfreundschaft des Hauses und dieser Familie ablehnen –, aber um den Toten zu ehren, wie du eben erst mit einem beachtlichen Schluck von meinem Whiskey bewiesen hast, kannst du im Namen von Declan Tovey durchaus einen Stuhl annehmen.« Sie schüttelte das Sesselkissen auf und strich noch einmal über den Sitz, obwohl da eigentlich nichts lag, was das Wohlbefinden eines Menschen hätte beeinträchtigen können.
»Es sei drum, für Declan Tovey mach ich’s.« Als müsse er sich für den verräterischen Akt, in einem McCloud-Haus in einem McCloud-Sessel Platz zu nehmen, stärken, gönnte sich Sweeney einen großzügigen Schluck, füllte wieder nach und setzte sich auf den Rand des Kissens, das Kitty für ihn gerichtet hatte. Die Flasche hatte er nicht aus der Hand gelassen. Gedachte er jetzt, fragte sich Aaron, ein Geständnis abzulegen?
Für Aaron, wenn er denn sitzen wollte, blieb nur der Stuhl mit der Sprossenlehne am Fußende des Sargs. Er ging hinüber, ließ sich fallen und erhob sein Glas, diesmal in Sweeneys Richtung, prostete ihm zu und drückte ihm so seine Anerkennung für die geleistete Arbeit aus – er hatte sie mit mehr Geschick erledigt, als man ihm zugetraut hätte. Und da er nun einmal saß, blieb er auch sitzen.
Aarons khakifarbene Shorts waren klatschnass, so hoch hatte das Wasser gespritzt, und er versuchte, jede Bewegung zu vermeiden, damit der Stoff nicht piekte und scheuerte. Hinter dem Sarg flackerte ein Feuer, aus dem Lichtblitze – auch Schatten – in die Höhe zuckten, mal größer, mal kleiner, und der Wechsel von Hell und Dunkel huschte über die Kamineinfassung, als verhöhnte er Declan und machte sich darüber lustig, dass er nicht mit von der Partie sein konnte. Aaron beobachtete das Spiel der Flammen und senkte dann den Blick ins Glas. Er nahm einen Schluck und ließ den Whiskey die Kehle hinuntergleiten und sich wohltuend warm im Brustkorb ausbreiten. Er hüstelte. »Ein Wind kommt auf«, sagte er. Eine Antwort erhielt er nicht. Sie erübrigte sich auch, denn der Wind ließ das Haus erzittern, rüttelte an den Fensterläden und fuhr so heftig in das Feuer, dass ein Funke auf dem Schirm von Declans Baseballkappe landete. Nicht genug damit, er heulte wie ein Halloween-Geist um die Südseite des Hauses, und statt eines Schreis schlug er einen Fensterladen gegen das Küchenfenster. Immer noch schwiegen alle.
Aaron betrachtete seine verdreckten Füße und stellte fest, dass, wenn er mit den Zehen wackelte, die Zehnägel ein leichtes Glitzern vom Feuerschein abbekamen, der unter den Stühlen tanzte, auf denen der Sarg ruhte. Dreimal betrieb er das Spielchen und wollte es ein viertes Mal tun, als Lolly sagte: »Großartig, was er alles konnte, war ehrlich in allem, was er tat. Wo immer er auch zupackte, seine Hände vollbrachten Wunder. Die Dachdeckerei war sein Beruf, aber bei Klempnerarbeiten war er ebenso geschickt.«
Sinnend schaute Lolly auf die Schornsteinwand; für einen Moment fing sich ein Lichtschein in ihren Augen, hell und wieder dunkel. Das Glas hielt sie an die rechte Brust gedrückt, die linke Hand griff an den Hals. »Haben wir ihn nicht oft genug gerufen, damit er die Pfuscharbeit der eigentlichen Fachleute in Ordnung brachte? Die Spülung der Toiletten im ganzen Dorf gewann an Kraft, wenn er Hand angelegt hatte, das Wasser schoss dann richtig los und beförderte zuverlässig den Unrat in die Rohre, durch die der ganze Unflat ins Sammelbecken gelangte. Gott möge ihn willkommen heißen.« Sie hob ihr Glas und nahm einen Schluck.
»Gott und auch Maria«, ergänzte Kitty.
Aaron ging auf, dass es sich um eine irische Totenwache handelte, der er beiwohnte, dass alle Vorbereitungen im Laufe des Tages diesem Ereignis gegolten hatten. Deshalb hatte man einen Sarg gebraucht und eine vernünftig bekleidete Leiche, deshalb hatte man die Knochen gewaschen und sich für die schönsten Bretter entschieden, die es im Haus gab. Deshalb hatte man den Tullamore Dew herausgeholt, und deshalb saßen sie hier alle beisammen und starrten auf die Kiste aus Eichenholz, aus der der Schirm der Baseballkappe hervorlugte. Declan Tovey würde mit einer Lobeshymne bedacht werden, Wahrheiten über ihn und sein Leben würden verkündet werden. Und zum Schluss käme das Eingeständnis des Mörders. Lolly hatte die Eröffnungsrede gehalten. Jetzt war Kitty an der Reihe.
»Wie er sich auf elektrische Dinge verstand, war noch erstaunlicher«, fing sie an. »Die anfänglich nötigen Installationen machte er nie – die überließ er den Fachkräften. Aber er hatte ein Gespür dafür, sich einen Monat später sehen zu lassen, denn er wusste, dass es nicht ohne Reparaturen abging. Nicht ein jeder merkte, dass sie nötig waren. Nur Declan spürte die Fehler auf und machte die Nachbesserungen. Vieler Worte bedurfte es nicht, wir nickten ab und an, als verstünden wir, worum es ging, und der Mann machte sich an die Arbeit. Mit was für einer Geduld und mit einem heiligen Ernst. Und wenn er fertig war, erklärte er, was man zu bezahlen hätte, würde er das nächste Mal einfordern. Und war dann die Zeit heran, wurde fröhlich gezahlt, ob man’s glaubt oder nicht. Zu niemandes Verwunderung waren die Stromrechnungen plötzlich ganz niedrig und die Wucherpreise mit dem in Einklang gebracht, was eine Familie zu zahlen vermochte. Wie man das hatte bewerkstelligen können, wusste keiner, und keiner fragte danach. Und wenn das Kraftwerk Nachforschungen anstellte, warum in manchen Gebieten so wenig Strom verbraucht wurde, führte das zu keinem Ergebnis. Man schlussfolgerte nur, dass wir Hinterwäldler die meiste Zeit im Dunklen verbrachten und uns weigerten, wie zivilisierte Menschen Geräte zu benutzen, auf die kein vernünftiger Haushalt verzichten würde. Und zu verdanken hatten wir alles Declan. Mögen Gott und Maria sich seiner erbarmen.«
»Und Brendan und Patrick auch«, fügte Sweeney hinzu, denn jetzt war er an der Reihe.
Aaron nahm erst einen kleinen und gleich danach einen anständigen Schluck. Der Whiskey tat gut, wärmte und machte es etwas leichter, die nassen Sachen und kalten Füße zu ertragen.
»Lasst uns nicht vergessen«, hub Sweeney an, »dass er gemeine Arbeiten mit ungemeinem Geschick erledigte. Er reinigte Dachrinnen, machte verstopfte Rohre durchgängig; egal, was zu reparieren war, er brachte die Dinge im Handumdrehen in Ordnung. Er verstand einen Schornstein zu bauen, der die Wärme drinnen ließ und nicht räucherte, und ging es um eine löchrige Trockenmauer, setzte er die Steine so, dass man dachte, man hätte ein Stück aus einem uralten Bethaus oder einer Kapelle zur frommen Andacht vor sich. Für die Hölle ist der zu schade.«
»Viel zu schade«, sagte Lolly.
»Viel zu schade«, bestätigte auch Kitty.
Sweeney schenkte sich mehr Dew ein, füllte Kittys Glas auf und auch Lollys. Er stellte die Flasche zurück, erst dann fiel ihm Aaron ein. Er nahm die Flasche, ging zu ihm, goss auch sein Glas randvoll, warf einen flüchtigen Blick in den Sarg, kehrte an seinen Platz zurück und setzte sich, diesmal etwas weiter auf das Kissen. Er saß in aufrechter Haltung, schaute gedankenvoll in seinen Whiskey und richtete sich noch etwas mehr auf. Jetzt gesteht er gleich, dachte Aaron. Jetzt ist der Moment gekommen. Natürlich hatte Sweeney die Tat begangen. Aus Eifersucht, weil da etwas – ob tatsächlich oder nur eingebildet – zwischen Declan Tovey und seiner Tante gewesen war. Sweeney hatte den Mann umgebracht. Und nun würde alles herauskommen. Im Vorgefühl des zu Erwartenden schwenkte Aaron den Whiskey in seinem Glas, verschüttete zwar etwas, aber fabrizierte einen kleinen Strudel. Wenn Sweeney sein Geständnis abgelegt hatte, wollte er auf dessen Gesundheit trinken.
Stattdessen ergriff Lolly das Wort. »Wenn auch alles, was er anpackte, großartig gelang, so gab es doch stets Grund zu Argwohn. Er kam und verschwand, zog ständig umher, ein geborener Wanderer, ein Kesselflicker. Soviel man wusste, hatte er keine Frau, was sein allgemeines Ansehen erhöht hätte, auch keine Kinder, was für seine sittliche Achtung gut gewesen wäre. Er redete wenig, ein Zeichen dafür, dass nicht alles bei ihm stimmte. Gott hat uns die Sprache verliehen, auf dass wir sprechen. Von seinem Witz und Verstand hat nie jemand etwas zu hören bekommen, ein weiterer Beweis, dass er bei uns nicht recht hereinpasste. Dass er nie tanzte oder sang, könnte man entschuldigen: Gott verteilt seine Gaben nach Lust und Laune und hält sie zurück, wenn es ihm beliebt. Wenn es Gott gefallen hat, dass Declan Toveys Füße bar jeden Gefühls für Rhythmus waren und dass seine Kehle nur einer Krähe zum Neid gereichte, dann ist es Gottes Sache, geheiligt sei sein Name. Schlimmer jedoch war, dass man ihn nie lachen hörte, jedenfalls gibt es keinen, der sagen könnte, er habe es erlebt. Das alles sind Dinge, die auch gesagt werden müssen.«
Sweeney teilte mehr Whiskey aus, goss sich den Rest aus der Flasche ein und ging zum anderen Ende des Tisches, um eine neue Flasche zu holen. Kitty spann derweil den Faden für die zweite Phase der Totenwache weiter, in der die weniger schmeichelhaften Aspekte dargelegt wurden, nachdem man die Lobeshymnen abgespult hatte. »Lachen vielleicht nicht. Aber er konnte lächeln. Und das tat er zur Genüge. Und dafür gibt es jede Menge Beweise rundum in den Orten hier. Es war kein breites Lächeln von einem Ohr zum anderen, nur ein kleines Verziehen der Mundwinkel, ein Öffnen der Lippen, hinter denen sich zwei Reihen strahlend weißer Zähne verbargen, wie sie nur der Teufel selbst meißeln kann. Und beim Lächeln geschah auch etwas mit den Augen. Ein Leuchten ging von ihnen aus wie aus einer inneren Welt, einer Welt der Wunder und rätselhaften Verheißungen. Versuchung und Wagemut in einem, die Augen – sie forderten einen jeden auf, die Reise zu wagen, die sie ins verborgene Land führen würde. Karten dafür gab es keine, auch keinen Kompass, der den Weg gewiesen hätte. Da waren nur das Wunder und die Verheißung und der Wagemut und das Leuchten. Und was ich sage, stimmt, so wahr mir Gott helfe.«
Das, dachte Aaron, war die Präambel zum Geständnis, besser konnte es gar nicht sein. Sie hatte ihn geliebt, war ihm gefolgt, hatte ihn verloren und getötet. Hatte man ihn nicht vergraben in ihrem eigenen Garten gefunden? Unter ihren Kohlköpfen? Schwer, so etwas von seiner eigenen Verwandten zu glauben, und Aaron zog schon in Betracht, sich einzumischen, ihr Einhalt zu gebieten. Ausnahmsweise mal den Mund zu halten. Es wäre nicht nötig, weitere Worte zu verschwenden.
Sweeney, als wollte er sie für ihre Rede belobigen, versorgte sie mit mehr Dew. Aaron musste etwas sagen, ehe es zu spät war.
Doch die nächsten Worte kamen nicht von Kitty, sondern von Sweeney. »Pilger auf der Suche nach dem verborgenen Land«, sagte er, »und da gab es mehr als genug – leidenschaftlich in ihrem Streben, verzweifelt in ihrem Flehen, selbstlos in ihren Opfergaben, und doch weiß man von keinem, der das Leuchten erreicht hat, das die Augen von Declan Tovey ausstrahlten. Keiner von ihnen war auf die Suche gegangen und zurückgekehrt mit einer Trophäe, die bewies, dass man das Ziel erreicht hatte. Die Wegränder waren übersät mit gestrauchelten Pilgern, mit Bittstellern, die es nicht weiter schafften und nur noch flehten, dass das Licht ihnen wenigstens ein letztes Mal scheinen möge. Ein Declan konnte höchstens sein Lächeln lächeln bei so einem törichten Gedanken und machte damit deren Qualen nur noch schlimmer. Seine Augen waren blind. Nichts von dem Elend nahm er wahr. Aber dass er selbst zum Wohle der Gemeinschaft aus dem Wege geräumt werden musste, war vielen klar. Zumindest mir.«
Diesmal war es Aaron, der aufstand und die Gläser füllte. Für das, was Sweeney jetzt sagen würde, musste jeder einen Drink parat haben. Er würde gleich gestehen. Aber auch das wollte Aaron eigentlich gar nicht hören. Sweeney war ein guter und ehrenwerter Mann. Er hatte Aaron das Leben gerettet. Sollte er doch – wenn der Himmel ein wenig nachhalf – Kitty bekommen und Kitty ihn. Er durfte nicht sprechen. Aber es war zu spät. Sweeney machte bereits den Mund auf. Er erhob sich und erklärte:
»Ich … ich werde jetzt ein Lied singen.« Und er tat es, eine schwungvolle Melodie, ein mitreißender Rhythmus, der dazu einlud, von Trommelschlag oder Händeklatschen begleitet zu werden.
Nichts Schön’res kann der Doktor verschreiben,
wenn Whiskey und Porter bezahlbar sind,
weil die unsre Schmerzen vertreiben,
und alle Sorgen trägt fort der Wind.
Selbst ’ne Alte, die mit Keuchen und Stöhnen
liegt elend im Bett schon ein Jahr,
wird sich mit ’nem Gläschen aussöhnen
und abschmeißen ihr Bettzeug sogar.
Kitty quiekte ganz gegen ihre Art vor Entzücken auf, und Lolly lachte schallend. Sweeney, nicht faul, wiederholte das Ganze, zu Aarons Verwunderung nicht in einem edlen irischen Tenor, wie er zu einer Totenwache gepasst hätte, sondern in einem brummenden Bass, der eher dazu angetan war, ernsthaftere Tiefsinnigkeiten zum Ausdruck zu bringen, als das, was er hier zum Besten gab. Noch war er bei den ersten vier Zeilen –
Nichts Schön’res kann der Doktor verschreiben,
wenn Whiskey und Porter bezahlbar sind,
weil die unsre Schmerzen vertreiben,
und alle Sorgen trägt fort der Wind …,
da sprang Kitty mit einem zustimmenden Jauchzer auf und fing an zu tanzen; die Arme hatte sie in die Seite gestemmt, Füße und Beine aber wirbelten mit einer Ausgelassenheit umher, die jedes Zögern des sonstigen Körpers wettmachte – und übertrumpfte. Schwenkte sie ein Bein nach vorn, blieb dem Fuß gar nichts anderes übrig, als mit dem Tempo mitzuhalten, gehorsam und doch eigenwillig. Bei einem zweiten Schwenker konnte Lolly nicht länger an sich halten und klatschte den Takt der Melodie mit, stand schließlich auf und trug ihr Teil zu dem Frevel bei. Jauchzend und kreischend trieben sich beide, Lolly und Kitty, an, vergaßen alles um sich herum und sprengten die Grenzen der Schicklichkeit. Zwei, drei Male stießen sie an den Sarg, und der Schirm von Declans Kappe signalisierte die Stöße durch ein Hin- und Herrutschen. Das Feuer im Kamin züngelte höher und leistete seinen Beitrag zu dem ausgelassenen Treiben, Licht und Schatten hüpften gespenstisch über den Leichnam, plötzlich erstrahlte eine Perle im Rosenkranz in gleißendem Licht, dann strich eine längliche Flamme über den linken Wangenknochen, über eine Schulter huschte neckend ein Schatten, die Flammen gebärdeten sich wie eine herzlose Verführerin, die ausgesandt war, die fleischlosen Knochen des hilflosen Toten zu verspotten.
Bei der dritten Wiederholung des Gesangs fing auch Sweeney an zu tanzen, etwas täppisch erst, dann aber voller Wollust trampelnd und stampfend und stoßend, der Übermut in Person. Nicht, dass die Kraftanstrengung der Füße die Stimme beeinträchtigt hätte. Eher hatte man den Eindruck, die Bewegung der Beine pumpte zusätzliche Luft in die Lunge, wie ein Blasebalg, und verlieh dem Gesang nur noch mehr Kraft und Klangfülle.
»Aber – du hast doch den Mann, diesen Mann, der dort liegt, geliebt«, sagte Aaron. Niemand hörte ihn. Das Tanzen, das Geschrei und Gekreische hatte sich ins Unermessliche gesteigert. Wieder erfuhr der Sarg einen Stoß. Wieder schaukelte Declan ein wenig hin und her, hielt dann aber Ruhe. Das ganze Haus schien unter ihren Füßen zu erschauern und zu erzittern, und der Wind draußen heulte auf seine Weise auf und trieb sie zum völligen Wahnsinn, als wären sie von Dämonen besessen.
Das Kreischen und Schreien und auch der Wind nahmen noch zu. Dann gab es einen markerschütternden Laut, und wieder bebte das Haus. Zusätzliche Füße hatten sich unter die Tanzenden gemischt, wenn auch mit einem eigenen Rhythmus. Das Schwein hatte sich einen Weg in die Stube gebahnt, hatte die Gazetür zerfetzt. Die Hufe trippelten und trappelten auf dem Holzfußboden, die Schnauze hielt es hochgereckt und verstärkte mit seinem Quieken und Quietschen das wahnwitzige Treiben.
Immer noch sang Sweeney, alle übertönend:
Selbst ’ne Alte, die mit Keuchen und Stöhnen
liegt elend im Bett schon ein Jahr,
wird sich mit ’nem Gläschen aussöhnen
und abschmeißen ihr Bettzeug sogar.
Immer schneller tanzten Lolly und Kitty. Das Schwein raste um die Couch, rannte einen Beistelltisch um, weiter um einen Sessel, trampelte auf Bücher, um den Kaffeetisch, quiekte, wurde eine Bedrohung für den Tullamore Dew. Das Tanzen nahm kein Ende, das Singen auch nicht. Dem Sarg wurden immer mehr Stöße versetzt, das Gejauchze klang schon mehr wie ein Schmerzensschrei, das Lied wie ein Protest inmitten des irren Lärms. Das Schwein nahm Kurs auf den Sarg.
Aaron sprang auf. »Es kippt ihn gleich um!«, schrie er, doch seine Worte wurden als Ansporn zum Weitermachen verstanden. Das Schwein senkte den Kopf mit Zielrichtung Sarg. Aaron versperrte ihm mit ausgebreiteten Armen den Weg. Das Schwein ließ sich nicht beeindrucken, stupste sich mit dem Kopf durch das Chaos. Als es nur noch einen halben Meter bis zum Sarg hatte, holte Aaron mit dem Bein aus – die schwungvolle Bewegung erweckte den Eindruck, als machte er nun auch bei dem Wirbeltanz mit – und versetzte dem Schwein einen Tritt in die linke Hinterbacke. Überrascht blieb das Schwein stehen und sah Aaron ungläubig an. Aaron versetzte ihm einen zweiten Tritt, diesmal heftiger. Es dauerte einen Moment, bis das Schwein sich aus seiner Verblüffung löste, dann gab es einen durchdringenden Schrei von sich, schlimmer konnte es selbst im Schlachthaus nicht klingen.
»Du kannst das dem armen Mann nicht antun. Er ist tot!«, schrie Aaron das Tier an; wenn es schon kein Verständnis aufbringen konnte, so sollte es wenigstens auf ihn hören. Er half mit einem erneuten Tritt nach.
Lolly hielt als Erste inne, dann Sweeney – auch der Gesang verstummte. Kitty wurde langsamer, dann stand auch sie reglos da. Sie alle – das Schwein eingeschlossen – starrten Aaron an.
Lolly trat einen Schritt zurück. »Sie haben das Schwein getreten«, sagte sie, und ihre Stimme klang erstaunt und drohend zugleich.
»Es hätte ihn beinahe … umgekippt … ausgekippt …« Sich leicht zu ihm beugend, fragte Kitty: »Du hast das
Schwein getreten?«
Sweeney sah Aaron an, dann Lolly, dann Kitty. »Er hat das Schwein getreten?«
»Er hat es getreten«, sagte Lolly.
Sweeneys Blick ging zurück zu Aaron. »Haben Sie das Schwein getreten?«, fragte er ihn.
Aaron versetzte dem Schwein erneut einen Stoß. «Ja«, sagte er. »Ich habe das Schwein getreten.«
Das Schwein äußerte sich lautstark.
»Aber warum?«
»Es war drauf und dran, den Sarg umzukippen. Alle Knochen zu verstreuen.«
Die drei blickten zum Sarg. Dann zu Aaron, die Köpfe drehten sich unisono wie ein Uhrwerk, die Gesichter gleichermaßen verstört ob seiner befremdlichen Sorge und seines ungeheuerlichen Verhaltens.
Kitty ging zu dem Sarg, streckte die Hand aus und berührte mit den Fingerspitzen eine Schädelseite. »Mögen die geliebten Knochen ruhen. Ich war es; mit dieser Hand, die ihn jetzt berührt, habe ich ihn getötet.«
Niemand bewegte sich, nur das Schwein. Es versuchte, den Läufer vor der Couch zu zerwühlen, rieb sich die Schnauze daran, schnüffelte grunzend in dem Gewebe herum. »Das, was er mir alles gesagt hat, hätte er nie sagen dürfen«, fuhr Kitty fort. »Das einzige Mal – wie er behauptete –, das einzige Mal, dass er in seinem ganzen Leben richtig gelacht hätte, wäre beim Lesen eines meiner Bücher gewesen. Es wär der einzige Spaß, den er in der traurigen Welt um ihn herum gehabt hätte. Bei meiner Bearbeitung von Jane Eyre, so behauptete er, wäre er in schallendes Gelächter ausgebrochen. Einmal hat er ein Buch aufgeschlagen, das auf dem Küchentisch da lag, es war der von mir umgeschriebene Roman Herzen in Aufruhr von Thomas Hardy, wo alle Kinder groß werden und zum Studium nach Cambridge gehen. Er las darin herum. Und er lachte. Er las laut weiter und lachte wieder. Mitten in einem Satz zog ich ihm eins mit dem Werkzeug über, das er nun in Händen hält, und sandte ihn zur Hölle, sollte er sich doch zum Teufel scheren, der sich ihn zum Ebenbild geschaffen hatte. Und ich vergrub ihn dort, wo er für meine Kohlköpfe guten Dünger abgeben würde.«
»Nein!«, protestierte Aaron. »Das ist nicht wahr. Ich weiß, dass es nicht stimmt. Sweeney, singen Sie Ihr Lied. Ich hätte das Schwein nicht treten dürfen. Bitte. Singen Sie!«
Ohne ihre Hand von Declans Wangenknochen zu nehmen, sagte Kitty: »Ich habe die Wahrheit gesagt, und niemand wird mich davon abbringen.«
»Kieran Sweeney«, flehte Aaron, »In Gottes Namen, singen Sie! Lassen Sie sie nicht …« Sweeney streckte seine Hand aus und legte sie dem Toten auf die Baseballkappe. »Singen muss ich überhaupt nicht, und Sie müssen sich keine Sorgen machen. Nichts von dem, was gesagt worden ist, entspricht der Wahrheit. Niemals hat diese Frau den Mann hier getötet, ich bin der Einzige, der das mit Sicherheit sagen kann. Zu Tode gekommen ist er durch die Hand, die ihn jetzt berührt, und das aus gutem Grund, wie immer das Gesetz dazu steht. Im Nebel eines nebligen Tages aufrecht vor mir stehend, sagte er Worte, die ein Mann sich nicht wagen sollte zu sagen. Die Frau, um die es geht und auf die er sich bezog, sieht nicht, wie er behauptet hat, wie eine Kuh aus. Die ganze Schönheit der Welt widerspiegelt sich in ihrer strahlenden Herrlichkeit – von wegen Kuh. Und dann machte er das Maß voll und sagte, dass die Frau, um die es geht – und die ich liebe und immer lieben werde in all meinen Tagen und Nächten und bis in alle Ewigkeit, bis Gott mir befiehlt, mich seiner beseligenden Himmelsschau anheimzugeben –, dass dieses Trampel von Weibsbild, wie er sich ausdrückte, zweimal in seiner Gegenwart gefurzt hätte, und ihr Haar wäre ohnehin das einer Hexe. Das war der Moment, wo die Gerechtigkeit zuschlug, nicht mit einem Schwert, sondern mit dem Eisen, das er jetzt in der Hand hält. »Kuh!«, sagte ich. »Furz!«, sagte ich. »Hexe!«, sagte ich und begleitete jedes der Worte mit einem Schlag. Und damit war er erledigt. Und ich begrub ihn in dem Garten von eben der Frau, sollte er doch ihr Kuhgesicht, wie er es nannte, von dort unten anglotzen.«
Kitty bedachte Sweeney mit einem eisigen Blick, doch bevor sie noch etwas sagen konnte, näherte sich Lolly aufrechten Ganges dem Sarg und wählte zum Ablegen ihrer Hand das Klopfbrett. »Was immer sich zugetragen hat, Kieran Sweeney, niemand hier hat bisher die Wahrheit gesprochen, aber ich werde es jetzt tun. Der Schlag wurde von mir ausgeführt, auch brauchte ich nur einen im Gegensatz zu anderen, deren Namen ich nicht nennen werde. Ja, ein Mann sollte darauf achten, was er über das geliebte Wesen eines anderen sagt, und was ich getan habe, ist Beweis dafür. Hat meine Schweine verhöhnt, Lügen über sie verbreitet. Dämlich hat er sie genannt. Verdreckt. Fräßen Abfall, Scheiße und Unrat, hat er gesagt. Nicht meine Schweine, hab ich entgegnet, und das mit warnendem Blick. Aber denkt ihr, er hat aufgehört? Nein. Nicht Declan Tovey. Er zeigt auf ein Schwein, keinen Meter von ihm entfernt, und beschimpft es in Hörweite des Tieres. ›Dämlich! Verdreckt! Frisst Abfall, Scheiße und Unrat. Du da‹, hat er geschrien, ›dich mein ich.‹ Und dann hat er’s getan und sein Schicksal besiegelt. Ging auf das Schwein zu, den einen Meter und – ich vermag es gar nicht zu sagen. Aber er hat es getan, und es muss gesagt werden. Er versetzte dem Schwein einen Tritt.«
Aaron reckte sich in die Höhe, um gleich darauf die Schultern fallen zu lassen, und so in sich zusammengesackt, blieb er stehen. Das Schwein ließ vom Herumschnüffeln im Teppichstück ab.
»Ein kräftiger Hieb, und der Kerl war erledigt, und das Bein, das sich an dem Schwein vergangen hatte, lag steif und kerzengerade da. Und da ich gerade gesehen hatte, wie am selbigen Tag Kohl dort gepflanzt wurde, wusste ich, das ist der richtige Platz, um ihn zu begraben. Gott ließ ihm nichts als Gerechtigkeit widerfahren, als ein Schwein ihn wieder ans Licht beförderte, und so können wir ihn zurück zu den Kohlköpfen legen, wo er hingehört.«
Sie stieß mit dem Fuß gegen den Sarg.
»Nein!«, sagte Aaron. »Ihr lügt, einer wie der andere. Ihr … ihr … ihr wetteifert miteinander. Jeder nimmt die Tat für sich in Anspruch … oder deckt den anderen … ihr wetteifert. Jeder von euch möchte der wichtigste Mensch in seinem Leben gewesen sein! Ich will davon nichts hören. Ich habe auch nichts gehört. Sweeney, singen Sie weiter. Singen Sie, und wir tanzen, wir alle. Ich tanze mit. Ich verspreche es. Singen Sie. Bitte.«
Als keiner zu singen anfing, tat es Aaron selbst, nicht laut, aber mit tapferer Entschlossenheit.
Wie kam denn das Schwein in die Stube,
Wie kam denn das Schwein in die Stube,
Wie kam denn das Schwein …
Seine Stimme wurde kräftiger und überzeugender.
….in die Stube,
Wie kam denn das Schwein in die Stube,
Und irisch ist’s allemal!
Abermals rüttelte der Wind an dem Haus, ließ es in den Grundfesten erzittern, brachte die Steine zum Ächzen. Lolly schaute zu Aaron, nicht höhnisch oder böse, eher traurig und enttäuscht, fragte sich, warum er getan hatte, was er getan hatte.
Er sang weiter, seine Stimme ein kräftiger Tenor, der mit Lautstärke und Vehemenz wettmachte, was ihm an Timbre fehlte, in der Tonhöhe nicht immer sicher, in der Hingabe unübertroffen. Sein Blick suchte den von Lolly.
Wie kam denn das Schwein in die Stube,
Wie kam denn das Schwein in die Stube,
Wie kam denn das Schwein …
Ein qualvoller, herzzerreißender Schrei übertönte den Gesang, gefolgt von einer Reihe von schrillen Quietschern, die nur von entsetzlichem Schmerz herrühren konnten. Das Schwein, im Bestreben, dem Gesang zu entkommen, trappelte eilends aus der Stube hinaus, über den Gang, durch die Küche und flüchtete durch das Loch in der Fliegentür, das es selbst gerissen hatte, ins Freie. Doch das Geschrei ließ draußen nicht nach, es wurde lauter, bis man ein kräftiges Platschen hörte und der Lärm in Gegrunze überging, ein Ausdruck von Ekel und Abscheu.
»Es ist im Grab – schon wieder!« Sweeney stürzte aus dem Raum, dem Schwein hinterher. Die Fliegentür schlug zu. »Im Grab ist es!«, rief er noch einmal vom Hof. Kitty war die Nächste, die losjagte, wieder schlug die Tür. Lolly hatte offensichtlich geglaubt, noch durch die Tür zu gelangen, bevor sie zufiel, schaffte es aber nicht. Aaron, der immer noch sang, hörte nur ihr »Autsch!«, danach ging die Tür auf und wieder zu.
Der Gesang verstummte. Aaron sank auf den Stuhl, er war der einzige verbliebene Trauernde. Das Feuer im Kamin war am Ausgehen, auf den Kacheln lag nur noch gedämpftes Licht, und auch das würde bald ersterben. Draußen hatte der Wind zu einer steten Tonart gefunden, hoch und schrill; weder an- noch abschwellend, heulte er beständig und drohend. Er rüttelte an den Fenstern, setzte dem Schornstein zu und hielt, wie es Aaron schien, das ganze Haus in seinen Fängen, als wollte er es daran erinnern, dass mit den Elementen nicht zu spaßen war. Jetzt klang sein Geheule eine Oktave tiefer. Aaron lauschte dem Ruf, der Aufforderung irgendwelcher Furien, die möglicherweise vorbeizogen und einluden, mitzumachen in dem Grauen, das zu verbreiten sie gewillt waren.
Die Schreie aus dem Garten aber durchdrangen alles, Beschwörungen und Drohungen, die dem Schwein galten, gutes Zureden und Rufe wie »Suuii! Suuii!«, Platschen, Quieken, Aufschreien, Lollys Stimme am lautesten von allen. Aaron blickte durch die Gazetür und sah, wie im Licht des Dreiviertelmonds die drei Figuren um die Grube tanzten, sich hinunterbückten, dann die Arme gen Himmel streckten, das Schwein umrundeten, als wäre es ein Objekt der Verehrung, und die gleichen Riten und Freudentänze vollführten, wie sie kurz zuvor dem Sarg gegolten hatten.
Außer einem gelegentlichen Blinzeln und dem Auf und Ab des Brustkorbs beim Atmen war Aaron zu keiner Bewegung imstande. Lolly McKeever hatte ihm das Herz gebrochen. Der trauervolle Blick, den sie auf ihn gerichtet hatte, der ratlose Schmerz, den er in ihrem Gesicht gelesen hatte, in ihren Augen und in dem hilflosen Hängenlassen des Kinns, hatten nicht nur sein Herz berührt, sie hatten es verwundet und für eine Eroberung empfänglich gemacht.
Phila Rambeaux hatte alles ausgespielt, was die Schicksalsmächte zu bieten hatten, von Anfang an und mit Vorbedacht. Sie hatte Aaron an die Gestade hier gesandt, ihn seinem wahren Geschick überantwortet und konnte nun ohne großen Applaus von der Bühne abtreten. Sie hatte ihn Lolly in die Arme getrieben. Alles Geschehen drum herum, alle Personen hatten den einzigen Zweck gehabt, ihn dahin zu bringen, wo er jetzt war.
Der Wind in seinem Wüten packte das Haus, als wollte er es aus seiner gewohnten Umgebung zerren und nach Cork umsetzen, schob es mehr, als dass er es fortblies, schubste und stieß. Aaron wünschte, der Sturm würde sich über das Dach hermachen und es gut sein lassen. Draußen im Hof waren die Bitten und Rufe in Gelächter übergegangen, gellend und brüllend; dann hörte man es wieder platschen und schreien, und Aaron sah, wie Kitty und Lolly Sweeney an den Armen aus dem Grab zerrten.
Die Stube erzitterte, auf der Tischplatte klirrten die Gläser, als schwatzten sie miteinander darüber, was um sie herum vorging. Aaron wollte sich das Glas greifen, das er halbleer auf dem Kaffeetisch hatte stehenlassen, stolperte aber gegen den Sarg. Er konnte sich gerade noch halten und hatte das knöcherne Gesicht des ermordeten Declan vor sich, der die Mordwaffe fest in Händen hielt.
Das Grab ist ein verschwiegener Platz,
doch niemand herzt dort seinen Schatz.
Aaron taumelte zum Tisch, nahm sein Glas und kippte alles, was noch drin war, hinter. Wieder erzitterte das Haus, stärker als zuvor. Er stellte das Glas ab und griff sich ein anderes, das Kitty hatte stehen lassen. Auch das trank er in einem Zug leer. Als das nächste Beben durch das Haus ging, nahm es Aaron als Aufforderung, sich auch Sweeneys Glas einzuhelfen. Dann musste Lollys Glas dran glauben, es war voller als die anderen, Aaron drehte sich zu Declan und hob das Glas zu traurigem Gruß. Aber noch ehe er es an die Lippen setzen konnte, wackelte der Boden unter seinen Füßen, brachte den Sarg ins Wanken, und der Stuhl mit der Sprossenlehne kippte um. Mit der einen Hand suchte er Halt am Rand des Sarges, mit der anderen machte er einen erneuten Versuch, das Glas an den Mund zu führen. Doch schon kam das nächste Beben, eine Lampe fiel krachend zu Boden. Das Fußende des Sarges hüpfte vom Stuhl, die Fenster schepperten bedrohlich. Jetzt folgte ein Grollen, ein zunächst leises, dann anschwellendes Donnern unter dem Haus. Das Licht ging aus. Nur noch der silberne Mondschein erhellte den Raum. Die Kohlen waren aus dem Kamin auf den Fußboden geschleudert worden und lagen wahllos herum, ein Häufchen Glut hatte sich unter dem abgekippten Ende des Sarges eingenistet.
Aaron hielt immer noch Lollys Glas umklammert, wollte zur Tür, in den Gang, in die Küche und raus auf den Hof. Noch war er nicht aus der Stube, erst auf halbem Weg zur Tür, da spürte er, wie sich der Fußboden langsam senkte, wie ein Fahrstuhl, der es nicht eilig hatte. Er versuchte, die Tür zu erreichen, doch eine leichte Bodenneigung verlangte ein Sich-bergan-Kämpfen. Das Grollen klang jetzt drohender, Siegergehabe eines Raubtiers, das sich auf seine Beute stürzte.
Das Haus schwankte. An dem nach unten hängenden Ende des Sarges leckten Flammen; dem Teppichstück entwichen kleine Rauchwolken. Aaron rief um Hilfe und brachte nur ein einziges Wort heraus: »Lolly!«
Die Neigung des Fußbodens war größer geworden, den Hof konnte er schon nicht mehr sehen, nur noch die Bäume am hinteren Ende des Gartens. »Lolly!«, rief er noch einmal. Der Schrei wurde von dem Gebrüll des Tieres unter dem Gebäude übertönt. Er brachte das Glas an die Lippen, trank den Dew, schluckte ihn hastig hinunter. Das Glas fiel ihm aus der Hand, der Fußboden kippte zur Seite, und er wurde gegen den am Fußende bereits brennenden Sarg geschleudert.
Auf allen Vieren begann Aaron sich schräg nach oben zu arbeiten, wo er die Tür wusste. Er schaffte es in den Gang. Er schaffte es in die Küche, hatte das Loch in der Gazetür unmittelbar vor sich.
Wasser berührte seinen Fuß, stieg langsam am Bein hoch bis zum Knie. Das Meer drang in das zur Seite gekippte Haus, stieg hinter ihm. Jetzt zog der Sog das ganze Haus nach unten, die hartnäckigen Wogen bekamen den Preis, um den sie unzählige Jahre gerungen hatten. Der Wind mit seinem Schieben und Stoßen hatte sich redlich gemüht, das Haus auf festeren Grund zu befördern, doch das Meer hatte sich als stärker erwiesen.
Es hatte Aaron gewarnt. Es hatte ihn namentlich gefordert, hatte sein Anrecht auf ihn deutlich gemacht und war nun gekommen, um sich die von ihm auserwählte Trophäe zu holen, die zweimal seiner unergründlichen Umarmung entronnen war.
Das Gebrüll ebbte ab, von ferne hörte man Grummeln und Rumoren, Gegenstände stürzten um, Steine zerbarsten, und durch die Gazetür schoss ein Wasserschwall. Aaron rettete sich nach vorn zur Öffnung und kroch hindurch, gerade noch im richtigen Moment, dann stieg das Wasser bis an den oberen Rand des Risses, den das Schwein gemacht hatte. Nur, dass es nicht das Wasser war, das stieg; es war das Haus, das sich nach unten bewegte und sank; die Wellen durchströmten es, überschwemmten es, begrüßten es auf dem Weg zu seiner letzten Ruhe.
Und wieder schwamm Aaron nach oben, kämpfte sich an die Oberfläche, spürte frische Luft. Eine Welle, als erkannte sie ihn, begrub ihn unter sich. Wieder kämpfte er, wieder schaffte er es bis nach oben. Noch bevor die nächste Woge über ihn herfiel, erspähte er vor sich das Ufer, ineinandergestürzte Felsen, riesige Steinmassen, die zernagte Steilküste und die frisch ausgehobene Bucht, wo das Haus gestanden hatte. Am Rand der Klippe erkannte er drei Gestalten, die sich im Mondlicht abhoben und winkten.
Entschlossen, nicht in Panik zu verfallen, peitschte Aaron auf das Wasser ein, hielt auf das Land zu, doch die Wellen waren nicht gewillt, so ohne weiteres, so rasch nachzugeben, einen einfachen Sterblichen aus ihren Fängen zu lassen, der sich ihrer Gunst entziehen wollte. Eine Woge nach der anderen nahm ihn sich vor, schon etwas weniger wütend, fast versöhnlich, ein Richter, der Milde walten ließ. Aaron war nicht zu beirren. Er kämpfte ohne Unterlass.
Diesmal war es das Ufer, nicht das Meer, das ihn verriet. Immer wieder wich es zurück, entzog sich ihm, war nicht gewillt, ihn willkommen zu heißen, ihn, den sich das Meer mit aller Macht hatte holen wollen. Den Klippen hatte es brutal genug zugesetzt. Weiterer Widerstand würde nur weitere Wunden schlagen. Die Felsnase war wie abrasiert, Steine waren zersprungen und übereinandergekippt, geborsten und gesplittert; nicht lange, und sie würden zu Sand zermahlen sein. Die Zeit für Frieden war gekommen, ein Waffenstillstand musste geschlossen, die gesuchte Seele dem Schicksal überantwortet werden, so, wie es das Meer verfügt hatte und wie es augenscheinlich die Götter gebilligt hatten. Es war zwecklos, dass Aaron weiterkämpfte, im Stich gelassen von dem Land, das ihn genährt und ein Leben lang unterhalten hatte.
Wie um ihm das Ende anzukündigen, stupste ihn ein Fisch am Schenkel, strich an seinem Bein entlang. Er schwankte zwischen Sichwehren und Aufgeben. Abermals stieß der Fisch, ein riesiges Vieh, ihn an. Aaron schlug kräftig mit dem Bein. Der Fisch schien von ihm abzulassen, doch vermutlich nur, um sich auf die nächste Attacke vorzubereiten, und die, da war er sich sicher, würde die endgültige sein. Dann spürte er den Fisch seitlich an sich vorbeigleiten und vor sich durchs Wasser schießen. Gleich darauf schaukelte er direkt vor seiner Nase auf und ab. Mit ausgestreckter Hand, seine Arme konnten schon kaum noch, versetzte er ihm einen Hieb. Es war kein Fisch. Es war das Kanu, er sah es deutlich, von seinem früheren Insassen keine Spur. Es wurde auf den Wellenkamm gehoben und Aaron mit ihm. Dann schoss das Kanu nach unten, und Aaron auch. Fast am Ende seiner Kräfte, brachte er es zuwege, hineinzuklettern. Ein Paddel gab es nicht. Vorne im Bug blieb er liegen, schob die Füße auf den Sitz, konnte nur mit Mühe atmen. So lag er da, die Wogen unter ihm hoben ihn abwechselnd in die Höhe, senkten ihn ab und drückten ihn wieder nach oben. Vielleicht war er schon ertrunken, und das hier war der vielgepriesene Frieden, der immer denen, die sich dem Schicksal ergaben, verheißen wurde. Doch über ihm war der Mond. Unter ihm die unbequemen Holzrippen des Kanus. Da waren die Füße, sauber gewaschen, ohne den Modder aus dem Grab, der an ihnen geklebt hatte. Aaron hob den Kopf, drehte sich um, damit er das Ufer sehen könnte. Es wich nicht mehr zurück. Es kam näher, direkt auf ihn zu. Es betrog ihn nicht länger, ließ ihn nicht im Stich. Und dort, am Rand der vom Meer gebeutelten Klippe, tanzten drei Gestalten.
Immer näher kam das Ufer. Stetig glitt das Kanu über die Wellen dahin. Aaron saß aufrecht, wartete darauf, dem Festland wiedergegeben zu werden. Jetzt fingen die drei Gestalten an zu laufen, rutschten, fielen, suchten aneinander Halt, rannten wieder, jetzt die schmalen, zum Ufer führenden Zickzacktreppen hinunter. Rufe, Kreischen, laute und heisere Schreie – sie fingen sich im Wind und gingen in dem Tumult der Luftströme unter. Kurz vorm Ufer bäumte sich die Welle wie zum Abschied noch einmal auf, schlug über ihm zusammen und schleuderte dann seinen Körper samt Herz, Verstand und Seele an den mit Felsbrocken übersäten Strand: »Weg damit für immer.«
Nun hörte er, wie die Rufe näher kamen. Sein Ohr konnte einzelne Worte unterscheiden. »Bei Gott und Maria und allen Engeln.« Das war Kitty. »Und auch Patrick und Brendan.« Das musste Kieran Sweeney sein. Und dann, schon näher, Lollys barmendes »Und bei allen übrigen Heiligen.«
Noch stand Aaron nicht auf den Füßen, da warfen sich die drei auf ihn, so dass alle vier ein einziges Knäuel bildeten, Aaron ganz unten, noch halb im Kanu, halb draußen. Unter wiederholten Stoßgebeten und gellendem Geschrei fanden sie wieder auseinander, zerrten Aaron weiter ans Ufer und richteten ihn auf. Immer noch nach Atem ringend, versuchte er zu sprechen, aber wie schon einmal hatte das Meer ihm die Gabe des Sprechens genommen und ihn stattdessen mit einem Mund versehen, der nur auf- und zuschnappte.
Zur Feier und auch zur Vergewisserung seines Überlebens machten sich Kitty, dann auch Lolly und Sweeney daran, ihn gründlich abzuklopfen, als wäre er aus der Erde auferstanden und nicht dem Meer entstiegen. Zweimal wäre er beinahe unter ihrer Fürsorge hingefallen, wurde aber noch rechtzeitig gehalten. Als sie endlich mit ihrem Klopfen und Bürsten fertig waren und er wieder präsentabel aussah, traten sie einen Schritt zurück, um ihre Arbeit zu begutachten. Aaron wollte etwas sagen, aber es gelang ihm immer noch nicht, wahrscheinlich auch, weil er nicht die geringste Idee hatte, was er eigentlich sagen sollte.
Lolly, die ihn mit einem verschmitzten und frechen Lächeln ansah, gab ihm das Stichwort. »Da Sie nun gerettet sind, und auch sonst, können Sie … könnten Sie sich vorstellen, jemanden zu lieben, der vielleicht sogar ein Mörder ist?«
Aarons Mund schnappte nicht mehr auf und zu, blieb vielmehr offen stehen. Er konnte sich weder bewegen noch zittern oder blinzeln oder zucken. Es war Sweeney, der als Erster sprach und dabei nach Kittys Hand griff. »Ich ja«, sagte er. »Ich kann jemanden lieben, der vielleicht sogar ein Mörder ist.«
Kitty, im allerersten Moment entsetzt, dass sie eine Sweeney- Hand berührte, nickte resigniert. »Ich auch«, sagte sie, »Mörder, der du vielleicht sogar bist.« Sie wandte sich zu Aaron. »Und du, Aaron? Ist das letztendlich jetzt nicht die Chance, die irgendwann jeder ergreifen muss, wenn es uns mit der Liebe ernst ist?«
Aaron schaute zu Lolly, und die Worte purzelten nur so aus ihm heraus. »Ja, ich kann! Ich kann! Ich schwöre, ich kann!«
Oben auf der Klippe blieben alle vier stehen und blickten schweigend über das Meer, das dort unten immer noch toste und brandete, während weit hinten am Horizont der Dreiviertelmond seine ihm vorgeschriebene Bahn zog. Wieder war es Sweeney, der das Wort ergriff. »Es ist ein gewaltiges Grab, das dir beschieden ist, Declan Tovey, entschieden größer als das Schlammloch, an dem wir buddelten. Ruhe in Frieden. Das Geheimnis um dich bleibt, wir nehmen es hin, wie Gott es uns zu tun heißt in seinem unergründlichen Ruhm, es wird uns bis an den Rest unserer Tage begleiten. Und um Himmels willen, fang nicht an, deine alten Knochen zurück ans Ufer zu spülen und damit neuen Krach heraufzubeschwören. Was du dir vorgenommen hattest, hast du getan. Lass es gut sein.«
Der Wind heulte, das Meer wütete. Und das Schwein kam und stellte sich neben sie, stand regungslos da mit hochgereckter Schnauze. Vielleicht dachte es darüber nach, was alles geschehen war, und meditierte über das, was noch kommen mochte.