Kapitel 7

 

Kitty und Aaron und Lolly hatten sich wieder in der Priesterstube zusammengetan und betrachteten – gleich Angehörigen am Krankenbett – mit ernstem Gesicht den dahingestreckt liegenden Declan Tovey. Declan selbst schien es nicht weiter geschadet zu haben, dass man ihn fast vierundzwanzig Stunden allein gelassen hatte; vielleicht war sein Grinsen etwas weniger unverschämt, etwas verhaltener, als Aaron es in Erinnerung hatte. Wie ein Patient, der von Leuten umringt wird, die ohne Rücksicht auf dessen Beisein sein Schicksal erörtern und nur mit ihren sachlichen Schlussfolgerungen beschäftigt sind, schien sich Declan völlig in sich zurückgezogen zu haben und von den Dringlichkeiten und Befindlichkeiten, die keinen halben Meter von ihm entfernt diskutiert wurden, unberührt zu bleiben.

Lolly war schon im Haus gewesen, als Aaron von seinem Tauchgang zurückkam, wieder mal nass, wieder mal kalt, wenngleich er das Zähneklappern und Zittern heute entschieden besser unter Kontrolle hatte als tags zuvor. Eigentlich hatte er etwas über den Abend im Dockery’s Pub erzählen wollen, gedachte dabei nicht unbedingt mit seinem Sieg zu beginnen oder dem Declan-Ersatz, der sie begleitet hatte, sondern hatte sich wegen seines betrunkenen Zustands entschuldigen wollen. Nicht, dass er wegen der Trinkerei ein schlechtes Gewissen hatte, aber es wäre ein sich geziemender und möglicher Einstieg gewesen, um über den Verlauf eines Abends zu berichten, der etliche Fragen aufgeworfen hatte, die einer Antwort bedurften. Wer war der Mann? Wieso hatte Lolly ihn, Aaron, nicht gesehen? Hatte sie ihn gesehen und geflissentlich übersehen? Hatte sie vergessen, dass man sich noch nachmittags in Gegenwart der anwesenden Leiche begegnet war? Vielleicht konnte sie ihn nicht erkennen, weil er da nicht so triefend nass war wie jetzt, nachdem er beinahe ertrunken war? All das hatte er für äußerst wichtige Themen gehalten, hätte vorrangige Behandlung verdient im Vergleich zu Überlegungen, was mit dem vor ihnen liegenden Skelett geschehen sollte, oder zu der Lösung der Frage, wer nun der Mörder war. Doch als Lolly durch die Küchentür kam und Aaron sah, hatte sie nur lakonisch festgestellt: »Du warst ja schon wieder schwimmen. Du wirst dir noch den Tod holen«, war an Kitty, die an ihrem Computer saß, vorbeigerauscht und mit erhobener Nähnadel, durch die ein derber schwarzer Faden gefädelt war, in die Priesterstube gestürmt. Kitty und Aaron waren ihr gefolgt. Da war Lolly bereits emsig beschäftigt und nähte den vom Jackett des Toten abgegangenen Knopf an; ihre Hände bewegten sich geschickt und flink und verstanden sich auf häusliche Tätigkeiten besser, als Aaron für möglich gehalten hatte.

»Sagen Sie Kieran Sweeney«, hatte sie gemeint, »sagen Sie ihm, der Knopf ist wieder angenäht, und er kann sich seine kritischen Bemerkungen darüber, wie Dinge erledigt werden, sparen.«

Daraufhin hatte Aaron – ohne dass seine Fragen überhaupt zur Sprache gekommen waren – entschieden, die wundersamen Erlebnisse, die er gerade gehabt hatte, der Reihe nach zu erzählen. Aber er bekam den genauen Ablauf der Geschehnisse nicht mehr hin, sein Beinahe-Ertrinken nach seinem Versuch, Lollys Freund zu retten, oder seine Erkenntnis, dass Sweeney der Mörder war, gestern erst der Tat überführt durch die Einzelheiten, die er in seiner Anschuldigung von Kitty zu berichten wusste. Oder war es Sweeneys hoffnungslose Liebe zu Kitty? Oder – und das hatte er schon vergessen – seine Rettung durch Sweeney und das verzweifelte Bedauern des Mannes, einen McCloud gerettet zu haben. Unfähig, die Ereignisse auseinanderzuklamüsern, war er mit dem herausgeplatzt, was er für das Dringlichste hielt. »Kieran Sweeney liebt dich.«

Beiden Frauen stockte der Atem. Auch diesmal war es Lolly, die als Erste die Sprache wiederfand. »Mich?«, rief sie.

»Nein«, sagte Aaron. »Dich, Kitty.«

»Mich?!« Sie fuhr sich mit der Hand an die Kehle.

»Dich.«

»Sie?«, fragte Lolly, weniger, weil sie es nicht glauben wollte, sondern mehr, weil es sie – zu Recht – überraschte, dass nicht sie die Auserwählte war.

»Sie«, sagte Aaron.

»Der Mann ist bekloppt. Und ein Sweeney obendrein«, sagte Kitty. »Du bildest dir wieder Dinge ein.«

»Nein. Tue ich nicht. Ich schwör’s.«

»Hat er es mit eigenen Worten gesagt?«

»Es war deutlich genug, auch ohne die eigentlichen Worte.«

»Ich will nichts davon hören.« Kitty schüttelte sich, entweder um sich der Annäherungsversuche eines so widerlichen Menschen zu erwehren oder aber, was wahrscheinlicher war, um ein Kichern im Keim zu ersticken. »Er hasst mich ebenso sehr wie ich ihn. Falls das überhaupt möglich ist.«

Das Gesicht seiner Tante ließ keinerlei Regung erkennen, sie trug eine unverbindliche und nichtssagende Miene zur Schau, als posierte sie für ein Passfoto. Sie forderte Aaron damit auf, zur Kenntnis zu nehmen, wie gleichgültig ihr die Sache war. Er kam der stummen Aufforderung nach und blickte zu Boden.

»Er hat mir das Leben gerettet«, bekannte Aaron.

»Er hat dir nicht das Leben gerettet.«

»Er hat mir das Leben gerettet. Ich war am Ertrinken.« »Wieso warst du am Ertrinken?«

»Ich habe versucht, einen Freund von Lolly zu retten.« Lolly hatte den Knopf, den sie ans Jackett genäht hatte, zum Mund hochgezogen und den Faden, den sie abbeißen wollte, schon zwischen den Zähnen. Hielt aber inne, um sich erst noch zu erkundigen: »Was für einen Freund?«

»Na der Mann. Der, mit dem Sie gestern Abend im Dockery’s Pub waren. Fettiges Haar. Ein Fiesling, wenn Sie mich fragen.«

»Wer soll im Dockery’s gewesen sein?«

»Na Sie. Mit ihm. Dem Fiesling.«

»Ich? Im Dockery’s?«

»Gestern Abend. Ich war auch dort. Ich habe Darts gespielt. Hab gewonnen.«

»Schön für Sie. Ich hab’s nicht miterlebt. Schade.«

»Aber ich habe Sie gesehen.«

»Mich haben Sie nicht gesehen. Und ich habe keine Fieslinge zu Freunden. Unerhört. Ich? Mit einem Mann von der Sorte? Ich?«

»Na ja, eigentlich war er, wie soll ich sagen, für einen, der … na ja, vielleicht sah er wirklich nicht so übel aus. Und … und nur, weil er kleiner ist als ich …«

Lolly schaute zu Kitty, den Faden hatte sie immer noch nicht abgebissen. »Der ist verrückt, dein Neffe. Er sieht Dinge, die es gar nicht gibt.«

»Und bildet sich auch Dinge ein. Will von einem Sweeney gerettet worden sein. Hast du so was schon mal gehört?«

»Ich bin aber gerettet worden. Und ich habe auch wirklich versucht … ich meine … den Mann im Dockery’s Pub zu … Ich habe das Dartspiel gewonnen. Ihr könnt jeden fragen. Sie waren auch dort, sind aber gegangen. Dann habe ich ihn beim Dartspiel geschlagen, ertrunken ist er jedenfalls nicht. Fragen Sie mich nicht, wie er das geschafft hat. Er war in einem Kanu. Aber ohne Paddel. Und Sweeney liebt dich. Und … und …«

Aaron verstummte, nicht, weil er mit seinem Protest am Ende war, sondern weil er mit einer plötzlichen Wahrheit konfrontiert wurde: Lolly hatte nicht ihr Haar kurz geschnitten. Es war lang, genauso lang, wie es gestern gewesen war. Auch wirkte die Frisur nicht so streng, wie er sie von gestern Abend in Erinnerung hatte. Er hatte sich geirrt. Das gedämpfte Licht im Pub hatte ihn verführt – besser ermutigt –, Lolly zu sehen. Aber es war nicht Lolly gewesen. Und sie war auch nicht mit dem Mann im Kanu dort gewesen, mit dem Mann, dem er auf die Nase gedroschen hatte. Aus welchem Grund auch immer, er war erleichtert.

»Ja, ja, ja«, hörte er seine Tante sagen. »Ist ja gut, ist ja gut, ist ja gut. Niemand widerspricht dir. Stimmt’s, Lolly?«

»Niemand. Es ist die reinste Wahrheit, die ich zu hören bekommen habe.«

»Schön, dann lassen wir es dabei«, sagte Aaron, zufrieden, dass das Thema erledigt war. »Aber eins muss ich euch noch sagen. Es war Sweeney, der den Mord verübt hat.«

Lolly zupfte am Knopf, vergewisserte sich, dass er fest saß. Sie hielt inne. Kitty ließ die Hand von der Brust sinken, wo sie sie die ganze Zeit gehabt hatte, nachdem sie sich an die Kehle gefasst hatte. Sie landete auf dem Bett neben Declans Oberschenkelknochen.

»Er war es«, sagte Aaron. »Ich weiß es. Und jetzt erfahrt ihr es von mir.«

»Und er – Sweeney –, hat er es selbst gesagt?« Lolly ließ den Knopf fahren, ihre Hand glitt auf das Becken des Toten.

»Nein. Aber ich hab ihn durchschaut. Wie konnte er sonst so genau den Hergang wissen. Die Art und Weise, wie es geschah. Natürlich hat er dich beschuldigt, als er das Ganze schilderte.«

»Mich?«, fragte Lolly.

»Nein. Dich, Kitty.«

Kitty strich in aller Ruhe Declans Krawatte glatt. »Ist ja klar, dass er so was gesagt hat. Besonders, da er mich Gott weiß wie liebt.«

»Er hat sogar die Mordwaffe genannt. Ein Werkzeug aus dem Beutel. Ein – wie heißt doch gleich so ein Ding?«

»Klopfbrett.« Wieder antworteten Kitty und Lolly wie aus einem Mund.

»Ja. Ein Klopfbrett.« Aaron stutzte kurz und fragte dann: »Wie konntet ihr das beide wissen?«

Kitty zuckte mit den Achseln. Lolly schob die ohnehin geschürzten Lippen noch weiter vor, stülpte sie nach außen und zog sie wieder zurück. Keine der beiden Frauen sagte etwas. Jetzt machte sich Lolly an der Krawatte zu schaffen und Kitty zupfte am Knopf.

»Na, gut«, meinte Aaron. »Ihr müsst mir ja nicht glauben. Es hat sowieso bald ein Ende. Sweeney hat gesagt, er kommt vorbei und schafft den … den …er kommt vorbei und holt Declan Tovey. Will ihn fortschaffen. Ihn anständig begraben, hat er gesagt.«

»Das wird er hübsch sein lassen!«, sagte Lolly.

»Das kann er nicht machen!«, sagte Kitty.

Beide begannen, die Decke zu glätten, als gelte es zu beweisen, dass sie kompetente Fürsorgerinnen waren, denen das Wohlbefinden des Patienten über alles ging. Lolly zog die Decke bis zu Declans Brust. Kitty schlug sie sorgsam zurück.

»Er schien entschlossen dazu«, sagte Aaron.

»Ha!« Aaron hätte nie gedacht, dass man mit einer einzigen Silbe dermaßen viel Verachtung zum Ausdruck bringen könnte. Lolly schaffte es. Kittys Beitrag beschränkte sich auf ein dünnes Lächeln und einen verschlagenen Ausdruck in den Augen, die merklich schmaler wurden, weil sie die Augenlider halb schloss. »Ich mag nicht lange warten«, warnte sie.

Musste sie auch nicht. Auf dem Kies draußen hörte man das Geräusch von Rädern, dann ein scharfes Halten.

»Da ist er«, sagte Aaron.

»Oh, mein Gott«, entfuhr es Lolly.

Kitty trennte sich von der Bettstatt. »Der kriegt ihn nicht zu sehen«, sagte sie.

»Aber er wird reinkommen«, entgegnete Lolly. »Respekt hat der keinen. Auch nicht vor der Priesterstube.« Sie betrachtete Declan. Es schien, als wäre sie drauf und dran, sich aufopfernd auf den Leichnam zu werfen, wenn sie ihn auf diese Weise verbergen und schützen konnte.

»Was habt ihr dagegen, dass er ihn fortschafft«, fragte Aaron, »wenn ihr ihn doch nicht der gardaí übergeben wollt?«

Lolly fuhr sich mit der Hand an die Kehle, vollends schockiert. Kitty schüttelte nur müde den Kopf, ihre bevorzugte Geste, jemand mit Verachtung zu strafen.

»Es würde uns allen den ganzen Ärger ersparen und …«

»Erst sagst du«, unterbrach ihn Kitty, »er hat den Mann ermordet. Das Nächste, was du sagst, ist, wir sollen ihn Sweeney übergeben, ihm praktisch das Beweismaterial ausliefern, das gegen ihn spricht. Worin besteht da die Logik?«

»Dann soll er doch wenigstens sehen, dass wir wissen, was er getan hat, dass wir diejenigen mit dem Beweismaterial sind. Soll er doch reinkommen. Soll er doch sehen.«

»Aaron«, sagte Kitty streng. »Misch dich nicht in Dinge ein, von denen du nichts verstehst. Wir lassen aus Prinzip nicht einen Sweeney tun, was ein Sweeney tun möchte.« Sie war zu dem wackligen Tisch mit dem Kruzifix gegangen. »Und jetzt schwört«, forderte sie die zwei auf, »schwört beide, schwört, dass ihr nie das gesehen habt, was ihr jetzt sehen werdet.«

Aaron reckte sich. »Schwören?«

»Schwören, ja. Und zwar beide. Muss nicht laut sein, wenn ihr es nicht wollt, aber schwört. Ihr habt nie gesehen, was ihr jetzt sehen werdet.«

Mit Hilfe ihrer Fingernägel löste sie aus der linken Hand des Gekreuzigten den Nagel. Die Hand hielt trotzdem. Kitty ging zurück zum Bett und streckte den Arm zu der Stelle an der Wand hoch, wo das ovale Bild gehangen hatte. Langsam passte sie den Nagel in das winzige Loch, in dem einst der ursprüngliche Nagel gesteckt hatte. Sie ließ ihn los und hämmerte unmittelbar links von dem Kopfstück des Bettes mit der Faust an die Wand. Sie horchte einen Moment, zog den Nagel wieder raus und steckte ihn erneut hinein. Wieder horchte sie. Wieder schien es keine Reaktion auf ihr Tun zu geben. Sie überlegte kurz und zog rasch den Nagel heraus. »War natürlich die falsche Hand.«

Die Fensterläden vibrierten, als draußen die Tür vom Transporter zugeschlagen wurde. »Oh«, sagte Lolly, und es klang leicht warnend. Kitty war erneut zum Kruzifix gegangen, hatte den Nagel in dessen linke Hand zurückgesteckt und den aus der rechten herausmanövriert. Diesmal verrutschte die Hand ein wenig, blieb aber dennoch an dem Querholz haften. Kitty ging zur Wand, warf einen Blick auf Declan Tovey, als wollte sie sich vergewissern, dass mit ihm alles in Ordnung war, und steckte dann den Nagel in die Wand. Sofort ertönte ein Klicken. Kitty pochte energisch an die Wand. Nichts. Sie pochte ein zweites Mal, weiter unten. Man hörte ein scharrendes Geräusch. Kitty trat einen Schritt zurück.

Aaron erkannte das Geräusch. Es war die Schuppenhaut des Monsters, die sich an den Tunnelwänden rieb, wenn mit jedem Rascheln das Scheusal immer näher kam. Das in der Einbildung heraufbeschworene Geräusch aus seinen Kindheitstagen war Wirklichkeit geworden und wurde wie damals sogar lauter, je mehr sich das Ungeheuer näherte. Aaron sah, wie sich links vom Bett langsam und knarrend die Wandtäfelung – eine Fläche von ein mal einem Meter – öffnete. Mit dem kalten Luftzug strömte übler Geruch in den Raum. Es war, als wäre das Meer erstorben und am Verrotten. Fauliger Seetang und Algenzeug hatten ein Ventil für ihre Ausdünstungen gefunden. Aaron hatte das Gefühl, der ganze Raum wäre auf den tiefen Grund des sich zersetzenden Meeresbodens gesunken und läge dort schon jahrelang reglos und unberührt, hätte die Tiefe und Vergänglichkeit der längst begrabenen Wogen in sich aufgenommen, eine Kammer, die sich für diejenigen erhalten hatte, die auserwählt waren zu erfahren, dass selbst das Meer am Ende zum Vermodern und Vergehen bestimmt war. Der Luftzug bewegte das Laken, auf dem Declan Tovey lag, in Höhe seiner Schulter und presste Aaron die vom Salzwasser getränkte Kleidung an die Haut; er spürte, wie die Feuchtigkeit ihm in die Knochen drang und auf dem Weg dahin durch Arme und Beine ein Zittern und Zucken gehen ließ.

Das also war der Tunnel für die Priester zum Meer. Von hier hatten sie die Flucht angetreten. Das große Geheimnis des Hauses, das ihm von Kindheitsbeinen an verschlossen geblieben war, hatte sich ihm enthüllt. Aaron widerstand dem Verlangen, sich die Nase zuzuhalten. Lange genug hatte er wissen wollen, was er nun wusste, lange genug hatte es ihn verlangt, zu sehen, was er nun sah. Sich dem in irgendeiner Weise zu widersetzen, wäre ein Zeichen von Undankbarkeit. Keinesfalls wollte er sein Staunen trüben, etwa durch Zur-Schau-Stellen eines Widerwillens. Um sich der Enthüllung würdig zu erweisen, atmete er mit Vorbedacht tief ein, füllte Nase und Lunge, so gut er konnte, mit dem Geruch der Verwesung, der ihn umfing. Ihm wurde schwindlig, und, nach Halt suchend, griff er nach Declan Toveys Fuß. Das Leder fühlte sich glitschig an, möglicherweise steckte innen noch Fleisch, aber er ließ nicht los, denn ohne einen Halt wäre er zusammengesackt.

Lolly hatte sich zunächst die Ohren zugehalten, wenngleich die Attacke eigentlich die Nase betraf. Dann hielt sie sich die Hände vor den Mund, rang sie als Nächstes vor der Brust und reagierte schließlich auf die Quelle des Übels, hielt sich die Nase zu und sagte: »Puh!«

Die Art und Weise, in der Kitty mit der Hand vor der Tunnelöffnung hin und her wedelte, erweckte mehr den Eindruck, dass sie eine Flamme anfachen, weniger den grässlichen Gestank, der inzwischen den ganzen Raum erfüllte, in die dunkle Öffnung zurückdrängen wollte. Sie sah ein, dass ihr Bemühen zwecklos war, gab es auf, legte die Hand an die Stirn, als wollte sie Fieber messen, und erklärte: »Wir packen ihn da hinein.« Sie holte eine Taschenlampe, eine alte aus Blech, aus der Schrankschublade hervor und reichte sie Aaron. »Hier.«

Aaron nahm die Taschenlampe. »Ich soll da hineingehen?«

»Und beweg dich rückwärts, aber vorsichtig, es geht ziemlich schnell abwärts, und so, wie es riecht, könnte es rutschig sein. Mach schnell. Lolly und ich reichen ihn dir rein.«

Aaron steckte den Kopf in das Loch. Der Gestank schlug ihm entgegen. Tief gebückt ging er hinein. Der Gestank ergriff von ihm Besitz. Er würde nun selbst dem Fäulnisprozess anheimfallen. Er leuchtete den Raum vor sich aus. Das Licht der Taschenlampe wies nach schräg unten. Weiter hinten sah er – oder glaubte zu sehen – eine schmale Treppe aus grob behauenen Steinen, die steil nach unten führte und dann nach links abbog. Wie befürchtet waren die Steine rutschig, aber die grobe Behauung, die Unebenheiten stehenließ, gab festen Halt. Fünf Stufen tastete er sich hinunter, dann kehrte er um und hielt das Licht nach oben Richtung Eingang.

»Okay«, flüsterte er. »Gebt ihn rein.«

Kein Echo, keinerlei Nachhall. Der dunkle Moosbewuchs auf Stufen und an Wänden schluckte jegliches Geräusch, als wäre der Gang mit Filz ausgepolstert. Das machte ihm klar, dass er leicht ersticken könnte. Durch die Öffnung vorne schien keine Luft zu kommen; die Schadstoffe, die sich an ihm gütlich taten, machten die Gase um ihn herum undurchdringlich – fest wie eine Wand. »Beeilt euch«, sagte er und dachte auch nicht mehr daran zu flüstern. »Ich kann hier nicht atmen.«

»Halt die Klappe«, hörte er seine Tante sagen. »Wir sind diejenigen, die sich abrackern.«

Aaron vernahm so etwas wie ein Rasseln.

»Sachte«, sagte Lolly. »Wir wollen ihn doch nicht völlig zusammenrutschen lassen, oder?«

»Halt das Laken straff«, erwiderte seine Tante.

»Dann komm nicht so dicht heran. Bleib, wo du bist.« »Du bist es doch, die das Laken locker lässt.«

»Zieh es stramm.«

»Kletter über das Bett. Steig einfach auf die Matratze. Mach schon.«

Das Geräusch, das jetzt folgte, stammte von einer Kaskade von Knochen, die ineinanderschepperten, durcheinanderfielen; einige landeten wohl auch auf dem Fußboden.

»Da hast du die Bescherung.«

»Du hast dein Ende nicht hoch gehalten.«

»Tritt nicht dorthin. Pass auf seinen Arm auf.«

»Es ist das Bein.«

»Dann eben auf sein Bein.«

»Steck es zurück in die Hosen, ja, da, über dem Schuh.«

Aaron hätte gern gesehen, was vor sich ging, aber seine Tante versperrte mit ihrem Hintern fast die ganze Öffnung. Sie stand gebückt da und bewegte offensichtlich den rechten Arm. Jetzt drehte sie sich ein wenig zur Seite, der Arm ging immer noch hin und her.

»Wir können ihn doch wieder geraderücken, wenn wir ihn drin haben.« Es war Lolly, die gesprochen hatte. Dann fing sie an zu kichern. »Ganz schön intim die ganze Angelegenheit, oder? Glaubst du, er weiß, dass wir uns an ihm hier zu schaffen machen?«

»Natürlich weiß er das. Wofür gibt’s denn einen Himmel?« Seine Tante wahrte einen gewissen Ernst.

Aaron hustete. »Geht es nicht schneller? Lange halte ich es hier nicht mehr aus.«

»Hör dir den an«, sagte Kitty. »Wir besorgen all das Grausliche, und der jammert herum.«

»Ich kann nicht atmen.«

»Dann lass es bleiben.«

Kitty reichte die zwei zusammengefügten Zipfel des Lakens in die Öffnung hinein. Mit seiner freien Hand griff Aaron zu und bewegte sich rückwärts Richtung Treppe. Das restliche Laken folgte, schwebte knapp über dem Boden und zeigte verschiedene Ausbeulungen, teils kantiger, teils runder Natur.

»Schnell. Weiter zurück. Da kommt noch mehr von ihm.«

Aaron musste zwei Stufen nach unten. Die Leiche kam hinterher. Aaron hatte sie nicht dermaßen groß in Erinnerung.

»Okay. Das reicht. Mehr kommt nicht.« Jetzt füllte Lolly die Öffnung aus und setzte ihr Ende der Last geradezu ehrfürchtig ab. Aaron ging noch einen Schritt zurück und legte die Enden, die er hielt, gleichfalls ab. Er wollte eigentlich das Laken auseinanderfalten, aber der schmale Gang gab nur Raum für das gefaltete Leichentuch.

Er hob den Fuß, um die Stufen nach oben zurückzuklettern, fand aber nirgendwo eine Stelle, um ihn aufzusetzen. Declan Tovey nahm den ganzen Platz auf der schmalen Treppe ein. Er ließ den Fuß wieder sinken und überlegte, was er tun sollte, die Knochen einfach beiseiteschieben oder kühn losgehen und drauftreten. Die Vorstellung, wie das knirschen würde, ließ ihn erschauern.

Man hörte eindringliches Pochen, laut genug, dass es bis in die Winkel des geheimen Tunnels drang. »Schnell«, flüsterte seine Tante. »Wir müssen das Paneel schließen.«

»Ich komme meinen Freund Declan holen. Rückt ihn raus.« Es war Sweeneys Stimme, die durch die Küchentür drang. Aaron bückte sich und wollte das Leichenbündel etwas aus dem Weg rücken, aber noch ehe er das Tuch berührt hatte, zischte seine Tante: »Bleib dort. Wir melden uns wieder.« Mit diesen Worten wurde die Wandtäfelung zugeschoben. Aaron starrte hinauf ins Dunkle, wo eben noch die Öffnung gewesen war.

»Nein! Warte!«, rief Aaron, bekam aber keine Antwort. Er strahlte mit der Taschenlampe die geschlossene Wand an, leuchtete den Flecken nach einem Griff oder Riegel ab, den man hätte betätigen können. Nichts dergleichen war zu sehen. Langsam ließ er den Lichtstrahl an der Nahtstelle zwischen Holz und Stein entlanggleiten, dann über die Mitte und wieder an die Umrandung. Die Versiegelung war perfekt.

Man erwartete doch wohl nicht im Ernst, dass er blieb, wo er war! Seine Tante trieb es arg mit ihm. Sie nutzte seine Gutmütigkeit und seine Hilfsbereitschaft aus. Das durfte er sich nicht gefallen lassen. Sweeney hin, Sweeney her, er würde sich nach oben arbeiten und ans Paneel hämmern. Diese Art Mausoleum ließ er sich nicht bieten. Er würde seiner geliebten Tante nicht gestatten, ihn derart zu misshandeln, selbst wenn es im Sinne eines jahrhundertealten Familiengeheimnisses geschah. Wenn Sweeney die Knochen haben wollte, sollte er sie doch haben. Die ganze Angelegenheit gehörte ohnehin in die Hände der Polizei, musste der gardaí übergeben werden.

Als ginge es darum, sich des traurigen Fakts zu vergewissern, langte Aaron nach unten und schlug das Laken zurück, um wenigstens den Schädel freizulegen, wie um dem armen Mann eine Chance zum Atmen zu geben. Das Bild, das sich ihm bot, war eine kopflose Leiche, der zerfledderte Hemdkragen völlig unbewohnt. Aaron schlug das Laken weiter auseinander. Er fand die Kappe unmittelbar über dem Gürtel und den Kopf gleich darunter. Die Zeit, den Mann wieder gänzlich zusammenzusetzen, wollte sich Aaron nicht nehmen, aber wenigstens wollte er den Kopf an die Stelle rücken, wo er hingehörte. Als er den Schädel anhob, geriet eine Hand in Bewegung und schepperte die Stufen hinab. Er erstarrte, lauschte, ob es jenseits der Wandverkleidung eine Reaktion gab. Er wartete. Vernahm nichts. Er richtete sich gerade wieder mit dem Schädel in der Hand auf, als er etwas weiter weg, aber doch deutlich, Kieran Sweeney sagen hörte: »Ich komme rein und hole ihn. Ich weiß, er ist dort drin.«

»Ein Sweeney setzt mir keinen Fuß in dieses Haus. Du weißt das genauso gut wie ich.«

»Ich komme, um meinen Freund zu holen, davon hält mich niemand ab. Der arme Mann, begraben und die ganze Zeit in ungeheiligter Erde. Schande über Schande.«

Jetzt war es Lollys Stimme, die Aaron vernahm. »Lass ihn doch rein, was soll’s? Der spinnt doch nur; einen Declan Tovey, von dem er redet, haben wir hier nicht. Soll er sich selbst überzeugen. Wenn es nichts zu verbergen gibt, brauchen wir auch nicht so zu tun, als gäbe es etwas zu verbergen.«

»Er ist ein Sweeney«, sagte Kitty.

»Und nie würde ich«, tönte Sweeney, »an einem Ort wie diesem meine Schuhsohlen beschmutzen, wenn es nicht darum ginge, meinen Freund von seiner Mörderin zu erretten.«

»Also komm rein, Kieran Sweeney, zeig mir, dass hier jemand ermordet wurde. Komm rein. Drück dir nicht deine dämliche Nase an der Tür draußen platt. Sie ist offen. Komm rein und sei gegrüßt und erinnere mich, dass ich nachher Pater Colavin herbitte, damit er Weihwasser bringt, wenn du fort bist.«

Aaron hörte, wie die Gazetür zuschlug. »Es schmerzt meine Füße, hier einzutreten, doch nun hab ich’s getan.« Sweeney sprach mit gedämpfter und heiserer Stimme. »Gott möge mir verzeihen.«

»Halt die Klappe, pass lieber auf, dass du nirgends gegenrennst und nichts zerdepperst.«

»Darf ich vielleicht meiner Pflicht in aller Stille Genüge tun?«

»›Stille‹ ist ein Klassewort, wenn ein Sweeney herumquatscht.«

Schwere Schritte von Stiefeln, zielgerichtet, näherten sich zunächst und entfernten sich dann im Gang und auf der Treppe, die nach oben führte.

Aaron legte den Schädel auf der Stufe direkt unter dem Kragen ab und angelte nach der Hand. Er schob sie halb in den Ärmel, doch sie rutschte nach rechts weg und erweckte so den Eindruck, dass sie den Daumen wie zum Trampen hochreckte. Er versuchte sie auszurichten, aber sie glitt wieder nach rechts und hing diesmal von der Stufe herunter. Im ersten Augenblick war Aaron überzeugt, dass der Mann, dass Declan Tovey es darauf angelegt hatte, alle seine aus purem Respekt geborenen Bemühungen zu durchkreuzen, und er war nahe daran, die Leiche in der grotesken Position zu belassen, auf dem Treppenabsatz liegend, der Oberkörper zwei Stufen tiefer, der weiter heruntergefallene Kopf auf der dritten Stufe. Dann aber empfand er den losen Schädel als so etwas wie ein Flehen, einen an ihn gerichteten Appell, den Ärmsten wieder instand zu setzen, die Knochen zu sortieren und erneut aneinanderzufügen, so dass sie wenigstens andeutungsweise einen Menschen ergaben mit allen noch verbliebenen Teilen, wenn auch nackt und bloß und lose, so doch in vernünftiger Anordnung, auf dass Würde und Ehrfurcht, wie sie ein Skelett sehr wohl verdiente, wiederhergestellt waren. Während er sich ans Werk machte, geschickt mit Taschenlampe und Knöchelchen manipulierte, mit Taschenlampe und Kleidungsresten, fragte er sich, warum der höhere Ränkeschmied, der ihn in dieses feuchte und stinkende, dunkle und übelriechende Verließ verfrachtet hatte, nicht dafür hätte sorgen können, dass Lolly McKeever mit ihm zusammen hier eingeschlossen wurde. Man hätte so schön gemeinsam Declan Tovey zusammensetzen können. Gemeinsam hätte man Spaß an der Aufgabe gehabt. Sie hätte ihn als einen Mann von liebenswertem Frohsinn, als angenehmen Gefährten, als einen Mann mit regsamem Geist kennengelernt. Und er hätte in ihr eine Frau von robuster Natur entdeckt, die seine edleren Züge insgeheim zu schätzen wusste, eine Frau, zugänglich für Abenteuer, ohne übertrieben begeistert zu sein. Sie und Aaron würden sich hübsch die Zeit vertreiben. Man würde sich näher kennenlernen. Als gute Freunde wieder ans Licht treten, nachdem sie in diesen wenigen oder auch mehr Momenten zu einer gegenseitigen Wertschätzung gelangt wären, was unter nicht so einmaligen Umständen weitaus länger gedauert hätte.

Aaron hatte inzwischen Declan Tovey in eine genau entgegengesetzte Position gebracht. Jetzt ruhten die Schuhe drei Stufen tiefer, Jackett, Hemd und Hose hatte er so gegeneinander ausgetauscht, dass der Mann auf den Steinen, dem Treppenabsatz und den Stufen lagerte und es nicht mehr so aussah, als wäre er rücklings heruntergefallen, unfähig, wieder aufzustehen und sich selbst zurechtzurücken. Was noch zu tun blieb, war, jeden einzelnen Knochen in die Kleidungsstücke zu stecken und dabei Sorge zu tragen, dass der Oberschenkelknochen oberhalb von Schienbein und Wadenbein im Hosenbein steckte, der Oberarmknochen oberhalb von Elle und Speiche im Ärmel. Nicht umsonst hatten ihn in der achten Klasse Wörter und der Klang von Wörtern so fasziniert. Was konnte aufregender sein, als Dinge, die man vom Namen her kannte, in natura zu erleben: femur, tibia und fibula, nebst humerus, ulna und radius, sowie ferner vertebrae thoracicae, scapula, patella und, als Bestes von allem, clavicula. Sein Interesse damals hatte ihn zunächst verleitet, Arzt werden zu wollen; aber als ihm später aufging, dass es der Klang der Wörter war – die Art und Weise, wie sie im Mund und auf der Zunge entstanden –, wusste er, dass er zu einem Mann der Worte auserkoren war, zu einem Schriftsteller, dem begnadetsten aller Menschen, einem, den ein Leben lang Rhythmus und Klang begleiten würden, Auftakt und Abgesang der großartigsten Schöpfung, die es auf der Welt gab: des Wortes.

 

Zu Aarons Füßen lag das vertraute Skelett von Declan Tovey, nunmehr wieder zusammengefügt, nur der Schädel wartete noch auf seine Platzierung nahe der verschlossenen Wandtäfelung, dann hatte er sein Werk vollendet. Es gab viele Fragen, mehr als Aarons Kopf fassen konnte. Aber es gab nur eine Antwort. Und deren war sich Aaron sicher. Eine eifersüchtige Hand hatte Declan Tovey den Garaus gemacht. Wer zu dem Schlag ausgeholt oder das Gift eingegossen hatte, blieb noch ein Geheimnis, wenn auch eins, das sich selbst beim Einsatz der dämlichsten Polizistentruppe nicht der Aufklärung würde entziehen können. Was der Sache im Wege stand, und das mit aller Hartnäckigkeit, war der Unwille der Verdächtigen, zur Klärung des Falles beizutragen. Die Nichtachtung dessen, was auf der Hand lag, schien landestypisch zu sein, das Beharren auf umständlichen Erklärungen angeboren, und das Bestreben, die Verworrenheit zu vergrößern, wurde fröhlich auf die Spitze getrieben. Da jeder der Beschuldigten den anderen beschuldigte, konnte die Liste der Verdächtigen nur immer länger werden. Den ganzen Ort konnte man mit hineinziehen, so dass einer auf den anderen zeigte und ein einziges Netz von Verdächtigungen entstand, bis von dem Schutzmantel des Gemeinwesens nur noch Lumpen und Fetzen blieben, bis der, um mit Shakespeare zu reden, »mädchenblasse Frieden« erdrosselt blau anlief im Gesicht. Declan Toveys Knochen würde man sinnlos hierhin und dorthin zerren, rasselnd würden sie sich – ein durcheinandergeworfener Haufen – zur Wehr setzen, bis alles zu feinem Staub zerrieben wäre, den herzustellen die Natur Äonen gebraucht hätte.

Aaron bückte sich, um den kahlen Schädel auf der obersten Stufe da abzulegen, wo er hingehörte, und so sein Restaurationswerk zu vollenden, als er es am obersten Ende des verschlossenen Wandausschnitts klicken hörte. Das Timing hätte besser nicht sein können. Man hatte ihm exakt die nötige Zahl an Minuten und Sekunden zugestanden, die er gebraucht hatte, um mit seinem Ritus der Pietät zu Ende zu kommen. Gleich würde sich das Wandstück öffnen, und er konnte einer überraschten Tante und einer bewundernden Lolly McKeever die Früchte dieser Pietät offerieren. Feierliche Dankesbezeugungen würde es rieseln, dazwischen Fragen und Staunen, wie er etwas so Großartiges hatte bewerkstelligen können. Glück- und Segenswünsche würden ihn begleiten, wenn man die Gebeine zurück auf das Priesterbett schaffte, wobei man das Laken mit größter Sorgfalt anheben würde, um seiner Hände Arbeit zu bewahren und den geschändeten sterblichen Überresten so etwas wie Respekt zu zollen.

Aaron stand auf der Stufe unterhalb von Declans Schuhen, sein Kopf – vom Wandausschnitt her gesehen – nur eine Spur höher als der Schädel des Toten. Angesichts des vollbrachten Werkes holte Aaron tief Atem. Im gleichen Moment schloss sich, wie zur Selbstverteidigung, sein Kehldeckel, doch hatten noch Spuren des übelriechenden Gases in seine Kehle dringen können, in die Lunge und auf nicht nachzuvollziehendem Wege selbst in Augen und Stirnhöhle. Er hustete, würgte, hustete erneut. Tränen verschleierten ihm die Augen. Es stach in der Nase. Seine Luftröhre wollte sich nicht öffnen. Krampfhaft rang er nach Luft, dreimal, dann gelang ihm ein mühsames Atmen durch die Nase, aber das Husten und Würgen bekam er nicht unter Kontrolle. Er hörte es an die Wand hämmern, und die Zusperrung öffnete sich. Aaron taumelte, stolperte, fiel, rappelte sich wieder auf, kroch die Stufen hinauf. Bei der Kletterei wurde Declan in Mitleidenschaft gezogen, rutschte scheppernd nach unten und landete dort in einem schlimmeren Zustand als je zuvor. Der Schädel, den Aaron mit seinem Knie fast zermalmt hätte, erfuhr gleich danach einen Fußtritt und rollte, oder besser, hüpfte von Stufe zu Stufe in die Tiefe, deren Ausmaß sich Aaron nicht vorstellen mochte. Er drängte sich mit dem Oberkörper durch die Öffnung und ließ den Kopf auf den Fußboden sinken, der Brustkorb hob und senkte sich heftig, der Mund keuchte, die Hände lagen gespreizt auf den Dielen, ein Versuch, sich festklammern zu können, falls die widerwärtige Luft ihn in die ekelhafte Dumpfigkeit zurückzerren wollte.

Niemand kam ihm zu Hilfe. Keine überraschte Stimme nannte seinen Namen, keine helfende Hand streckte sich ihm entgegen, um den keuchenden Körper zu beruhigen. Weder den sneakerbeschuhten Fuß seiner Tante noch den perfekt geformten Knöchel von Lolly McKeever sah er durch den Tränenschleier, nur zwei in braunen Stiefeln steckende Füße und den Aufschlag von schwarzen wollenen Hosenbeinen, die eindeutig zu Kieran Sweeney gehörten. Aaron stützte die Hände auf den Fußboden, dreimal hob er den Oberkörper an und sah beim ersten Mal Kierans gegürteten Leibesumfang, beim zweiten Mal den Rock seiner Tante und die Jeans von Lolly und zu guter Letzt, wie Kieran an ihm vorbei zur Wandöffnung ging.

Mit seinem vierten und letzten Liegestütz schob sich Aaron vollends durch die Öffnung und geriet damit dichter an die Sneaker seiner Tante, die ihrerseits zu dem Tisch mit den dünnen Beinen und dem Kruzifix zurückwich. Er erwog, sich zu Lolly McKeevers Füßen hinzustrecken, befürchtete aber, seine Tante hatte der Tunnelgeruch abgestoßen, der in seine Kleider, vielleicht auch in den Körper gedrungen war, und so vollführte er eine Drehung und setzte sich auf. Kieran stand an der Öffnung, eine Hand ruhte auf der Wand über der Täfelung. Den Kopf hielt er gesenkt, das Gesicht war entspannt und passiv, als wären seine Gedanken so weit von ihm entfernt, dass er gewissermaßen neben sich stand und ihm völlig gleichgültig war, was für einen Ausdruck Lippen und Kinn, Augen und Stirn annahmen.

Lolly lehnte am Türpfosten, die Arme unter der Brust verschränkt, den Kopf langsam von Kitty zu Kieran, von Kieran zu Kitty und wieder zurück zu Kieran drehend. Der Blick seiner Tante, die sich steif und drohend am Tisch aufgepflanzt hatte, war auf Kieran gerichtet. Sie hielt den Kopf hoch, die Augen unbeweglich und starr, als hätte sie eine langersehnte Genugtuung erfahren, der sie jetzt Zeit ließ, in ihr Bewusstsein zu dringen und ihrem Kreislauf zu signalisieren, dass ein gewisses Etwas endlich seine Erfüllung gefunden hatte. Aaron beschloss zu bleiben, wo er war. Um nicht den Eindruck zu erwecken, er mache sich über Lollys Ping-Pong-Kopfbewegungen zwischen Kitty und Kieran lustig, schaute er nur seine Tante an. »Was geht hier vor?«, fragte er.

Unentwegt Sweeney anstarrend, sagte Kitty in trockenem und strengem Ton: »Ich habe dir zugesehen und nicht eingegriffen. Als du den Nagel aus der Hand des Gekreuzigten löstest, als ich sah, dass du wusstest, wo er saß, und auch wusstest, was er vermochte, habe ich nichts getan, um dich vor deiner Verdammnis zu bewahren. Deshalb haben wir die Sweeneys all die Jahre gehasst, über Generationen hinweg, haben gewusst, dass sie weniger als Staub sind. Der Vergessenheit war anheimgegeben, was sie getan hatten, nur Abscheu und Verachtung waren geblieben. Es waren also die Sweeneys, die den Tunnel entdeckten und wussten, wie man die Wand öffnet. Es waren die Sweeneys, die um des Goldes des Königs willen die Priester verraten und sie an den Galgen gebracht haben. Es ist eine Henkershand, die du hast, Kieran Sweeney, und ich wäre dir dankbar, wenn du sie von der heiligen Wand nähmest.«

Beide, Aaron und Lolly, hatten nicht zu Kitty geschaut während ihrer Rede, sondern zu Kieran, der unbeweglich dagestanden hatte; immer noch ruhte die verfluchte Hand über der dunklen Öffnung in der Wandtäfelung. Ohne seine Haltung auch nur einen Deut zu verändern, hub Kieran zur Gegenrede an. »Es war ein Sweeney, der der Priester war, und ein McCloud, der ihn verriet. Durch das Versprechen eines sicheren Geheimganges hierher gelockt, hinunter in die Tiefe geführt zu den wartenden Engländern, ward er dem Henker ausgeliefert. Und es war ein McCloud, der das getan hat – ob für Gold oder Silber, wurde nie gesagt. Kein Wunder, dass du es vergessen hast; wer will dich schon deswegen beschuldigen? Der Zorn ist mein, sagt der Herr, und auf deinem Haupt sei er aufgehäuft.«

Nicht einmal geblinzelt hatte Kitty, während sie ihm zuhörte, aber eine kaum merkliche Muskelanspannung im Gesicht ließ sie noch unerbittlicher wirken. »Die Wahrheit eines Sweeney ist eine erwiesene Lüge. Wenn es ein Sweeney-Priester war, der ausgeliefert wurde, wie kommt es, dass du, der Letzte dieser verdammten Brut, den Fluchtweg kanntest und wusstest, wie er zu öffnen ist? Wie beantwortest du das, bitte schön?«

»Eine törichte Frage, die Antwort ist eindeutig. Kamen nicht Bruder und Schwester, Vater und Mutter hierher, um Abschied zu nehmen und zuzuschauen, wie er seinem Tod entgegenging?«

Um Kittys Lippen zuckte es, sie verbarg ein Lächeln. Die Augen wurden etwas schmaler, und ohne dass ihr eine Bewegung anzumerken gewesen wäre, schien sie den Kopf noch höher gereckt zu haben. »Ja, sie kamen, um Abschied zu nehmen und alle Geheimnisse im Haus auszuspähen. Der Priester aber war sicher entschwunden und nicht verraten, und die Brüder und Schwestern, der Vater und die Mutter benutzten ihr Wissen, um andere in den Tod zu schicken.«

»Und ich bin hier, um dich eines Besseren zu belehren.« Aaron hatte das Bedürfnis, aufzustehen oder wenigstens sein Gewicht zu verlagern. Er saß immer noch auf der Erde, das linke Bein unter dem rechten, den linken Arm, auf dem die volle Last des Oberkörpers ruhte, auf die Dielen gestützt. Halb unter der linken Gesäßhälfte lag die Taschenlampe; sie brannte immer noch und schickte ihren Strahl geradewegs auf Lollys Schuhe. Der Arm schmerzte, der Hintern wurde taub, auch hatte er ein steifes Genick, und der Schmerz wanderte Richtung Stirn. Aber das eine war klar, bewegen durfte er sich nicht. Ehe nicht alle Reden geredet waren, verbot sich jedwede Unterbrechung. Nur ein Themenwechsel konnte ihn erlösen. Und da der Dialog ein fortlaufender Wechsel von Anklage und Gegenanklage war, wusste er, dass es noch eine Weile so weitergehen würde. Jahrhundertelanges Schweigen war gebrochen worden, und es war eher wahrscheinlich, dass man ein weiteres Jahrhundert darangeben würde, um die verlorene Zeit wieder wettzumachen. Die beiden Kontrahenten, jetzt im offenen Gefecht, konnten gar nicht anders und mussten den Kampf weiterführen, bis die Erschöpfung sich ihrer erbarmte und dem Hin und Her ein Ende setzte. Doch dass seine Tante oder Kieran Sweeney für Erschöpfung empfänglich sein könnten, wo doch ihr Durchhaltevermögen durch einen jahrhundertealten Streit Nahrung erhielt, war eine Erwägung, die Aaron gar nicht erst in Betracht zog. Er war Zeuge eines perversen Umeinander-Werbens, wie es in der Menschheitsgeschichte selten vorkam.

Aaron war sich so gut wie sicher, dass man nie die Wahrheit erfahren würde, nicht nur, weil keiner dahinterkommen würde, sondern auch, weil es darum gar nicht ging. Weshalb Sweeney wusste, was er wusste, und weshalb Kitty mutmaßte, was sie mutmaßte, wer verraten worden war und von wem, war mehr als nebensächlich im Vergleich zu dem Aufruhr der Gefühle, den der Streit erzeugte. Selten hatte Aaron eine derart gezügelte Leidenschaft erlebt, eine Glut, die vorgab, kalt zu sein, Verlangen, das in Verunglimpfung schlüpfte, Begehr, die sich das Mäntelchen der Verachtung umhing, und das Beteuern von Abscheu, das in Wirklichkeit ein Plädoyer für die Wollust war.

Doch Kitty starrte nur auf Kierans Rücken, und Kieran starrte nur in die Öffnung, und die nächste Phase des Umeinander-Werbens schien in weite Ferne gerückt. Aaron verzweifelte, als er seine Tante sagen hörte: »Aber die Mauer zum Meer wurde nie durchbrochen. Die Häscher haben nie erfahren, wo der Tunnel endete. Der Priester wurde nicht am Fuß der Klippe abgesetzt, sondern weiter unten am Strand, weitab von dem geheimen Ort, und niemand erfuhr davon.«

Seine Verzweiflung nahm zu, als Kieran, immer noch mit monotoner Stimme, sagte: »Es waren die McClouds, die dafür Sorge trugen, dass die Häscher nie erfuhren, dass der Tunnel dort entlang und die Öffnung ins Meer führte. Es waren die McClouds, die den glücklosen Priester geleiteten, verkauften und auslieferten …«

Lolly machte dem Schauspiel ein Ende. Sie hatte die Füße übereinandergeschlagen, auf anmutige Weise berührte die eine Schuhspitze den Boden. Seit sich Aaron aufgesetzt hatte, war das die erste Bewegung, die es in dem Raum gab. »Können wir Declan nicht aus dem grässlichen Ort da rausholen?«, schlug sie vor. »Er war kein Priester, und er hat dort auch nichts zu suchen, um erst mal so viel zu sagen. Los. Wer ist für Declan Tovey?« Sie ging zur Wand und stieß Sweeneys Hand zur Seite, so dass er einen Schritt zurückweichen musste, um nicht in das Loch zu stürzen.

Aaron hatte versucht aufzustehen, merkte aber, dass seine Glieder in der unmöglichen Haltung völlig steif geworden waren. Er gönnte sich nur eine kurze Pause, dann versuchte er es noch einmal und genoss den Schmerz, den er als Preis für die Freiheit empfand. »Ich gehe vor«, sagte er, »ich habe die Taschenlampe.« Sweeney machte ihm Platz, und Aaron duckte sich, um das zweite Mal an diesem Tag in die dunkle Moderkälte einzutauchen.

»Ich komme mit«, sagte Lolly.

Declan Tovey wurde aus diesem seinem jüngsten Grab befreit, Knochen für Knochen ging von Hand zu Hand, wanderte zu Sweeney und weiter zu Kitty. Die Stufen waren seit Aarons vorangegangenem Besuch dort nicht breiter geworden. Er und Lolly streiften sich mehrfach und stießen auch aneinander. Das animierte Aaron zu der Bemerkung: »Ich frage mich, wie tief nach unten das geht.«

»Einfach immer weiter«, war Lollys Antwort.

»Vielleicht sollten wir das auskundschaften.«

»Gib mir die Hand da. Und such die andere.«

Als das letzte Stück aus dem Sammelsurium durchgereicht war und dann auch das Laken, sagte Aaron: »Der Schädel ist vorhin die Stufen runtergerollt. Hilfst du mir, ihn zu finden?«

»Du hast die Lampe. Geh und such ihn.« Sie zog den Kopf ein und verschwand in gebückter Haltung.

Der Schädel fand sich an, mit einer abgesplitterten Ecke an der Stirn. Es gab einen erneuten Versuch, Declan Tovey auf dem Priesterbett hübsch auszurichten. Aaron hatte ihm in seiner unüberlegten Hast, als der Wandausschnitt aufging, ein Bein und drei Rippen gebrochen. Der linke Zeigefinger schien für immer verloren. Aaron wurde wegen seines Umgangs mit den Knochen des Toten von allen gescholten, von Lolly am lautesten.

Als die kritischen Nörgeleien ihren Höhepunkt erreichten, stand für Aaron der Entschluss fest, den Mörder zu entlarven, für ihn eine sichere Methode, sich zu rächen, wenigstens einen der drei undankbaren Menschen, die über die Bettstatt gebeugt standen, zu bestrafen, die sich gegenseitig Toveys Knochen aus den Händen rissen, dreimal die Irrtümer, die sie den anderen vorwarfen, korrigierten und aus dem Dachdecker eine missratene Erscheinung machten.

Kaum hatte sich dieser niederträchtige Gedanke in Aarons Seele eingenistet, da fuhr ein Auto mit quietschenden Bremsen in den Seitenhof und hielt neben Sweeneys Transporter. Zwei Polizisten stiegen aus, schlugen die Autotüren mit drohendem Armschwung zu und nahmen Kurs auf die Küchentür.