Kapitel 2
Aaron blickte aus dem Schlafzimmerfenster. Unmittelbar vorm Haus erstreckte sich im Morgenlicht die ausgedehnte Weide und reichte bis ans Ende der Landzunge. Sie kam ihm kleiner vor, als er sie in Erinnerung hatte – was freilich nicht anders sein konnte, war er selber doch in den dazwischen liegenden Jahren zu recht beachtlicher Höhe aufgeschossen. Man hatte die Wiese zum Heumachen gemäht, ihr Gras war jetzt kurz, aber weich, und so glich sie nicht einem Stoppelfeld. Er empfand sie immer noch als ein Sperrgebiet und demzufolge als eine nicht enden wollende Verlockung. Aus Furcht, er könne unbedacht geradewegs zur Steilküste rennen und abstürzen oder beim Spielen einem Ball bis über die Abbruchkante hinterherjagen, hatte man ihn vor den dort lauernden Gefahren gewarnt und ihm mit Strafen, zu grässlich, um sie zu benennen, gedroht, falls er sich unbegleitet ins verbotene Gebiet wagte. Großtante Molly war sich in ihrer Altersweisheit darüber im Klaren, dass gesunder Menschenverstand oder die Sorge um seine Sicherheit und sein Wohlergehen allein wenig bewirken würden, und hatte deshalb in der Erde verborgene Schlünde erfunden, die sich beim bloßen Berühren mit der Zehe auftaten und ihn verschlangen und in eine Unterwelt beförderten, wo es Vorrichtungen gab, die eigens dazu geschaffen waren, ungezogene Jungen das Fürchten zu lehren. Die beiläufige Erwähnung von Geschöpfen mit Augen so groß wie Untertassen und unstillbarem Appetit tat ein Übriges. Unter diesem Feld der Verlockung befand sich der Zufluchtsort, an den sich die Schlangen gerettet hatten, als Patrick sie verfluchte. Die reuigen Kinder würden so laut heulen und jammern, dass keine flehentliche Bitte ans Ohr des im Himmel weilenden Heiligen dringen könnte, wenn sie erbarmungslos zu spüren bekamen, was sie wegen ihres Ungehorsams verdient hatten. (Wenn Tante Molly diese Dinge ausmalte, klang es mehr wie eine dringliche Bitte und nicht wie ein strenges Verbot. Wenigstens ihretwegen sollte er sich vor einem solchen Schicksal bewahren. Es würde seine Tante peinigen, wissen zu müssen, dass er, wie sie es nannte, »in die Mangel genommen wurde«. Was »in die Mangel nehmen« bedeutete, verschwieg sie. Doch aus Mitleid mit ihr dürfte er nie versuchen, das herauszubekommen.)
Beim Betrachten des einst verbotenen Gefildes fragte sich Aaron, ob es ihm dieser Tage erlaubt sei, die Strecke abzuschreiten und von der Klippe auf den Strand und das Wasser hinunterzublicken. Oder genauer gesagt, er fragte sich, ob er es sich gestatten könnte, unverzagt und nicht begleitet von seiner Großtante, die längst tot war, über das Gras zu marschieren. Wenn sie damals beide Hand in Hand loszogen, konnte nichts Schreckliches passieren. So hatte man es ihm erzählt, und so hatte er es geglaubt. Und dieser Glaube war keineswegs unbegründet gewesen. Oft genug war er mit angstgeweiteten Augen und leichtem Gruseln durch das hohe Gras geführt worden, stets darauf gefasst, ein Rumoren unter den Füßen zu spüren. Dann hatte er auf dem Rand der Klippe sitzen und die nackten Beine über dem Abgrund baumeln lassen dürfen. Tante Molly saß neben ihm, hatte Schuhe und Strümpfe ausgezogen, und beide hatten mit den Zehen gewackelt. Sich so dem Meer darzubieten, war verwegen, war eine Geste der Verhöhnung der finsteren Mächte, die aber durch die Gegenwart seiner Tante in Schach gehalten wurden und durch ihre Hand, die seine fest umschloss.
Einmal, nach einem Ausflug, der lediglich dadurch bedeutsam war, dass sie gemeinsam einen Apfel verzehrten, während sie auf der Klippe saßen – seine Großtante hatte sich weit größere Happen gegönnt, als er sich traute –, war er darauf gekommen, dass es die geschilderten Gefahren gar nicht gab, dass ihm also Vergnügungen versagt wurden, die er sich eigentlich nur zu nehmen brauchte, dass seine Tante seinetwegen viel zu besorgt war und er nur, ein Liedchen vor sich hin summend, durch das hohe, ihm bis zur Brust reichende Gras spazieren und einen Blick aufs Meer werfen müsste, wenigstens so lange, wie er bis drei zählte. Dann würde er, unbeschadet und von niemandem gefasst, zu dem Gemüsebeet zurückstolzieren, wo er Unkraut jäten sollte. Später, wenn er seiner Tante versicherte, dass alles glattgegangen sei, würde sie dankbar aufatmen, und er würde sie an seinem Triumph, überlebt zu haben, teilhaben lassen.
Keine vier Schritte hatte er sich damals auf die verbotene Wiese gewagt, als er deutlich ein Rumpeln in der Erde unter seinen Füßen spürte. Aus dem Liedchen, das er summte, wurde ein Aufschrei. Sofort duckte er sich und warf sich ins Gras, das sich hinter ihm schloss und seine Spuren verdeckte. Mit einem weiteren Angstschrei sprang er auf, streckte die Arme von sich, als flehte er um die Gabe, fliegen zu können, stürzte aus dem hohen Gras, stolperte, fuchtelte umher und hastete zurück zu den Steckrüben und Pastinaken, die seiner Pflege anvertraut waren. Nie wieder würde er sich in den verbotenen Weidegrund wagen, nie wieder würde er ausprobieren, wie es war, ungehorsam zu sein, noch würde er überkommene Wahrheiten in Frage stellen oder Geheimnisse anzweifeln, die man ihm offenbart hatte. (Das Zittern hatte in seinen Gliedern gesteckt, und das dumpfe Rumoren war aus seinem Bauch gekommen. Doch das war ihm damals nicht aufgegangen, und auch jetzt sann er nicht darüber nach.)
Während Aaron aus dem Fenster schaute, kam eine ablandige Brise auf, verfing sich in dem Rasen und begann ihren wohlgeordneten Vormarsch – eine kleine Welle nach der anderen bog die Halme – zum Rand der Klippe. Ein Streifen Grün wurde plattgedrückt, dann ein zweiter, dabei wandten die Grashalme ihre bleiche Unterseite kurz der Morgensonne zu, um sich gleich danach wieder aufzurichten. Und schon strich eine nächste Brise über die grünende Flur, bildete Welle um Welle, als ob die Weide ihren Stolz dareinsetzte, das Meer nachzuahmen und ihm zu verstehen zu geben, dass auch sie ihre Untiefen und Strudel hatte.
Heute, nahm Aaron sich vor, würde er ernsthaft mit der Trauerarbeit beginnen. Er wollte den einsamen Strand abwandern, ohne sich um die ihn verspottenden Möwen zu kümmern. Mit jedem seiner Schritte wollte er den boshaften Mächten trotzen, die seinen Lebensplan vereitelt hatten; hatte er doch die Tragödie eines Mannes erlitten, der seinen Willen nicht hatte durchsetzen können. Er war entschlossen, sich hier in der feierlichen Einsamkeit, wie sie nur eine öde Sandfläche, eine ruhig atmende See und eine aufragende Klippe boten, seinem Seelenschmerz ungehemmt hinzugeben. Er hatte früher als gewohnt aufstehen und sich der Welt zeigen wollen, noch ehe die Sonne vollends aufgegangen war, aber seine Erschöpfung, zu der noch die fünf Stunden Zeitunterschied zwischen seinem Heimatort und hier kamen, hatte ihn im Bett gehalten lange nach der Zeit, die ihm ursprünglich vorschwebte. Und außerdem war der gestrige Abend wirklich ungemein anstrengend gewesen.
Er hatte das Haus seiner Tante erst nach Einbruch der Dunkelheit erreicht. Ein Mann namens Sweeney, der mit einem Lieferwagen, einem amerikanischen Pickup vergleichbar, in die Stadt gekommen war, hatte sich bereitgefunden, ihn und das Schwein die paar Kilometer aus der Stadt hinaus mitzunehmen, die Aaron sonst noch hätte zu Fuß gehen müssen. Er hatte schon mit dem Gedanken gespielt, das Schwein einfach in der Stadt laufen zu lassen. Doch dann fand er, nach all den Mühen und Scherereien, die er mit dem Tier gehabt hatte, stünde ihm eigentlich eine Belohnung zu – natürlich kein Geld, sondern lediglich ein von Herzen kommendes Dankeschön – von der Frau mit dem übermütigen Lachen und den flinken Augen. Eine wohltuende Wärme würde in ihrer Dankbarkeit mitschwingen, ein kleines Lächeln würde sie ihm schenken, mit dem sie Aarons Mühen würdigte, das Schwein seiner rechtmäßigen Besitzerin zuzutreiben. »Mindestens einen Schinken müsste sie uns geben und ein paar Koteletts oder vielleicht eine Seite Speck, wenn’s geschlachtet wird«, hatte seine Tante später gesagt, nachdem er ihr erklärt hatte, was es mit dem Schwein auf sich hatte. Aaron aber wollte nichts weiter als ein kurzes Zeichen tiefempfundenen Danks von einer Frau, die ob der Selbstlosigkeit dieses Mannes geradezu überwältigt war, der jede in Aussicht gestellte Belohnung, sei es in dieser oder der kommenden Welt, von sich weisen würde. So war denn also das Schwein nach nur geringfügiger Ermunterung – einem von Sweeney verabreichten Klapps aufs Hinterteil – die Rampe hinaufgetrappelt, die sich aus einer zufällig im Laderaum des Transporters liegenden Tür hatte improvisieren lassen, und war zum Haus von Kitty McCloud geschafft worden, freilich erst nach einem kurzen Stopp an der Bushaltestelle vor Dockerey’s Pub, in dem Aarons Gepäck auf ihn wartete, wenn auch erleichtert um seinen Walkman und die Kassetten mit Mozart, Bach und Chopins Sonate mit dem Trauermarsch.
Als er am Haus seiner Tante klopfte – ihm war entfallen, dass es selbst in Irland längst Türklingeln gab –, tönte es von drinnen: »Komm schon rein! Ich bin in der Küche, sieht man doch!«
Aaron hatte die Sperre betätigt und gegen die Tür gedrückt. Die gab nicht nach. »Ist abgeschlossen!«, hatte er zurückgeschrien.
»Na klar, ist abgeschlossen. Geh nach hinten ums Haus rum. Ich – na ist egal –, ich komme schon.«
Seine Tante öffnete. Drinnen war es dunkel, und sie selbst stand auch im Dunkeln. »Tante Kitty? Ich bin’s, Aaron. Hab mich verspätet.«
»Verspätet? Ich denke, du kommst erst morgen. Ich bin gerade dabei, die Küche zu tapezieren, damit du nicht immer die ollen Rosen sehen musst; die waren schon dran, als du das letzte Mal hier warst.«
»Oh. Ich habe gedacht, du erwartest mich heute.«
Sweeney war wie angewurzelt zwei Schritte hinter Aaron stehengeblieben. »Wo jetzt hin mit dem Schwein?«
»Du hast mir ein Schwein gebracht?« In Tantes Stimme mischten sich Überraschung, Vorfreude und Entzücken. »Na so was. Das ist wirklich nett. Ist ja was richtig Teures. Ist es tot oder lebendig? Macht nichts, meine Gefriertruhe steht im Keller. Komm rein, komm nur rein. So lange du mir kein trojanisches Pferd bringst.« Sie machte einen Schritt zur Seite, verschwand noch mehr im Dunkeln. Aaron sah ein fahles gelbes Licht, das von der Küche in den Gang fiel, der zum rückwärtigen Teil des Hauses führte. Aber der Lichtschein war zu weit weg, so dass seine Tante wie ein Schatten wirkte, der dunkler war als der Raum hinter ihr.
Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte Aaron, das Problem mit dem Schwein wäre bereits gelöst – zu seinen Gunsten. Er und seine Tante würden Schinken und Speck und Koteletts haben in Hülle und Fülle. Leider hatte er Sweeney die ganze Geschichte bereits erzählt, noch vor der Fahrt hierher, alles, von den entlaufenen Schweinen, der Tour bergauf, der Frau mit dem Halstuch. Sweeney hatte ihm bestätigt, dass er das alles schon wusste. Die Geschichte war längst rum. Er hatte ihm sogar mit einem Kugelschreiber auf einem Kassenbon vom Supermarkt den Namen der Frau aufgeschrieben, die überall im Ort wegen ihres eigenwilligen Lebenswandels bekannt war; hatte sie sich doch in den Kopf gesetzt, Schweine zu züchten, als ganz Irland seine Schweine längst in die Intensivhaltung abgeschoben hatte, das irische Pendant zu den amerikanischen Schweinemastanlagen, und nur noch wenige selbständige Schweinehalter übriggeblieben waren. Ihre Telefonnummer herauszufinden, konnte nicht schwierig sein. Sie würde kommen und das Schwein abholen, aber viel Dankbarkeit sei nicht zu erwarten. Über ihre Vorstellungen von dem, was sich gehört und was nicht, ließe sich streiten. Aaron hatte schon den Mund aufmachen wollen, um sie gegen eine solche Verleumdung zu verteidigen. Die Frau war von so heiterem Gemüt gewesen. Selbst ausgemachtes Pech hatte für sie seine spaßigen Seiten, und das wollte einiges heißen für eine Frau. Er hatte aber geschwiegen. Schließlich war er ein Fremder, ein Ausländer, und niemand hätte es geschätzt, hätte er sich schon an seinem ersten Abend in der Stadt wie ein Neunmalkluger aufgespielt. Er würde Sweeney gewiss wieder begegnen und könnte die Sache später richtigstellen, nachdem ein, zwei Wochen vergangen waren und sich sein Ruf als Weltweiser gefestigt hatte. Bis dahin würde er sich mit Besserwisserei zurückhalten. Außerdem gehörte dem Mann der Pickup, und Aaron war übermüdet. Trotzdem, wenn er seiner Tante das Schwein überließ, würde es Sweeney überall herumerzählen. Die Stadt würde ihn für einen Dieb halten. Die Frau würde auf ihr Eigentumsrecht pochen, und Tante Kitty wäre verärgert.
»Es ist nicht mein Schwein«, bekannte Aaron. »Es gehört Lolly.« Er wandte sich zu Sweeney um. »Wie heißt sie?«
»McKeever. Lolly McKeever.«
Der Schatten seiner Tante schien zu erstarren, wenn man von einem Schatten überhaupt sagen kann, dass er erstarrt. Jedenfalls reckte er sich beachtlich in die Höhe, und die Frau war ohnehin größer, als er sie in Erinnerung hatte. (Aaron war ja selber tüchtig gewachsen, maß über eins achtzig, so dass er sich seine Tante im Verhältnis zu ihm kleiner vorgestellt hatte. Doch sie war keineswegs geschrumpft. Auch sie war gewachsen. Egal, da war nun das Schwein, um das man sich kümmern musste.) »Lolly McKeevers Schwein ist das also«, stellte seine Tante fest. »Ist ja interessant. Lolly McKeever. Und du bringst mir ein Schwein ins Haus, das ihrs ist.«
Aaron rückte mit seiner Geschichte heraus: die Sache mit dem Bus, den Schweinen, den Fahrgästen, wie er den Berg hinauf- und wieder heruntergerannt war, wie er zur Stadt hatte marschieren müssen und wie nett Mr. Sweeney zu ihm gewesen war. Bei diesem Namen verlängerte sich der Schatten seiner Tante um eine Handspanne. Sie beugte sich vor, als wollte sie über Aarons Schulter blicken. »Dann bist du das also?«, fragte sie.
»Ja«, sagte Sweeney. »Und dass es hierhergeht, habe ich erst erfahren, nachdem ich das Schwein aufgeladen hatte. Und da bin ich nun, will es abliefern und mich gleich dünnemachen.«
»Bring es in den Schuppen und pass auf, dass es nicht die Gerätschaften anfrisst.«
Das Schwein wurde in den Schuppen gesperrt, und Aaron bot Sweeney einen Drink an für die Mühe, die er gehabt hatte. Doch bevor der Mann auch nur mit einer Handbewegung oder einem Kopfschütteln hätte ablehnen können, mischte sich seine Tante abrupt ein und verkündete, im Haus sei nichts Trinkbares. Ohne jedes Wort stieg Sweeney in seinen Transporter und fuhr an, wobei zwei Fehlzündungen knatterten. Das Schwein im Schuppen protestierte mit lautem Grunzen. Aaron stieg der Auspuffqualm in die Nase. »O Sweeney, halt die Fresse«, murmelte Tante Kitty.
»Sweeney heißt doch der Mann, nicht das Schwein«, bemerkte Aaron.
»Alle Schweine heißen Sweeney. Der Name stammt von den Römern. Sus, suis. Bei den Italienern wurde suino draus, und die Iren haben es verfeinert zu Sweeney. Schlimm genug, dass du so was nicht weißt. Nächstes Mal, wenn du den Mann siehst, kannst du ihm das beibringen. Und sag ihm auch, woher du es hast. Was ist, kommst du nun rein oder nicht?«
Da Aaron keine andere Wahl blieb, konnte er nichts als »ja« sagen.
Sie gingen durch die Seitentür direkt in die Küche, wo, abgesehen von den fünf Stühlen und dem wuchtigen Holztisch, Tapetenrollen, Kleistertöpfe und eine Leiter den meisten Platz beanspruchten. Jetzt erst konnte er seine Tante richtig sehen, und auch sie betrachtete ihn von oben bis unten. »Größer bist du nicht geworden?«, bemerkte sie als Erstes.
»Bin immerhin über einen Meter achtzig.«
»Möchte man nicht für möglich halten. Aber komm, drück mich mal richtig, und dann ist zwischen uns wieder alles wie früher, und die Jahre, die wir uns nicht gesehen haben, zählen nicht.«
Aaron umarmte sie kräftig, empfand aber nicht so recht die alte Vertrautheit, die sie vorausgesagt hatte. Zumindest war der erste Schritt getan, und wenn er auch nicht gänzlich damit zufrieden war, so fühlte er sich doch ermutigt, die Familienbande weiterzuknüpfen. Nach der Umarmung trat er ein bisschen zurück und fand seinen ersten Eindruck bestätigt. Seine Tante war größer, als er erwartet hatte. Ihre Lippen waren immer noch ein wenig zu voll, ihr Mund war eine Spur zu groß, und die Augen, denen nichts entging, fanden das, was sie erblickten, wie eh und je gleichermaßen vergnüglich und verachtenswert. Die Sommersprossen auf den Wangenknochen und der Nase waren nicht verblasst, von der Stirn aber waren sie verschwunden. »Wir werden wie einst unseren Spaß miteinander haben«, sagte sie. »An mir soll’s nicht liegen.«
Aaron fragte sich, ob jetzt schon der richtige Zeitpunkt war, ihr die Wahrheit zu sagen – nämlich, dass er gekommen war, um sich in seinem Kummer zu ergehen. Die Falten auf der Stirn sollten sich vertiefen, ein Ausdruck der Trauer sollte sich in seinen Augen einnisten, der die unbedacht Fröhlichen für immer zum Schweigen brächte und die Gleichgültigen beschämte.
Er beschloss, damit noch zu warten und seiner Tante erst später reinen Wein einzuschenken. Noch besser wäre, wenn sie es selber spürte und zögerlich Fragen stellte und bei jeder Antwort, die er ruhig und unerschütterlich gab, immer mitfühlender und mitleidender wurde. Sie würde ganz gerührt sein. Sie würde ihn bewundern. Vor lauter Dankbarkeit würde ihm das die Kehle zuschnüren. Bald, aber nicht gleich.
Kitty machte eine Ecke auf dem Tisch frei und schuf sich Platz auf dem Herd, indem sie die Tapete auf die Erde fegte – sollte sie sich da aufrollen, wie sie wollte – und den Kleistertopf auf den hinteren Brenner stellte, damit sie so den vorderen benutzen konnte. Sie sprachen über Aarons Abenteuer mit den Schweinen, über das interessante Äußere der jungen Frau und über Mr. Sweeneys Hilfsbereitschaft. Sobald der Name fiel, hatte seine Tante gemeint: »Vielleicht hörst du mal auf zu reden und isst, was dir vorgesetzt wird.« Als seine erste Mahlzeit in Irland erhielt Aaron Spaghetti, wovon so viel gekocht wurde, dass es gut und gerne für sie beide reichte und auch noch für das Schwein. Von der Tomatensauce bekam es sogar den größten Teil. Das Schwein sollte sich auch noch an einer vollen Schachtel Cornflakes gütlich tun, einem fast vollen Glas Apfelmus und an den Resten eines Thunfischgerichts. (Eine Sellerieknolle und eine Rübe wurden ebenfalls in Betracht gezogen, dann aber zurückgestellt. Die Gerstensuppe und der Schokoladenpudding sollten für den nächsten Morgen aufgehoben werden, befand Tante Kitty.)
Das Futter wurde in einer Abwaschschüssel zu einem bekömmlichen Mischmasch vermengt. Kitty steckte einen Finger hinein und leckte ihn ab. »Soll niemand sagen, dass ein Gast von einer McCloud hungrig bleibt.« Sie steckte noch mal einen Finger hinein und kostete, nickte, zufrieden mit dem, was sie bereitet hatte, und trug es hinaus zum Schwein.
Aaron erhielt einen Apfel zum Nachtisch, den er mit hoch auf sein Zimmer nehmen sollte, damit sie das Tapezieren zu Ende bringen konnte und er ihr nicht im Wege war. Dass sie ihn nicht zum Fernsehen aufgefordert hatte oder zu einem Drink im Wohnzimmer, wunderte ihn. Er hatte sich schon darauf eingestellt, das abzulehnen, hatte ihr sagen wollen, wie erschöpft er sei, hatte andeuten wollen, dass er jetzt dringend der Ruhe bedürfe, doch die Gelegenheit dazu bekam er gar nicht. Ganz wie in alten Tagen wurde er nach oben ins Bett gescheucht. Das war ihm recht, hatte er doch für einen Tag genug Aufregung gehabt.
Aaron hatte sich bei geöffnetem Fenster angezogen; der Wind vom Ozean, dem der Wiesentau und der noch draußen überm Meer hängende Nebel eine kühle Frische verliehen, sollte zunächst seinen Körper, dann seine Kleidung durchlüften. Er holte tief Luft, um seine Lungen mit Sehnsucht nach Weite und Stille zu füllen, doch ehe er noch ausatmen konnte, sah er das Schwein um die Hausecke traben, eigentlich benahm es sich mehr wie ein umhertollendes Lamm denn wie ein Schwein mit Hängebauch. Ohne Pause trottete es in die Wiese, schnüffelte umher, grub die Schnauze tief in den Rasen und wühlte die Grassoden auf.
Aaron atmete aus. Zweifelsohne hatte seine Tante das Schwein aus dem Schuppen gelassen. Doch seine Gegenwart und dass es nun Teil des so geruhsamen Bildes war, schien ein Affront gegen die trüben Gedanken zu sein, die er eben anfing in seinem Geist zu formen. Die schöne Strenge der Szene war gestört, war nicht mehr der perfekte Rahmen für das Drama, das er einzuüben gedachte. Das stetige Auf- und Abschwellen der Wogen wurde zum bloßen Hintergrundgeräusch degradiert von dem Schnaufen und Schnüffeln, das Aaron so deutlich hörte, als wäre das Schwein hier bei ihm in der Schlafstube. Das Schwein war ein Störenfried, der sowohl Aarons empfindsames Gemüt beleidigte als die Szenerie überhaupt verdarb; es musste unverzüglich vertrieben werden.
Er zog die Stiefel mit den dicken Sohlen an, seine Timberlands, die wasserdicht sein sollten, denn er wollte damit die Strandwanderung beginnen. Diese Frau – Lolly oder wie sie hieß – musste kommen und das Tier sofort abholen. Aaron war sogar bereit, auf die Dankesbezeugung zu verzichten, die er gehofft hatte zu erhalten. Die Frau sollte sich mitsamt ihrem fröhlichen Wesen und dem Schwein auf und davon machen. Angesichts des eigensinnigen Schweins konnte er gut auf ihre Dankbarkeit verzichten, auf ihr überraschtes Lächeln, das übermütige Lachen. Den Handschlag, den sanften und doch kräftigen Griff ihrer Hand in seiner, das ungläubige Staunen, mit dem sie seine Schilderung der Verfolgungsjagd aufnehmen würde, das bewundernde Anerkennen seiner prächtig bewiesenen Fähigkeit, einen widerborstigen Abtrünnigen zu zügeln – all das wollte er sich versagen. Selbst das Glücksempfinden, wenn ihre freie Hand während des Händeschüttelns seinen Oberarm berührte, und das Gefühl, wenn sie mit der Spitze ihres Schuhs sacht an die Zehen in seinem Stiefel stieß, diese ganze ihm zustehende Belohnung wollte er ohne zu klagen dahingeben. Ihr Lob für seine – doch Aaron hielt inne in seinem Gedankenfluss und band sich die Schnürsenkel. Das Wort »Viehzucht« kam ihm in den Sinn, und da sich ihm damit verbundene abartige Vorstellungen aufdrängten, ließ er davon ab, sich Lollys (oder wie immer sie hieß) vermeintliche Gemütsaufwallungen auszumalen, und stieg die Treppe hinunter.
Die Schnaufer aus dem Zimmer seiner Tante, die er vernahm, während er hinunter in den Korridor ging – im ersten Moment hatte er schon befürchtet, er würde noch immer von dem Gegrunze des Schweins verfolgt –, belehrten ihn, dass sie noch nicht auf war, und nach logischer Überlegung, wofür er nur wenige Sekunden benötigte, schlussfolgerte er, dass es nicht sie gewesen war, die das Schwein herausgelassen hatte. Und so gelangte er in die inzwischen völlig aufgeräumte und makellos saubere Küche. Ringsum war alles tapeziert; nicht nur die vier Wände, auch die Decke waren mit einem Muster winziger roter Röschen verschönt, die eine gewisse Ähnlichkeit mit kränkelnden Bienen hatten. Schon glaubte er, das Summen und Brummen der verstörten Insekten zu hören. Bei der ersten Bewegung würden sie ihn angreifen und zu Tode stechen. Sie würden ihn umschwirren, würden wütend über seinem Kopf kreisen, über sein Gesicht und den ganzen Körper krabbeln.
Wenn das Ergebnis von Kittys Mühen auch nicht gerade beruhigend wirkte, so beeindruckte ihn dennoch, welch gewaltige Arbeit sie geleistet hatte. Zudem begriff er ziemlich bald, welche Absicht seine Tante verfolgte, sei es bewusst oder unbewusst. Auf dem Tisch stand eine komplette Computerausrüstung mit Bildschirm und Tastatur, mit Modem und Maus. Hier in der Küche betrieb sie ihre Schriftstellerei. Um sich ihre Zurückgezogenheit zu bewahren, hatte sie den Raum so unwirtlich gestaltet, wie sie nur konnte. Niemand würde in diesen Wänden verweilen wollen. Sollte es doch einer wagen, hier einzudringen, die Ungastlichkeit und Ungemütlichkeit würde jeden, der auch nur einen Funken Gefühl hatte, abschrecken. Der Bienenstock war ihre Domäne, die mickrigen Bienen waren ihr Schutz und ihr Schild.
Kitty schrieb Romane, die sich einiger Beliebtheit erfreuten. Dabei verfuhr sie, wie sie nur Aaron eingestanden hatte, nach einer einfachen Methode. Sie nahm sich ein Werk vor, das weite Verbreitung gefunden hatte, versah es mit ihren, wie sie es nannte, »Korrekturen« und brachte es als ihr eigenes Buch auf den Markt, was ja schließlich der Wahrheit entsprach. Jede Geschichte erhielt bei ihr ein Happy End, die Hochmütigen kamen zu Fall, die Demütigen zum verdienten Sieg. Die Paare wurden umarrangiert; eine Waffe wurde durch eine andere ersetzt; Haarfarben wechselten, und Frisuren ließen sich beliebig austauschen. Die Kleidung verteilte die Autorin mit geringfügigen Änderungen auf andere Personen, darunter litten zuweilen die Moden, erhielten aber gewissermaßen als Entschädigung mehr Chic. Geschlechterwechsel löste so manches Problem, wobei sich oft neue Möglichkeiten eröffneten. Um dem Vorwurf des Plagiats zu entgehen, wurden Schauplätze umgestaltet, neue Landschaftsbilder entworfen, Möbelstücke und Requisiten aus anderem Material gefertigt. Dabei entstand keineswegs ein Durcheinander, sondern häufig eine Umwelt, die der Leser eher fesselnd als verwirrend empfand, war sie doch einzigartig und wies unerschöpflichen Erfindungsreichtum auf.
Als Aaron sie in einem Brief, in dem er auf ihr Geständnis einging, fragte, warum sie – da ihr doch so viel Einbildungskraft zur Verfügung stehe und es ihr an handwerklichem Geschick wahrlich nicht mangele – nicht einfach Romane schriebe, die durchweg nur ihrem Geist entsprängen, antwortete sie, dass sie ohne den Ärger und die Frustration, die ihr die Verfasser der Originale bereiteten, hilflos sei. Die hätten alles falsch angepackt, aber sie würde deren Geschichten in Ordnung bringen. Die Fehler, die sie in den Werken entdeckte, würden ihre Einbildungskraft beflügeln, würden ihr Energien zuführen. Ohne den Stachel dieser Irrtümer erlahme ihr Wille, fehle ihr die Kraft fortzufahren. Ihr Überlegenheitsgefühl gestatte ihr, die Welt ihrer Vorbilder und die Geschicke der dort agierenden Personen mit einer Klarheit zu sehen, wie es nur von sehr erhöhtem und entferntem Standpunkt möglich sei, und den erreichten ihre Vorläufer offensichtlich nie, sie waren schlicht und ergreifend keine Kitty McCloud. Sie täte allen nur einen Gefallen. Sie täte den Lesern einen Gefallen. Sie lade sich die Last all der Irrtümer auf und nehme die notwendigen Reparaturen vor. Allzu schwierig sei es nicht, gab sie zu. Die Fehler ihrer Vorgänger waren so himmelschreiend und sprangen derart ins Auge, dass es nur geringer Mühe bedurfte, unbesonnenes Handeln geradezurücken und die Herrschaft des gesunden Menschenverstands wiederherzustellen. Zugleich entstand so ein kräftiger Zuschlag zu Kittys Bankkonto. Nicht mit Zwiebeln und Kohlköpfen unterhielt sie ihren Landsitz, nicht mit Steckrüben und Rettichen sicherte sie sich den herrlichen Blick auf den westlichen Ozean. Ihre »Korrekturen« hatten das ihr zugefallene Erbe vermehrt, und damit hatte Aaron nun den Uferstreifen unten am Strand für sich, auf dem er bald seine Seelenqualen ausleben wollte.
Obwohl ihm die Tapete zuwider war, konnte er doch nicht zur Tür hinausgehen, ohne einen Blick auf das Buch zu werfen, das neben dem Computer seiner Tante lag. Seite 276 war aufgeschlagen. Er hob den Band auf und schaute auf den Rücken. Jane Eyre las er. Behutsam legte er das Buch wieder hin, ohne die Seite zu verblättern. Das war also der Roman, den seine Tante gegenwärtig »korrigierte«, wie sie ihm unlängst geschrieben hatte. In Kittys Version würde sich Mr. Rochester, nicht etwa seine geistig umnachtete Frau, vom Turm stürzen; hatte ihn doch Janes Weigerung, sich in die von ihm vorgeschlagene Bigamie zu fügen, aufs tiefste erschüttert. Der Roman würde damit enden, dass Jane die Geisteskranke mit Güte und schwesterlicher Zuneigung heilte. Sie würden einander zugetane Freundinnen werden und würden ihre Erfüllung bei der Arbeit am Webstuhl finden und bei der – schon wieder dieses Wort – Viehzucht. Aaron schaute kurz auf den leeren Bildschirm des Computers, wünschte ihm Glück und Erfolg und ging hinaus.
Es wunderte Aaron, dass das Zuschlagen der Fliegentür, das rasche Zuklappen, das dumpfe Zittern des mit Gaze bespannten Rahmens nicht Erinnerungen à la Proust an seine Sommertage heraufbeschwor, die er als Junge hier verbracht hatte. Warum überkamen ihn nicht Vorstellungen von Tagen mit hoch oben schwebenden Wolken, von Kaninchen und Muscheln und wurmstichigen Äpfeln, von Barfußlaufen und Kuhfladen und Disteln, von Gewitter mit Donnergrollen und zuckenden Blitzen, die immer wieder in die gepeinigte Brust des Ozeans einschlugen?
Doch sogleich fiel ihm ein: In seinen Kindertagen hatte es noch keine Fliegentür gegeben. Diese zweckmäßige Vorrichtung aus Amerika hatte seine Tante in Irland eingeführt, nachdem sie vom Fordham-College in der Bronx heimgekehrt war und sich klargemacht hatte, dass es eigentlich keinen Grund gäbe, sich Fliegen in die Familienküche einzuladen. Aus Hochachtung vor dem neuerlich in Irland heimisch gewordenen Artefakt sprach sie stets von der Maschentür und überließ es den Amerikanern, ihre Bezeichnung »screen door« beizubehalten.
(Sie hatte ferner ein intensiviertes Nationalgefühl mitgebracht, das von ihrem Heimweh nach der Grafschaft Kerry geprägt war, und schließlich – abgesehen von ihrem BA in Moraltheologie – ein Rezept für »Falschen Hasen«, ein Abschiedsgeschenk von ihrer Zimmergenossin June Grately, die im Hauptfach Wirtschaftskunde studierte.)
Doch alle Gedanken an Proust und Maschentüren schwanden augenblicklich, sobald er der Verwüstung ansichtig wurde, die sich vor ihm ausbreitete. Im Gemüsegarten seiner Tante war das Unterste zuoberst gekehrt worden. Dem emsigen Suchen des Schweins nach Futter und sonstwie Fressbarem war zum Opfer gefallen, was Aaron an den Überbleibseln als Tomaten und Gurken, Paprika und grüne Bohnen, Rotkohl, Möhren, Lauch und die unvermeidlichen Kartoffeln ausmachte. Das Kräuterbeet – Basilikum, Minze, Koriander und Kümmel – war bloß noch ein Haufen Mulch. Vier große Sonnenblumen, die die hintere Abgrenzung des Gartens markierten, lagen mit dem Blütenkopf nach unten auf der aufgewühlten Erde.
Aaron blickte zum Schuppen, in dem das Schwein für die Nacht untergebracht worden war. Die Tür hing nur noch am Schließband, pendelte sozusagen an einem dünnen Faden. Die Türangeln waren herausgebrochen, der Türrahmen war zersplittert. Lediglich das Vorhängeschloss hatte dem Ansturm standgehalten. So war die Tür zur Seite gekippt, abgebremst von einer Schubkarre, die links neben der Türöffnung stand. Aarons Augen wanderten hinüber zu der Weidefläche. Dort war tatsächlich das Schwein, und es war weiterhin mit der Futtersuche befasst. Es wühlte mit der Schnauze in dem saftigen grünen Gras, warf eine Sode nach der anderen hoch und tat das so wirkungsvoll, dass ein Pflug hätte neidisch werden können. Es schien überzeugt, dass sich irgendwo noch Nahrhaftes befand, das zu entdecken höchste Befriedigung versprach. Schnauben und Grunzen voller Vorfreude begleiteten jeden erneuten Versuch, und Aaron konnte trotz seines Entsetzens nicht umhin, die Fähigkeit eines so stumpfen Geräts wie einer Schweineschnauze zu bewundern, sich wie eine Schaufel in die Erde zu schieben und die Schollen umzubrechen. Ohne Pfoten oder Krallen konnte es besser buddeln als ein Fuchs oder Kaninchen. Ohne Zinken oder Hauer konnte es ein Feld besser beackern als Grabegabel oder Spaten. Jahrtausendelang hatte man das Schwein gehätschelt und gemästet, und so hatten sich seine zerstörerischen Instinkte offenbar zu einem Trieb der Verwüstung entwickelt, den nur die vier Elemente Erde, Feuer, Wasser und Luft (und die Menschheit natürlich) übertrafen.
Aarons erster Impuls war, zurück ins Haus zu gehen, die Fliegentür leise hinter sich zu schließen, durch die Küche zu schleichen, lautlos die Stiegen zu erklimmen, in sein Zimmer zu huschen und ins Bett zu kriechen. Dort würde er warten, bis seine Tante aufschrie und loszeterte, sobald sie aus dem Fenster geschaut hatte oder einfach vor die Tür gegangen war. Schlaftrunken könnte er in aller Unschuld fragen, was denn los sei. Er würde dann den Weisungen seiner Tante folgen, die befand, was zu tun war oder getan werden müsste.
Doch sein Ärger über das Schwein ließ derartige Weisheit nicht zum Tragen kommen. Er rannte auf das Weideland, klatschte in die Hände und tat das immer und wieder wie auf dem Hügel am Tage zuvor; dabei rief er unentwegt »Suuii! Suuii!« Was das bewirken sollte, wusste er selbst nicht. Vielleicht konnte er das Biest wenigstens daran hindern, noch mehr Unheil anzurichten, das wäre immerhin etwas. Bloß, wo sollte er das Schwein hintreiben? Es gab nichts, wo er es hätte einsperren können.
Er spürte den Geruch des Meeres. Ohne auch nur aufzuschauen, wusste er, dass da vorn das Wasser war – und die Klippe am äußersten Rande der Wiese. Man würde ihm nicht die Schuld in die Schuhe schieben können. Im Gegenteil, er hätte versucht, das Schwein vom Abgrund wegzuscheuchen. Aber das Schwein hätte nicht auf ihn gehört. Nicht auf ihn zu hören, hätte es sich von Anbeginn ihrer Bekanntschaft vorgenommen. Er wäre unschuldig. Er würde der Dame sein Bedauern aussprechen. (Er sah sich schon einen Hut in den Händen halten, einen weichen Filzhut, und die Krempe durch die Finger gleiten lassen, als läse er dort die Worte der Beileidsbezeugung in Blindenschrift.)
Doch dann stieg vor seinem geistigen Auge das betrübte Gesicht der Lolly McKeever auf, deren Schwein es gewesen war. Nicht der geringste Vorwurf in ihrem Antlitz, nur Betroffenheit. Sie kenne ja ihr Schwein. Sie hätte immer gewusst, wie hinterhältig es war. Nun hätte es eben bekommen, was es verdient hatte. Man würde ihn sogar loben wegen seiner Bemühungen. Angebote auf Schadenersatz würde man machen. Weigerungen, das anzunehmen, würden folgen. Beteuerungen aller Art würde es geben.
»Suuii! Suuii!« Aaron setzte seinen Vormarsch fort, und das Schwein geriet immer dichter an den Rand der Klippe. Wenn es ihm gelänge, dann würde ein verwesendes Schwein unten am Strand liegen. Es würde stinken. Wäre ein höchst unschöner Anblick. Die Krähen und Kormorane hätten Monate zu tun, alles sauber abzupicken. Niemand würde sich die Mühe machen, das blutunterlaufene Fleisch und die gebrochenen Knochen zu holen und in die Suppe zu tun. Alles wäre verdorben. Von Aaron konnte man kaum erwarten, bei seinen trauervollen Wanderungen über einen Schweinekadaver zu klettern oder um ihn herumzugehen, so wie Jane Eyre, die in Charlotte Brontës Version sich anschickte, fast wörtlich – ohne innere Regung und ohne zu zögern – über die zerschmetterten Glieder einer toten Geistesgestörten und in das Happyend zu steigen, das für sie von der ersten Seite des Buchs vorgesehen war. Die Abfolge der Ereignisse, wie er sie sich vorgenommen hatte, durfte nicht gestört werden. Das Schwein durfte nicht über die Klippe gejagt werden, noch durfte man zulassen, dass es sich aus eigenem Antrieb in die Tiefe stürzte.
»Suuii! Suuii!« Der Tau vom Gras drang durch das Leder seiner wasserdichten Stiefel, aber er blieb unbeirrt bei seinem »Suuii! Suuii!«
Das Schwein, als wäre es dieser ewigen Wiederholung müde, hörte auf zu wühlen, schaute zur See, schnüffelte mit erhobener Schnauze die Luft, wandte sich um und trottete zu dem zurück, was einmal Gemüsebeete waren.
Aaron hatte nicht die geringste Ahnung, wohin er das Schwein trieb. Vielleicht war sein Versuch, das Weideland zu retten, auch dazu angetan, das Schwein von der lockenden Klippe und dem Ruf des Meeres abzubringen. »Suuii! Suuii!« Sein Rufen war jetzt mehr ein Mahnen, weniger ein Befehlen, klang etwa wie »Du böses Schwein« oder »Schäm dich, schäm dich«, so als würde man mit einem fügsamen Hund reden und nicht mit einem widerborstigen Geschöpf.
Das Schwein trollte sich in den Garten. Aaron dachte zuerst, alles daransetzen zu müssen, es zu vertreiben, aber es waren kaum noch Früchte der Erde da, die zu retten es sich lohnte, und so ließ er den Dickwanst gewähren. Vielleicht würde der sich damit zufriedengeben, einen kleinen, noch nicht verwüsteten Flecken umzuwühlen und ein paar sich krümmende Engerlinge zu finden. Das wollte er ihm ruhig gönnen. Sollte das Schwein doch zusehen, wo es noch was fand, bis seine Tante auf war, dann würde es schon merken, was es bei der Morgenfütterung gab – falls seine Tante überhaupt bereit war, es nach dem Schaden, den es angerichtet hatte, zu füttern. Sie hatte aufgehoben, was von der Gerstensuppe übrig war, hatte eine halbleere Packung Weetabix gefunden und eine Handvoll Cornflakes in der Speisekammer. Sie hatte auch erwähnt, dass im Keller seit über einem Jahr Hühnerfutter stand; sie hatte damals frische Eier haben wollen und hatte sich eine kleine Schar Hühner angeschafft; doch ein Fuchs hatte sie erledigt, ehe die armen Hennen noch den ersten der drei Säcke hatten leeren können, die sie ziemlich teuer gekauft hatte.
Aaron jedenfalls wollte mit dem Schwein nichts mehr zu tun haben. Er wies jegliche Verantwortung für das Tier von sich. Den Garten würde er wieder herrichten und auch den Schuppen reparieren. Aber damit wäre es dann auch getan. Um deutlich zu machen, dass er sich nun mit der Sache abgefunden hatte, wollte er sich auf die Stufen zur Küchentür setzen und das Schwein unbeachtet lassen, egal was es anstellte. Noch ehe er sich umdrehen und auf die Fliegentür zugehen konnte, bemerkte er, dass etwa da, wo die Sonnenblumen lagen, ein riesiges Loch klaffte. Und schon stapfte er über die Strünke, die zerfetzten Pflanzen und hochgeworfenen Wurzeln. Er wollte sehen, was diese Bestie zu so extremem Kräfteaufwand getrieben hatte. Das Loch war gut und gerne einen Meter tief, und auf dem Grund lagen Reste einer alten Vogelscheuche, der untere Teil von Hosenbeinen lugte aus einem Erdhaufen hervor, der vermutlich auch den Kopf verbarg. Purpurfarbene Socken hatte das Schreckgespenst an und klobige Schuhe, für eine Vogelscheuche war das ein ziemlicher Aufwand.
Aaron fühlte sich getrieben, alles wieder zuzudecken, dann begriff er, woher dieses Bestreben rührte. Es war gar keine Vogelscheuche. Warum sollte sie Schuhe und Socken anhaben? Außerdem war da ein Fußknöchel zu sehen, und die Ausbeulung im Hosenbein deutete auf ein Knie hin. Er scharrte mehr Erde weg. Es war ein menschliches Skelett, das da zum Vorschein kam. Vergraben im Garten seiner Tante.