Kapitel 6

 

Am nächsten Morgen gedachte Aaron in das bergige Umland zu wandern, in die niedrige Bergwelt, die sich im Osten oberhalb der Stadt erhob, wo die Anziehungskraft des Mondes mit seinem Einfluss auf die Gezeiten ihm keine zeitlichen Einschränkungen auferlegen und ihn nicht zwingen würde, des Tages Leiden früher als von ihm gewollt zu beenden. Von den Anhöhen aus gesehen, würde sich die Welt zu seinen Füßen ausbreiten, würde er einen Blick auf die mit Steinwällen eingegrenzten Weideflächen an den Abhängen genießen können, die sich bis zu den Feldern unten an den Landspitzen hinzogen.

Allerdings gab es einen Nachteil bei der Sache. Die Berge als solche boten nicht die ersehnte Ruhe. Seine Großtante Molly hatte ihn hin und wieder zum höchsten Gipfel mitgenommen, wo sie allein mit den Schafen gewesen waren, begutachteten, wie die Wolle wuchs, von welcher Beschaffenheit sie war und welchen Ertrag die Schur bringen würde. Die Berge und Tante Molly gehörten zusammen. Nicht einmal Phila würde gegen sie ankommen. Tante Molly war allgegenwärtig. Schon der bloße Gedanke am Morgen – noch ehe er aufgestanden war, noch ehe er an Phila dachte, noch ehe ihn die Irrungen und Wirrungen mit Declan Tovey einholten –, allein die Vorstellung, über Weideland bergan zu klettern, durch Heidekraut und Stechginster und Felsgestein, auf matschigen Trampelpfaden hinauf zu den lockenden Höhen, hatte in ihm das Bild seiner Großtante heraufbeschworen, groß, unbezwingbar, auf dem Gipfel thronend, mit ausgestrecktem Arm, dessen ausladende Geste die Ländereien unten umschloss, und wie sie zu ihm sprach in Worten, die sich in sein Inneres eingruben und ihn für alle Zeiten irisch prägten, egal, wem er späterhin Treue schwören würde.

»Ganz bestimmt war es hier oben«, hatte Tante Molly gesagt, »genau an diesen Fleck hier oben hat der Teufel die überheblichen Mächtigen von England gebracht und hat ihnen verheißen: ›All dies will ich euch geben‹« – und hier kam die erwähnte Geste –, »›all dies will ich euch geben, wenn ihr niederfallt und mich anbetet.‹ Kaum hatte der Teufel seine Worte gesprochen, da knickten die Knie, ihre englischen Knie auch schon ein – und wer wollte es den Halunken verdenken, angesichts eines solchen Höhenzugs und solch einen Wunders, das sich ihnen darbot? Und deshalb kämpfen wir nicht nur, um uns selbst zu befreien, sondern auch um sie zu befreien, denk immer daran. Um sie endlich von ihren Knien zu erheben, damit sie aufrecht stehen und gehen können in diesem großartigen Land, nicht länger im Bann des Versuchers. Auch für sie, für die knienden Engländer, Halunken sind es und bleiben es, kämpfen wir. Und so geht es immer weiter und weiter und weiter, bis wir sie zum guten Ende befreit haben.« Dann lachte sie ihr herzhaftes Lachen und fügte hinzu: »Oder zum bösen. Denn bei solchen wie ihnen weiß man nie.« Dann seufzte sie tief und wiederholte – gewissermaßen statt eines ›Amen‹ – »Halunken.«

Nicht unbedingt erpicht darauf, seine irische Herkunft zu bekräftigen – nicht aus Untreue oder Gleichgültigkeit heraus, sondern mehr dem Verlangen nachgebend, in weniger hehren Gefühlen zu schwelgen –, entschied sich Aaron für die See. Tante Molly war ein andermal dran.

Tante Kitty war nachts zurückgekehrt. Sie saß in der Küche und arbeitete unverdrossen am Computer, während er sich ein ordentliches Frühstück einhalf: zwei weitere Hotdogs, eine Banane und drei Tassen Kaffee, die – schwarz und ohne alles – nach dem sauren Guinness vom Abend zuvor die reinste Wohltat waren. Er fühlte sich gleich wieder fit. Kitty ließ sich von ihrer Schreiberei nicht ablenken, der Mann in der Priesterstube blieb unbeachtet. Jeden Morgen saß seine Tante an ihrer Arbeit, und nichts – weder Leben noch Tod – vermochte sie von ihren fröhlichen Umformulierungen abzubringen. Gegenwärtig hatte sie auf Anraten ihres Londoner Verlegers Anthony Trollopes »Kannst du ihr verzeihen?« (sie konnte nicht) zur Seite gelegt und war mit der Verbesserung von »Tess von d’Urbervilles« beschäftigt, wobei die Titelheldin Tess, jetzt unter dem Namen Tiffany, nicht ihren ersten Verführer – in Kittys Version namens Kyle – tötet, der trotz allem für sie und ihre Familie gesorgt hatte, sondern den Ehemann, der sie während ihrer Schwangerschaft im Stich gelassen hatte. Das war, wie Kitty nachdrücklich erklärt hatte, der einzig richtige Schluss. Er, der Ehemann, musste getötet werden. Sie behielt sogar den Namen Clair bei, also wurde Clair das Schwert in den Leib gerammt und nicht jemandem, der mit einem Ersatznamen bedacht wurde. Schon als Sechzehnjährige, als Kitty das Buch zum ersten Mal las, war sie dafür gewesen, dass Clair seine gerechte Strafe bekam. Als es jetzt so weit war, bereitete es ihr ein besonderes Vergnügen, dass sie mit dem Vorfall so vertraut war, dass sie als Autorin nicht nur unmittelbar dabei sein durfte, sondern auch darauf achten konnte, dass dem feigen Clair ein Moment der ihn nicht erlösenden Verwunderung eingeräumt wurde, als Tess/ Tiffany ihn mit einem zum richtigen Zeitpunkt griffbereiten Schwert ans Kopfteil des Bettes heftete.

»Heute passiert es«, hatte Kitty gesagt, als Aaron seinen zweiten Hotdog vertilgte. Sie rieb sich die Hände, wohl um sich selbst für die bevorstehende Tat in Hitzewallung zu bringen. »Wenn du zurück bist, hat’s ihn schon erwischt, zur Hölle mit ihm.« Sie bebte förmlich im Vorgefühl des Racheakts, zog die Schultern hoch und presste die Ellbogen an die Rippen. Und als Aaron die Fliegentür hinter sich zuschlug, hörte er bereits wieder das gedämpfte Klicken der Computertastatur, mit dem Tiffany nicht nur zum Racheakt an ihrem Ehemann getrieben wurde, sondern auch an Thomas Hardy und einem beträchtlichen Teil der englischen Literatur des 19. Jahrhunderts. »Zur Hölle mit ihm« war eine gängige Redensart seiner Tante.

 

Um seine Füße vor den Steinen und Muscheln zu schützen, mit denen der Uferstreifen übersät war, trug Aaron Sandalen, und nicht nur die, sondern auch weiße Socken, denn es war ihm peinlich, wie sein großer Zeh versuchte, sich über den nächstliegenden Zeh zu schieben. Dass er am Strand jemandem begegnen würde, war unwahrscheinlich, dass er jemandem begegnen würde, der sich für seine Zehen interessierte, war noch unwahrscheinlicher. Aber mit Ausnahme von Herzensangelegenheiten zog Aaron es vor, kein Risiko einzugehen.

In der Ferne bäumten sich die Wellen auf und sanken tosend in sich zusammen. Aaron befleißigte sich eines Schritts, wie er ihm für tiefsinniges Denken und geistesabwesende Meditation passend dünkte. Kleine Steine drückten schmerzhaft in die Sohlen seiner Sandalen, und ab und an sorgte ein größerer Felsbrocken dafür, dass er zur Seite wankte, aber im Großen und Ganzen wahrte er die bedächtige Gangart eines Trauernden.

Keine hundert Meter von dem sich zum Wasser vorreckenden Felsen erspähte er eine Gestalt, einen nicht gerade schmächtigen Mann, der um den Vorsprung herum mit entschlossenen Schritten auf ihn zukam. Als absolvierte er eine sportliche Übung, um die Waden zu kräftigen, die Pobacken zu straffen, die Arme vor und zurück zu schwingen, schien er im Takt einer imaginären Militärkapelle zu marschieren. Jetzt streckte er die Arme über den Kopf und ließ sie dann über Kreuz hin und her pendeln. Ob er Aarons Aufmerksamkeit auf sich lenken oder ihn abschrecken wollte, waren nur zwei von mehreren Möglichkeiten. Vielleicht war das Ganze Teil eines Sportprogramms. Oder aber der Mann fühlte sich von wirklichen oder eingebildeten Furien getrieben, die irgendwo in der Ferne hinter ihm wüteten. Augenscheinlich hatte er an Tempo zugelegt, er fuchtelte mit den Armen wie ein Wahnsinniger, wischte sich dann mit einem Arm über die Stirn und fuhr mit der Hand übers Gesicht. Es war niemand anders als Kieran Sweeney.

Jetzt legte er die Hände an den Mund und formte mit ihnen einen Schalltrichter, schien auch etwas zu rufen, was Aarons von der See betäubte Ohren nicht verstehen konnten. Auch Aaron ging nun schneller. Sweeney, der seinen Versuch, sich verständlich zu machen, aufgab, blieb stehen und rührte sich nicht vom Fleck. Er überließ Aaron das Näherkommen. Er, Sweeney, hatte das Seinige getan, mehr zu tun, war er nicht gewillt.

Aaron erreichte ihn leicht humpelnd. »Haben Sie mich nicht winken sehen?«, fragte Sweeney.

»Winken?« Aaron streckte den Kopf vor. Sweeney atmete schwer und wirkte irgendwie ungeduldig, mit weit aufgerissenen Augen und knirschenden Zähnen.

»Ja. Winken. Ich habe gewinkt.«

»Ja. Ich hab’s gesehen. Sie winkten.« Aaron nickte.

»Und gerufen habe ich auch.«

»Ja. Auch gerufen. Ich hab gesehen, dass Sie riefen.«

»Und trotzdem sind Sie einfach weitergegangen.«

»Ja. Ich bin einfach weitergegangen.«

»Dabei habe ich Ihnen zugerufen, Sie sollten umkehren. Zurückgehen.«

»Ach so, das war’s. Zurückgehen. Ich hatte herumgerätselt, was es war.« Wieder nickte Aaron.

»Und warum haben Sie es nicht gemacht? Sind nicht umgekehrt?«

»Bin schließlich heruntergekommen, um hier spazieren zu gehen.«

»Sehen Sie denn nicht das Meer?«

»Doch. Ich sehe es.«

»Sehen Sie denn nicht, wie es sich verhält?«

»Ob das Wasser steigt? Die Wellen?«

»Das sind keine Wellen. Sehen Sie doch hin. Das sind aufgerissene Rachen oder Schlünde oder wie Sie es nennen wollen. Sehen Sie doch, wie weit die aufgesperrt sind, immer weiter! Das sind die Mäuler von Monstern, und die sind hinter Ihnen her.«

»Hinter mir?«

»Hinter Ihnen.«

»Die Wellen sind ganz schön hoch, ja, aber bis ans Ufer kommen die nicht.«

»Natürlich nicht. Sie verhöhnen uns. Sie sagen uns, was sie vorhaben und was sie tun werden.«

»Ach ja?«

»Und es geht nicht nur ums Ertrinken. Sehen Sie das Weiße an den Wellenkämmen. Das ist kein Schaum. Das sind Zähne. Sehen Sie doch hin, wie die Kiefer zuschnappen! Sie werden nicht bloß ertrinken. Man wird Sie verschlingen.«

»Oha.«

»Haben Sie’s vergessen? Auf Sie hat man es abgesehen. Hab ich Ihnen doch gesagt. Sie wurden auserkoren, gestern schon. Die machen keinen Spaß. Die holen Sie sich, jetzt, gleich.«

»Wenn die Flut kommt? Das ist erst in einer Stunde.«

»Sehen die so aus, als warteten sie auf die Flut? Angenommen, wir stehen da, wo wir jetzt sind, wir schafften es nicht von hier nach dort, da hätten sie uns schon gänzlich verschlungen.«

»Sie sagen also, ich soll umkehren?«

»Muss ich es erst noch einmal wiederholen?«

»Ist ja in Ordnung. Aber wenn ich doch hier wandern will!«

»Dann müssen Sie es eben tun. Dann sage ich mal schon Lebewohl, später werde ich keine Chance mehr dazu haben.«

»Auf Wiedersehen also.« Aaron hielt ihm die Hand hin.

Sweeney schüttelte den Kopf. »Sie sind schlimmer als Ihre Tante. Der Fluch Ihrer Sippschaft. Da macht jeder, was er will, komme, was wolle. Egal, Sie haben sich einen ehrenwerten Weg gewählt. Den gleichen Weg sind schon andere gute Leute gegangen. Ob Sie deren Gesellschaft würdig sind, kann ich nicht sagen, das muss das Meer entscheiden.«

»Ich kehre um, sowie die Flut steigt, machen Sie sich keine Sorgen.«

»Nein, die werd ich mir nicht machen. Das mit dem Sorgenmachen hat sich erledigt. Und Sie sind nicht schlimmer als Ihre Tante. Niemand kann schlimmer sein als Ihre Tante.«

»Wie das?«

»Das sage ich, weil es mich traurig macht, nicht als Anklage. Es ist eine Feststellung, jeder der sie kennt, sieht das genauso. Auch Zorn ist dabei, sie hat mehr wider den Stachel gelöckt, als ein Mensch ertragen kann.«

Sweeny hatte sich abgewendet und schaute aufs Meer hinaus. Gegen die tosenden Wogen wirkte er einsam und verlassen. Seine Worte verloren sich in ihnen. »Einen Menschen zu ermorden, ist eine schlimme Sache«, sagte er. »Zumindest seh ich es so. Etwas Schreckliches, das man nicht ungeschehen machen kann. Der Mann ist tot, und sie hat’s getan und wird es nicht mehr los. Und nun hat sie ihn dort bei sich im Haus. Jede andere Frau würde es zum Wahnsinn treiben, aber nicht Ihre Tante. Die nicht.«

Aaron blickte hinunter zu seinen Socken und wackelte mit den Zehen. Eine riesige Woge, ziemlich nahe am Ufer, brach sich und fiel, das Wasser peitschend, in sich zusammen. Er sah zu Sweeney auf. Sweeney, der immer noch aufs Meer starrte, als hielte er Ausschau nach einem Segel, von dem er wusste, dass es nie auftauchen würde, hob seinen Kopf höher. Ernste Trauer überschattete sein Gesicht.

Aarons starrte weiter auf seine Füße. »Meine Tante sagt, Lolly McKeever war es. Lolly sagt, Sie waren es, und Sie sagen – meine Tante. Wissen Sie, was ich denke?«

»Sie denken, ich war’s.« Aaron regte sich nicht, und Sweeney fuhr fort: »Von mir aus können Sie das denken. Es ändert so und so nichts.« Er drehte sich zu ihm, sah Aaron an, streckte die Hand aus und nahm ihn beim Arm. »Kommen Sie«, sagte er, »ich kann Sie nicht hier an der Grenze zur Ewigkeit stehen lassen. Ich begleite Sie zurück.«

»Danke, aber ich gehe in die andere Richtung.«

»Nein. Das lasse ich nicht zu.«

»Aber eigens deshalb bin ich hergekommen. Um spazieren zu gehen. Hier. Am Ufer. Allein.«

»Ja«, sagte Sweeney. »Wir wandern am Strand und schauen auf die Steine und tun dem Meer gegenüber so, als wüssten wir nicht, dass es da ist. Wir wandern und lassen uns von den Sorgen treiben. Wir lassen das Meer für uns wüten, damit wir in unserem Leiden mit uns selbst sanft umgehen können. Wir überlassen unser Sehnen und Verlangen dem Meer.« Er senkte den Kopf. »Also gut. Gehen Sie. Es ist ein gewaltiges Grab, das Sie erwartet, und eine beachtliche Gesellschaft, wenn vielleicht nicht von Heiligen, so doch von angenagten Toten. Das Fischmaul ist allemal besser als der Mund eines Wurms und macht es auch nicht so geräuschvoll, heißt es.«

Er ließ Aaron stehen, hielt aber nach zwei Schritten inne. Ohne sich umzuwenden, fragte er: »Ist es Ihre Ehefrau, die Sie verloren haben, oder was?«

»Eine Frau.«

»Schön?«

»Nicht unbedingt.«

»Und Sie haben geglaubt, sie würde dankbar sein, einen so großartigen Mann zu bekommen.«

»Ja.«

»Aber sie war nicht dankbar.«

»Nein.«

Sweeney nickte. »Undank ist der Welt Lohn. Die haben keine Ahnung, was ihnen entgeht.«

»Treibt Sie der gleiche Grund hierher?«

»Undankbare Menschen. Vielleicht nicht alle. Aber eine von ihnen, deren Namen ich nicht nennen werde, ist es.«

»Ist es ein Name, den ich kenne?«

»Niemand kennt die Namen, die ich für sie habe.«

»Aber weiß diese Frau, weiß sie um die Gefühle, die Sie für sie hegen?«

»Niemand weiß, was ich fühle.«

»Ahnt sie etwas?«

»Ahnen? Wie denn? Es ist jenseits aller Vorstellungskraft.«

»Vielleicht könnten Sie ihr einen kleinen Hinweis geben.«

»Und was würde das bringen?«

»Sie könnte es für eine großartige Sache halten.«

»Nein, nicht sie. Niemals.«

»Aber warum?«

»Weil es keine großartige Sache ist. Es ist Wahnsinn.«

»Aber warum?«

»Von Geburt an ist sie meine Feindin. Und ich bin ihr Feind. Wir wurden in eine Welt hineingeboren, die uns eine Feindschaft aus alten Zeiten aufzwang. Unsere heiligen Taufschwüre sind nichts im Vergleich zu dem Gelübde, das wir mit dem ersten Wahrnehmen von Licht auf dieser Erde ablegen, mit dem ersten Schrei. Und es ist kein Gelübde, das mit Wasser bekräftigt wurde, sondern mit Blut. Längst vergessenem Blut. Einzig und allein die Feindschaft ist geblieben. Sagen Sie nicht, dass sie nicht da wäre. Sie ist da. Ich trage sie in mir. Sie trägt sie in sich. Sie wandert von einem zum anderen, immer hin und her. Wir können nicht von ihr ablassen, denn dann wären wir nicht mehr die, die wir sind. Ohne sie wären wir ein Nichts. Sie ist es, die uns mit Leben erfüllt. Gegen nichts würden wir sie eintauschen, selbst nicht um all der Liebe willen, die die Welt bereithält. Die Welt diesseits und jenseits.«

»Aber können Sie nicht …«

»Nein, ich kann nicht. Und sie kann auch nicht.«

»Dann bleibt es dabei, ein für allemal?«

»Es bleibt dabei. Ja.«

Aaron spürte die Füße kalt werden. Er suchte eine Erklärung zu finden und sah, wie das Wasser von der Uferbegrenzung zurückwich, über seine Zehen spülte und die Socken nass machte. Einen Augenblick stutzte er, schaute aber sogleich geradeaus in die Ferne. Die Felswand weiter vorne, die ins Wasser ragte, war immer noch zu sehen, wenn auch von einer vorüberziehenden Wolke überschattet. Zuvor hatten sich die Wolken nicht bewegt, jetzt taten sie es, nicht rasch, aber stetig, als gehorchten sie einem Kommando. Eine neue Welle kam, klein, harmlos, wie ein schelmisches Lachen. Sie rollte ans Ufer, umspülte Aarons Knöchel, und höchlichst zufrieden mit dem, was sie angestellt hatte, zog sie sich wieder zurück.

»Wenn ich noch ein Stück laufen will, sollte ich lieber losgehen«, sagte Aaron.

Er ging ein paar Schritte und blieb stehen. Sweeney rief etwas, aber die Wogen gebärdeten sich wütender und schienen entschiedener dem Ufer zuzustreben, so dass Aaron kaum etwas verstand. Er wollte schon zurückgehen, bis er in Hörweite war, aber er wusste, wenn er überhaupt noch etwas Zeit für Phila haben wollte, dann nur jetzt. Er hielt es nicht für zulässig, es einen weiteren Tag zu verschieben. Er hatte das arme Mädchen schon lange genug vernachlässigt. Seit er in die Grafschaft Kerry gekommen war, hatte er so gut wie gar keinen Gedanken an sie verschwendet, und das war nicht fair. Schließlich sollte ihm Kerry Nährboden für seinen Kummer sein, sollte sein Selbstmitleid ins Unermessliche steigen und ihn seine Klagen gen Himmel schreien lassen, auf dass sie eins wurden mit dem Geschrei der Möwen und dem Ruf des Brachvogels. Doch all seine hehren Absichten wurden vereitelt. Am liebsten hätte er mit den Füßen aufgestampft, sogar mit nassen Socken und Sandalen, aber es würde nicht ungesehen bleiben, und so ließ er es. Er beschloss, seine Wanderung wieder aufzunehmen, sollte doch Sweeney dort stehen bleiben, von Liebe und Tod schwätzen und seiner Verzweiflung Luft machen. Aaron hatte mit seinem eigenen Kummer zu tun, und dem wollte er sich auch hingeben.

Und so schritt er den Strand entlang, entschlossen, die sich auftürmenden Wogen zu ignorieren. Ihm war, als hörte er Sweeney hinter sich rufen: »Ihr Name ist …« Das letzte Wort ging im Meeresrauschen unter, und dort auf dem Meer sah er plötzlich so etwas wie ein Kanu mit einem Menschen drin, er paddelte in aller Gemütlichkeit, als befände er sich auf einem ruhig dahinströmenden Fluss. Jetzt trug es ihn in die Höhe, auf den Kamm einer sich aufbäumenden Welle, dann verschwand er, um sogleich wieder nach oben zu kommen; es war genau zu sehen, wie die Wogen ihn hoben und wieder fallen ließen.

Dann tauchte das Kanu auf einem nächsten Wellenberg auf, der Paddler beugte sich über das Wasser, schnellte einen Arm vor und suchte etwas zu greifen. Beim Brechen der Woge verschwanden Kanu und Mann. Aaron konnte gerade noch, ehe der Wellenberg in sich zusammensank, hoch oben das Paddel erkennen.

Wieder tauchte das Kanu auf. Der Mann saß völlig ruhig in aufrechter Haltung da, blickte weder zum Ufer noch auf die nahenden Wellen. Es sah so aus, als hätte er die Hände gefaltet auf den Knien liegen. Vielleicht betete er, oder er wartete geduldig auf das, was da kommen würde. Aaron erkannte ihn. Es war niemand anders als sein Gegner vom Vorabend, der vermeintliche Declan Tovey, der Verehrer – ob wirklich oder nur in seiner Wahnvorstellung – von Lolly McKeever, der Mann, dem Aaron auf die Nase gedroschen hatte.

Zweimal tauchte der Mann auf, und zweimal verschwand er. Er selbst bewegte sich überhaupt nicht, nur das Meer war in Bewegung. Aaron wandte sich nach Norden und machte fünf Schritte. Der Wind fuhr ihm unters Hemd, ließ es jetzt zu einem großen weißen Buckel anschwellen, nicht wie ein sich blähendes Segel, mehr den Körper entstellend. Er machte weitere fünf Schritte, dann noch drei. Das Kanu hatte jetzt eine Neigung von fünfundvierzig Grad, ritt nicht länger auf dem Wellenkamm, schoss nicht nach unten und wieder nach oben, sondern war in dem aufschäumenden Schlund gefangen, der gischtbewehrt im Begriff war, zuzupacken und seine Beute zu verschlingen. Tosend brandete das Wasser heran und spie die weiße Gischt ans Ufer. Wieder tauchte das Kanu auf, der Mann saß immer noch drin. Er faltete erneut die Hände, da fiel die nächste Woge über ihn her.

Aaron riss Ärmel und Knopfleiste von seinem Hemd auf, so dass es samt Knöpfen in hohem Bogen nach hinten flog. Er zerrte sich die khakifarbenen Shorts vom Leib. Jetzt hatte er nur noch die Baumwollslips an. Er stürzte ins Wasser und warf sich der erstbesten Welle entgegen. Er erreichte sofort eine Tiefe, wo er keinen Grund mehr hatte. Mehr um der Kälte zu widerstehen, als um es mit dem Wasser aufzunehmen, kämpfte er sich mit Armen, Beinen und Füßen vorwärts, legte eine nicht enden wollende Serie von Entrechats hin, die den größten danseur noble aller Zeiten hätte erblassen lassen. Der nicht nachlassende Schlag mit den Füßen und die automatisch funktionierende kräftige Armarbeit trieben ihn vorwärts, er nahm Welle um Welle, stieg und fiel mit einer jeden, kämpfte sich vorwärts, hatte nichts anderes im Sinn, als das dem Untergang geweihte Kanu zu erreichen.

Ganze Wasserwände bauten sich vor ihm auf, schwollen an und ab. Zweimal begruben sie ihn unter sich, zweimal kam er wieder hoch. Der Salzgeschmack im Mund sagte ihm, dass er Wasser geschluckt hatte. Trotzdem machte er weiter, hoffte, nicht die Richtung zu verlieren, dem Mann näher und näher zu kommen, den er zu retten entschlossen war.

Als ihn eine mittlere Woge in die Höhe schob, sah er etwa fünf Meter links von sich das Kanu, die Spitze zum Ufer gerichtet; der Mann blickte nicht in seine Richtung, nahm auch keine Notiz von der Richtungsänderung des Kanus. Die Hände hatte er nicht länger gefaltet, sie hingen seitlich über dem Bootsrand im Wasser. Noch ehe Aaron etwas rufen konnte, machte sich eine neue Welle über ihn her, und als er versuchte, nach oben zu gelangen, hatte es fast den Anschein, dass die See sich holte, worauf sie Anspruch erhob, dass er aufgeben und sich fügen musste.

Er schluckte Wasser und kämpfte verbissen, die Arme bleiern und die Hände schwer, die Beine ermüdet und die Füße kraftlos. Er musste diese Schwere loswerden. Er musste die Hände fortschleudern, die Fußgelenke von den Füßen befreien. Er fuchtelte, er schüttelte und schaffte es nach oben. Er rang nach Luft, und sie erstickte ihn fast. Schon machte sich die nächste Welle über ihn her, drückte seinen Kopf nach unten, hielt ihn fest, er zählte bis zehn, und sie gab ihn immer noch nicht frei. Erneut nahm er den Kampf auf, verfluchte die immer schwerer werdenden Hände, verwünschte seine Füße, Schuhgröße zwölf. Und wieder hatte er den Mund voller Salzwasser, es brannte in der Nase; schon fürchtete er, ihm würden die Ohren platzen, damit sich das Wasser seinen zerstörerischen Weg bahnen konnte. Aber bis nach oben war es nicht mehr weit, gleich bekäme er Luft. Seine Hände wurden federleicht, seine Füße machten wieder mit und trugen ihn an die befreiende Luft, die er endlich wieder atmen konnte.

 

Zuerst spürte er nur, dass ihm Wasser aus dem Mund lief. Irgendwie hatte er Sand und den Geschmack von Pflanzen und Seetang auf der Zunge. Dann spürte er in regelmäßigen Abständen einen Druck auf der Brust und dass dabei Wasser aus dem Mund spritzte. Wieder diese Druckwelle. Er zuckte mit den Händen. Er bewegte die Füße. Kein Wasser unter dem Körper. Also war er auf dem Grund des Ozeans, sollte für immer dort ruhen, auf das Murmeln der Strömungen lauschen, auf das Getuschel der Fische, die ihm das Fleisch abnagen würden, das Herz und die Lunge, die Leber und Milz, die sich über sein stolzes und schönes Geschlecht hermachen, ihn in einen zweiten Declan Tovey verwandeln würden, die bloßen Knochen nicht einmal in Lumpen gehüllt, mit kahlem Schädel, die keine Brewers Baseballkappe bedeckte. Von niemandem betrauert würde er da liegen, würde selbst nicht mehr trauern. Phila wäre vergessen. Dahin. Alles dahin. Weil er zu dem vermeintlichen Ebenbild des toten Declan Tovey hinwollte, weit draußen in seinem Kanu.

Erneut eine starke Druckwelle auf dem Brustkorb, nur dass sie diesmal so etwas wie Luft in ihn hineinpumpte, kein Wasser. Eine Druckwelle nach der anderen. Der offene Mund nahm irgendeine trockene Substanz auf, nicht ungleich dem Atem, wie er ihn von den Lebzeiten auf der Erde her kannte. Er öffnete die Augen. Zehn Zentimeter vor seiner Nase nahm er einen nassen Wirrwarr von Pflanzen wahr, bräunlich gelb, ins Grüne übergehend. Es roch nach nicht mehr frischem Fisch. Die Blätter sahen wie leere Samenhülsen vom Ahornbaum aus, in Abständen dazwischen längliche, von einem schleimigen Mantel umgebene Perlen. Vermutlich ein Meeresrosenkranz, der ihn zum Beten animieren sollte.

Wieder ging der Druck los. Aaron stöhnte. In rascher Aufeinanderfolge drei weitere Stöße seitlich an den Rippen. »Ha! Geschafft!«, hörte er eine Stimme. »Du hast es geschafft und ihn gerettet.« Es war eine Männerstimme, eine Stimme, die gleichzeitig erfreut und ungläubig klang. »Und du selbst? Wie fühlst du dich? Hast selbst genug Wasser geschluckt, nicht wahr?«

»Bis zum Abend wird’s schon werden«, hörte er eine andere Stimme, sie klang leise und ernst, kurze Atemstöße trennten die einzelnen Wörter. Aaron hob den Kopf, wollte ihn eigentlich drehen und sehen, wer da war, wollte sich vergewissern, was Sache war, wie es kam, dass er hier im Sand lag mit einem Bündel Seetang vor seiner Nase. Dass es ihm nicht gelungen war, den Mann im Kanu zu retten, er selbst aber gerettet worden war, hatte er begriffen, aber ein paar Einzelheiten hätte er schon gern gewusst. Er spürte eine Hand auf der Schulter, die ihn mit sanftem Druck aufforderte, den Kopf wieder zurückzulegen. »Gönnen Sie sich noch ein wenig Ruhe«, sagte die leise und ernste Stimme.

Gehorsam legte Aaron den Kopf zurück und starrte in das Algengewirr. Eine Wasserspinne näherte sich ihm, krabbelte von einer Perle zur nächsten, wanderte mehr seitwärts als obenauf, wobei die hauchdünnen Beine kaum die pelzige Oberfläche berührten. Nie zuvor war Aaron aufgefallen, wie winzig der Spinnenkörper war und wie lang und fein die Beine, die den Körper mühelos trugen, wohin er wollte. Als die Spinne nur noch zwei Fingerbreit von seiner Nase entfernt war, hob er wieder den Kopf und auch die rechte Schulter, um sich – ehe man ihn daran hindern konnte – umzudrehen und einen Blick auf seinen Retter zu werfen.

Auf dem Felsbrocken, auf dem Aaron zuvor seine Socke ausgezogen hatte, hockte Sweeney, nackt, die Ellbogen auf die Knie gestützt, den Kopf in die Hände vergraben, mit dem Körper vor- und zurückschwankend, als beklagte er einen Toten, aber ohne jedes Jammern oder Stöhnen. Wasser tropfte ihm vom Haar und auf die Hände und rann zwischen den Knöcheln in kleinen Rinnsalen die Handgelenke hinunter und weiter zu den Knien, wo sie in dem dichten roten Haar verschwanden, das sich auf Schienbeinen und Waden kräuselte.

Aaron, in Wirbelsäule, Armen und Beinen immer noch steif, stand auf, schaute in die Gegend und wusste nicht recht, was er sagen oder tun sollte. Dann sah er in drei Meter Entfernung den Mann stehen, den er zu retten versucht hatte, das Paddel des Kanus wie einen Stab in der rechten Hand haltend, das Kanu ihm zu Füßen mit der Spitze am Bein wie ein treuer Hund. Er schaute zu Aaron herüber. Seine Lippen hatte er vorgewölbt. Die Augen waren groß und rund und schienen amüsiert über das, was sie sahen. Aaron hatte das Gefühl, es war an der Zeit, ihm erneut auf die Nase zu dreschen. Er taumelte auf den Mann zu, stolperte aber, weil das Taubheitsgefühl in den Beinen stärker war als sein Wille.

»Das hier ist nicht die günstigste Stelle zum Schwimmen«, sagte der Mann. »Es gibt jede Menge besserer Buchten, da geraten Sie nicht in ähnliche Schwierigkeiten wie heute. Sie haben Glück gehabt. Wissen Sie übrigens, dass Sie nur eine Socke anhaben?«

Um dem Mann keine Chance für weitere Schadenfreude zu geben, wendete sich Aaron von ihm ab und ging auf Sweeney zu. Sweeney hatte die Hände vom Gesicht genommen und ließ sie zwischen den Knien baumeln, sie verdeckten nur zum Teil den schlaffen Penis und den lang hinunterhängenden Hodensack, der sich der Rundung des Steins, auf dem er saß, anschmiegte. Die heftigen Atemstöße waren etwas schwächer geworden. Mit leicht geöffnetem Mund und nach innen gekehrtem, traurigem Blick schaute er aufs Wasser. Seine Erschöpfung hatte ihn zu einer Ruhephase gezwungen, in der er weder mit Zornausbrüchen noch heller Verzweiflung seinen Kummer verbergen konnte.

Aaron war darauf bedacht, ihn nicht zu stören. Er war im Begriff, sich wieder zu dem Mann mit dem hundetreuen Kanu umzudrehen, als er es sich anders überlegte. Er beschloss, wie Sweeney aufs Meer hinauszuschauen.

Schließlich brach Sweeney das Schweigen. »Ich hätte es nicht tun sollen«, sagte er. »Man wird es mir nie verzeihen. Niemals.«

Aaron sagte nichts. Sweeney redete mit dem Meer, nicht mit ihm. Es wäre unhöflich gewesen, das Gespräch auf sich zu lenken. Er würde warten, bis Sweeney ihn direkt ansprach. Unglaublich, dort draußen, schon ein gut Stück vom Ufer weg, sah er das Kanu und wie der Mann in die steigenden und fallenden Wogen paddelte.

»Er macht es erneut!« Aaron hatte es herausbrüllen wollen, aber es klang mehr wie ein Stöhnen. Gewissermaßen um auszuprobieren, ob seine Stimme noch funktionierte, wiederholte er: »Er macht es erneut!« Es klang tatsächlich anders, mehr, als hätte er einen Kloß im Hals, dann kam ein Gurgeln, und aus dem Mund rann spärlich Wasser, bahnte sich den Weg übers Kinn auf die Brust. »Sehen Sie nur! Dort!«, krächzte er heiser. »Sehen Sie nur!«

»Ich habe meinen Namen beschmutzt«, gab Sweeney zur Antwort. »Ich habe meine Familie entehrt, für alle Zeiten. Man wird es mir nie verzeihen.«

Aaron drehte sich zu dem klagenden Man um. Er stand da, immer noch nackt, bis auf das dichte rötliche Haar, das seine Brust bedeckte, und das dichte orangefarbene Haar, das sich um den Ansatz seines Schwanzes kräuselte, und das dunklere Haar auf seinen Eiern. Ohne von Aarons Gegenwart Notiz zu nehmen, starrte er weiter auf das aufgewühlte Meer. Aaron wollte ihn schon fragen, was er mit seinen Bemerkungen meinte, aber noch ehe er dazu kam, fuhr Sweeney in seiner Selbstanklage fort. »Mein Name ist Kieran Sweeney, und Ihr Name ist Aaron McCloud. Sie waren dafür bestimmt zu ertrinken, und ich war dafür bestimmt, es mit anzusehen und geschehen zu lassen. Aber ich habe es nicht mit angesehen. Ich sah, wie die Wellen sich über Sie hermachten, und das zu Recht. Ich hatte es Ihnen ja gesagt. Aber nein, Sie, ein McCloud, Sie hören nicht darauf, was ein Sweeney sagt. Sie gehen einfach rein, und die Wellen warten, klappen ihren Schlund auf und zu. Genau, wie es geschehen sollte. Und ich war dazu bestimmt, zuzusehen und zu frohlocken. Aber habe ich frohlockt oder wenigstens gelächelt? Nein. Ich, Kieran Sweeney, wider besseres Wissen und unfähig, meinen Körper zu bezähmen, renne hinein, nehme den Kampf mit den Wogen auf, ein Held, wie alle Sweeneys waren und sind und sein werden. Und ich greife nach unten und zerre Sie fort von dort, wo sie Sie bereits hatten und wohin Sie gehören. Und begnüge mich nicht, Ihnen einfach ins Gesicht zu lachen und Sie fahren zu lassen, nein, ich ziehe Sie aus den Tiefen. Und werfe ich Sie dann einfach zu Boden und lasse Sie sterben? Nein. Wider besseres Wissen kämpfe ich weiter, mache alles, damit das Wasser aus Ihrem Körper heraus und auf die Steine sprudelt. Und Sie sind ein McCloud. Verstehen Sie, ein McCloud. Ein verfluchter McCloud. Und ich ein guter und gesegneter Sweeney. Ein Blutsfeind, ein Erzfeind. Von jeher und in alle Ewigkeit. Und ich habe Sie gerettet, also bin ich verflucht wie Sie und Ihresgleichen!«

Aaron ließ die Tirade über sich ergehen, er blinzelte nur und ließ die Unterlippe sinken, immer ein Stückchen tiefer. Jetzt ging es nicht mehr tiefer, auch den Kiefer konnte er nicht noch mehr hängen lassen. Er kam aus dem Staunen nicht heraus. Er blinzelte erneut, Sweeney in voller Größe vor sich, die Klippen und das Geröll hinter sich, eingeschwärztes Rot und dunkelndes Rostbraun. Es war seine Tante, die Sweeney liebte, soviel wusste er. Und es war Kitty McCloud, wegen der Sweeney voller Kummer und Gram am Ufer entlanglief. Sie war eine der Verfluchten, auf der anderen Seite einer Grenze geboren, die nie überschritten werden durfte, und er ein Mann, töricht genug, den ganzen Unsinn nicht beiseitezuschieben und nicht einfach zu sagen, wie es ihm ums Herz war. Aaron entschloss sich zu sprechen.

»Weiß meine Tante, dass Sie sie lieben?«

Sweeney verkrampfte seine Finger zu einer Faust, das war alles. Langsam ließ er sie wieder locker, entspannt berührten sie seine Schenkel. Ohne Aaron anzublicken sagte er: »Sehen Sie den da draußen, entfernt sich immer weiter vom Ufer. Bald wird es ihm das Paddel entreißen. Das Wasser wird ins Boot dringen. Immer tiefer wird es sinken, bis alle Hoffnung vergebens ist. Und der Mann wird untergehen. Aber Sie – Sie müssen hinter ihm her. Ihn retten. Tun Sie, was Sie schon einmal getan haben. Versuchen Sie, ihn zu retten. Bitte. Versuchen Sie es noch einmal. Dieses Mal werde ich zusehen, immer nur zusehen. Vielleicht verliert er auch diesmal sein Kanu nicht, und er schafft es zum Ufer. Aber Sie, Sie müssen untergehen und dort bleiben, wo Sie hingehören. Niemand darf Sie holen kommen. Niemand darf Sie retten. Bitte. Ich verspreche beim guten und heiligen Namen meiner Familie, ich werde mich nicht rühren. Meinen Verstand werde ich mit den überlieferten Vorstellungen nähren, meinem Körper befehlen, stehen zu bleiben, wo er steht. Sie werden ertrinken – Sie werden ertrinken! Und ich werde stehen und zusehen! Und ich werde der sein, der gerettet wird. Sehen Sie? Sehen Sie dort? Er ist ohne Paddel. Er treibt. Retten Sie ihn. Retten Sie ihn. Und retten Sie auch mich. Sie werden das doch tun, ja?« Sweeney war dichter an ihn herangekommen, das Flehen in seinen Augen wollte in Tränen übergehen. »Ich habe Sie gerettet«, flüsterte er. »Jetzt müssen Sie mich retten.«

»Warum sagen Sie ihr nicht einfach, dass Sie sie lieben?«

Sweeney holte tief Luft und grinste höhnisch. »Natürlich werden Sie mich nicht retten. Sie sind ein McCloud. Ein McCloud hat noch nie jemanden gerettet. Ich hätte es besser wissen müssen und Sie nicht bitten sollen.«

»Vielleicht empfindet sie genauso wie Sie.«

Das Grinsen wich von seinem Gesicht, der Kiefer wurde lockerer, der Mund stand offen. Im nächsten Moment verkrampfte sich wieder alles, der Blick verriet Empörung und Abscheu. Gleich würde Sweeney ihn anspucken, dachte Aaron. Doch Sweeney drehte sich nur um und trottete mit schwerem Schritt, mehr marschierend als spazierend, Richtung Norden.

»Ihre Sachen!«, rief Aaron. »Sie haben Ihre Sachen vergessen!« Sweeney kam zurück. Er bückte sich und sammelte Hosen und Hemd, Schuhe und Socken und Unterhosen ein und drückte sie als Bündel an die Brust. Ohne Aaron anzusehen erklärte er: »Sagen Sie Ihrer Tante, sie hat die Chance verwirkt, den Toten anständig zu begraben. Noch ehe der Tag zu Ende geht, komme ich vorbei und hole den Mann fort. Es ist das Beste, wenn sie ihn loswird. Und sagen Sie ihr noch einmal, ihr Geheimnis ist bei mir sicher aufgehoben. Sie hat getan, was sie tun musste, selbst Kieran Sweeney nimmt ihr das nicht übel. Aber warnen Sie sie – ich komme und nehme Declan Tovey mit.« Er wandte sich wieder gen Norden und nahm erneut seinen entschlossenen Marsch auf. Aaron blickte ihm nach und sah, dass sich ein Schuh aus dem Bündel löste.

»Ihr Schuh!«, rief Aaron.

Sweeney blieb stehen, verharrte einen Augenblick und ging dann weiter.

»Sie liebt Sie!«, schrie er ihm hinterher.

Sweeney ging unbeirrt weiter, das Gekreische der Möwen über sich, begleitet von den sich aufbäumenden Wellen und den ans Ufer peitschenden Brechern. Aaron wollte schon den Schuh aufheben, um ihn ihm später zu geben – schließlich hatte er ihm das Leben gerettet –, aber vielleicht kam Sweeney zurück und holte ihn sich, wenn ihn keiner dabei beobachtete, dass er ihn doch wollte. So machte auch Aaron kehrt und strebte heimwärts nach Süden.

Erst da ging ihm auf, dass auch er fast nackend war. Er lief zurück, nahm seine Sachen und zog sie an, bis auf die eine Socke und die Sandalen. Die gab es nicht mehr. Der Wind verfing sich in dem offenen Hemd, die Knöpfe waren abgerissen, und so konnte es ungestört flattern. Kurz bevor der Uferweg im Bogen um die Klippen führte, warf er einen letzten Blick zurück. Sweeneys Schuh lag immer noch dort, aber Sweeney war nirgends zu sehen.