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Schon von Weitem erkannte sie, dass er es war: der schlaksige, ausladende Gang, die selbstbewusste Haltung und die Art, wie seine Hand durch das lange schwarze Haar strich, wenn es ihm in die Augen fiel. Er hatte sie noch immer nicht gesehen. Frida verlangsamte unbewusst ihre Schritte.

Es war schwer zu erkennen, mit wem er da so intensiv diskutierte. Ein vom Schaufenster reflektierter Sonnenstrahl badete den Teil der Straße in ein blendendes Licht. Sie erkannte zwei Dozenten und ein paar Studenten aus dem dritten Semester, deren Namen sie nicht wusste. Peter kannte alle, konnte mit jedem reden. Sollte sie winken, um seine Aufmerksamkeit zu erregen? Doch was, wenn er sie nicht bemerkte? Das könnte peinlich werden. Oder was, wenn er sie sah, aber trotzdem nicht zurückwinkte, sondern nur mit einem distanzierten Kopfnicken reagierte? Das wäre noch schlimmer

Auf ihrer Seite lag die Straße im Schatten. Im Dunkeln war sie unsichtbar. Trotz des leicht unangenehmen Gefühls, ihn verstohlen zu beobachten, konnte sie nicht anders, als im Schutz der rauen Ziegelmauer stehen zu bleiben. Sie wollte ihn nur beobachten, sehen, wie er sich bewegte, wie er die anderen zum Lachen brachte, wie er die Welt um sich herum in Besitz nahm.

Ein Gefühl von Stolz und Vorfreude auf alles, was sie gemeinsam unternehmen würden, ließ auf ihrem Gesicht ein unbewusstes Lächeln erscheinen. Sie drückte sich noch dichter an die Mauer. Im Schatten war sie sicher.

»Frida Fors?«

Frida drehte sich abrupt um und blickte in Janne Ahlséns fragende graublaue Augen.

»Was machen Sie hier?«

Während sie angestrengt nach einer Antwort auf die Frage suchte, fiel ihr auf, dass das Hemd unter seinem kamelhaarfarbenen Dufflecoat falsch zusammengeknöpft war.

»Ich … beobachte«, erwiderte sie, erleichtert darüber, dass ihr etwas eingefallen war. »Ich beobachte die Wirklichkeit. Sie sagen doch immer, dass eine gute Journalistin das tun soll.«

»Richtig. Aber vielleicht nicht gerade, wenn Unterricht ist.«

»Aber bin ich denn später dran als Sie?«

Aus dem Augenwinkel sah Frida, wie Peter und die anderen auf den Eingang der Schule zugingen und darin verschwanden.

Janne Ahlséns Gesicht verzog sich zu einem schiefen Lächeln. »Stimmt. Sie sind nicht auf den Mund gefallen. Wir sollten uns beide beeilen.«

Ein paar Minuten später hielt er Frida die gläserne Eingangstür auf, die in das betongraue, vierstöckige Haus aus den sechziger Jahren führte. An der Wand der senfgelb gestrichenen, von Neonröhren erleuchteten Eingangshalle hing ein großes bronzefarbenes Schild mit der Aufschrift: Journalistenhochschule. Gleich darunter hing ein kleineres Schild aus weißem Plastik mit schwarzem Text: Institut für Journalistik und Massenkommunikation Göteborg. Ein Pfeil zeigte zu einer Wendeltreppe. Das Geräusch trampelnder Schritte in Richtung der oberen Etagen hallte auf den Metallstufen wider. Sie trennten sich in der zweiten Etage. Janne Ahlsén ging ins Büro, Frida zu den Unterrichtsräumen.

Im Laufen zog sie den schwarzen Wollmantel aus, blieb kurz vor einem Spiegel stehen und richtete den kurzen Schottenrock, prüfte, ob der schwarze Kajal unter den Augen nicht allzu sehr verlaufen war, und hastete weiter in den Klassenraum. Die Sitzbänke waren in Zweierreihen angeordnet. Peter saß nahe bei der Tür. Der Platz neben ihm war bereits besetzt. Dort hockte Torkel aus Schonen, der jeden mit seiner Nörgelei in den Wahnsinn treiben konnte. Frida fluchte still in sich hinein und trat widerwillig zu einer Bank am Fenster. Als sie an ihm vorbeilief, zwinkerte ihr Peter unauffällig zu.

Sie setzte sich und suchte umgehend Blickkontakt. Er sah weg. Noch immer begriff sie nicht, wieso das Ganze so heimlich sein musste. Alle wussten schließlich, dass sie sich trafen. Wie war es ihm eigentlich gelungen, dass sie aus freien Stücken eine Rolle einnahm, die eine gewisse Unterordnung erforderte? Sie wusste es nicht. Bloß dass es sich gut angefühlt hatte, als er begann, an ihrer erkämpften Härte und ihrer stacheligen Oberfläche zu kratzen.

Wieder und wieder hatte er ihr versichert, dass sie in seinem Beisein nicht stark sein müsse. Niemals würde er ihr Vertrauen missbrauchen, wenn sie ihr kleines Leben nur in seine Hände legte und seinem Rat folgte, wie das Dasein zu bewältigen sei. Er hatte sie aufgefordert, sich zu entspannen, den Griff zu lockern und sich zu trauen, seine Ratschläge anzunehmen. Es war so einfach und befreiend, dass sie sich nicht selbst mit Fragen nach dem Richtigen oder Falschen beschäftigen musste, sondern er wie ein Elternteil, Guru und Liebhaber entschied, was wichtig und richtig war. Es hatte sich so schön angefühlt, bloß zu fallen und zu fallen, sich zu gestatten, klein zu sein, und darauf zu vertrauen, dass er sie auffangen würde, wenn der Aufprall härter wurde.

Ihre neu eingetretene Unruhe hing mit der Tatsache zusammen, dass sich dieses Gefühl jetzt allerdings nur noch selten einstellte. Nun, wo sie aufgehört hatte, auf ihre innere Stimme zu hören, wurde es plötzlich still, wenn sie einen Beschluss fassen musste und er nicht da war. Dieses behagliche Gefühl, ihr Schicksal in die sicheren Hände eines anderen gelegt zu haben, wurde von der Angst abgelöst, was geschehen würde, wenn er nicht neben ihr stand und ihre stummen Wünsche erfüllen konnte. Genauso oft, wie er den Weg zu ihr gefunden hatte, konnte er nun etwas sagen oder tun, was sie spüren ließ, dass nicht alles so harmonisch war, wie sie glaubte. Wenn er überhaupt bei ihr war …

Frida versuchte, diese Gedanken zu verdrängen, und konzentrierte sich auf das Jetzt. Sie hatte gerade Block und Kuli hervorgeholt, als Janne eintrat, das blassblaue Hemd jetzt richtig zugeknöpft. Der glatt rasierte Kopf, die schwarze Brille und die maulwurffarbene Manchester-Jeans verliehen ihm einen entspannt intellektuellen Look. Für fast fünfzig sah er gut aus. Mit einem dumpfen Geräusch ließ er einen Stapel Zeitungen auf das Lehrerpult fallen und schloss dann die Tür.

»Wie Sie wissen, haben wir heute viel zu erledigen. Wir schauen uns den Zeitungsdummy an, den Sie letzte Woche gemacht haben, die Aufmachung der Nachrichten, die journalistischen Perspektiven, also die entscheidenden Punkte. Kerstin Regnell hat einen Blick auf die Sprache geworfen, und dann habe ich einen der Studenten aus dem letzten Jahr gebeten, hierherzukommen und ganz allgemeine Einwände zu erheben.«

Torkel lehnte sich über die Bank, winkte mit dem Arm und fing an zu reden, ohne dass ihm das Wort erteilt worden wäre. »Was ist denn mit den Praktikumsplätzen? Jetzt warten wir schon seit zwei Wochen auf den Bescheid! Ich habe eine Frau und drei Kinder zu Hause in Helsingborg. Wie soll man da was planen, wenn man nichts erfährt?«

»Ich weiß, Torkel. Es tut uns wirklich leid, dass sich das so in die Länge gezogen hat, aber wie ich schon mehrmals erklärt habe, war es wirklich nicht leicht, Praktikumsplätze für alle zu finden, und deswegen konnten wir die Liste auch nicht früher präsentieren. Aber heute ist D-Day.«

»Am letzten Tag des Semesters?! Das ist doch wirklich ein Skandal! Das denken hier alle, oder etwa nicht?«, sagte Torkel und wandte sich beleidigt an die Klasse, um die Zustimmung der Anwesenden bemüht.

Janne unterbrach das aufkommende Gemurmel. »Danke für die Information. Ich bin mit dem Ablauf des Schuljahrs sehr wohl vertraut. Die Liste kommt nach dem Mittagessen.«

»Bekomme ich Helsingborgs Dagblad?«, quäkte Torkel mit seinem nasalen Akzent aus Schonen.

»Nach dem Mittagessen, Torkel! Wir müssen uns erst noch mit ein paar anderen Sachen beschäftigen«, erwiderte Janne mit zusammengebissenen Zähnen.

Die Tür öffnete sich, und eine junge Frau in einer gut sitzenden Tunika, engen Jeans und hohen Stiefeln trat ein. Das lange Haar hatte sie hübsch nachlässig zu einem Pferdeschwanz gebunden.

Janne warf einen kurzen Blick über die Schulter und sagte in leicht ironischem Ton: »Wie schön, dass Sie kommen konnten, Cilla. Bitte, setzen Sie sich doch.«

Cilla versuchte, Fridas Blick aufzufangen, und deutete fragend auf den leeren Platz neben ihr. Frida gab ihr zu verstehen, dass der Platz frei war. Mit einem verlegenen Seufzer ließ sich Cilla auf den Stuhl sinken.

»Gott, wie peinlich.«

»Dass du zu spät bist? Das ist doch nicht so schlimm.«

»Ich schätze, man sieht es mir wohl an.«

Frida betrachtete Cillas Gesicht und sah rote Flecken auf Wangen und Hals. »Ich versteh nicht, was du meinst.«

Cilla lachte schelmisch und flüsterte: »Was glaubst du denn? Du bist doch sonst so schlau.«

Frida dachte intensiv nach und verstand plötzlich Cillas Gesichtsausdruck. »Hattest du … Sex? Jetzt? Gerade eben?«

»Das ist bloß der Vorname. Ich bin noch völlig betäubt.«

»Du bist unglaublich. Ich begreife überhaupt nicht, wie du immer alle rumkriegst.«

Das Geflüster verstummte, als Janne Ahlsén ihnen mit vielsagendem Blick zwei Zeitungen zuwarf. Frida und Cilla nahmen ihre Exemplare und fingen an zu blättern. Die Titelseite war in großen Buchstaben mit dem Wort »Westfront«versehen.

Die Westfront war die immer wieder neu gestaltete Übungszeitung der Journalistenhochschule. Alle Journalistikstudenten sollten während ihrer Studienzeit eine Zeitung produzieren und auf Basis der Nachrichten, die sich in der jeweiligen Woche fanden, so tun, als wäre es eine echte Ausgabe. Die Studenten wurden in Gruppen bestehend aus Reportern, Redakteuren und Redaktionsleitern eingeteilt. Jeder Morgen in der Produktionswoche wurde mit einer Teamsitzung eingeleitet, bei der man die Nachrichtenaufmacher durchging und danach die Reporter mit verschiedenen Aufträgen losgeschickt wurden. Damit nicht erkennbar war, wer die Zeitungsseiten »lediglich« entworfen hatte, standen die Namen der Reporter nicht unter den Artikeln. Doch nach und nach sickerte natürlich durch, was jeder Einzelne beigetragen hatte.

Peter steckte hinter dem Artikel auf der ersten Seite: Kommunalpolitiker filmt heimlich auf Personalfeier, vor Gericht freigesprochen. Der Artikel basierte auf einem Bericht des Integritätsausschusses, der besagte, es gebe gesetzlichen Spielraum bei der Anwendung privater Überwachungskameras. Peter hatte einen aktuellen Fall aus Halmstad herangezogen. Zwar war der Kommunalpolitiker nur ein Freizeitpolitiker, und das Personalfest hatte an seiner regulären Arbeitsstelle stattgefunden, wo er als Lehrer tätig war, aber dennoch. Es war ein guter Artikel. Auf der anderen Seite des Klassenzimmers sonnte sich Peter geradezu in der allgemeinen Aufmerksamkeit. Frida blätterte zu »ihrem« Artikel – dem Porträt einer jungen Popsängerin, die ihre eigene Plattenfirma gegründet hatte, um ihre Lieder herauszubringen, und nun mit dem Titel »Please, want me« einen Hit gelandet hatte. Nichts sonderlich Bemerkenswertes, das wusste sie. Jeden Tag überlegte sie, ob sie eigentlich genügend an den großen Fragen interessiert war, um sich überhaupt Journalistin nennen zu können.

Die Tür öffnete sich erneut, und Janne Ahlsén begrüßte die Stilistikdozentin der Schule, Kerstin Regnell, und den Vorjahresstudenten Örjan Berg. Regnell hatte eine Vorliebe für groß gemusterte Stoffe: je farbenfroher, desto besser. Heute hatte sie sich für ein Kleid in kräftigem Pistaziengrün entschieden, das in Kombination mit dem psychedelischen Blumenmuster aus Kornblumenblau, Schwarz und Kirschrot im Auge des Betrachters förmlich zu explodieren schien. Das Kleid war von hoher Qualität und hatte einen leicht ausgestellten Rock. Die Knöpfe waren aus Metall, und das Label war nur im Kaufhaus NK zu bekommen. In ihrer groben, gestreiften Strumpfhose und den schwarzen Lederstiefeln wirkte sie auf intellektuelle Weise elegant und vor allem viel jünger, als es ihre einundsechzig Jahre vermuten ließen. Das kurz geschnittene graue Haar und die knallblaue Brille passten perfekt zusammen. Sie stellte ihre große lederne Aktentasche ab und zog ihr mit roten Notizen versehenes Exemplar der Übungszeitung hervor. Dann blickte sie aufmunternd zu Örjan Berg, und zusammen bildeten sie ein Paar, das nicht in krasserem Gegensatz zueinander hätte stehen können. Seine ausgebeulte braune Lederjacke wurde von einer verwaschenen Jeans und rötlichen Bartstoppeln auf pockennarbiger Haut begleitet sowie von strähnigen Haaren auf einem kahlen Schädel ergänzt, die im Nacken zu einem äußerst mageren Pferdeschwanz zusammengebunden waren.

»Wollen Sie, oder soll ich anfangen?«

Örjan Berg zog den Reißverschluss seiner Jacke auf und kratzte sich mit nikotingelben Fingern am Bart. »Ich muss in zwei Stunden einen Beitrag in den Nachrichten sprechen. Da fange ich gerne an«, sagte er müde.

»Bitte sehr. Legen Sie los«, erwiderte Kerstin und ließ sich auf einer Bank neben Janne Ahlsén nieder.

Örjan Berg blätterte langsam durch die Zeitung, während er murmelnd die Anregungen wiedererkannte, die er schon vorab zu den verschiedenen Artikeln gegeben hatte. Er hielt bei einer Reportage inne.

»Es ist noch nicht so lange her, dass ich selbst hier war, aber Sie sollten wissen, dass es eine völlig andere Sache ist, wenn man mit der Wirklichkeit konfrontiert wird. Das ist dann keine Spielerei mehr.«

Er hielt eine Seite mit Bildern eines Jungenzimmers in die Höhe, dessen Wände von Postern mit Neonazi-Symbolen bedeckt waren.

»Hier handelt es sich wohl um eine von außen übernommene Reportage, so wie ich das verstehe. Starkes Material und gute Bilder. Ich kann also bloß das Layout beurteilen. Und was haben Sie daraus gemacht?«

Örjan machte eine übertriebene Bewegung, die darauf hindeuten sollte, dass er das Layout einer besonderen Begutachtung unterzog, und hielt die Zeitung dann erneut in die Höhe.

»›Nazi steht auf Schweinchen Dick.‹ Verzeihen Sie bitte, aber was zum Teufel hat sich der Verantwortliche dabei gedacht? Und was dachte der Redaktionsleiter, der das hier durchgehen ließ? Es reduziert die ganze Problematik auf einen Scherz. Zu Ihrem Glück weiß man nicht, wer hier was gemacht hat.«

Frida bemerkte, dass Cilla knallrot wurde, und flüsterte: »Warst du das?«

»Ja, verdammt«, zischte Cilla. »Der Text war so langweilig, dass ich dachte, man müsse ihn ein wenig auflockern. Und auf einem der Bilder sieht man, dass Puh der Bär und Schweinchen Dick auf dem Bett liegen.«

»Aber er ist ein Neonazi. Das kann man doch nicht auflockern.«

Cilla blickte diskret umher, um festzustellen, wie viele der Klassenkollegen sich daran erinnern konnten, wer das Layout für genau diesen Artikel gemacht hatte. Lediglich Torkel blickte mit überlegenem Grinsen in ihre Richtung. Cilla beugte sich wieder zu Frida.

»Das wirklich Interessante war, dass der Typ einen Minikrematoriumsofen in seinem Zimmer hatte. Ist das zu fassen? Einen Minikrematoriumsofen! Aber das passte nicht in die Überschrift, und MKO ist auch nicht gerade ein passender Begriff.«

»MKO?«

»MKO … Minikrematoriumsofen in Kurzform.«

»Natürlich«, erwiderte Frida, während sie versuchte, ein Kichern zu unterdrücken. MKO wäre wirklich glasklar gewesen.

Örjan bedachte jede einzelne Idee mit Stellungnahmen und Kritik. Längere Zeit hielt er sich mit Peters Artikel auf, der auf der ersten Seite eingeleitet wurde und sich dann über die ganze Seite vier fortsetzte.

»Als ich damals hier eine Zeitung gemacht habe, hatten wir das Glück, dass der holländische Filmemacher Theo van Gogh ermordet wurde. Das war wirklich ein Glücksfall. So etwas war Ihnen zwar hier nicht beschieden, aber es war dennoch eine gute Idee, eine aktuelle Nachricht aufzugreifen, auch wenn es sich nur um einen Dummy handelt. Die Sache ist aktuell, äußerst relevant und verfügt über eine lokale journalistische Perspektive, die im Übrigen gut dazu passt, dass die Zeitung Westfront heißt. Wer das hier geschrieben hat, könnte es heute wohl jeder beliebigen Zeitung verkaufen.«

Peter grinste zufrieden in den Klassenraum. Die hinteren Banknachbarn klopften ihm auf den Rücken. Frida versuchte, seinen Blick aufzufangen, was ihr schließlich gelang. Sie lächelte. Siegesgewiss erwiderte er ihr Lächeln und ballte triumphierend die Faust.

»Allerdings«, fuhr Örjan fort, »was mir an diesem Dummy am besten gefällt, ist ein kleiner Artikel auf Seite neun. Keine große Nachricht, doch der Text über diese Popsängerin, die ihre eigene Firma gegründet hat, ist in einem sehr schönen Ton und mit großer Präsenz geschrieben. Zwar versetzt er nicht in großes Erstaunen, aber im Nachhinein bleibt der Artikel im Gedächtnis hängen. Und nun wünsche ich viel Glück mit den Praktikumsplätzen. Vielen Dank.«

Frida spürte, wie sich Wärme in ihrer Brust ausbreitete. Das war völlig unerwartet gewesen. Ihr Text war wirklich nichts Besonderes. Sie hatte es kaum geschafft, Atem zu holen, als Kerstin Regnell das Wort ergriff.

»Obwohl Sie diesen Beruf gewählt haben, scheint mir, als ob viele von Ihnen überhaupt kein Interesse daran haben, einen guten Stil zu entwickeln. Das erstaunt mich. Man muss ja nicht immer sklavisch allen Regeln folgen, doch man sollte verständlich schreiben. Bei diesem Job hier geht es ja zum großen Teil um Kommunikation und Verdeutlichung. Wie Örjan gefällt auch mir der kleine Text auf Seite neun. Vielleicht ist er sprachlich nicht völlig perfekt, aber er verfügt über die richtige Ansprache und weckt das Interesse der Leser. Machen Sie so weiter.«

Cilla stieß Frida aufmunternd an. »Da siehst du es. Du kannst es doch.«

»Er hat aber auch gesagt, dass es keine große Nachricht ist.«

»Jetzt hör aber auf. Genieß doch mal deinen Erfolg«, entgegnete Cilla.

Kerstin unterzog jeden Text einer detaillierten Kritik und stellte fest, dass der Artikel über den heimlich filmenden Kommunalpolitiker gut funktionierte.

»Der Verfasser hat sich einer typischen Abendzeitungssprache bedient: kurze, einfache Sätze, schlagende Formulierungen und eine sehr klare journalistische Perspektive. Sehr gewandt. Doch in diesem Text gibt es ein entscheidendes Problem. Hat das irgendjemand bemerkt?«

Im Klassenraum entstand Gemurmel. Peter wirkte plötzlich beunruhigt. Kerstin bat um Ruhe.

»Der Name. Der Kommunalpolitiker heißt nicht Blomqvist mit qv. Er heißt Blomkvist mit kv.«

Peter grinste schief und atmete auf. »Whatever«, sagte er leise, aber so, dass es alle hören konnten.

In den Bankreihen brach spontanes Gelächter aus.

»Es mag vielleicht wie eine Kleinigkeit wirken, aber das ist wichtig«, fuhr Kerstin fort. »Es geht um Glaubwürdigkeit. Wer hier einen Namen nicht richtig buchstabieren kann, sollte sich ernsthaft überlegen, ob er oder sie den richtigen Beruf gewählt hat. Insbesondere wenn es noch einen anderen Mats Blomqvist in Halmstad gibt, der niemanden heimlich gefilmt hat.«

Erneut brach Gelächter aus, und obwohl Peter gerade eine Zurechtweisung erhalten hatte, war er nun, nachdem allen klar geworden war, wer den Topartikel der Zeitung verfasst hatte, mehr als je zuvor der King der Klasse. Kerstin Regnell beendete ihren Durchgang, und Janne Ahlsén unterbrach den Unterricht für eine fünfzehnminütige Kaffeepause.

Frida versuchte zu erkennen, wohin Peter gegangen war, während alle anderen hinauseilten, um als Erste an den Kaffeeautomaten zu kommen.

Er stand draußen vor dem Klassenraum in einer Ecke und unterhielt sich mit Örjan Berg. Dabei wollte sie nicht stören; es war ja selbstverständlich, dass er so viel Feedback wie möglich bekommen wollte.

Frida stellte sich hinter Torkel in die Schlange am Automaten. Er trug die gleiche Kleidung wie schon seit dem allerersten Ausbildungstag: blaue Jeans und Jeansjacke, zerknittertes Hemd, braune Schuhe und eine runde Brille. Sein Körper war schmal und sehnig, die Haare standen ab, und wenn man nicht den Kautabak gesehen hätte, der aus seinem Mundwinkel tropfte, hätte er, obwohl er schon fast vierzig war, ganz gut ausgesehen.

Niemand war wirklich der Ansicht, dass der Automatenkaffee gut schmeckte, doch die Kaffeepause diente als willkommene Unterbrechung, um Meinungen auszutauschen. Hatte man den Klassenkameraden nichts zu sagen, so konnte man immer noch über den Kaffee lästern. Mit einem Druck auf den Knopf für zusätzliche Milch war er immerhin genießbar.

Torkel probierte seinen schwarzen Kaffee und ließ sich wie üblich nicht die Chance zum Jammern entgehen. »Was für eine verfluchte Pferdepisse«, sagte er und zog eine Grimasse.

»Dann trink sie doch nicht. Soweit ich weiß, ist das doch freiwillig«, erwiderte Frida.

»Verdammt, schlechter Kaffee gehört anscheinend zum Beruf. Für welchen Praktikumsplatz hast du dich beworben?«

Frida hatte eigentlich keine Lust, sich mit Torkel zu unterhalten, doch da weder Cilla noch Peter in Sichtweite waren, hatte sie keinen Anlass, sich zu entschuldigen.

»Aftonbladet steht an erster Stelle, Expressen an zweiter und danach Dagens Nyheter und Göteborgs-Posten.«

»Da hast du dir ja ein hohes Ziel gesteckt. Ich wusste gar nicht, dass du solche Ambitionen hast.«

»Das weiß ich selbst auch nicht so genau, aber ich bin lieber da, wo etwas passiert, als da, wo nichts los ist«, erwiderte Frida. »Und du?«

»Ich muss ja nach Hause zu meiner Familie, also hab ich mich nur in Schonen beworben. Doppelte Haushaltsführung ruiniert einen völlig. Darüber sollte man mal was schreiben. Und da meine Frau Keramikerin ist, kommt da auch nicht gerade viel Geld herein. Ich hoffe auf Helsingborgs Dagblad oder Sydsvenskan. Im schlimmsten Fall Kvällsposten. Aber wahrscheinlich bekomme ich meine fünfte Wahl und lande als PR-Mitarbeiter bei der Universität in Lund. Mein übliches Pech«, seufzte Torkel.

»Ich kann mich kaum noch erinnern, was ich als letzte Alternative angegeben habe.«

»Du landest bestimmt beim Aftonbladet und Peter beim Expressen, oder umgekehrt. Dann könnt ihr tagsüber miteinander konkurrieren und euch abends darüber streiten, wer die größte Überschrift bekommen hat«, gluckste Torkel und zwinkerte Frida wissend zu.

Frida lächelte verlegen. Nagel auf den Kopf getroffen. Das war genau das, was sie sich erhoffte. Obwohl sie keine Meisterin der Überschriften war. Sie hatte nicht die gleiche Nase für Nachrichten wie Peter, und es gab also keinen Zweifel, wer den Wettstreit um die Überschriften gewinnen würde. Aber das machte ihr nichts aus. Sie hatte bereits eine Zweizimmerwohnung zur Untermiete in Vasastan an der Angel. Eine ihrer drei ersten Alternativen würde sie sicher bekommen. Und da Peter noch nichts mit einer Wohnung geregelt hatte, würde er sie vermutlich fragen, ob er nicht bei ihr wohnen könne. Ein beinahe lächerliches Glücksgefühl erfüllte sie, als sie ihre Gedanken zu den Erinnerungen der letzten vier Monate schweifen ließ. Peters Lachen, Peters Ideen und lustige Witze, Peters Klugheit und Engagement, Peters Hände auf ihrem Körper … Dass er sich nicht in Cilla verliebt hatte, war eigentlich ein Wunder. Sie war groß, dunkelhaarig und schlank – alles, was Frida nicht war. Doch er hatte gesagt, dass er »brains« haben wollte und nicht nur einen schönen Körper. Das war ein Kompliment, das gleichermaßen schön und schrecklich klang. Wenn man dreiundzwanzig Jahre alt ist, möchte man am liebsten über beides verfügen. Frida war fünfzehn Zentimeter kleiner als Cilla und wog genauso viel. Vermutlich mehr. Doch wenn sie ihr blondes Haar hochtoupierte, die Augen schwarz und die Lippen knallrot anmalte, sah sie eigentlich ganz okay aus. Nicht so elegant und hübsch wie Cilla, doch ziemlich charmant und vielleicht sogar süß. Cilla weckte Frida aus ihren Tagträumen.

»Wie glücklich du aussiehst. Das liegt doch wohl nicht am Kaffee?«

Frida kletterte auf die Fensterbank und bedeutete Cilla, sich neben sie zu setzen.

»Einzig und allein daran. Ist heute geradezu magisch gut. Probier mal!«

»Ist das dein Ernst?«, fragte Cilla verwundert.

»Nein, natürlich nicht«, entgegnete Frida. »Aber schließlich bin ja nicht ich mit roten Bäckchen in die Klasse gekommen. Was hast du denn heute getrieben? Erzähl!«

»Kann man gar nicht richtig erklären. Ich bin eine Idiotin. Ich bin so verknallt, das gibt’s gar nicht.«

»Schon wieder?«

»Hey, das hier ist etwas völlig anderes. Diesmal fühlt es sich genau richtig an.«

»Und wer ist es?«

»Can’t tell you.«

»Wieso nicht?«

»Das geht einfach nicht. Du wirst es mit der Zeit schon erfahren, aber nicht jetzt.«

»Wie alt ist er? Wie sieht er aus? Wo trefft ihr euch?«

Cilla fing an zu lachen. »Bist du Journalistin oder wie? Er sieht gut aus, er ist älter als ich, er ist klug, etabliert, hat eine gute Stellung. Er ist genau der Richtige.«

»Wohnt er hier in der Stadt?«

»Große Villa. Blick auf den Hafen.«

»Aber was machst du denn jetzt mit deinem Praktikum? Du hast dich doch bloß bei den bunten Wochenblättern in Stockholm und Malmö beworben.«

»Ich habe meine letzte Wahl in meine erste umgeändert und ganz oben auf die Wunschliste gesetzt. Ich kann dir versichern, dass ich die Einzige bin, bei der die Presseabteilung der Göteborger Stadtverwaltung auf dem ersten Platz steht.«

»Bist du verrückt? Das ist doch der schlechteste Deal der ganzen Welt!«

»Ganz im Gegenteil. Das ist eine Voraussetzung für mein neues Leben. Eine ganz einfache Abkürzung«, erwiderte Cilla lachend.

Die übrigen Studenten begannen, sich wieder in den Klassenraum zu bewegen. Als Frida durch die Tür lief, spürte sie eine Hand hinten auf ihrem Oberschenkel. Sie drehte den Kopf zur Seite und sah Peters Blick und sein Lächeln.

»Alles in Ordnung?«

Frida presste sich gegen seine Hand und nickte. Jetzt war alles in Ordnung. Er war da. Er wollte ja lediglich diskret sein, und das war durchaus vernünftig.

Die Stühle klapperten, und Janne Ahlsén musste die Versammelten mehrmals um Ruhe bitten, bis er mit der letzten Stunde des Semesters beginnen konnte. Nach dem Mittagessen würden nur noch die Praktikumsplätze verteilt und die Schränke ausgeräumt werden. Am Abend sollte es für alle Studenten und Dozenten eine Party in der Bistro Bar geben, und dann begannen die Weihnachtsferien. Janne schrieb eine Überschrift und drei Sätze an die Tafel.

»Das ganze nächste Semester müssen Sie alleine klarkommen. Sie können sich natürlich immer an uns wenden, wenn Sie Fragen haben oder Probleme auftauchen, aber eigentlich ist es so gedacht, dass sie da draußen als selbständige Journalisten an ihren Arbeitsplätzen tätig sind. Deshalb wollen wir jetzt noch einmal die wichtigsten Grundregeln wiederholen, damit die dann auch wirklich im Gedächtnis eingebrannt sind. Können Sie sich an die erste Stunde erinnern, die Sie hier an der Hochschule bei mir hatten? Da haben wir uns hiermit beschäftigt.«

Janne zeigte auf die Textzeilen an der Tafel. Die Überschrift lautete: Das ABC des Interviews.

»Fangen wir bei A an: Wie geht es Ihnen? Das mag vielleicht lächerlich einfach klingen, aber damit sollte man meistens ein Interview beginnen. Also, Sie fragen, was gerade aktuell ist und entwickeln es von dort aus weiter. Dann kommen wir zu B: Was war davor? Hier nehmen Sie die Geschichte und den Hintergrund mit hinein; das brauchen Sie für die Vertiefung. Und dann weiter zu C: Was wird später daraus? Hier kommt die Zukunft ins Spiel, zum Beispiel: Ab wann rechnen Sie damit, dass die neuen Beitragsregeln gelten werden? Gibt es dazu irgendwelche Fragen?«

Ann-Louise Andersson, eine schweigsame junge Frau aus Halland mit heftiger Akne und roter Pagenfrisur, hob die Hand. »Meinen Sie, dass man bei einem Interview bloß diese drei Fragen stellen sollte?«

Janne kratzte seinen kahlen Kopf und ließ eine lange Pause entstehen. »Was glauben Sie selbst?«

Ann-Louise verzog leicht betreten den Mund. »Es ist vielleicht ganz gut, wenn man etwas mehr vorbereitet hat, nicht wahr?«

»Sehr richtig, Ann-Louise. Manchmal schafft man das natürlich nicht, wenn es im Nachrichtengeschehen so richtig hektisch zugeht. Und wenn Sie erstmal zwanzig Jahre als Journalistin gearbeitet haben, benötigen Sie vielleicht nicht mehr so viel Zeit für die Vorbereitung. Aber jetzt zu Beginn rate ich Ihnen wirklich, dass Sie sich gut vorbereiten. Hier geht es ja schließlich auch um den Respekt für den Interviewpartner. Und wie bereitet man sich vor?« Janne ließ seinen Blick über die Klasse gleiten. »Frida?«

Plötzlich richtete sich alle Aufmerksamkeit auf sie. In ihrer Erinnerung suchte sie nach Kenntnissen, die – das wusste sie – dort irgendwo lagen.

»Man braucht natürlich einen aktuellen Aufhänger, an den man seinen Text knüpfen kann. Dann sollte man so viel wie möglich im Internet nachlesen, andere Artikel überprüfen, vielleicht auch Statistiken, und versuchen, einen anderen journalistischen Blickwinkel anzulegen. Und danach sollte man ein paar ordentliche Formulierungen finden und die Fragen nach dem ABC-Schema ausrichten. Ungefähr so?«

»Und wie wissen Sie, was eine gute Frage ist?«

»Sie sollte interessant sein und wichtig für den Zusammenhang.«

»Ganz genau. Und wenn Sie nicht gut vorbereitet sind, können Sie auch nicht die wichtigsten und provokantesten Fragen stellen.«

Janne ließ die Informationen sich setzen und wandte sich dann an Peter. »Wie lautet die Grundregel für die Formulierung einer Frage, Peter?«

Peter lehnte sich nonchalant auf seinem Stuhl zurück. »Gemäß unserem kanadischen Guru Sawatsky sollte es eine offene Frage sein, also am besten mit Wie, Was oder Warum beginnen.«

»Genau. Es ist wichtig, dass es offene Fragen sind, sodass man den Interviewpartner nicht beeinflusst«, fuhr Janne fort. »Haben Sie diese Methode selbst angewandt, als Sie Ihren Artikel über den Kommunalpolitiker in Halmstad geschrieben haben?«

Peters Ponyfransen fielen ihm in die Augen, und er fuhr sich schnell mit der Hand durch die Haare. »Vielleicht nicht nur. Denn zwischendurch muss man ja auch mal geschlossene Fragen stellen, damit man auch wirklich ein Ja oder Nein bekommt.«

»Das kann mitunter notwendig sein, aber die Grundregel lautet offene Fragen. Legen Sie die Antwort der interviewten Person nicht in den Mund, ohne sie oder ihn etwas erzählen zu lassen.«

Der Rest der Stunde verging mit einer kurzen Wiederholung der ethischen Regeln des Journalismus, dem Begriff der »öffentlichen Handlung« und der Frage, wann sich ein Journalist unter Verweis auf einen »erniedrigenden Auftrag« weigern könne, eine Arbeit auszuführen. Letzteres gehörte zu Torkels Lieblingsthemen. Bevor Janne eine weitere Frage stellen konnte, hielt er die Hand hoch und fing an zu reden.

»Sollte irgendwer versuchen, mich zur Berichterstattung über ein neu eröffnetes Geschäft zu überreden, werde ich mich definitiv weigern. Werbung in redaktionellen Texten ist ein erniedrigender Auftrag. Wenn ich das in Ordnung fände, könnte ich ja gleich in einer Werbeagentur arbeiten und da gutes Geld verdienen. Dazu kriegt mich niemand.«

»Danke, Torkel. Ich glaube, die meisten kennen Ihre Einstellung zu diesem Thema. Ann-Louise, was machen Sie, wenn Sie ein Redaktionsleiter während des Praktikums losschicken will, um über eine neu eröffnete … Pizzeria zu schreiben?«

»Ich habe mich bloß bei den bunten Wochenmagazinen beworben, da ist das wohl nicht so aktuell.«

»Okay, aber wenn Sie von der Vecko-Revyn losgeschickt werden, um über sexy Unterwäsche für Kinder zu schreiben, um mal ein Beispiel zu nehmen?«

»Tja … dann werde ich das wohl machen, oder?«

Im Klassenraum wurde es still. Ann-Louise wand sich, als ihr aufging, dass ihre Antwort nicht unbedingt den Erwartungen entsprach.

»Obwohl ich vielleicht zusehen sollte, dann auch andere Arten von Unterwäsche in der Reportage zu erwähnen, damit das Ganze nicht zu einseitig wird«, ergänzte sie in entschuldigendem Tonfall.

»Tja, wie Sie sehen, ist das, was man als erniedrigenden Auftrag versteht, von Fall zu Fall und von Person zu Person sehr verschieden. Was nun Werbung in redaktionellen Texten betrifft, sind diejenigen von Ihnen, die bei kleinen Zeitungen landen, ziemlich sicher von diesem Problem betroffen. Es kann allerdings auch bei den Abendzeitungen vorkommen. Sagen wir mal, die möchten gerne, dass Sie über eine neue Methode der operativen Behandlung von Kurzsichtigkeit schreiben. Wenn es nur eine einzige Praxis in Schweden gibt, die so etwas durchführt, dann wäre der ganze Text eine völlig unangebrachte Begünstigung. Auf so etwas sollte man sich nicht einlassen.«

»Aber wie verhält man sich, wenn der Auftraggeber trotzdem darauf besteht, dass die Arbeit gemacht wird?«, fragte Peter.

»Dann muss man sich selbst und seine Moral hinterfragen und herausfinden, ob man dazu stehen kann. Wenn das nicht der Fall ist, sollte man versuchen, auf möglichst freundliche Art Nein zu sagen. Es ist schließlich nicht sinnvoll, sich mit seinem Chef zu zerstreiten. Vermeiden Sie das, wenn es geht. Und jetzt machen wir Mittagspause!«

Die Schlange vor dem Laden des staatlichen Alkoholmonopols war lang. Zum Teil ließ sich das mit Freitag, der Mittagspause und der Woche vor Weihnachten erklären. Peter und Torkel hatten die Aufgabe übernommen, Wein und Bier für das abendliche Fest zu kaufen. Die Tatsache, dass man selbstgekauften Alkohol in der Bar ausschenken durfte, war der wichtigste Grund, weshalb die Party überhaupt in der Bistro Bar steigen sollte. Als Gegengewicht zu allen anderen Weihnachtsfeiern war ein italienisches Büfett bestellt worden. Eine Coverband, bei der zwei Studenten aus der Parallelklasse mitmachten, sollte nach dem Essen spielen, und die Livemusik war vermutlich einer der Gründe für den regen Zustrom zum diesjährigen Fest. Fast alle wollten dabei sein, auch die meisten Dozenten, was ihnen die Studenten hoch anrechneten. Bei ein paar Gläsern Wein seine Schlagfertigkeit testen zu können und den Versuch zu unternehmen, sich mit den gestandenen Kollegen zu messen, übte eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf die meist karriereorientierten Studenten aus. Dass die Mehrzahl der Dozenten, da sie nun an der Hochschule arbeiteten, seit einigen Jahren nicht mehr im Journalistenberuf tätig war, führte allerdings zu einem leicht bitteren Beigeschmack. Unter den Studenten herrschte allgemein die Auffassung, dass sich die besten Journalisten draußen im »richtigen« Arbeitsleben aufhielten und bei Uppdrag granskning, Aktuellt, Kaliber oder Dagens Nyheter große Skandale enthüllten, anstatt in einem Vorlesungsraum der Journalistenhochschule zu stehen und über ihre Zeit bei der Borås Tidning zu referieren. Doch im Vergleich zu den Studenten standen die Dozenten nach Meinung einiger gleichwohl wie Götter da.

Peter und Torkel hatten zwei Einkaufswagen mit Sofiero-Starkbier, Drostdy-Hof-Weißweinkartons und massenhaft rotem Killawarra und Periquita beladen. Torkel zählte die Kartons und wandte sich mit bekümmerter Miene an Peter.

»Glaubst du, das reicht? Wenn der Wein ausgeht, gibt es eine Katastrophe.«

»Wenn das hier alles weggeht, dann landen mindestens zehn Prozent der Gäste mit Alkoholvergiftung in der Notaufnahme. Es reicht«, erwiderte Peter.

Der Kunde in der Warteschlange vor ihnen fing an, seine Schnapsflaschen auf das Band zu legen.

»Verdammt, Peter. Was ist denn mit dem Vorglühen? Das haben wir völlig vergessen! Ich kann auf den Wagen aufpassen, wenn du noch Gin und Whisky holst. Wir könnten vorher bei mir zu Hause was trinken.«

»Ich weiß nicht … ich wollte mich eigentlich mit Örjan Berg und seinen Kumpels treffen.«

»Örjan Berg?«

»Ja, wir wollen uns seine Reportage ansehen, wenn sie gesendet wird. Das möchte ich nicht verpassen.«

»Kann ich da nicht mitkommen?«

»Es wird ziemlich eng bei ihm, aber … ich kann ja mal nachfragen.«

»Kennt ihr euch gut, oder …?«

»Wir sind während der Kaffeepause ins Gespräch gekommen. Er mochte meinen Artikel, und … es scheint auch nicht von Nachteil, sich mit ihm anzufreunden.«

Frida und Cilla verbrachten die Mittagspause in einer überfüllten kleinen Sushi-Bar, nur einen Steinwurf von der Hochschule entfernt. Sobald sie ihre letzten Maki-Röllchen hinuntergeschlungen hatten, hasteten sie in den Alkoholladen, um Wein und Cider für den Abend zu kaufen. Frida sah gerade Peter und Torkel aus der Tür verschwinden, als sie an die Kasse trat. Cilla kam mit einer Flasche Glühwein angelaufen und stellte sich neben Frida in die Schlange.

»Hast du fürs Vorglühen irgendwas mit Peter ausgemacht? Ansonsten kannst du gerne zu mir kommen und Glühwein trinken.«

»Er hat nichts gesagt, ich weiß es also noch nicht. Aber wenn er nicht rechtzeitig zu mir kommt, dann komme ich zu dir, okay?«

»Ach, dann soll ich wohl so was wie ein Ersatz sein?«, erwiderte Cilla beleidigt.

Frida konnte nicht erkennen, ob sie es ernst meinte, entschied sich aber nach kurzer Überlegung, über Cillas Pseudodramatik zu lachen. »Es wird vermutlich sowieso nichts mit ihm, ich komme also fast sicher.«

»Gut. Dann kaufe ich ein paar Kilo Pfefferkuchen und stelle die hübschen kleinen Glühweinbecher auf den Tisch. Und dann können wir uns volllaufen lassen.«

Frida nickte der Kassiererin zu, reichte ihr zwei Hunderter und bekam ihr Wechselgeld. »Ich kann noch gar nicht glauben, dass jetzt Ferien sind. Ein ganzes Semester werden wir weg sein. Von jetzt an wird alles ganz anders.«

»Die Leute werden heute Abend richtig Gas geben«, sagte Cilla. »Letzte Nacht mit der Truppe.«

»Hoffentlich haben wir auch was zu feiern«, erwiderte Frida und stopfte ihre Flaschen in die grüne Plastiktüte.

»Aber klar. Jetzt geht es doch erst richtig los.«

Direktor Rendefors, ein braun gelockter, leicht korpulenter Mann in schwarzem Jackett, weißem Hemd und Jeans, stand an der Tür und begrüßte alle Studenten, die sich in den kleinen Unterrichtsraum in der vierten Etage begaben. Die Rolle war relativ neu für ihn, und noch immer hatte er den Anspruch, eine persönliche Beziehung zu sämtlichen Studenten herzustellen, die in ihm sowohl eine Stütze als auch eine Art Kumpel sehen sollten.

Janne Ahlsén war damit beschäftigt, Computerausdrucke am Flipchart zu befestigen. Einige Studenten versuchten, sich nach vorn zu schleichen und zu lesen, was neben ihren Namen stand, wurden aber von Janne weggescheucht, der alle zum Hinsetzen aufforderte. Frida und Cilla setzten sich auf ihre Plätze in der zweiten Reihe.

Rendefors ergriff das Wort: »Willkommen. Ich weiß, dass Sie alle sehr gespannt sind, und Sie werden bald erfahren, was Sie im Frühjahr machen werden. Zuerst möchte ich allerdings sagen, dass es in dieser Saison extrem schwer war, alle Praktikumsplätze zusammenzubekommen. Eine eingestellte Gratiszeitung und Einschnitte insbesondere bei Sveriges Radio haben dazu geführt, dass eine Menge Plätze verschwunden sind. Da es draußen in den Redaktionen immer weniger Leute gibt, gibt es auch immer weniger Redakteure, die Zeit haben, sich um die Praktikanten zu kümmern, und deshalb zögern die Arbeitgeber natürlich, Leute einzustellen. Wir mussten uns also wirklich sehr anstrengen.«

Cilla beugte sich zu Frida und flüsterte: »Aber mit der Stadtverwaltung müsste ich mich eigentlich auf der sicheren Seite befinden.«

Frida bedeutete ihr, still zu sein.

»Das ist auch der Grund, weswegen nicht gerade viele ihren absoluten Wunschplatz erhalten haben«, fuhr Rendefors fort. »Aber die allermeisten haben zumindest ihre zweite, dritte oder vierte Wahl bekommen. Einige kriegen den Platz ihrer fünften Wahl, und ein paar Einzelne haben etwas bekommen, was sie überhaupt nicht ausgewählt haben. Aber wir haben versucht, den richtigen Platz für die richtige Person auszuwählen, und ich hoffe, dass die meisten zufrieden sind. Und denken Sie bitte daran, dass Sie bei den kleinen Arbeitsplätzen vielleicht am meisten lernen, denn dort werden Sie eben auch alles machen. Okay, Janne, wollen Sie übernehmen?«

»Ich werde die Liste der Praktikumsplätze mit Ihnen durchgehen. An der Tafel können Sie später lesen, wer Ihre Kontaktperson ist, wie Sie ihn oder sie erreichen können, und in einigen Fällen auch, zu welchem Datum Sie anfangen sollen. Es liegt in Ihrer Verantwortung anzurufen, ein Treffen auszumachen und die Einzelheiten zu besprechen. Ann-Louise Andersson, Sie bekommen die Mädchenzeitung Solo, ihre zweite Wahl.«

Ann-Louise entfuhr ein kleiner Freudenschrei, und sie nahm die Gratulationen ihrer Klassenkameraden entgegen. Frida wunderte sich, wie Ann-Louise, die so ganz offensichtlich unmodisch und ein wenig unbeholfen war, in diese angesagte Mädchenzeitung passen sollte, aber darüber musste sie sich Gott sei Dank nicht den Kopf zerbrechen.

Janne fuhr fort: »Torkel Angervall, Sie gehen in die lokale Nachrichtenredaktion bei Radio Malmöhus. Das ist zwar nur Ihre vierte Wahl, aber damit müssen Sie sich wohl zufriedengeben. Praktikumsplätze beim Radio sind dünn gesät und schwer zu finden. Außerdem hat man da gute Chancen, im Sommer als Urlaubsvertretung zu landen.«

Torkel nickte Janne Ahlsén zufrieden zu. Janne ging weiter die Liste durch, verteilte Plätze bei der Sundsvalls Tidning, den Hallands Nyheter, TV4 in Gävle und der finnischen Redaktion des Radios in Stockholm und erhielt unterschiedliche Reaktionen.

»Dann kommen wir zu Cilla Davidsson. Wo sind Sie denn?« Janne ließ seinen Blick suchend über die Studenten gleiten. »Ihre erste Wahl war ja ein wenig ungewöhnlich. Ihr Arbeitsplatz im Frühling ist die Presseabteilung der Stadtverwaltung in Göteborg.«

Cilla nickte neutral und sah weder glücklich noch enttäuscht aus.

Frida beugte sich zu ihr und fragte: »Bist du nicht zufrieden? Das wolltest du doch haben.«

»Ja, klar«, flüsterte Cilla. »Aber ich kann doch nicht so tun, als sei ich mit einem Platz als PR-Frau zufrieden. Das wirkt doch total idiotisch.«

»Manchmal verstehe ich dich nicht«, erwiderte Frida und seufzte.

Janne nahm einen neuen Bogen in die Hand und blickte wieder in den Klassenraum. »Peter Engström. Sie hatten Expressen als erste und Aftonbladet als zweite Wahl angegeben … und Aftonbladet bekommen Sie. Gratuliere.«

Mit einem »Yes« sprang Peter von seinem Stuhl auf, schwankte in einer Art Glückstaumel nach vorn und schüttelte Rendefors und Janne Ahlsén, der über den unerwarteten Gefühlsausbruch lachen musste, die Hand. Peter erhielt aufmunternde Zurufe und Schulterklopfer von seinen Klassenkameraden.

»Das ist ja schön, dass man hier jemanden glücklich machen kann«, sagte Janne und bat die Klasse um Ruhe. »Damit kommen wir zu Frida Fors. Was Sie betrifft, so war es uns leider nicht möglich, Ihren Wünschen auf dieselbe Art entgegenzukommen. Wir haben lange daran gearbeitet, dass Sie zumindest Ihre fünfte Wahl bekommen, die Betriebszeitung der Telefonfirma Telia, doch das ist uns nicht geglückt, da die in letzter Sekunde abgesprungen sind. Doch was wir jetzt für Sie haben, wird bestimmt richtig gut. Glauben Sie mir.«

Frida spürte, wie ihr plötzlich eiskalt wurde. Ein Gefühl von Unwirklichkeit breitete sich in ihr aus.

»Sie gehen in die Lokalredaktion des Smålandsbladet in …«

Janne blätterte in seinen Papieren. In der Klasse wurde es sehr still.

»Es ist ein kleiner, kleiner Ort mit Namen …«

Janne suchte verzweifelt zwischen den Stapeln auf dem Schreibtisch, blätterte dann durch den Aktenordner und schüttelte schließlich einen Zettel aus der Klarsichthülle ganz hinten.

»Da haben wir es ja … Bruseryd. Die Hauptredaktion liegt in Eksjö, aber Sie werden die Lokalseite für Bruseryd und Umgebung produzieren. Wenn ich mich nicht irre, haben Sie doch Verbindungen dorthin?«

Frida hielt die Luft an. Sie konnte weder ein- noch ausatmen. Gänsehaut kroch ihr langsam den Rücken hinauf. Verfluchtes Höllendrecksloch! Wie konnten die sie bloß dorthin verfrachten? Da hatte sie sich doch gar nicht beworben! Wieso bekamen alle anderen, was sie wollten? Sie spürte einen Kloß im Hals. Nein, nicht heulen, nicht heulen, dachte sie. Es musste möglich sein, die Entscheidung zu ändern. Man durfte doch wohl Einspruch erheben? Nichts auf der Welt würde sie dorthin bringen. Sie würde jede x-beliebige PR-Stelle annehmen, aber ein halbes Jahr im Nirgendwo? Niemals!

»Was ist los?«, flüsterte Cilla. »Du bist ja ganz blass.«

»Ich werde Einspruch erheben. Das akzeptiere ich nicht. Ich werde gleich sofort mit denen reden.«

Die restliche Stunde verlief wie hinter einer Nebelwand. Frida saß da und überlegte, wie sie ihren Einspruch gegenüber Ahlsén und Rendefors formulieren könnte. Dass Peter dasaß und extrem zufrieden aussah, machte die Sache noch schlimmer. Begriff er denn nicht, wie grauenhaft das hier für sie war? Konnte er nicht ein wenig Mitgefühl zeigen, wo sie es jetzt so dringend brauchte?

Ein intensives Gemurmel brach in der Klasse aus, nachdem der letzte Platz verteilt war. Die Studenten eilten nach vorne an das Flipchart, um nachzulesen, welche Informationen über ihre jeweiligen Praktikumsplätze dort standen. Janne Ahlsén und Rendefors wurden mit Fragen überschüttet.

Frida war die Einzige, die noch auf ihrem Platz saß. Als alle anderen Studenten gegangen waren, stand sie wie betäubt auf und ging zu Ahlsén.

»Ich nehme den Platz nicht an. Sie müssen etwas anderes organisieren.«

»Frida, ich verstehe, dass Sie enttäuscht sind, weil Sie nicht den Platz Ihrer Wahl bekommen haben. Aber ich versichere Ihnen, dass das ein guter Praktikumsplatz ist.«

Janne zog einen Bogen mit Kontaktdaten hervor, faltete ihn zusammen und schob ihn Frida zu. Sie zeigte darauf, als wäre er von der Pest infiziert.

»Es spielt keine Rolle, ob der Platz gut ist. Ich werde das nicht machen.«

»Leider haben Sie keine andere Wahl. Wir haben es versucht, glauben Sie mir. Es ist ein Wunder, dass wir überhaupt alle Plätze zusammenbekommen haben.«

»Aber alle anderen haben doch bekommen, was sie wollten. Wieso kriege ich denn nicht wenigstens eine meiner fünf Alternativen, wo doch alle anderen den Platz ihrer ersten oder zweiten Wahl bekommen haben? Wieso kann nicht jemand anderes diesen Platz nehmen? Wieso gerade ich?«

»Weil Sie die Fähigkeit haben, aus wenig viel zu machen. Genau das haben Örjan Berg und Kerstin Regnell heute ja gesagt, und das ist genau das, was wir hier brauchen. Sie werden bei diesem Job viel mehr lernen als die meisten ihrer Kollegen in ihren Praktika. Nach meiner Ansicht ist das hier exakt, was sie benötigen, um sich als Journalistin zu entwickeln.«

»Ich mache das nicht.«

Einen Augenblick war es still. Janne räusperte sich und sagte: »Der Arbeitsmarkt sieht eben so aus. Das sollte man wissen, wenn man diesen Beruf wählt. Nicht alle können Starreporter bei Dagens Nyheter oder Aftonbladet werden.«

»Und wieso hat Peter einen Platz bei Aftonbladet bekommen?«

»Unter uns gesagt, weil er bei der dortigen Geschäftsleitung alles getan hat, damit man genau ihn auswählt. Kontakte sind in dieser Branche extrem wichtig. Das ist zwar bedauerlich, aber man muss die Spielregeln lernen.«

Das hatte Peter also getan? Wieso hatte er ihr nichts darüber erzählt? Wo sie doch so viel darüber geredet hatten, welche Chancen es für die erträumten Plätze gäbe. Warum hatte er sie nicht gedrängt, es ähnlich zu machen? Oder hätte sie das selbst begreifen müssen?

»Und wenn ich jemanden finde, der den Platz mit mir tauscht?«, überlegte Frida.

»Sicher, wenn Sie jemanden finden, der bereit ist, seinen Platz zur Verfügung zu stellen und dafür Ihren zu nehmen, wäre das im Prinzip in Ordnung. Aber das müsste dann auch mit den Arbeitgebern abgeklärt werden. Das Smålandsbladet war überhaupt nur bereit, Sie aufzunehmen, weil die Ihren Namen kannten und wussten, dass Ihre Familie aus dieser Ecke kommt. Es könnte also passieren, dass der Platz dann völlig wegfällt, und dann stehen wir dumm da.«

»Aber ich will nicht«, jammerte Frida.

Janne senkte die Stimme und legte seine Hand vertraulich auf Fridas Arm. »Sehen Sie, ich weiß, dass Sie mit Peter zusammen sind. Er wird in Stockholm sein. Sie arbeiten während der Woche in Bruseryd und fahren am Wochenende zu ihm. Es ist doch bloß ein halbes Jahr. So bekommen Sie das Beste aus beiden Welten, sehen Sie es doch mal so. Sie werden es überleben.«

Das Beste aus beiden Welten … von wegen!

Als Frida aus dem Vorlesungsraum trat, waren schon alle gegangen. Sie hatte zwei SMS bekommen. Die erste war von Peter: »Hey Baby. Konnte nicht warten. Du kannst bestimmt tauschen. Bin zum Vorglühen bei Örjan. See you tonight. Kuss.«

Immerhin ließ er von sich hören. Obwohl sie eigentlich gehofft hatte, dass er mit offenen Armen vor der Tür stand und sie tröstete. Oder dachte er, dass es gar nicht so schlimm war? In gewisser Weise war es vielleicht sogar gut, dass sie ihm nicht hatte zeigen können, wie enttäuscht und traurig sie wegen des Praktikums war …

SMS Nummer zwei war von Cilla. Den Göttern sei Dank für sie. »Ich leide mit dir! Du brauchst ein ordentliches Besäufnis mit Glühwein. Komm um fünf zu mir. Umarmung. C.« Es war schon halb drei. Wenn sie also in ihre Wohnung am anderen Ende der Stadt kommen, sich umziehen und dann zu Cilla fahren wollte, musste sie jetzt schnell ihre Bücher, Hefte und Arbeitsproben aus dem Schrank holen und zur Straßenbahn hasten.

Langsam schlängelte sich die Bahn durch die Stadt. Die Dämmerung hatte eingesetzt. Obwohl es ein Wochentag war, wimmelte es in der Innenstadt von Leuten. Der Brunnsparken erstrahlte in roter und blauer Weihnachtsdekoration. Göteborg war zu einer »Weihnachtsstadt« geworden, ohne dass jemand wirklich verstanden hatte, wie es dazu gekommen war. Ein paar erschöpfte Weihnachtseinkäufer stiegen ein und suchten verzweifelt nach einem Sitzplatz. Die meisten mussten stehen. Frida hatte einen Platz ganz hinten ergattert.

Es ging unsäglich langsam. Die Durchschnittsgeschwindigkeit einer Straßenbahn im Zentrum von Göteborg liegt angeblich bei elf Kilometern pro Stunde. Wenn man es eilig hat, kann einem dieses Kriechtempo ganz schön auf die Nerven gehen. Frida wollte bloß nach Hause. Nach Hause und sich über die eigene kleine Staatskrise ausheulen, ohne dass es jemand bemerkte. Auf dem Weg in Richtung Osten passierten sie den Hauptbahnhof, fuhren durch Stampen, Olskroken und über den Redbergsplatsen. Erst auf dem Hügel am Härlanda-Gefängnis nahm der Wagen etwas mehr Fahrt auf. Frida drückte auf den Halteknopf und stieg aus. Sie überquerte den geschäftigen Härlandavägen und lief im Dunkeln die Sofiagatan hinauf.

Strömmensberg war ein typisches Viertel aus den vierziger Jahren: ein kahler, windgepeitschter Hügel mit hellgelben und sauberen vier-, fünf- und sechsstöckigen Häusern. Zwischen den Häusern befanden sich offene Grasflächen, Bänke und Wäschestangen, die niemand benutzte. Früher hatte es hier Lebensmittelläden, Bekleidungsgeschäfte und Cafés gegeben. Jetzt gab es nur noch ein Beerdigungsinstitut. Der Wind blies heftig. So war es fast immer. Hier waren keine Bäume oder natürliche Schutzmöglichkeiten, bloß offene Flächen, hohe Häuser und vom Wind gemarterte Rentner. Und sie.

Fridas kleine Einzimmerwohnung lag in der Storhöjdsgatan, hinten in der Sackgasse und ganz oben. Sie überlegte kurz, über die Treppe in die vierte Etage zu laufen, doch die schwere Tasche mit den Büchern ließ sie den Aufzug nehmen, bei dem es sich um den vermutlich langsamsten Aufzug Europas handelte …

Die Wohnung war stockduster. Frida schlug ein schwacher Geruch von der Mülltüte entgegen. Sie schaltete die Deckenlampe im Flur ein, hob die Post auf, die sich hinter der Tür gestapelt hatte, und warf sich aufs Bett.

Sie tat sich selbst unendlich leid. Als die Anspannung nachließ, kamen die Tränen. Gleichzeitig schämte sie sich, dass sie so eine große Sache aus etwas machte, das streng genommen keine wirkliche Katastrophe war. Dennoch, es war derart ungerecht, dass es schmerzte. Peter hatte bekommen, was er wollte. Cilla hatte bekommen, was sie wollte. Sogar Torkel und Ann-Louise hatten mehr oder weniger bekommen, was sie sich gewünscht hatten. Warum bloß sie nicht? Warum musste Frida Fors im totesten Winkel von ganz Südschweden landen? Und wie zum Teufel sollte sie einen guten Job machen, wenn an diesem Ort sowieso nie etwas passierte. Das Einzige, was sie dort lernen könnte, wäre Däumchen zu drehen und sich zu langweilen. Oder sich auf irgendwelchen Handarbeitskränzchen oder Verkehrsausschüssen abzurackern, ohne etwas dafür zu bekommen, während Peter in Stockholm Premierenfeiern besuchte, über das schrieb, was wirklich wichtig war, und sich einen Namen in der Branche machte.

Das Handy gab ein Pling von sich. SMS von Mama. Darin stand lediglich: »Ruf doch irgendwann mal an.« Frida wollte nicht. Sie wollte es wirklich nicht.

Mona Fors war Berufsberaterin an einem Gymnasium in Partille. Seit ihrer Scheidung vor sieben Jahren hatte sie sich in einem mehr oder weniger konstanten Zustand der Depression befunden. Sie hatte alle Voraussetzungen, um als äußerst attraktive Frau im Alter von fünfundfünfzig Jahren ein angenehmes Leben zu führen. Sie war gut ausgebildet, sozial kompetent, hatte einen guten Job und eine schöne Wohnung, sah für ihr Alter ziemlich jung aus und hatte zwei wohlgeratene Kinder. Doch anstatt sich auf das Positive in ihrem Leben zu konzentrieren, hatte sie entschieden, sich an das zu klammern, was sie nicht mehr hatte: Fridas Vater. Ein Leben ohne Carsten war in ihren Augen ein sinnloses Leben, ein Leben, das man nur in Bitterkeit und Trauer fortsetzen konnte. Im Alter von achtundvierzig verlassen und durch eine fünfzehn Jahre jüngere Frau ersetzt zu werden, war mehr, als Monas Psyche bewältigen konnte. Nachdem sie die ersten zwei Jahre nach der Scheidung hinter heruntergelassenen Rollos und mit ständigen Krankschreibungen und wiederholten, wenn zwar nicht ernsthaften, aber dennoch scheußlichen Selbstmordversuchen verbracht hatte, hatte ihre Umgebung die Hoffnung gehegt, dass sie sich langsam wieder zu erholen begann. Als sie jedoch die Nachricht von Carstens und Ninnes bevorstehender Hochzeit in der Masthuggkirche erreichte, lief sie schnurstracks zu ihrem Auto, nahm die Landstraße nach Gråbo, wo sie sich einen einsamen und ausreichend nahe der Fahrbahn stehenden Baum aussuchte, am Straßenrand anhielt, ausstieg und das mitgebrachte Motoröl aus dem Kofferraum holte, hundert Meter weiterlief, eine passend große Lache auf die Spurrillen goss und dann zurück zu ihrem Wagen ging. Mit einer Geschwindigkeit von dreißig Stundenkilometern fuhr sie genau durch die Öllache und steuerte zielbewusst auf den Baumstamm zu. Nachdem sie sich von dem Aufprall erholt hatte, wählte sie 110, erklärte, dass sie durch einen Ölfleck auf der Straße vom Weg abgekommen sei, und bestellte einen Krankenwagen. Zwei Wochen im Krankenhaus Sahlgrenska änderten nichts an Monas Unglück. Carsten kam nicht zu Besuch. Und die Hochzeit wurde nicht abgeblasen. Das Einzige, was geschah, war, dass ihr Arzt, Dr. Antonsson,die Menge der Antidepressiva erhöhte und außerdem die Dosis Schmerzmittel für das Schleudertrauma sowie das Sobril für die Nerven heraufsetzte. Als Mona ein Jahr später hörte, dass Carsten und Ninne ein Kind erwarteten, fuhr sie mit ihrem inzwischen reparierten roten Honda zu Carstens Büro in der Övre Husargatan, wartete draußen, bis er herauskam, ging zu ihm und spuckte ihm direkt ins Gesicht. Gott sei Dank unternahm sie nichts weiter, als drei Jahre später Kind Nummer zwei unterwegs war. Doch als Carsten im Zusammenhang mit seiner aktuellen Buchveröffentlichung erklärte, er wolle sich seine Jugendträume erfüllen und mit seiner Familie auf einen alten Hof auf Mallorca ziehen, verwandelte sich in Monas Augen ganz Südeuropa in eine pestverseuchte Zone, wo nur Verräter hinfuhren.

Die Beziehung zwischen Mona und Frida war alles andere als unkompliziert. Obwohl Frida nicht anrufen wollte, tat sie es trotzdem. Nach achtmaligem Klingeln hatte noch immer niemand abgenommen. Frida wollte gerade auflegen, als sie ihre Mutter mit einem Seufzer antworten hörte.

»Hier ist Frida. Du hast mich angerufen?«

»Ja, du meldest dich ja nie.«

»Jetzt mach ich es doch. War was Besonderes? Ich bin etwas in Eile.«

»Tja, wenn du so viel Wichtiges zu tun hast, dann will ich lieber nicht stören.«

Frida holte Luft und zählte bis zehn. »Heute Abend ist Semesterabschlussparty, und ich hab weniger als eine Stunde, um mich zu duschen und umzuziehen.«

»Ich wollte nur sagen, dass du dir wirklich etwas Zeit nehmen solltest, um mir bei der Weihnachtsplanung zu helfen. Ich kann mich einfach nicht mehr um alles in der Welt kümmern. Ich hab noch keine Weihnachtsgeschenke und kein Weihnachtsessen gekauft. Aber das spielt ja keine Rolle, denn wahrscheinlich kommt sowieso niemand hierher.«

»Jetzt mach doch kein Drama daraus. Es sind doch bloß du und ich und Richard.«

Richard war Fridas drei Jahre jüngerer Bruder, der Jura in Boston studierte. Er sollte über Weihnachten nach Hause kommen, hatte aber die Angewohnheit, sämtliche familiären Verpflichtungen mit dem Hinweis abzuschmettern, er müsse schließlich die Kontakte zu seinen Freunden pflegen, wenn er schon mal zu Hause sei.

»Leicht gesagt, dass man keine große Sache daraus machen soll, wenn man wie du am Anfang seiner Karriere steht und noch alles Schöne vor sich hat.«

Frida schluckte hart.

Sie wollte am liebsten sagen, dass es nicht besonders schön war, eine Mutter zu haben, die bloß ständig ihr eigenes Leben und ihr Unglück wiederkäute.

»Ich habe nicht so viel zu feiern«, sagte Frida. »Wir haben heute unsere Praktikumsplätze bekommen.«

»Ach ja? Aftonbladet und Expressen müssen sich doch sicher um dich prügeln.«

»Leider nicht.«

»Das ist aber komisch. Du musst doch mit deiner Begabung die Beste in der Klasse sein. Wieso wollen die dich nicht haben?«

»Das wüsste ich auch gern. Es liegt wohl daran, dass ich irgendwas getan oder nicht getan habe.«

»Aber Fernsehen oder Radio? Hast du da auch keinen Platz bekommen?«

»Ich hab den allerschlechtesten Platz bekommen und werde das ganze Frühjahr beim Smålandsbladet sitzen und dort verfaulen.«

»Smålandsbladet? In Eksjö?«

»Nicht mal in Eksjö. Außerhalb.«

»Ah. Aber du bist ja noch so jung. Ein halbes Jahr vergeht schnell.«

»Superschnell«, sagte Frida müde.

»Aber vielleicht ist das gar nicht so dumm. Dann könntest du doch an den Wochenenden das Sommerhaus instand setzen. Ist bestimmt sieben oder acht Jahre her, dass da jemand war.«

»Danke. Genau das, was ich hören wollte. Ich muss jetzt duschen. Bis bald.«

»Ruf mich doch morgen an. Du meldest dich ja nie!«, hörte Frida Mona noch sagen, als sie das Gespräch wegdrückte. Sie stand hastig auf, wobei der Stapel Post, den sie auf dem Schoß liegen hatte, zu Boden fiel: eine Werbebroschüre, eine Immobilienzeitung und eine Postkarte aus Mallorca, die einen Esel mit einem lustigen Hut zeigte.

»Liebe Frida! Wie schnell die Zeit vergeht. Jetzt wohnen wir schon ein halbes Jahr hier. Die Renovierung läuft gut, aber langsam. Wir haben nur zwei Räume, in denen wir wohnen können, daher kann ich dich leider nicht über Weihnachten einladen. Aber es wird toll, wenn erst mal alles fertig ist. Ina und Mimmi wachsen wie die Pilze. Ich hab endlich mein neues Kochbuch angefangen. Glaube, es wird Sonnengerichte heißen. Was sagt die Journalistin unserer Sippe dazu? Rufe Weihnachten an. Umarmung von Papa. PS: Grüße von Ninne.« Fridas Magen verkrampfte sich, und sie spürte die Tränen aufsteigen. Unterdrück sie, dachte Frida, unterdrück sie einfach.

Frida toupierte ihr frisch gewaschenes, halblanges blondes Haar. Mit einem Glätteisen bearbeitete sie ihren Pony und fixierte die Spitzen mit Silikontropfen. Dann bedachte sie ihre Augenpartie mit einer hellbeigen Schattierung und gab reichlich dunkelbraune Farbe auf die Lider. Den oberen Rand markierte sie deutlich mit einem schwarzen Eyeliner und zeichnete den unteren Augenrand mit einem feineren, weicheren Strich nach. Dann eine doppelte Lage Mascara, viel Puder und reichlich Rouge. Sie schlüpfte in einen schwarz-weiß karierten Rock, zog schwarze, glänzende Leggings über, ein einfaches, ausgeschnittenes Top und eine silberfarbene, taillierte Jeansjacke. Die Ringe, die sie immer in den Ohren trug, nahm sie ab. Sorgfältig schminkte sie ihre Lippen dunkelrot und versuchte ein Lächeln im Spiegel. Es sah nicht echt aus. Die Verteilung der Praktikumsplätze schwirrte in ihrem Kopf herum. Es musste doch jemanden geben, der den Platz mit ihr tauschen würde … Sie konnte ja während des Abends herumfragen. Frida versuchte, ein verlockendes Angebot zu formulieren: »Du wirst jede Menge lernen und kannst auf eigene Initiative arbeiten. Du kommst aus der Großstadt und kannst dich wirklich auf die grundlegende Journalistik fokussieren …« Sie hörte selbst, wie hohl und falsch das klang. Wer würde sich darauf einlassen? Niemand. Sie dachte an Cillas Ausspruch »Iss Shit mit gutem Appetit«. Hatte das hier mit dem Erwachsenwerden zu tun? Dass man sich zwang, Dinge zu tun, die man nicht wollte? Aber wieso hatte es nicht auch die anderen getroffen? Sie fluchte laut in den Spiegel, als das Handy piepte. Es war Cilla: »Der Glühwein steht auf der Platte. Hör auf dich zu ärgern und komm her!« Frida warf ihr Schminkset in die Handtasche, zog die hohen Stiefel und den taillierten Wollmantel an, legte den roten Schal um und zog die mit Leopardenmuster gesäumten Handschuhe über. Sie öffnete den Unterschrank, wo der Mülleimer stand, knotete die stinkende Tüte zusammen, schaltete die Flurlampe aus und verschloss die Tür. Als sie die Mülltüte unten im Müllcontainer aufschlagen hörte, kam ihr wieder Cillas Spruch in den Sinn: Iss Shit mit gutem Appetit. Schnell lief sie zur Straßenbahn.

Cilla wohnte ganz oben in der Viktoriagatan 33. Es war ein schönes Jugendstilhaus ohne Aufzug, mitten in Vasastan. Die Wohnung war zwar klein, nur 28 Quadratmeter, hatte aber einen fantastischen Balkon mit Aussicht auf den Gemüsemarkt, einen funktionierenden Kachelofen, hohe Decken und schöne Stuckverzierungen. Cilla hatte die Wohnung von ihren Eltern bekommen. Ihr Vater, Klas, war pensionierter Direktor und Besitzer einer großen Spedition, Mama Anita hatte in ihrer Jugend als Mannequin gearbeitet, die letzten dreißig Jahre aber ihrem Heim und unzähligen Wohltätigkeitsveranstaltungen gewidmet. Cillas große Schwester arbeitete seit mehreren Jahren als Justiziarin in Stockholm und hatte eine aussichtsreiche Karriere dem Familienleben vorgezogen. Cillas großer Bruder war zugelassener Wirtschaftsprüfer und laut Cilla der Welt langweiligster Fünfunddreißigjähriger. Anders dachten da Klas und Anita, die überaus stolz auf ihren Sohn waren, der bereits mit der Assistentin des Leiters der Finanzabteilung verheiratet war und mit ihr das erste Kind erwartete. Cilla war erst fünfundzwanzig, hatte aber ihre Eltern schon schwer enttäuscht, weil sie erfolglos Filmwissenschaft und Psychologie studiert sowie als Skilehrerin in Chamonix gejobbt hatte, von dort mit eingegipstem Bein zurückgekommen war, sich als Serviererin und Go-Go-Tänzerin auf Ibiza verdingt, Schmuck im Hafen von Smögen verkauft und ein bisschen als Model für den Ellos-Versand herumgepfuscht hatte. Nichts, was Klas’ und Anitas Freunde im eleganten Vorort Askim beeindruckte. Journalistin war sicher kein Beruf, mit dem man sich brüsten konnte, aber weitaus besser als nichts. Die Eltern hofften, dass Cilla die Ausbildung erfolgreich absolvieren und dann zumindest auf eigenen Beinen stehen würde.

Der Duft des Glühweins wehte Frida entgegen, als Cilla die Tür öffnete und sie hereinwinkte. Sie hatte ihr langes dunkles Haar zu einem einfachen Knoten aufgesteckt. Mit ihren feinen Gesichtszügen, den braunen Augen und den fast puppenhaft geformten Lippen brauchte Cilla so gut wie keine Schminke. Sie war eigentlich immer hübsch. Eine dünne Bluse mit Leopardenmuster und eine enge Jeans ließen sie unwiderstehlich aussehen. Wie sie das bloß immer machte?

Cilla umarmte Frida und gab ihr einen Becher Glühwein. »Trink! Das Einzige, was hilft«, sagte sie und setzte sich an den kleinen Klapptisch am Fenster, der mit Nüssen und Pfefferkuchen bedeckt war.

Frida holte tief Luft und trank den halben Becher in einem Zug aus.

In dem dunklen Restaurant war es warm und laut. Aus den Lautsprechern tönten unentwegt Weihnachtslieder: »Feliz Navidad«, »Do they know it’s Christmas?« und das gute alte »Tänd ett ljus« der Popgruppe Trias. Das Fest war in vollem Gange, und die meisten Gäste drehten ihre zweite Runde um das italienische Büfett. Bald würde das Servicepersonal Kaffee, Cognac und die kleinen Portionsschalen mit Schokoladenmousse auftischen, und danach sollte die Band loslegen. Niemand hatte sich um den Aushang mit der Tischordnung geschert, der in der Ecke der Garderobe an der Wand befestigt worden war. Am letzten Abend des Semesters wollten offenbar alle selbst bestimmen, wo sie sich hinsetzten.

Peter, Torkel und Örjan Berg hockten zusammen und unterhielten sich intensiv über die Auswertung von Nachrichten. Frida und Cilla waren bei Janne Ahlsén und einigen Studenten aus der Parallelklasse gelandet, darunter ein Mädchen namens Enya, das nach dem Essen gerne »Alla vill till himlen« von Timbuktu a cappella vortragen wollte. Frida und Cilla hatten sich vielsagende Blicke zugeworfen und gelacht. Enya war offenbar nicht ganz bei Trost. Auf dem letzten Fest hatte sie Povel Ramles »Jag diggar dig« nicht nur ein, sondern zwei Mal zum Besten gegeben. Die anderen aus der Klasse hatten nicht gewusst, ob sie lachen oder weinen sollten, doch Enya hatte alle Gefühlsaufwallungen als Beweis dafür genommen, dass man ihre Initiative schätzte. Vermutlich eine äußerst nützliche Eigenschaft in einem rauen Gewerbe.

Janne redete weiterhin davon, wie vorteilhaft ein Praktikum bei einer ländlichen Zeitung sein könnte. Er selbst hatte als junger Mann bei Hallands Nyheter gejobbt, und je betrunkener er wurde, desto mehr Geschichten fielen ihm plötzlich wieder ein. Cilla hörte zu, lachte und nahm kräftige Schlucke vom Wein. Als sie ihn bat, seine Paradegeschichte vom Tschernobyl-Unglück 1986 zu erzählen, gab Frida auf und ging zur Bar. Sie hatte schon mehrfach gehört, wie er die Maschinen gestoppt hatte, als bekannt geworden war, dass rekordverdächtige Mengen an Radioaktivität im Getreide der landwirtschaftlichen Betriebe nördlich von Halmstad gemessen worden waren.

Obwohl sie deutlich spürte, dass sie nichts mehr trinken sollte, bestellte sie noch ein Glas Rotwein. Während sie darauf wartete, dass der Barkeeper saubere Gläser holte, sah sie, wie Torkel von seinem Platz neben Peter aufstand. Sobald sie ihr Glas bekäme, würde sie hingehen. Sie hatten den ganzen Abend getrennt voneinander gesessen, und somit konnte Peter jetzt auch nicht denken, dass sie aufdringlich war. Sie hasste es, diese Unruhe an ihm zu bemerken, wenn sie zu viel zeigte, zu viel wollte. Oder war es ihm egal? Aber warum saß er dann so weit weg? Sie mochte diese Gedanken nicht. Sich cool zu geben, war das Einzige, was hier funktionierte. Cool und gleichgültig.

Torkel tauchte neben ihr an der Bar auf; seine Zähne waren rot vom Wein. Die entspannende Wirkung des Alkohols gab seinem Gesicht einen anderen Ausdruck. Plötzlich waren die Augenringe und sämtliche Falten erkennbar. Er sah alt, müde und streitlustig aus und schwankte bedenklich.

»War dein Wein umsonst? Na klar war er das! Du bekommst ja immer alles serviert!«

Frida erkannte den Ton vom Fest im letzten Jahr und dem Fest davor wieder und entschied sich für eine positive Reaktion. »Wie geht’s, Torkel? Solltest du dich heute Abend nicht amüsieren?«

»Kapierst du nicht, was morgen auf mich wartet? Drei Kinder mit Mittelohrentzündung und Kolik und eine Frau, die immer nur sauer ist, weil ich mich selbst verwirkliche‹«, erwiderte Torkel. »Ach Frida, heirate bloß nie, schaff dir keine Kinder an und werd nicht älter. Als ich dreiundzwanzig war, war das Leben ein Spiel. Da war alles top. Da nimmt man sich alles, was man haben will, und alle wollen einen haben. Man ist unsterblich, und die Welt steht einem offen.«

»Ich weiß wirklich nicht, ob ich mich darin wiedererkenne«, erwiderte Frida.

»Nee, denn du bist ja bloß so ’ne kleine selbstgefällige Maus, der man Zucker in den Hintern geblasen hat. Wenn man einen bekannten Autorenpapa hat, der einem alle Türen öffnet, braucht man sich ja nicht an die Regeln zu halten.«

Obwohl Frida wusste, dass dies zu Torkels üblichem Besäufnisjargon gehörte, konnte sie doch nicht umhin, sich provoziert zu fühlen. Es war zwar keine tolle Idee, sich hier auf eine Diskussion einzulassen, doch gleichzeitig ärgerte es sie, dass er dort stand und den Leuten mitten auf dem Fest Gemeinheiten ins Gesicht schleuderte.

»Was weiß denn die kleine Frida Fors schon vom Leben? Nada! Wie kann eine wie du bloß Journalistin werden? Du weißt doch gar nicht, wie das Leben für uns gewöhnliche Sterbliche ist. Das wirst du nie verstehen. Nie!«

Frida atmete flach und dachte angestrengt nach, auf welche Art sie jetzt kontern sollte.

»Hast du eigentlich schon mal darüber nachgedacht, wieso deine Frau ständig sauer auf dich ist? Wenn ich du wäre, würde ich das mal tun. Und sei bloß dankbar, dass sie dich überhaupt noch haben will.«

Wütend wandte sich Frida von der Bartheke ab und wollte auf den Platz in der Ecke zusteuern, aber der Stuhl war nicht mehr frei. Ann-Louise Andersson hatte sich neben Peter und Örjan Berg niedergelassen. Frida lehnte sich an die Wand und probierte den Rotwein. Er schmeckte nur sauer und ekelhaft. Was Torkel gesagt hatte, tat ihr weh, obwohl sie wusste, dass es nur dummes Gerede war. Weshalb wollte sie unbedingt Journalistin werden? Wen wollte sie damit beeindrucken? Und jetzt sollte sie in die Ödnis hinaus, anstatt das tolle Leben zu führen, das man als Dreiundzwanzigjährige haben sollte.

Die Coverband erschien und schloss die Gitarren an dem Verstärker auf der niedrigen, schwarz gestrichenen Bühne an. Der Drummer aus der Parallelklasse testete ein paar Mal die Bassdrum, spannte die Feder an der Wirbeltrommel und machte ein paar Schläge mit dem Trommelstock. Frida trank noch etwas Wein und stellte sich weiter nach vorn, um einen guten Blick zu haben. Als das Lokal deutlich zu schwanken begann, stützte sie sich an der Wand ab. Sie sollte wirklich nichts mehr trinken. Die Beleuchtung im Lokal wurde gedämpft, farbige Scheinwerfer wurden eingeschaltet, und ein weißer Lichtkegel fing den Sänger ein, als er den ersten Song anstimmte. Wie Kakerlaken wurden die Partygäste von der Tanzfläche angezogen; es wurde eng und warm. Frida wurde nach vorne und zur Seite gestoßen. Als sie eine Umarmung von hinten spürte, dachte sie intuitiv, dass es Torkel war, und machte sich zum Befreiungsschlag bereit, doch dann nahm sie plötzlich Peters Duft war und spürte, wie sich sein vertrauter Körper dicht an sie drückte.

Mit seiner hell klingenden Stimme flüsterte er ihr ins Ohr: »Wie geht’s denn meiner kleinen Starreporterin?«

Frida seufzte und lächelte in die Dunkelheit hinein. Endlich.

»Geht so … Es war nicht gerade das, was ich mir erhofft habe. Und dir?«

»Könnte nicht besser sein. Ich habe den Westfront-Artikel heute Nachmittag an Aftonbladet verkauft. Natürlich für Brosamen, aber immerhin so viel, dass ich mir ein Taxi nach Hause leisten kann.«

»Taxi? Wie luxuriös. Zu mir?«, flüsterte Frida.

»Vielleicht. Wenn du willst.«

»Das weißt du doch.«

Sie wollte gerade vorschlagen, ganz bald zu gehen, als Peter sie herumwirbelte: »Aber heute Nacht ist Party!«

Plötzlich schien es, als hätte jemand ein Streichholz an den Kamin gehalten; das ganze Fest erwachte zum Leben, und auf der Tanzfläche tauchten ungewöhnliche Paarkombinationen und Tanzstile auf. Die Band spielte eine seltsame Mischung aus alten Klassikern wie »Proud Mary« oder »Stand by me« und fröhlichen Schlagern wie »Dolce Vita« oder »Crazy in love«. Es gab mehr Gruppen- als Paartanz, und es war einfach schön, die Frustrationen aus dem Körper zu schütteln und laut zu schreien, wenn auch nur zu sinnlosen Schlagertexten. Frida bemerkte, dass Rendefors einen richtig tollen Jitterbug mit Enya tanzte, die alle Schritte perfekt zu kennen schien, und dass es Ann-Louise gelungen war, einen äußerst widerwilligen Örjan Berg auf die Tanzfläche zu ziehen. Als ein Lambada gespielt wurde, ging Peter Bier kaufen. Frida tanzte mit allen um sich herum weiter. Sie sah, dass Cilla ziemlich betrunken war; ihr Haar hatte sich gelöst, und sie drückte beim Tanzen ihren Unterleib dicht an Janne Ahlsén. Wusste sie nicht, wo die Grenze verlief? Offenbar nicht. Als Cilla anfing, sich die Bluse aufzuknöpfen, griff Frida ein und zog sie mit sich auf die Damentoilette.

»Verdammt, was machst du nur?«

»Was denn?«

»Hast du heute Morgen nicht gesagt, du seist verliebt? Wie kannst du dann so was tun?«

»Ich tanz doch bloß ein bisschen.«

»Mach nichts, was du hinterher bereust. Ahlsén ist verheiratet, und seine Frau hat auf der Schule gearbeitet. Alle wissen, wer sie ist. Und was ist mit deiner großen Liebe passiert?«

»Aber er ist es doch.«

»Wer?«

»Janne Ahlsén.«

Frida verschlug es die Sprache. Die Damentoilette drehte sich.

»Du spinnst doch wohl. Er ist fünfzig. Doppelt so alt wie du.«

»Ja? Und?«

»Nur du wirst bei dieser Sache verlieren. Lass es sein.«

»Du begreifst das nicht, Frida. Er wird sie verlassen. Jetzt sind es nur noch er und ich. Er liebt mich. Das sagt er die ganze Zeit.«

Frida versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. »Ich bringe dich nach Hause. Wir fahren sofort los.«

»Nein, ich gehe später mit Janne. Seine Frau ist verreist.«

»Zu ihm nach Hause? Bist du noch ganz bei Trost? Na, dann musst du eben selbst klarkommen.«

»Ja, geh nur. Ich bleibe.«

Frida blickte müde zu Cilla, die tapfer versuchte, ihr Lipgloss zurück in die Hülse zu bekommen. »Okay, viel Glück. Und danke für den Glühwein.«

In dem Augenblick, als Frida die Tür öffnen und die Damentoilette verlassen wollte, brach Cilla auf dem Fußboden zusammen. Gerade rechtzeitig vor dem ersten Schwall gelang es Frida, den Papierkorb heranzuziehen.

Als Frida, nachdem sie Cilla in der Viktoriagatan zu Bett gebracht und einen Eimer daneben gestellt hatte, zurückkam, waren nur noch ein paar Leute übrig. Ann-Louise und Örjan wiegten sich zu einem Schmusesong auf der Tanzfläche. Erst als sich das Paar halb herumdrehte, sah Frida, dass Örjan tatsächlich eingeschlafen war. Das Personal hatte mit dem Aufräumen begonnen. Peter war nirgendwo zu sehen. Wollten sie nicht zusammen ein Taxi nehmen? Sie versuchte ein paar Mal, ihn auf dem Handy zu erreichen, bekam aber keine Antwort. Wenn sie sich beeilte, würde sie noch die letzte Straßenbahn erwischen.

Als sie in der Bahn saß und durch die Stadt fuhr, tat sie sich zum zweiten Mal an diesem Tag furchtbar leid. Es war dezemberlich dunkel und kalt, und Frida Fors fühlte sich in dieser Nacht sehr einsam.

Gerade als sie zwischen ihren hellblauen Laken zu Hause in der Storhöjdsgatan in einen Traum zu versinken begann, hörte sie einen Schlüssel in der Tür. Sie spürte den unverwechselbaren Geruch von Zigaretten, Wein und Rasierwasser durch den Raum strömen. Sie hörte, wie Schuhe ausgezogen und Kleider abgelegt wurden. Sie blickte mit zusammengekniffenen Augen zu dem dunklen Schatten neben dem Bett, hielt die Decke hoch und wusste gleich bei der ersten Berührung, was Peter wollte. Seine winterkalten Lippen an ihrem Hals, seine Hand auf ihrem Schenkel, sein fester Körper an ihren weichen gedrückt. Sie war nicht wirklich bereit, wenngleich sie eigentlich nichts lieber gehabt hätte, als ihn ganz nah bei sich zu haben.

»Entspann dich doch«, flüsterte er.

Einen kurzen Moment überlegte sie, dass er »Sex hatte«, während sie wirklich »liebte«. Sie verstand nicht, wie man so starke Gefühle haben konnte, ohne völlig sicher zu sein, dass es auf Gegenseitigkeit beruhte. Gleichzeitig rief vielleicht dieses Gefühl, nicht genau zu wissen, woran sie mit ihm war, eben jene monumentale Anziehungskraft hervor.

Sie erwachte davon, dass eine Elster vor die Balkontür flog und hinter den in Plastik eingepackten Benzingrill rutschte.

Die weißen Textiltapeten sahen im seichten Dezemberlicht schmutzig grau aus. Sie musste pinkeln. Peter schlief noch. Sie drehte sich zu ihm und ließ den Blick über seine dunklen, auf dem Kissen ausgebreiteten Haare gleiten, über die gerade Nase, das zarte Schlüsselbein, die dünnen, doch muskulösen Arme und die schönen Hände mit den schwarzen Haaren darauf. Frida küsste ihn vorsichtig auf die Schultern, die Arme, die Wangen, dann stand sie auf, ging aufs Klo und schaltete die Kaffeemaschine ein. Als sie zurückkam, war Peter wach. Sie lächelte, kroch näher und schmiegte sich an ihn. Er gab ihr einen sanften Kuss. Frida überlegte, ob sie es wagen konnte, ihm zu sagen, dass sie ihn liebte. Das hatte sie noch nie getan. Er blickte ihr tief in die Augen, küsste sie erneut und legte sich, den Blick nun zur Decke gewandt, auf den Rücken.

»Frida, ich habe über etwas nachgedacht.«

Frida schmiegte sich enger an ihn und wartete auf die Fortsetzung, die jedoch ausblieb.

»Ja?«, sagte sie. »Worüber hast du nachgedacht?«

»Dass … wo wir jetzt mit dem Praktikum anfangen …«

Es wurde wieder still. Frida hörte die draußen in der Plastikfolie verfangene Elster herumrascheln.

»Was ist denn mit dem Praktikum?«, fragte sie.

»Ich dachte nur, dass es vielleicht blöd wäre … Es geht ein halbes Jahr, und da möchte man einander doch nicht einschränken. Ich möchte dich nicht daran hindern, neue Kontakte zu knüpfen.«

»Was denn für neue Kontakte? Wovon redest du?«

Frida setzte sich im Bett auf. Plötzlich war da wieder dieses eisige Gefühl. Sie versuchte, Peters Blick aufzufangen, doch er blickte nur starr an die Decke und sagte: »Vielleicht triffst du in Eksjö jemanden, den du gerne näher kennenlernen möchtest. Das wäre doch gar nicht so unwahrscheinlich?«

Sie fror plötzlich und wickelte sich fester in die Decke. »Aber du weißt doch, dass ich in Eksjö überhaupt niemanden kennenlernen möchte«, erwiderte Frida.

»Das kannst du doch jetzt noch nicht wissen«, versuchte es Peter.

»Doch, das kann ich. Ich habe überhaupt kein Interesse, andere Männer als dich zu treffen«, erklärte Frida und spürte, wie ihre Stimme fast versagte, als sie schließlich leise hinzufügte: »Ich liebe dich doch.«

»Mach das lieber nicht.«

»Warum sagst du das?«

»Mach es einfach nicht.«

»Was ist denn los? Ist irgendwas passiert?«

»Nein, wirklich nicht. Ich möchte nur nicht deine Entwicklung aufhalten. Du bist ein kluges Mädchen, das … Spielraum braucht.«

»Aber ich möchte gar keinen Spielraum haben. Du hast doch gesagt, dass ich mich an dich lehnen soll.«

»Das hab ich vielleicht gesagt, aber es war nicht so gemeint.«

»Und was meintest du dann?«

»Ich halte sehr viel von dir, Frida. Du bist süß, charmant, cool … und du hast sogar Talent. Aber jetzt fängt eine neue Phase an. Ich glaube, dass es für dich und für mich besser ist, wenn wir frei sind. Später werden wir dann sehen. Neue Zeit, neues Leben.«