8
Frida hatte die Erlaubnis bekommen, mit dem Wagen nach Göteborg zu fahren. Als sie in Jönköping von der Landstraße 33 auf die Fernstraße 40 abbiegen sollte, verfuhr sie sich im Kreisverkehr. Nach einer zusätzlichen Runde erwischte sie die richtige Abfahrt nach links, fuhr unter dem A6-Center hindurch und den Hügel hinauf in Richtung Ulricehamn. Sie dachte an die Zugreise nach Bruseryd. An die Unsicherheit, die Angst und das Gefühl von Verlorenheit. Und an Aliana. Wo war sie wohl abgeblieben? Seit ihrer letzten SMS waren schon ein paar Tage vergangen. Die Karte und das Päckchen mit dem Make-up lagen immer noch auf dem Tisch in der Wohnung in Bruseryd, da es keine Adresse gab, wo sie sie hätte hinschicken können. Sie hielt an und tankte an einer Tankstelle kurz vor Borås. Bevor sie weiterfuhr, schrieb sie eine neue SMS: »Hallo Aliana. Hast du meine SMS nicht bekommen? Wo bist du jetzt? Geht es dir gut? Ich fahre gerade mit dem Wagen nach Göteborg. Toll, wenn man selbst fährt. Gib mir deine Adresse. Ich möchte dir ein kleines Päckchen schicken. Liebe Grüße, Frida.«
Als sie an der Abzweigung zum Flugplatz Landvetter vorbeikam, fiel ihr ein, dass sie bei dem Treffen gestern gar nicht herausgefunden hatte, wer eigentlich Harriet war. Åke und Agnes hatten versprochen, sie ihr zu zeigen, hatten aber beide nichts gesagt. Vielleicht war sie gar nicht gekommen. Aber andererseits war es ihr doch so wichtig gewesen … Warum war sie wohl zu Hause geblieben? Weil sie sich nicht wohlfühlte und es nicht geschafft hatte, natürlich. Weil sie vielleicht unverhofften Besuch bekommen hatte. Oder weil sie aus irgendwelchen Gründen geglaubt hatte, dass es keine gute Idee wäre zu kommen? Doch weswegen? War am Donnerstag irgendetwas Besonderes passiert? Während sich Frida Göteborg näherte, rekapitulierte sie die Geschehnisse der letzten Tage, und langsam formte sich, wenn auch äußerst vage, ein Gedankengang.
Die Stadt kam Frida ganz anders vor, als sie sich jetzt auf diese Weise näherte. Mit dem Hafen, dem Industriegebiet, den Geschäftsvierteln und den Wohnquartieren begriff sie die Stadt plötzlich mehr als eine Einheit. Sie sah das Zentrum als einen Stadtkern unter anderen – und nicht als einzigen. Noch vor ein paar Wochen hatte Göteborg ihr ganzes Weltbild bestimmt, einschließlich des Traums von dem anderen, spannenden Leben da draußen. Nun wusste sie, dass es eine kleinere, fernere, vergessene andere Welt gab. Auch Menschen gab es dort, ebenso wichtig, wenn auch nicht so glamourös. Allein, dass sie selbst mit dem Wagen fuhr, verstärkte das Gefühl von Reife und Erfahrenheit. In gewisser Weise fühlte es sich erwachsen an, auf der Überholspur den steilen Hügel in Richtung Kallebäcksmotet und Liseberg hinunterzufahren. Der Wagen war zwar alles andere als elegant, bloß ein alter Volvo, aber immerhin, er rollte vorwärts.
In einer Straße nahe der Schule versuchte sie rückwärts einzuparken, schaffte es aber auch nach mehreren Anläufen nicht, die Räder zur rechten Zeit einzudrehen. Völlig verschwitzt vor Nervosität gab sie schließlich auf und stellte sich auf einen großen Parkplatz etwas weiter entfernt. Dann suchte sie die Zeitungen zusammen, die sie aus der Redaktion mitgenommen hatte, um Janne zu zeigen, was sie bisher gemacht hatte. Vor ihrem Treffen schaffte sie noch ein schnelles Mittagessen in einer Sushibar, wo sie nochmals ihre Texte durchlas. So schlecht waren die gar nicht. Die Bruseryd-Kolumne war sicherlich extrem ehrlich, aber sie spiegelte auch die Wahrheit wider. Der Text über Gunnel war vielleicht übertrieben respektvoll, doch tatsächlich auch einfühlsam. Der Artikel über Dani wirkte möglicherweise etwas ahnungslos, war aber nett und völlig in Ordnung.
Als sie die Metalltreppen zur Schule hochstieg und auf ein paar Studenten traf, die gerade erst mit dem Studium begonnen hatten, kam sie sich plötzlich ganz routiniert und weltgewandt vor. Sie erinnerte sich an die Faszination, die die Klasse gegenüber Örjan Berg empfunden hatte. Betrachteten die neuen Studenten sie jetzt auf diese Weise? Wie jemanden, der wusste, wie die Wirklichkeit da draußen aussah?
Die Tür zu Janne Ahlséns Büro stand halb offen. Die Stundenplanfrau war bei ihm und wollte etwas über die Vorlesungen der kommenden Woche wissen. Während Janne das Gespräch über umgelegte Unterrichtsstunden beendete, winkte er Frida herein. Sie setzte sich auf den Besucherstuhl. Er wirkte müde. Die schwarzen Ringe unter den Augen hatte sie vorher noch nie gesehen, und jetzt schienen sich alle Gesichtszüge abwärts zu orientieren, auch wenn er versuchte zu lächeln. Wie üblich war er mit seinem blau-weiß karierten Hemd, dem dunkelblauen Lammwollpullover und der maulwurffarbenen Hose gut angezogen, doch sein Schreibtisch war unaufgeräumt, und Janne wirkte unkonzentriert.
»Sie müssen entschuldigen«, sagte er, als die Frau gegangen war, »es war ein anstrengender Tag. Aber herzlich willkommen. Wie ist es, wieder zurück zu sein?«
»Ungewohnt«, erwiderte Frida. »Als ob es schon lange her wäre.«
»Ich habe heute Morgen mit ihrem Praxisanleiter Åke gesprochen. Wie kommen Sie mit ihm zurecht?«
»Åke?«, fragte Frida verwundert. »Was soll ich sagen? Er hat ganz klar seine Seiten, aber … ich mag ihn.«
»Aha? Was denn für Seiten?«
»Ach, ich glaube, wir kommen ganz gut miteinander klar. Er ist ein tüchtiger Journalist und ein guter Pädagoge. Er redet so, dass die Leute ihm zuhören«, sagte Frida.
»Und wie läuft es sonst so?«
»Es geht. Ich komme kaum zu anderen Dingen, da ich mich ganz allein um Bruseryd kümmern muss.«
»Es war keineswegs geplant, dass Sie das ganz alleine machen. Das ist nicht die richtige Art von Erfahrung. Die Zusammenarbeit mit anderen ist einer der wichtigsten Aspekte im Praktikum. Dazu kommen wir noch. Aber wie ich Sie verstanden habe, war es in anderer Hinsicht nicht ganz leicht …?«
Frida erzählte noch einmal die gesamte Geschichte. Sie zeigte Janne die besagte Seite, und sie diskutierten und überlegten, was sie hätte anders machen können und was schiefgelaufen war. Sie waren sich einig, dass Frida ein Paar zu große Schuhe angezogen hatte, dass es aber auch die Verantwortung der Zeitung war, die richtigen Artikel zu veröffentlichen. Dass sie versuchte, den Platz einer anderen auszufüllen, war eigentlich nur positiv, wenn auch, was ihre Popularität anbetraf, nicht ganz so geschickt. Es wurde deutlich, dass man vorher überlegen musste, welche Konsequenzen ein Text nach sich ziehen und wie er von der Öffentlichkeit aufgenommen würde. Es war gut, alles ein wenig zu ordnen. Ein Teil der Schuld schien tatsächlich von ihren Schultern abzufallen. Schließlich zog Janne eine Mappe aus dem Durcheinander des Schreibtischs hervor.
»Ich habe eine kleine Überraschung für Sie.«
»Ach ja?«, sagte Frida erstaunt.
»Ich weiß, dass Sie mit Ihrem Platz sehr unzufrieden waren. Sie haben es probiert, es war ziemlich anstrengend, aber jetzt ist es mir tatsächlich gelungen, einen anderen Platz für Sie zu finden! Sie hatten gesagt, sie wären mit jedem erdenklichen Platz in einer Pressestelle zufrieden, und jetzt gibt es eine Stelle im Büro der Kommunalverwaltung von Alingsås. Sie können also hin- und herpendeln und gleich am Montag anfangen!«
Janne lachte sie herzlich und zufrieden an, und sonnte sich in seiner Rolle als Wohltäter. Frida fuhr zusammen. Ein anderer Platz? In ihrem Innern schien es einen Kurzschluss zu geben. Was sollte sie davon halten? Alingsås? Was sollte sie in Alingsås machen?
»Freuen Sie sich nicht?«, fragte Janne leicht enttäuscht.
»Doch … klar freue ich mich«, erwiderte Frida zögernd. »Es kommt nur etwas unerwartet.«
»Ich dachte, Sie würden jubeln.«
»Doch … das tue ich ja auch, aber kann ich mir das vorher ein bisschen überlegen?«
»Das können Sie natürlich, aber ich habe im Prinzip bereits zugestimmt, da ich annahm, sie wären verzweifelt. Aber bis Montag können Sie es sich noch überlegen, dann könnten Sie Ende der Woche anfangen. Sie müssen ja noch ihre Sachen aus Småland holen.«
»Was wäre das denn für ein Job?«
»Wie gesagt, eine Stelle in der Presseabteilung. Ich nehme also an, dass es darum geht, die internen Newsletter zu schreiben und vielleicht an der einen oder anderen Presseerklärung herumzufeilen. Es sind ja oft solche Jobs, wo viele junge Journalisten landen, auch wenn sie von Svenskan oder Agenda träumen. In der Regel sind das ganz angenehme Bürojobs, bei denen man auf alle Fälle auch ein bisschen schreiben kann. Und wenn man sich für die kommunale Organisation und Personalfragen interessiert, passt das wie angegossen.«
»Ich überlege es mir bis Montag. Dann melde ich mich wieder bei Ihnen«, sagte Frida.
»Abgemacht. Dann wünsche ich Ihnen ein schönes Wochenende in Göteborg. Das haben Sie sich wirklich verdient. Die Nachmittage fangen langsam an, etwas heller zu werden. Ruhen Sie sich schön aus, und am Montag sprechen wir wieder.«
»Das machen wir«, sagte Frida. »Danke …«
Cilla musste länger arbeiten, also drehte Frida eine Runde durch die Stadt. Sie lief in die geschäftige Markthalle und sog begierig die Düfte ein – frisch gemahlener Kaffee, Fleisch, Käse, Knoblauch. Sie kaufte ein halbes Kilo frische Garnelen, zwei große Scheiben Entrecote, Knoblauch, Zitronen, Kirschtomaten, Rucola, rote Zwiebeln, Ziegenkäse und schwarze Oliven. Im Laden des staatlichen Alkoholmonopols erstand sie eine Flasche Weißwein und zwei Flaschen Rotwein, die in den letzten Tests gute Noten bekommen hatten. Das typische Freitagsgefühl war spürbar, und Frida wurde bewusst, was sie alles vermisst hatte. Vielleicht stand ja derjenige, der auf Peter folgen sollte, gleich an der nächsten Ecke? Vielleicht würde sie ihm auf der Avenyen begegnen? Peter, ja … hatte sie überhaupt seine letzte SMS beantwortet? Sie musste stehen bleiben, ihre Tüten abstellen und nachsehen. Nein, sie hatte sie nicht beantwortet. Gut gemacht, dachte sie. In einer Filiale von Pressbyrån kaufte sie das Aftonbladet und setzte sich mit einem großen Caffelatte ins Soho. Dort sollte sie Cilla treffen, denn das Restaurant befand sich nahe der Stadtverwaltung am Brunnsparken.
Frida schlürfte den heißen Kaffee und blätterte durch die Abendzeitung. Wenn man vom Teufel spricht, dachte sie, als sie die Seiten sechs und sieben aufschlug. Da war er, Peter Engström, mit einer riesigen Verfasserzeile und einem Skandalartikel über Schwedens bekanntesten Filmschauspieler, der angeblich unter Drogeneinfluss sein Kind aus der Tagesstätte abgeholt hatte. Laut sicheren Quellen bei der Polizei hatte das Personal der Tagesstätte Anzeige erstattet, nachdem der stark unter Drogen stehende Schauspieler aggressiv geworden war, als sich die Betreuerinnen geweigert hatten, ihm seine Tochter zu übergeben. Was für ein Gespür Peter doch für Nachrichten hatte. In nur wenigen Wochen vom Praktikanten zum Top-Journalisten. An und für sich war es zwar eine abstoßende Meldung, doch Frida konnte nicht umhin, beeindruckt zu sein. Wie schaffte er das nur? Wie konnte er so schnell zuverlässige Quellen anzapfen? Wenn er so weitermachte, würde man ihm sicher bald eine Urlaubsvertretung oder einen festen Job anbieten. Frida konnte sich doch sicher eine neutrale Gratulations-SMS leisten, ohne in eine gefühlsmäßig unterlegene Position zu geraten. Sie schrieb: »Saubere Arbeit. Bald übernimmst du wohl die ganze Zeitung. Bin in Göteborg und mache Party. Supercool. Frida.« Sie las die Meldung noch mal durch, fand sie angemessen distanziert und drückte auf Senden.
Cilla war noch dünner als gewöhnlich. Als sie in der winzig kleinen Küche stand und Fleisch marinierte, sah sie klein, blass und überarbeitet aus. Sie schob die Schuld auf den Winter und all die sterbenslangweiligen Aufgaben in der Stadtverwaltung.
»Heute musste ich für die Presseabteilung einen Text über das neue interne Müllbeseitigungssystem verfassen. Man schreibt über scheißlangweilige Dinge, die niemanden interessieren und die höchstens von zehn Personen gelesen werden. Das ist so sinnlos, dass es einem kalt den Rücken runterläuft. Kein Wunder, dass man anämisch wird. Ich möchte bloß weg von da.«
»Du wirst doch bestimmt auch über irgendwas Nettes schreiben können?«, warf Frida ein, während sie Tomaten und Zwiebeln schnitt.
»Vielleicht könnte ich nächste Woche einen Artikel über die neuen Altpapiersammelkisten verfassen«, erwiderte Cilla und schnitt eine Grimasse.
»Du hast es dir selbst ausgesucht. Es war doch deine Abkürzung, remember?«
»Ich weiß! Du musst mich nicht daran erinnern.«
»Ich hab heute Janne getroffen. Ich fand, dass er ziemlich müde aussah«, sagte Frida.
»Aus einer Ehe auszubrechen ist anscheinend komplizierter, als er selbst erwartet hat.«
»Wie geht’s denn mit euch? Wie ist die Lage?«
»Er hat versprochen, es ihr diese Woche zu sagen.«
»Was?«
»Dass er die Scheidung will. Dass er jetzt mit mir zusammen ist und dass sie ausziehen muss.«
Frida betrachtete Cilla aufmerksam, während sie Teller und Besteck zusammenstellte.
»Hast du das nicht schon Weihnachten gesagt?«
»Ich weiß! Aber er schiebt es die ganze Zeit vor sich her. Ich bin schon ein totales Nervenbündel.«
»Und was willst du machen? Ist er es wert? Ist er deine große Liebe?«
»Ich weiß nicht! Ich hab momentan keine Ahnung. Ich hab bloß das Gefühl, dass ich mal wieder alles in den Sand gesetzt habe. So wie immer.«
»Seit wann setzt du was in den Sand?«
»Das ist das Einzige, was ich mache«, sagte Cilla.
»Wie bitte? Du bist doch so hübsch und schlank und perfekt, dass sich alle Kerle Hals über Kopf in dich verlieben.«
»Was spielt das für eine Rolle, schlank zu sein, wenn einem ständig alles misslingt?«
»Immerhin hast du dich nicht in deinem Praktikum unmöglich gemacht, so wie ich«, sagte Frida.
»Also bitte, jetzt mach mal halblang. Du hast doch den richtigen Biss und das Talent, begreifst du das nicht? Ich hab das nicht. Ich bin vielleicht schlanker als du, und größer, aber ich bin nicht mal halb so intelligent wie du. Deshalb sitze ich ja da und suche nach Abkürzungen … und dann geht alles daneben.«
»Und ich dachte, du hättest alles«, sagte Frida.
»Vor allem sollte ich viel glücklicher sein als du.«
Sie brachen in Gelächter aus, umarmten sich und beschlossen, die nächste Flasche Wein zu öffnen.
»Warum ist es so schwer, mit dem zufrieden zu sein, was man ist?«, fragte Frida.
»Ist das nicht was typisch Weibliches? Männer sind anscheinend überhaupt nicht so. Von denen perlt alles ab wie Wasser von einer Gans. Die meinen sowieso immer, dass sie so verdammt gut sind«, erklärte Cilla.
»Auf Peter trifft das auf alle Fälle zu«, sagte Frida und lachte. Aber vielleicht nicht auf Åke, dachte sie im Stillen.
Sie hatten die große Tour absolviert: in der Bar des Caleo angefangen und sich mit dem Pfarrer unterhalten, der dort immer verkehrte, dann quer über die Straße weiter ins Locatello, wo jedoch zu viel Jungvolk herumhing. Dann hatten sie in der Brasserie Lipp vorbeigeschaut und sich von einem Plastikfabrikanten aus Estland, den sie später nur schwer wieder loswurden, zum Wein einladen lassen. Cilla hatte alles über Dani und Micke Molotov hören wollen und versucht, die verschiedenen Geschehnisse und Personen auseinanderzuhalten.
»Dieser Micke hört sich ziemlich spannend an. Er war doch scheißberühmt, oder? Sehr hübsch, nicht? Sieht er immer noch gut aus?«
»Vielleicht ein bisschen runtergekommen, aber hübsch.«
Cilla verdrehte die Augen und lächelte, während sie den Fabrikanten verabschiedeten und weiter in den Keller des Glow zogen, dem Nachtclub, der im Volksmund nur »Die Grotte« genannt wurde und in dem es vor lauter Alkohol, Schweiß, Testosteron und Pheromonen nur so dampfte. Im ganzen Lokal herrschte, was die Kontaktsuche betraf, eine allgemeine Aufdringlichkeit, die unangenehm war.
Sie drehten eine schnelle Runde, kletterten dann wieder zur Avenyen hoch und stellten sich in die Schlange vor dem Deep. Die Schlagerbar war proppenvoll, und sie bestellten ziemlich gute und bereits viel zu große Frozen Margaritas, die sie, als sie ausgetrunken hatten, bitter bereuten. Der Rückweg über die Vasagatan zu Cillas kleiner Wohnung gestaltete sich reichlich schlangenlinienförmig.
Es war fast vier, als sie endlich ins Bett gekommen waren. Gerade, als sie der Schlaf und der Rausch überwältigen wollten – Cilla in ihrem Bett und Frida auf einer Matratze auf dem Fußboden –, klopfte es an der Tür. Verwirrt stand Cilla auf. Draußen stand Janne – betrunken und verweint.
»Du musst dich um mich kümmern, Cilla. Du musst«, sagte Janne und stürzte in die Wohnung.
Er war so sehr in seinem eigenen Unglück gefangen, dass er Frida auf der Matratze überhaupt nicht wahrnahm.
»Was machst du hier? Was ist denn passiert?«, flüsterte Cilla.
»Sie hat einen anderen. Ich wusste es. Ich hab’s schon im Herbst gespürt. Jetzt will sie die Scheidung, und ich muss bis Monatsende meine Sachen ausräumen.«
»Aber …du willst doch die Scheidung. Das ist doch das, was wir wollen«, sagte Cilla.
»Zwanzig Jahre waren wir zusammen. Begreifst du das? Zwanzig Jahre! Und jetzt will sie einfach gehen.«
»Aber ich dachte, du wolltest sie verlassen. Das hast du doch gesagt.«
»Was weißt du schon, was ich will. Du bist so naiv, Cilla. Du denkst, dass alles so einfach ist. Aber das mag ich an dir«, sagte Janne und wollte einen Kuss.
»Und das Haus?«, fragte Cilla und zog den Morgenmantel enger. »Sie sollte doch ausziehen, hast du gesagt.«
»Du wirst ja wohl verstehen, dass ich mit meinem Dozentengehalt dort nicht wohnen bleiben kann. Sie hat das Geld und verdient auch viel mehr als ich. War immer schon so. Und der Neue, der ist reich. Hat Geld und so einen BMW, den ich ihr niemals hätte kaufen können.«
»Und was wird aus uns? Ich dachte, du wolltest es so. Ich verstehe überhaupt nichts.«
»Ich weiß, Cilla. Du hast noch nie was verstanden«, sagte Janne und versuchte, Cillas Wange zu streicheln.
»Was soll das denn? Was redest du da für einen Mist?«
»Cilla, sie hat mich rausgeworfen. Ich kann nirgendwoanders hin. Du musst dich um mich kümmern.«
»Wie, um dich kümmern? Hier können wir nicht wohnen. Das sind achtundzwanzig Quadratmeter.«
»Die Liebe überwindet alles«, probierte es Janne und drückte sich an Cilla.
Cilla stieß ihn weg. »Für mich klingt das, als ob sie es ist, die du haben willst.«
Janne fing an zu weinen. Er setzte sich auf einen Stuhl in der kleinen Küche und hielt das Gesicht in den Händen verborgen. »Ich will nicht.«
»Was willst du nicht?«, fragte Cilla.
»Ich will nicht, dass sie geht! Und ich will nicht fünfzig sein! Ich will nicht alt und zu einem Ex werden und zu denen gehören, die es nie probiert haben. Ich will mein altes Leben und mein neues und bedingungslose Liebe. Und ihre Liebe. Und deine. So wie jetzt will ich das nicht haben«, heulte er.
»Du bist ja nicht mehr ganz bei Trost!«
»Ich muss schlafen«, sagte er plötzlich. »Gib mir ein Bett und streichle mich. Tröste mich und rette mich.«
»Das ist nicht so einfach«, sagte Cilla. »Frida schläft hier.«
»Hier?! Ist sie da?«, fragte Janne, plötzlich hellwach. »Verfluchter Mist!«
»Was denn?«
»Du hättest mich aufhalten können.«
»Vielleicht hat sie uns gar nicht gehört«, sagte Cilla.
»Du meine Güte. Verdammt, wie jämmerlich ich bloß bin. Es tut mir leid … ich nehme alles zurück, was ich gesagt habe. Nichts stimmt. Ich bin nur besoffen und muss schlafen. Kann ich heute Nacht in deinem Bett schlafen?«
»Und was war das jetzt, dass sie dich rausgeworfen hat? Was stimmt denn nun?«, wollte Cilla wissen.
»Das war nur Gerede. Alles ist wie immer. Lass mich nur bei dir schlafen«, sagte Janne, stolperte ins Zimmer und kroch unter die Decke. Einen Meter von der Matratze entfernt, wo Frida lag. Hellwach.
Frida erwachte davon, dass das scharfe Februarlicht durch die Fenster der kleinen Wohnung drang, die nach Kater, Angst und Rauch stank. In Cillas Bett lag Janne und schnarchte. Cilla saß am Küchenfenster und rauchte.
»Du rauchst?«, fragte Frida.
»Nein, aber es kam mir so vor, als müsste ich damit anfangen.«
»Davon wird’s auch nicht besser«, sagte Frida, nahm die Kippe und spülte Wasser darüber.
»Was soll ich tun?«
»Was willst du?«, flüsterte Frida.
»Ich weiß es nicht. Ich habe keine Ahnung. Ich komme mir bloß ziemlich betrogen vor. Geschasst und weggedrängt.«
»Das war ja gestern eine komische Geschichte.«
»Du hast uns also gehört?«
»Leider«, seufzte Frida. »Ich habe das Gefühl, dass ich nicht hier sein sollte. Ich geh nur noch mal ins Bad, und dann fahre ich.«
»Was machst du denn jetzt mit Alingsås?«
»Weiß nicht. Zurzeit kann ich ja hier in der Stadt nicht wohnen. Wie geht’s eigentlich deiner Schwester?«
»Maximale Dosis Antidepressiva, jede Menge Stesolid und runtergezogene Jalousien, ansonsten geht es ihr gut. Der Arzt sagt, sie braucht noch ein paar Wochen.«
»Dann zeigt das für mich ohnehin in Richtung Småland.«
»Willst du nicht vielleicht mit mir tauschen? Du übernimmst die Stadtverwaltung, meine Wohnung und Janne, und ich gehe nach Bruseryd oder wie das heißt.«
Frida lachte angesichts dieser verrückten Idee. »Hättest du mich vor einer Woche gefragt, hätte ich bestimmt angebissen, abgesehen von Janne, aber jetzt … Nein, mit dem hier musst du selbst klarkommen.«
Frida frühstückte in der Innenstadt, machte im kalten Wind einen Spaziergang am Hafen entlang und überlegte, ob sie ihrer Mutter wohl einen Höflichkeitsbesuch abstatten müsse. Das ließ sich wohl nicht umgehen. Sie kaufte Blumen, fuhr zu ihr und wurde sogleich in eine verzwickte Diskussion verwickelt – über hoffnungslose Ärzte in den ambulanten Behandlungszentren, selbstherrliche Sachbearbeiter bei der Krankenversicherung und abtrünnige Gemüseverkäufer auf dem Markt, die sich weigerten, über bereits reduzierte Preise zu feilschen. Frida fühlte sich, als würde sie ersticken, schützte Kopfschmerzen vor und bat darum, sich hinlegen zu dürfen.
»Warum hast du letzte Nacht nicht hier geschlafen?«, fragte Mona.
»Ich wollte mich mit Cilla treffen. Wir haben uns seit Neujahr nicht mehr gesehen.«
»Aha, deine Freunde gehen also vor. Und heute Nacht?«
»Ich fahre zurück nach Småland.«
»Du ziehst die Einöde meiner Gesellschaft vor?«
Frida antwortete nicht, dachte aber: Ja, in der Tat. Wenn Mona bloß begreifen könnte, dass alles viel leichter wäre, wenn sie aufhörte, ständig Forderungen zu stellen und zu jammern. Wie viel mehr würde Mona dann zurückbekommen? Doch an diesen Punkt würde sie wohl niemals gelangen.
Als Frida nun in der Schlafnische ihres alten Zimmers lag, klingelte das Handy. Sie erkannte Alianas Nummer. Sie hatte vorher noch nie angerufen, nur SMS geschickt. Frida meldete sich und hörte ein zaghaftes leises Schluchzen in der Leitung.
»Hallo? Aliana? Bist du das? Hier ist Frida.«
Noch immer Schweigen, doch dann ein leises Weinen.
»Aliana, Liebes? Antworte doch! Bist du das?«
»Pssst«, sagte eine traurige Mädchenstimme. »Ich muss leise sprechen.«
»Was ist denn? Ist etwas passiert?«
Wieder eine Pause, dann Geraschel im Hintergrund.
»Ich verstecke mich. Die dürfen mich nicht hören. Warte mal.«
Frida wartete und lauschte angestrengt. Sie hörte Ladengeräusche, leise Musik, Lautsprecherdurchsagen, Männerstimmen, mit fremdem Akzent geäußerte Protestrufe und ein schwaches Schluchzen. Dann wieder Alianas Stimme.
»Sie gehen jetzt. Aber sie haben mich nicht gesehen.«
»Wer hat dich nicht gesehen?«, fragte Frida.
»Die Polizei. Sie hatten keine Uniform an. Sahen ganz normal aus, aber es waren Polizisten. Sie hatten Erkennungsmarken.«
»Was ist passiert?«
»Die haben ihnen Handschellen angelegt. Jetzt bin ich hier ganz allein. Ich verstecke mich im Laden. Ich weiß nicht, wie ich hier wegkommen soll.«
»Wen haben sie mitgenommen?«
»Meinen Papa, meinen Onkel und meine Brüder.«
»Wo bist du?«
»H&M«
»H&M wo?«
»Weiß nicht. Oder doch, Halmstad, glaub ich.«
»Halmstad? Was machst du denn da?«
»Ich musste ihnen helfen, als sie durchs Einkaufszentrum gegangen sind. Kannst du kommen?«
»Und deine Mama? Deine große Schwester? Wo sind die?«
»Weiß nicht. Weit weg in einem Häuschen. Die haben kein Auto und kein Telefon.«
»Gibt ’s da jemanden, der dir helfen kann und der weiß, wo du bist?«
»Nein, niemanden«, schluchzte Aliana. »Niemanden. Du hast geschrieben, dass du ein Auto hast. Kannst du kommen?«
Frida dachte kurz nach. Eigentlich gab es nichts, was sie davon abhalten würde.
»Ich bin in zwei Stunden da. Bleib, wo du bist, dann sehen wir uns bald. Hab keine Angst.«
»Mein Akku ist fast leer.«
»Bleib einfach da, wo du bist. Ich komme.«
Frida rief mehrmals an, während sie in Richtung Halmstad fuhr. Es klingelte und klingelte, aber niemand antwortete. Wahrscheinlich war der Akku leer, oder Aliana konnte aus anderen Gründen nicht ans Telefon gehen. Frida parkte am Stora Torget und betrat den H&M-Laden in der Brogatan. Diskret versuchte sie, die Boutique abzusuchen, und lief an jeder Wand und jedem Kleiderständer entlang. Sie stellte sich vor belegte Umkleidekabinen und tat so, als suche sie nach ihrer kleinen Schwester, die etwas anprobierte. Doch keine Reaktion. Frida drehte eine Runde über den Platz und schaute auch in anderen Läden nach, aber keine Spur von Aliana.
Schließlich ging zu wieder zu H&M und fragte die rothaarige Frau an der Kasse, ob es vielleicht noch eine andere H&M-Filiale in Halmstad gebe. Die Verkäuferin, die ihren recht stabilen und umfangreichen Körper in sehr enge Teenagersachen gezwängt hatte und nach Zigaretten, Pfefferminz und Kaffee roch, blickte Frida an, als wäre sie ein UFO.
»Sie sind wohl nicht von hier, oder?«
»Nein, deshalb frage ich ja«, erwiderte Frida.
»Es gibt keinen anderen H&M in der Innenstadt, nein.«
»Und außerhalb?«
»Das ist ja was anderes. Wir haben einen Riesenladen im Eurostop, an der Autobahn südlich der Innenstadt«, erklärte die Frau bissig lächelnd.
Das Einkaufszentrum war gigantisch. Fünfzehnhundert Parkplätze und bestimmt hundert verschiedene Geschäfte. Es war Samstag kurz vor Geschäftsschluss. Familien auf Großeinkauf standen an den Kassen, um mit Schweinefilets, Videospielen, neuen Jeans und Kapuzenjacken für die Kinder in ihre Reihenhäuser zurückzukehren. Frida lief durch die Gänge des Zentrums. Ihr Blick suchte die Umgebung ab, die verworren und dunkel wirkte. In einer Ecke stand ein Ausverkaufsständer mit billigen Bademänteln. Dahinter hingen Jogginghosen und andere Trainingsbekleidung. Unter einer Stange mit hellgrauen Trainingshosen sah sie ein Paar kleine Gymnastikschuhe hervorlugen.
Frida trat dichter heran, ging in die Hocke und flüsterte vorsichtig: »Aliana? Bist du das?«
Das kleine neunjährige Mädchen, leichenblass und verweint, warf sich in Fridas Arme und flüsterte: »Ich dachte schon, du würdest nie kommen. Ich dachte, ich müsste für immer allein bleiben.«
»Ach was«, erwiderte Frida und streichelte ihr den Rücken. »Ich hab doch gesagt, dass ich komme. Aber ich wusste nicht, in welchem Laden du bist. Es gibt nämlich zwei.«
Erst als die Lautsprecherstimme das Ende der Geschäftszeit verkündete, löste sich Aliana von Frida, fasste sie dann aber fest an der Hand.
»Hast du Hunger?«, fragte Frida.
Aliana nickte.
»Hier gibt’s einen McDonald’s.«
Nachdem beide ihr Menü aufgegessen hatten, merkte Frida, wie schrecklich müde und verkatert sie war. Sie hatte keine Ahnung, was sie jetzt mit Aliana machen sollte. Sie konnte sie schließlich nicht einfach mitnehmen. Irgendwo in der Nähe warteten die besorgte Mutter und die große Schwester. Sie kaufte einen Softdrink für Aliana und einen großen Kaffee für sich selbst und überlegte. Sie fragte Aliana, ob sie nicht lieber zur Polizei gehen sollten, damit sie bei ihrem Papa sein konnte, und versicherte ihr, dass ein neunjähriges Mädchen in einem Land wie Schweden niemals im Gefängnis landen könne. Doch da fing Aliana an zu weinen und sah aus, als ob sie wegrennen wollte. Frida musste versprechen, sie nicht zur Polizei zu bringen. Das würde Aliana ihr niemals verzeihen. Frida fragte vorsichtig, warum die Polizei gekommen war und ihren Vater und die anderen festgenommen hatte, und welche Rolle sie selbst bei der ganzen Sache gespielt hatte. Aliana war völlig überrascht, dass Frida die Sache nicht durchschaut hatte.
»Papa und mein Onkel stehen an einer Stelle, und meine großen Brüder gehen einen bestimmten Weg durch den Laden. Die bewegen sich nach einem Muster, das sie selbst erfunden haben. Ich werfe dann eine Kleiderstange oder einen Ständer mit Süßigkeiten um, oder ich falle hin und stoße mich, und während sich ein paar hilfsbereite Menschen zu mir herunterbeugen, kommen Papa und die anderen und nehmen den Leuten das Portemonnaie aus der Tasche. Kazan kann innerhalb von vier Sekunden eine Brieftasche rausziehen, Geld und Karten rausnehmen und sie dann wieder in die Tasche stecken. Er ist echt ein Ass. Niemand merkt was, bevor es zu spät ist.«
Plötzlich fiel der Groschen. All die verschiedenen Orte, von denen Aliana eine SMS geschickt hatte. Jetzt begriff Frida, wieso sie dort gewesen waren. Es waren Taschendiebe, ganz einfach. Und Aliana war der Lockvogel. Frida war völlig schockiert. Was für zynische Eltern! Wie konnte man seinem Kind so etwas antun? Die arme Kleine.
»Wie lange machst du so was schon?«
»Ich durfte anfangen, als ich sieben wurde«, erwiderte Aliana fast stolz.
»Und deine Mutter und Schwester? Und Trine, so hieß sie doch, deine kleine Schwester? Welche Rolle spielen die denn?«
»Mama ist krank. Und Zana kann nicht mit, denn sie ist ein Teenager und könnte sich in einen schwedischen Jungen verlieben. Das darf sie nicht. Und Trine ist zu klein. Außerdem hat sie eine Mittelohrentzündung und schreit die ganze Zeit. Man kann gar nicht richtig schlafen, wenn sie die ganze Zeit nur weint.«
»Wo sind die denn jetzt?«
»In einem Häuschen. Da in der Nähe waren wir früher schon mal.«
»Und wo war das?«
»Beim größten Einkaufszentrum der Welt.«
»In Schweden?«
»Ja, im Wald«, sagte Aliana.
»Meinst du Ullared?«
»Ja, genau so heißt das! Da sind wir schon oft gewesen.«
»Zum Einkaufen?«
»Nein, was bist du dumm! Zum Arbeiten.«
Frida versuchte, die Informationen zu verdauen. Die Familie musste doch einen festen Punkt haben, eine Adresse irgendwo, Verwandte, Freunde, irgendeinen Hintergrund.
»Wo wohnt ihr eigentlich?«, fragte sie.
»Eigentlich nirgendwo.«
»Aber irgendwann müsst ihr doch mal irgendwo gewohnt haben?«
»Ja, schon … wir haben bei Papas Cousin in Bergsjön in Göteborg gewohnt. Aber da gab es nur drei Zimmer, und seine Familie bestand schon aus acht Personen. Wir wohnten zu fünft in einem Zimmer. Überall Matratzen. Später gab es dann neue Vorschriften, dass man nicht mit so vielen zusammenwohnen durfte. Im Treppenhaus hingen Zettel. Jemand, dem das Haus gehörte, klopfte an die Tür und zählte nach. Da haben sich Papa und sein Cousin gestritten. Er wollte uns nicht mehr haben. Wir hatten keinen Platz zum Schlafen. Papa nahm die Matratzen mit, damit wir auf dem Schrottplatz schlafen konnten, wo er gearbeitet hat. Doch als sie uns entdeckt haben, wurden sie wütend, und Papa musste gehen.«
»Und was habt ihr dann gemacht? Ihr konntet doch nirgendwohin.«
»Keinen Platz zum Schlafen und keine Arbeit für Papa. Da haben wir dann angefangen herumzuziehen.«
»Habt ihr solche Sachen schon gemacht, als ihr noch in Göteborg gewohnt habt?«
»Nein. Man darf so was ja eigentlich nicht machen. Aber Papa sagt: Not kennt kein Gebot.«
Frida lehnte sich auf der unbequemen Plastikbank zurück und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Der Kaffee war ausgetrunken, Alianas Glas war leer.
»Glaubst du, dass du zu dem Häuschen zurückfindest?«
»Wenn man auf die Straße kommt, sieht man ein paar Gärten und einen Stall und ein Schild, und dann fährt man nach rechts und immer geradeaus«, sagte Aliana, als ob es sich um die klarste Wegbeschreibung der Welt handelte.
Während sie in der Februardämmerung über die E6 nordwärts fuhren, überlegte Frida, welche Alternativen ihr zur Verfügung standen. Sollte sie nach Hause zu Mona fahren und Aliana dort abliefern? Nein, das würde nicht funktionieren. Mona gehörte nicht zu den Menschen, die sofort einsprangen, wenn man Hilfe brauchte. Alles, was aus ihrem Blickwinkel uneigennützig war, schien sie im Grunde auch nicht zu interessieren. Vielleicht Cilla? Nein, das war natürlich unmöglich. Vielleicht konnte sie Cillas Schwester aus der Wohnung in Strömmensberg werfen und ganz einfach verlangen, sie zurückzubekommen? Allerdings klang ein Konflikt mit einem unter Depressionen leidenden Menschen nach einer noch schlechteren Idee.
Doch bloß planlos herumzufahren und nach einem Haus in Ullared zu suchen, war auch eine ziemlich gewagte Strategie. Vielleicht sollten sie sich ein Motelzimmer nehmen und über eine bessere Lösung nachdenken? Wie konnte sie im Übrigen sicher sein, dass Aliana die Wahrheit sagte? Vielleicht hatte sie alles erfunden? Im schlimmsten Fall könnte Frida womöglich wegen Kindesraubs oder eigenmächtiger Vorgehensweise belangt werden, nachdem sie Aliana nicht der Polizei oder den Sozialbehörden übergeben hatte. Peter hätte gewusst, was zu tun wäre. Frida überlegte, was er wohl gesagt hätte. Sie warf einen Blick auf das Mädchen auf dem Beifahrersitz. Sie war mit ketchupverschmiertem Mund eingeschlafen; die Mütze war verrutscht. Wie klein und dünn sie war. Wie viel Angst sie gehabt haben musste. Jetzt atmete sie tief und entspannt, und ein dünner Speichelfaden rann aus dem kleinen Kindermund.
Was hätte Peter getan? Ein glasklarer Gedanke fuhr durch ihren Kopf: Er hätte eine Story daraus gemacht. Peter hätte die zu Tränen rührende, ergreifende und spektakuläre Geschichte von dem neunjährigen Mädchen, das von seinem Vater und seinen Brüdern gezwungen wurde, an den Klauereien der Familie teilzunehmen, ganz klar zum Anlass genommen, einen weiteren fetten Artikel in der Zeitung zu veröffentlichen, mit Verfasserzeile und allen Schikanen. Er hätte den Wohltäter und Wahrheitssucher gespielt, Folgeartikel über den Weg der Taschendiebfamilie durch Schweden verfasst, über die Mutter und die Schwestern, und dann … dann hätte er Aliana vermutlich der Polizei oder dem Jugendamt übergeben. So war er nun mal. War das eigentlich anziehend?
Trotz allem entschied sich Frida, es mit Ullared zu versuchen, und bog außerhalb von Varberg auf die Landstraße 153 ab. Die Straße war gerade, und der Wind blies heftig über das offene Gelände. Dicht hintereinander fahrende Lastwagen, die von ihren Liefertouren zum ein paar Kilometer entfernt liegenden Kauftempel zurückkehrten, kamen unangenehm dicht an die Mittellinie heran. Frida musste sich sehr konzentrieren, um den Wagen auf der Straße zu halten. Das Gelände ringsum verwandelte sich in eine Hügellandschaft, und die Straße wurde enger und kurviger. Als sie fast in Rolfstorp waren, stoppte Frida den Wagen an einer Bushaltestelle und weckte Aliana vorsichtig.
»Jetzt sind es nur noch ein paar Kilometer bis Ullared. Wenn das der Weg ist, den ihr gekommen seid, erkennst du vielleicht etwas wieder? Ich fahre langsam, dann musst du sagen, ob dir irgendwas bekannt vorkommt. Okay?«
Aliana nickte schlaftrunken, vom Essen und von der Wärme im Auto noch ganz benommen.
Frida fuhr wieder los und hatte sofort einen großen Lastwagen im Nacken, der die Lichthupe betätigte. Sie beschleunigte ein wenig, um den Fahrer bei halbwegs guter Laune zu halten. Er machte weiter Lichtzeichen, obwohl sie siebzig fuhr, wie die Verkehrsschilder es vorschrieben.
»Na, dann überhol mich doch, du Idiot!«, fluchte Frida in sich hinein.
Drei entgegenkommende Lastwagen, einer mit stark blendenden Extralichtern, und ein blinkender Lastwagen hinter ihr machten Frida unsicher.
»Da vorne hab ich meine Haarbänder bekommen«, sagte Aliana beiläufig.
Frida überhörte sie beinahe. Es kam ihr vor, als wären es nur noch zwanzig Zentimeter, die sie von den entgegenkommenden Lastwagen trennten. Hier galt es, den Wagen bloß auf der Straße zu halten. Außerdem war sie verkatert. Jetzt fehlte nur noch eine Polizeikontrolle. Plötzlich drang Alianas Bemerkung in Fridas Hirn ein.
»Was hast du gesagt?«
»Wir haben da eingekauft. In dem Laden da hinten.«
»Du meinst, wir sind jetzt nahe beim Haus?«
»Ich weiß nicht, wie nahe es ist, aber da sind wir immer reingefahren«, sagte Aliana und zeigte nach hinten.
Frida passte einen Waldweg ab, wendete im dunklen Gehölz und bog in entgegengesetzter Richtung wieder auf die Landstraße 153 ein. Aliana wies ihr die Richtung über einen trostlosen Schotterweg, und sie passierten ein paar Briefkästen an einem Gestell, einen Sicherungskasten, einen überwucherten Haufen mit Bauholz und ein verrostetes Autowrack. Dann kamen sie an einem kleinen Hof mit Stall, einem Gartengrundstück, einigen Häusern, einem Hundezwinger und ein paar Sommerhäuschen vorbei. Das Licht von der Landstraße war nicht mehr zu sehen. Nur Dunkelheit und Bäume. Sie bogen nach rechts ab, kamen an einem Lagerhaus der Armee vorbei, dann gab es wieder nur Wald.
»Bist du sicher, dass wir hier richtig sind?«
»Ich glaube schon. Noch etwas weiter«, sagte Aliana.
Der Weg endete. Frida hielt an, stellte missmutig den Motor ab und seufzte entnervt. »Aha. Und was machen wir jetzt?«
»Bist du böse?«
»Nein, ich wüsste nur gern, was wir jetzt tun sollen.«
»Vielleicht laufen?«, schlug Aliana vor.
Nach ein paar hundert Metern, die sie über einen matschigen Forstweg gingen, öffnete sich zwischen den hohen Fichten eine Lichtung mit einem kleinen Häuschen. Im Küchenfenster war schwaches Licht erkennbar. Vor der Tür stand ein Kinderwagen. Frida blieb auf der Treppe stehen, während Aliana in das kleine Sommerhäuschen lief und von Ermahnungen und klagendem mütterlichem Weinen in einer fremden Sprache begrüßt wurde.
Frida war mit dem Wagen etwas zurückgefahren, um wieder Handyempfang zu bekommen. Der Einzige – so hatte sie überlegt –, der ihr jetzt einen guten Rat geben könnte, war Åke. Es fiel ihm schwer, die ganze Geschichte zu verstehen, doch nachdem er nach und nach die Einzelheiten begriffen hatte, bat er sie um eine Viertelstunde Bedenkzeit. Als Frida wieder anrief, fragte er, ob sie auch sicher sei, dass die Familie eine Aufenthaltsgenehmigung hatte und es sich nicht um versteckte Flüchtlinge handelte.
»Das Mädchen sagt, dass sie eine Genehmigung hätten. Ob es stimmt, weiß ich nicht, aber sie haben sich ja frei bewegt, sind mit dem Zug gefahren und waren im Einkaufszentrum.«
»Und warum verstecken die sich dann in so einem abgelegenen Sommerhaus?«
»Wahrscheinlich weil sie Kriminelle sind. Zumindest die Männer in der Familie. Die Frauen sind wohl nur dabei, sitzen herum und warten.«
»Wenn das stimmt, dürfte uns vermutlich nichts hindern«, sagte Åke.
»Hindern? Woran?«
»Haben Sie nicht neulich Ihr altes Sommerhaus ausgeräumt?«
»Ja …?«, erwiderte Frida.
»Bringen Sie sie dorthin.«
Es hatte einer gewissen Überredungskunst bedurft, der alten Mutter sowie Alianas Schwester Zana die Idee schmackhaft zu machen. Schließlich hatten sie jedoch eingesehen, dass es keine andere Alternative gab, als die sich einzig bietende Gelegenheit zu ergreifen. Jetzt saßen sie im Wagen und fuhren auf der Landstraße 41 in Richtung Borås. Der alte Volvo aus Småland war erfüllt von einer anderen Sprache, von neuen Gerüchen und Geräuschen. Die Mutter saß hinten und schlief mit röchelnden Atemzügen. Zana, mit der quengeligen Trine auf dem Schoß, unterhielt sich lauthals mit Aliana und schien sie dafür verantwortlich zu machen, dass ihr Vater und die anderen festgenommen worden waren. Ein leichter Geruch nach Schweiß, Nervosität, Essensdünsten und Kindernahrung wirbelte durch das altmodische Ventilationssystem des Wagens. Zana hatte ihrem Vater einen Brief geschrieben und ihn auf dem Tisch liegen lassen, die Hälfte des Geldes aus dem Schrank genommen – achttausend Kronen – und den Schlüssel zurück in den Blumentopf gelegt, wo sie ihn einst gefunden hatten. Vielleicht würde man die Männer schon heute freilassen, vielleicht kämen sie auch für längere Zeit nicht zurück.
Frida rief Agnes an und fragte, ob es in Ordnung sei, wenn heute Nacht ein paar Gäste im Redaktionsraum schliefen. Solange es sich nicht um wilde junge Männer handelte, würde es sicher gehen, erwiderte Agnes. Das konnte Frida garantieren. Als sie in Borås auf die Landstraße nach Jönköping abbogen, fragte sich Frida, worauf sie sich da eigentlich eingelassen hatte.
Åke kam sich etwas albern vor, als er bei Hemköp in Eksjö vor dem Regal mit Windeln stand. Er wusste ja nicht mal, welche Größe sie haben sollten. Und was sollte er sagen, wenn jemand fragte? Dass er Opa geworden war? Oder dass er einer jungen Frau begegnet sei, die ihm ein Kind geschenkt habe? Als ob das irgendjemand glauben würde. Ach, er würde einfach sagen, wie es war; dass er für ein paar entfernte Bekannte einkaufte. Sehr entfernt, könnte man wohl sagen, zumal er sie nie getroffen hatte. Aber da er Frida nun mal diese Lösung vorgeschlagen hatte, musste er jetzt ja auch zur Stelle sein. Er kaufte Frühstück und Grundnahrungsmittel ein, etwas Obst und Gemüse, kam auf die Idee, dass sie wahrscheinlich Muslime waren und kein Schweinefleisch aßen, und entschied sich stattdessen für Lammfleisch, Fischfrikadellen, Käse und Kindernahrung. Wie wenig er doch über solche Dinge wusste. Er kaufte außerdem Limonade und Süßigkeiten. Und Toilettenpapier und Kreide.
Nach der Versammlung im Missionshaus hatte er wie ein Stein auf dem Redaktionssofa geschlafen, in der folgenden Nacht aber hellwach zu Hause in Eksjö im Bett gelegen. Er hatte schreckliche Angst und einen Druck auf der Brust verspürt. Er schämte sich für seine Offenheit gegenüber Frida. Wie furchtbar jämmerlich er ihr doch jetzt vorkommen musste. Ein alter Kerl – verlassen, versoffen, verheult. Behelligt eine arme Praktikantin mit seinem Kummer und seinen Sorgen – wie tief konnte ein erwachsener Mann eigentlich sinken?
Gleichzeitig verspürte er echte Erleichterung über die gelungene Versammlung. Es war ihm geglückt, den Fokus von den eventuellen Fehlern der Zeitung auf die tatsächlichen Probleme zu verlagern. Sogar Lagerwall schien danach recht erleichtert. Zufrieden wäre sicherlich zu viel gesagt, aber immerhin war er nicht ungemütlich geworden. Er hatte etwas davon gesagt, dass Engagement die Grundlage jeder Veränderung sei. Und so gesehen gab es ja durchaus neue Hoffnung. Die Zeitung hatte am Tag danach auch anständig ausgesehen. Hansson von der Redaktion aus Vetlanda hatte die anklagenden Äußerungen während der Zusammenkunft nur kurz gestreift und sich auf die Ambitionen der neu gebildeten Arbeitsgruppen konzentriert, die neue Leute in den Ort locken und den Platz auf der Landkarte zurückerobern wollten. Ein großes Foto von Eiwor, Skogby, Björkman und Mats’ Eltern auf der Treppe des Missionshauses nahm den Hauptteil der Seite ein. Im Hintergrund war Dani zu erkennen, der breit grinste und das V-Zeichen machte.
Vielleicht spürte er irgendwo inmitten seines Unbehagens auch eine kleine Erleichterung, dass er ertappt und bloßgestellt worden war. Jetzt war alles gesagt, lag offen und ungeschützt da. Der letzte Panzer hatte einen Riss bekommen, und jetzt war er in all seiner Erbärmlichkeit sichtbar. Nur schade, dass Frida es abbekommen hatte. Das war ungerecht. Doch sie war die Erste, die ihn gefragt hatte, und in diesem Moment war er wie ein zum Bersten gefüllter Stausee gewesen.
Am Freitagabend war es ihm gelungen, nach zwei Bier aufzuhören. Vermutlich hatte er deshalb nicht geschlafen und außerdem diese scheußliche Angst verspürt. Die Abstinenz, offenbar. Am Samstag hatte er ein großes Steak und ein Sixpack Leichtbier gekauft. Zum ersten Mal seit Monaten würde er den Herd putzen, sich ein richtig gutes Essen kochen und nur Leichtbier trinken. Das hatte er so entschieden.
Er hatte gerade die Ako-Pads hervorgeholt und die erste Dose geöffnet, als Frida anrief.
Zuerst hatte er überhaupt nicht verstanden, wovon sie redete, doch dann begriffen, dass sie nicht einfach irgendwas erfunden hatte. Es ging um eine völlig unfassbare Geschichte, die aber offensichtlich der Wahrheit entsprach. Das Seltsamste von allem war, dass Frida ihn, und nur ihn, um Hilfe gebeten hatte. Wie sollte er das verstehen?
Er wusste noch immer nicht, ob es ein guter Vorschlag gewesen war, doch der Ausdruck »Not macht erfinderisch« hatte irgendwo in seinem Hinterkopf geklungen, und er hatte gedacht, dass dies vielleicht ein Zeichen war. Wenn die Familie nun mal keinen festen Wohnsitz hatte und Bruseryd mehr Einwohner brauchte, wäre er ja ein Idiot gewesen, wenn er den Zusammenhang nicht erkannt hätte.
Der Gedanke, was wohl die Ortsbewohner davon hielten, eine Familie von Taschendieben in ihrer Nachbarschaft aufzunehmen, war ihm erst viel später gekommen, als es zur Umkehr schon zu spät war. Aber den Frauen konnte man ja wohl nicht anlasten, was ihre Männer taten? Oder doch? Nach Fridas Beschreibung hatte er geraten, dass es sich um Kosovo-Albaner handelte. Er erinnerte sich an einen Artikel in der DN vor ein paar Jahren, in dem beschrieben wurde, dass diese Volksgruppe bei Taschendieben überrepräsentiert war. Wie konnte so etwas sein? Es lag doch wohl nicht an der Kultur an sich? Stahlen sie wirklich, auch wenn sie eine Arbeit und einen festen Wohnsitz hatten? Vielleicht wurde ja die Lebensanschauung bei solchen Fragen ersichtlich, dachte er, als er nun an der Kasse stand und seine Waren aufs Band legte.
Die Kassiererin lächelte und tippte die Artikel ein. »Erwarten Sie ein Enkelkind?«, fragte sie freundlich.
Åke zögerte, nickte dann aber. Mit leichtem Stolz.
Als Frida am Vormittag in die Redaktion herunterkam, war Agnes schon da. Sie war mit einem Frühstückstablett zu den Gästen heraufgekommen. Aliana hatte gerade aufgegessen und das Make-up ausprobiert, das sie am Abend zuvor in dem Päckchen von Frida bekommen hatte. Jetzt saß sie kichernd mit Agnes zusammen und führte Kartentricks vor, auf die Agnes jedes Mal aufs Neue hereinfiel. Die Mutter saß auf dem Sofa, trank Kaffee und aß ein Ei. Sie wirkte apathisch und schien Alianas rührende Bemühungen, Agnes zu Fall zu bringen, überhaupt nicht zu bemerken.
Frida wurde klar, dass sie mit der Mutter noch gar nicht direkt gesprochen hatte. Sie setzte sich neben sie aufs Sofa und suchte Augenkontakt. Es klappte nicht. Nach einer Weile gab sie auf und bat Aliana zu übersetzen.
»Kannst du deine Mama fragen, ob sie so schnell wie möglich in das neue Haus will oder noch warten möchte?«
Aliana übersetzte. Die Frau röchelte und antwortete mit eintöniger Stimme.
»Mama sagt, dass sie des Wartens müde ist. Sie hat schon seit Jahren nur gewartet und gewartet.«
Agnes mischte sich ein. »Sie muss zu einem Arzt. Anscheinend ist sie schon länger krank. Es könnte eine Lungenentzündung sein.«
»Darum kümmern wir uns, wenn sie sich erst mal eingerichtet haben. Außerdem hat es keinen Sinn, sie an einem Sonntag in die Notaufnahme zu bringen.«
»Im Sommerhaus gibt es keinen elektrischen Anschluss. Haben Sie das bedacht?«, sagte Agnes mit neutraler, ruhiger Stimme.
»Åke hat daran gedacht«, erwiderte Frida. »Er will sich von einem Bekannten ein benzinbetriebenes Stromaggregat leihen. Sturmfeuer hat er das genannt. Und eingekauft hat er auch.«
»Åke? Sieh mal einer an. Er kann ja doch, wenn er will. Was ist denn mit dem Vater und den Brüdern? Weiß man, wo die sind?«
Aliana sammelte die Karten ein und erwiderte: »Ich hab drei SMS geschickt, aber keine Antwort. Vielleicht dürfen sie dort keine Handys haben. Aber ich habe geschrieben, dass wir in Småland sind. Sie sollen nachkommen.«
»Aber ihr könnt doch nicht bloß da im Wald sitzen und warten«, sagte Agnes und zog eine Karte aus Alianas Stapel.
»Wie heißt deine Mutter?«, fragte Frida.
»Aferdita«, sagte Aliana. »Das bedeutet Morgengrauen.«
Frida streckte der abgewandten Frau die Hand entgegen. »My name is Frida. Herzlich willkommen, Aferdita.«
Eine schwache Regung im Gesicht und ein Zucken im Mundwinkel, dann folgte ein Satz auf Albanisch.
»Sie möchte das Sommerhaus sehen.«
Åke hatte das Sommerhaus nach einer Beschreibung von Frida selbst gefunden. Das Stromaggregat arbeitete bereits, und langsam kam Wärme in den Radiator. Ein schwacher Geruch nach verbranntem Staub machte sich im Haus breit, und Åke öffnete die Fenster, um den Raum zu lüften. Der Kühlschrank war problemlos angesprungen, und der Herd schien zu funktionieren. Eine ganze Weile hatte er das Wasser laufen lassen: Zu Beginn war es braun und stinkend, klärte sich aber nach einer Weile. Alles in dem kleinen Haus war alt und abgenutzt, aber ansonsten sauber und aufgeräumt. Åke war einmal um das Haus herumgelaufen und hatte einen Blick in den Keller geworfen. Dort standen einige alte Fahrräder. Vielleicht könnte er ein paar davon reparieren, damit die Leute nicht völlig isoliert waren. Niemand in der kleinen Frauenrunde hatte offenbar einen Führerschein. Wahrscheinlich gab es für Taschendiebstahl auch keine längere Strafe, sodass die Männer sicher bald zurück wären. Ob das gut oder schlecht war, wusste er nicht. Er war neugierig. Das war er wirklich. Wenn er genau überlegte, kannte er nicht einen einzigen Einwanderer. Obwohl er an Politik und der Entwicklung der Gesellschaft interessiert war, hatte er noch niemals jemandem helfend zur Seite gestanden. Umso besser fühlte es sich jetzt an. Die Frage war nur, ob er das Richtige tat. Aber da er jetzt schon mal die Verantwortung übernommen hatte, wollte er auch dafür einstehen.
Er packte ein paar Einkäufe in den Kühlschrank und stellte den Rest auf die Arbeitsplatte, damit sie sehen konnten, was er besorgt hatte. Er hoffte, dass die Windeln passten. Er hatte auch eine Pflanze gekauft; eine haarige Topfpflanze mit kleinen, blaulilafarbenen Blüten. Er dachte, dass sie das inmitten des Elends vielleicht ein bisschen aufheitern könnte. Er stellte den Plastiktopf auf eine Untertasse und gab Wasser dazu, so wie es in der Pflegeanleitung stand. Sonst könnten die Blätter verfaulen, stand da; das Wasser musste von unten kommen. Zum Schluss setzte er Kaffee auf. Er hatte die Filtertüten vergessen, legte aber stattdessen etwas Küchenpapier in den Filter. In der Küche breitete sich das gemütliche Blubbergeräusch der Kaffemaschine aus, und der Geruch nach verbranntem Staub wurde bald von frischem Kaffeeduft verdrängt.
Trine hatte ihr Essen verputzt und döste jetzt draußen im Kinderwagen. Aliana war wie ein Wirbelwind durch das Haus gerast und hatte das Sofa und die Betten probiert, sich aber jetzt in Stickans altem Zimmer mit Papier und Kreide an den Schreibtisch gesetzt. Zana hatte ihre Schminksachen vor dem einzigen großen Spiegel im Haus aufgereiht und bereits überprüft, ob Föhn und Lockenstab funktionierten. Aferdita hatte schweigend ihren Kaffee getrunken und dann darum gebeten, hinausgehen zu können. Jetzt stand sie schon eine ganze Weile dort draußen und blickte auf die überwucherte Wiese, die einmal fruchtbares Land gewesen war. Nachdem die Heizung lief, das Essen eingeräumt und sogar der Fernseher angeschlossen war, kamen sich Frida, Åke und Agnes langsam etwas überflüssig vor. Frida und Agnes spülten das Kaffeegeschirr ab, und Åke ging hinaus und stopfte ein paar Fahrräder ins Auto, um sie zum Flicken zu Björkman zu bringen. Dann kam er wieder rein und rief Aliana.
»Ich glaube, deine Mutter möchte etwas. Geh doch bitte mal raus und hilf ihr.«
Aliana stand widerwillig von ihrer Zeichnung auf, und Frida folgte ihr nach draußen. Die Mutter sah im Tageslicht ganz anders aus, so als hätte sie plötzlich ein bisschen Farbe im Gesicht und einen schwachen Anflug von Lebendigkeit in den Augen.
»Sie fragt sich, wie die Erde hier ist«, sagte Aliana.
»Die Erde?«, erwiderte Frida. »Die ist hier sehr gut. Hier wurde überall Gemüse angebaut. Meine Großmutter und ihr Bruder haben alles Mögliche an Gemüse gezüchtet.«
Aliana übersetzte, und die Frau lauschte mit einer Aufmerksamkeit, die vorher nicht da gewesen war. Dann eine weitere Frage.
»Gab es hier auch Tiere?«, fragte Aliana.
»Hühner, glaube ich. Vielleicht auch eine Kuh«, sagte Frida.
Aliana übersetze wieder, und Frida sah, wie eine Träne langsam an Aferditas runzliger Wange herabrann.
»Meine Mama liebt Kühe.«
»Na so was.«
»Ich auch«, sagte Aliana.
»Das weiß ich doch«, erwiderte Frida lachend.
In der Nacht lag Frida wach. Sie dachte an Jannes Angebot. Alingsås. Nur ungefähr vierzig Kilometer von zu Hause entfernt. Pendelabstand. Dann könnte sie dieses Loch hier hinter sich lassen. Hässlich, ausgestorben und verlassen. Keine spannenden journalistischen Herausforderungen. Gelähmte Menschen ohne Glauben an die Zukunft. Alingsås. Sie sollte wirklich zusagen. Sie bekäme Einblick in eine völlig andere Arbeitsweise, würde neue Menschen kennenlernen, könnte zu Hause im eigenen Bett schlafen – vorausgesetzt, sie würde Cillas Schwester loswerden – und jedes Wochenende in Göteborg ausgehen und sich amüsieren. Dann wäre all das hier vorbei, und sie könnte Bruseryd als kurze Zwischenstation betrachten, das Ganze auf eine Anekdote über den von Gott verlassenen Praktikumsplatz reduzieren. Als sie endlich einschlummerte, hatte sie ihren Beschluss gefasst.
Um halb acht klingelte der Wecker. Frida war immer noch todmüde. Sie steckte zwei Brotscheiben in den Toaster, schaltete den Wasserkocher ein und holte einen Teebeutel, eine Tüte Milch, etwas fettarmen Käse und eine Tomate. Sie erschrak, als sie sich selbst im Spiegel an der Tür anblickte und dunkle Ringe unter den Augen entdeckte. Sie untersuchte ihr Gesicht nach Anzeichen von Falten. Vielleicht sah sie jetzt etwas älter aus als bei ihrer Ankunft. Dreiundzwanzig war ein komisches Alter. Etwas in ihrem Innern wollte schon jetzt gerne eine Antwort – wo sie landen würde, ob sie Erfolg hätte, wem sie vielleicht begegnete und ob sie eine Familie und Kinder haben würde? In gewisser Weise wollte sie unbedingt die Bilanz im Voraus einsehen und dieser nervtötenden Ungewissheit entgehen. Doch gleichzeitig gab es viele, die ihr rieten, das Jetzt zu genießen, die Zeit, in der sie noch frei war und nicht mit einem Job, einer Familie und einem Kredit festsaß. War man ein hoffnungslos langweiliger Mensch, wenn man die Sicherheit der Freiheit vorzog?, dachte Frida.
Nachdem sie ihren Tee ausgetrunken hatte, rief sie im Hochschulsekretariat an und sprach mit der für die Stundenpläne zuständigen Frau. Janne sei noch nicht eingetroffen. Er käme in einer Viertelstunde. Frida überlegte, ob sie einfach eine Nachricht hinterlassen und zusagen sollte, entschied sich aber, später zurückzurufen. Als sie auflegte, traf eine SMS von Aliana ein: »Haben supergut im Sommerhaus geschlafen. Hoffe, du kannst später kommen, damit ich dir noch ein paar Tricks zeigen kann. Liebe Grüße, A.« Während sie die SMS durchlas, piepte das Handy erneut. Eine Nachricht von Åke: »Guten Morgen. Die Zehn-Uhr-Konferenz ist auf halb elf verschoben. Verpassen Sie sie nicht. PS: Wie sehr sich doch alles verändert hat, seitdem Sie hier sind. Bis später. Åke.«
Janne Ahlsén meldete sich vor Ablauf der Viertelstunde. »Ich hab gehört, dass Sie zusagen! Das gibt Ihnen doch bestimmt Auftrieb«, sagte er und versuchte, enthusiastisch zu klingen.
»Ich hatte es vor«, erwiderte Frida. »Ich hatte es wirklich vor, aber … Tatsache ist, dass ich es schon bereue.«
»Wie bitte? Hallo? Sind Sie verrückt?«
»Vermutlich, aber ich habe das Gefühl, dass ich hier jetzt nicht weg kann. Es gibt hier ein paar Leute, die mich seltsamerweise brauchen. Sorry.«
»Und ich habe mich so abgemüht, diesen Platz zu ergattern«, sagte Janne.
»Geben Sie ihn doch Cilla. Sie scheint mit ihrem jetzigen ja nicht so zufrieden«, erwiderte Frida.
Janne gab ein gespieltes, verlegenes Lachen von sich. »Das liegt wohl eher an anderen Dingen«, sagte er. »Ich hoffe, Sie wissen, was Sie tun. Kommen Sie bloß hinterher nicht an und beklagen sich.«