7

Sie lief über die Hauptstraße und sah all die leeren Häuser mit ihren schmutzigen, dunklen Fenstern und den verlassenen, unordentlichen Gärten. Es war still, und sie war allein und barfuß. Sie blieb an den eingefallenen, durch Feuer beschädigten Gebäuden der ehemaligen Metallfabrik stehen und blickte zu dem großen Weiher hinüber. Sie sah, wie das Wasser stieg. Es fing an zu regnen, und das Wasser stieg noch mehr an. Erst trat es über die Uferböschung, lief dann über die Straße, türmte sich schließlich zu einer Woge auf und preschte auf die Anhöhe bei der Fabrik zu, wo sie stand. Sie spürte die Angst, stand aber wie festgewachsen da und konnte ihre kalten, nassen Füße nicht bewegen. Die Woge kam näher und näher, wuchs immer weiter an. Sie sah Frauen und Männer zwischen den Häusern hin- und herlaufen und Sandsäcke und Dynamit zum Damm tragen. Sie würden es nicht schaffen. Niemand konnte einen Weiher aufhalten, der sich in ein Meer und eine Wand aus Wasser verwandelte, alles überschwemmte, ertränkte und ausradierte. Es war bereits zu spät. Die einzig offene Frage war, wie es sich wohl anfühlte zu ertrinken. Ob es wohl sehr kalt war? Dann ein Funke von einem Streichholz, ein aufflackerndes Licht, der Geruch nach Schwarzpulver und plötzlich … eine Explosion! Die Woge behauptete sich, stagnierte, mit einem Mal erstaunt darüber, dass die äußere Begrenzung nicht mehr existierte. Plötzlich gab es Platz, die Woge konnte in Richtung Ortschaft abfließen, bahnte sich ihren Weg und riss alles mit, was sich am Rand des Baches befand, wirbelte Bäume, Schrott und Gerümpel umher und durchspülte die Tümpel und Becken, in denen das Wasser seit Jahren still gestanden hatte. Plötzlich waren Holz und Glas im Wasser. Überall Splitter mit scharfen Kanten. Sie blickte sich um und sah die Türen des Missionshauses im Wind hin- und herschlagen, während die umgebenden hohen Bäume umstürzten, sodass es dröhnte und krachte.

Åke, in die weiße Kluft eines Küchenchefs gekleidet, trat auf die Treppe heraus. Er hielt ein großes Messer in der Hand. An der Klinge war Blut. Annika und Mats, angezogen wie Kellner, standen direkt hinter ihm. Sie schüttelten den Kopf und lachten sie aus. Eine weitere Person, es musste Harriet sein, kam wie ein Vielfraß auf sie zugeschwankt und zischte zwischen den Zähnen hervor: »Das hast du uns angetan.« Ein plötzliches Zucken im Körper. Sie konnte nicht einfach dort stehen bleiben. Es war nicht auszuhalten. Sie musste fliehen …

Auf der anderen Seite war das Wasser. Sie war eingeklemmt, saß fest, stand abgedrängt. Langsam ging sie auf die schnaubende Harriet zu und flüsterte: »Gib mir deine Kleider. Wenn du mir nicht deine Kleider gibst, kann ich deine Arbeit nicht machen.« Rasender Wutanfall, gefletschte Zähne und Geknurre, doch schließlich nahm Vielfraß-Harriet ihre Schürze ab. Sie knüllte sie zu einem Ball zusammen und warf sie Frida zu, die sie auffing und sich wie einen Schild umlegte, eine zusätzliche Haut. Jetzt trug sie Nachthemd und Schürze, hatte aber immer noch nackte und nasse Füße. Åke gab ihr das Messer. »Hab keine Angst«, sagte er. »Wenn du es schnell machst, tut es nicht weh.« Sie stand auf der Treppe des Missionshauses, und als sie sich umdrehte, sah sie alle Leute auf sich zukommen – Skogby, Björkman, Eiwor, Agnes und viele andere Gesichter, die sie zwar kannte, deren Namen sie aber noch nicht wusste. Sie hörte Sprechchöre murmeln, konnte aber die Worte nicht verstehen. Sie verstärkte den Griff um das Messer, hielt es schützend vor sich und hörte sich selbst rufen: »Was wollt ihr von mir?« In kalten Schweiß gebadet wachte sie auf, ihr Puls lief auf Hochtouren, und das Bettzeug lag in einem Haufen auf dem Boden.

Eiwor Svantesson trank immer zwei Tassen starken Kaffee, bevor sie das Frühstück anrichtete – zwei Scheiben Brot mit Leberpastete und eingelegten Gurken und eine Schale Erdbeerjoghurt mit Müsli. Dazu die dritte Tasse, schwarz, mit zwei Stück Zucker. Und dann die Zeitung. Sie fühlte sich nur wie ein halber Mensch, wenn sie, bevor sie zu ihrem Job in der Versicherungsgesellschaft in Eksjö aufbrach, das Smålandsbladet nicht gelesen hatte. Heute wollte sie nur den halben Tag arbeiten, da einige Vorbereitungen für die abendliche Versammlung zu treffen waren. Auf alle Fälle brauchten sie Kaffee, Milchbrötchen und etwas Gebäck. Während der Arbeit wollte sie ein paar Kopien von der vorläufigen Tagesordnung und dem Artikel aus der Zeitung anfertigen. Eigentlich mochte sie es nicht, wenn Leute private Angelegenheiten in der Arbeitszeit erledigten, doch das hier war etwas anderes, das hier war eine Frage, die das Gemeinwesen im Ganzen betraf und alle anging. Insofern war es durchaus vertretbar, wenn solche Dinge ein bisschen Kopierpapier und Arbeitszeit kosteten.

Die Zeitungsannonce, die das Treffen ankündigte, war viel größer geworden, als sie zu hoffen gewagt hatte. Sie stand neben einer Schlussverkaufsanzeige der Damenmodeboutique Carlo in Eksjö; eine gute Platzierung also. Jetzt würden sicher noch mehr Leute kommen. Niemand hätte wohl gedacht, dass sie und Skogby einmal ein gemeinsames Treffen arrangieren würden. Eiwor hatte ihn nie gemocht. Sie hielt ihn für einen Emporkömmling, der sein Fähnchen nach dem Wind drehte und sich nur an seinen eigenen Gewinnaussichten orientierte. Seine Tierarztpraxis florierte zwar, doch das beruhte darauf, dass er durch seine Monopolstellung selbst von seinen besten Kunden schamlose Preise verlangen konnte. Sie hatten abgemacht, sich eine Stunde vorher zu treffen, um die Gestaltung des Abends zu planen. Das würde sicher interessant werden.

In den letzten Tagen hatte sie auch ein paar Mal Harriet am Telefon gehabt. Und natürlich wechselten sie immer ein paar Worte, wenn sie sich begegneten. Allerdings waren sie nicht so gut befreundet, dass Harriet jetzt jeden Tag ihrer Verzweiflung über die neue Praktikantin Luft machen konnte.

Eiwor hatte schon fast die zweite Brotscheibe mit Leberpastete gegessen, als ihr beinahe der Kaffee im Halse stecken blieb. Auf der Bruseryd-Seite war ein riesiges Bild von Gunnel, mit Steppmantel und Wolldecke, am Stein auf dem Acker. Jetzt hatte diese Praktikantin wohl vollkommen den Verstand verloren. Wie konnte sie so etwas machen? Alle wussten doch, dass Gunnel nicht reden wollte, und deswegen sprach auch niemand mit ihr. Es war so geschmacklos und unsensibel, dass Eiwor ihr Brot nicht aufessen konnte. Wie furchtbar für Gunnel. Das war wirklich der berühmte Tropfen. Die Kleine musste verschwinden.

In der Nacht hatte es geregnet. Die Straße war dunkel und nass. Frida versuchte, die Füße am weichen Straßenrand aufzusetzen, um diesem lautlosen, alles verschluckenden Gefühl von Asphalt unter den Joggingschuhen zu entgehen. Sie hatte viel zu viel angezogen; der dicht anliegende Baumwollpulli war schon schweißdurchtränkt, und sie spürte, dass sie ganz rot im Gesicht geworden war. Doch ihre Atmung wurde allmählich gleichmäßig, lange Züge, ein und aus. Streckenweise war es wirklich schön. An den Steigungen überkam sie zwar eine Art Nahtoderlebnis, doch auf gerader Strecke und leicht bergab ging es sehr gut. Laufen war eine unschlagbare Methode, das Gehirn durchzupusten und kommendem Stress zu begegnen, und gerade heute musste sie besonders ruhig und gleichzeitig hellwach sein.

Sie drehte eine Runde in die andere Richtung, zog die Mütze tiefer in die Stirn und hatte dabei das Gefühl, als würden die Leute hinter ihren Fenstern flüstern und sie beobachten. Obwohl es Vormittag war, wirkte die Dorfstraße gespenstisch. Wie hatten sich die Leute bloß an all die leeren Wohnhäuser gewöhnen können? An die schreiend leeren Schaufenster der aufgegebenen Geschäfte, an das einstmals großartige, doch nun zusammengefallene Gewächshaus, an die geschlossene Schule, die es mittlerweile sogar zu einem geschlossenen Café und geschlossenen kleinen Läden gebracht hatte, sowie an die völlig demolierten Geschäfträume der Bank? Sahen die Bewohner nicht selbst, wie kaputt ihre Ortschaft war?

Kurz vor Gunnels Stein bog sie ab; sie hatte für diese Runde keine Kraft mehr. Gunnel hatte den Text vorgelesen bekommen und nur ein paar kleine Änderungen vorgenommen. Frida war froh, dass sie auf einen professionellen Fotografen bestanden hatte. Das Foto war wirklich großartig und nahm auf der Seite richtig viel Platz ein, was für die Berichterstattung aus Bruseryd sonst eher ungewöhnlich war. Als sie heute Morgen vor dem Joggen die Reportage rasch durchgelesen hatte, hatte sie gedacht, dass die Geschichte wirklich fesselnd war. Sie lief ein Stückchen den unerträglich steilen Hügel in Richtung Härstorp hinauf und bog dann nach Osten ab, wo es wieder hinunterging und flacher wurde. Jetzt lag Mickes rotes Haus auf der linken Seite der Straße. Der Garten war verwildert und zugewachsen. Sie sah ein bläuliches Licht durch das Fenster der Erdgeschosswohnung scheinen. Hatte er ständig den Fernseher an? Als Frida näher kam, sah sie, wie er die Außentür öffnete und zur Straße und zum Briefkasten ging. Nahm er vielleicht ein spätes Frühstück ein? Frida wollte nicht, dass er sie so verschwitzt und mit gerötetem Gesicht sah, doch es gab keinen anderen Weg. Er blinzelte in ihre Richtung, schien sie zu erkennen, stand still und wartete, während er die Tageszeitung aus dem Briefkasten fischte. Wenn man beobachtet wurde, erschienen einem die Laufschritte immer viel schwerer als gewöhnlich. Frida zügelte ihr Tempo, versuchte sich unsichtbar zu machen und setzte gleichzeitig eine Miene auf, die hoffentlich so wirkte, als sei sie von der Anstrengung nur leicht berührt.

»Ist das Bruseryds Antwort auf Madonna?«, rief Micke, als sie gerade an ihm vorbeilaufen wollte.

»Wie bitte?«, fragte Frida.

»Na, Madonna ist doch immer draußen und läuft.«

»Das wär’s dann aber auch schon mit den Ähnlichkeiten«, schnaubte Frida und nahm seine Worte als Entschuldigung, um anzuhalten.

»Das kann doch niemals was bringen.«

»Natürlich bringt das was, ist aber verdammt anstrengend.«

»Ich glaube nicht an Bewegung.«

»Ach nein? Und woran glauben Sie dann?«

»Physischen Aufbau durch kosmische Energie und viel Ruhe«, erwiderte Micke todernst.

»Aber daran glaube ich nicht.«

»Ich auch nicht«, sagte Micke und grinste. »Aber es war ein netter Versuch, oder?«

»Na, es geht so«, erwiderte Frida und lachte.

Er stand einfach da und betrachte ihre roten Wangen und die Zipfelmütze. Sie überlegte, ob sie bleiben oder weiterlaufen sollte.

»Wie wird’s denn da heute Abend auf der Versammlung?«, fragte er schließlich.

»Keine Ahnung. Wahrscheinlich grauenhaft. Gehen Sie hin?«

»Nein, um Gottes willen. Ich hasse Versammlungen. Kaffeeklatsch ist nicht mein Ding. Ich kriege Platzangst«, sagte Micke und strich sich durch sein langes blondes Haar.

»Und was ist so Ihr Ding?«

»Tja, mein Ding … ich stopfe einen Elch in den Topf, gebe drei Flaschen Roten, etwas Knoblauch und ein paar schöne Pilze dazu, lasse alles einen Tag lang kochen, damit es schön zart wird, und lade am Freitag die schreibende Jogging-Madonna zum Essen ein. Ihr Ding?«

Frida spürte die Hitze wie einen Speer durch ihren Körper fahren. »Das könnte schon mein Ding sein, aber ich fahre am Wochenende nach Göteborg. Da kann ich nicht, leider.«

»Schade, dann werden’s nur der Elch und ich. Wir werden Whist zu zweit spielen. Dann vielleicht nächstes Wochenende?«

»Unbedingt. Wenn’s dann noch andere Tiere gibt, die Sie in den Topf stopfen können.«

»Ich lade den Zoo ein«, erwiderte Micke und ging wieder auf das Haus zu. »Viel Glück mit den Ureinwohnern heute Abend. Ertränken Sie sie in Kaffee, wenn sie zu lästig werden.«

»Mach ich. Viel Glück mit dem Elch.«

Frida winkte und lief widerwillig weiter. Ihr war gleichzeitig schwer und leicht zumute.

Åke hatte im Missionshaus alles zusammengestellt, was es an technischer Ausrüstung gab. Natürlich gab es keinen Beamer, der die Aufbereitung der Daten hätte projizieren können, doch in einem Lagerraum hatte sich ein alter Overheadprojektor gefunden, der es sicherlich auch tun würde. Er war persönlich zur Kommunalverwaltung gegangen, hatte Statistiken über den Bevölkerungsrückgang sowie die Geschäftsaufgaben im ganzen Hochland zusammengesucht und einen der Redakteure überredet, Grafiken anzufertigen und sie auf transparenten Bögen auszudrucken. Schon vorher hatte er gewusst, wie die Entwicklung aussehen würde, doch es wurde beinahe schmerzhaft, als er bemerkte, wie alle Kurven nur ständig nach unten wiesen. Es wäre wohl ziemlich sonderbar, wenn man über so eine Sache nicht schreiben konnte, ja, fast schon ein Dienstvergehen, nicht darauf aufmerksam zu machen. Er war jetzt noch überzeugter, dass der Artikel über Bruseryd keine Katastrophe im eigentlichen Sinne gewesen war. Die Leser waren nur diese Form der Ansprache, dass man sich also ohne verschönernde Umschreibungen ausdrückte, nicht gewohnt.

Åke schwankte zwischen einem Fünkchen neu erwachter Kampfeslust für Prinzipien, die er eigentlich für richtig hielt, und dem Wunsch, den einfachsten Weg aus allem herauszufinden, sich zu Hause aufs Sofa zu legen und die Angstgefühle zu lindern. Das Sofa. Wie sehr sie sich doch darüber gestritten hatten, dass er am liebsten dort sein Leben verbrachte. Im letzten Jahr hatte Marianne angefangen, ihm vorzuwerfen, dass er müde geworden sei und keine Ambitionen mehr habe. Sie war der Ansicht gewesen, er gebe sich mit zu wenig zufrieden und erledige nur das, was unbedingt nötig war. Er hatte geglaubt, nett zu sein, als er sich nicht länger für den Job verausgabte, sondern nach Hause zu seinem Familienleben eilte. »Welches Familienleben?«, hatte sie gefragt. »Wir machen ja nichts mehr zusammen«, hatte sie sich beklagt. »Wir gehen nie aus, haben nie Gäste, verreisen selten und reden über nichts Besonderes. Du sitzt hier bloß mit deinem Bier auf dem Sofa und beklagst dich über das schlechte Fernsehprogramm.« Er hatte gedacht, dass sie ein bisschen dankbar sein sollte. Er verdiente gut, hatte noch immer eine gewisse Position in der Gesellschaft und war nie untreu, zumindest nicht in den letzten Jahren. Er hatte ihr Gerede über Weiterentwicklung nicht begriffen, hatte nichts verstanden, als sie davon sprach, etwas aus dem Leben zu machen, bevor es zu spät sei. Was war falsch an dem Leben, das sie führten? Wer schafft es schon, sich ständig weiterzuentwickeln? Das Leben war nun einmal so, wie es war. So schlecht war es doch gar nicht, auch wenn die Lagerwalls Idioten waren und das meiste im Fernsehen grottenschlecht. Die Nachbarn ertrug er nicht, und was sollte er im Theater oder auf Vorträgen, wenn es doch zu Hause auf dem Sofa viel schöner war? Und ein paar Bier nach der Arbeit durfte man sich doch wohl gönnen? Er verstand nicht das Problem, und sie verstand ihn nicht. Zum Schluss dachte sie, dass er ein Teil des Problems sei. Sie wollte weiter, sich entwickeln und wachsen, bevor es zu spät war. Da hatten sie aufgehört, einander zu verstehen, und angefangen zu heucheln. Wie viele Jahre hatten sie mit dieser Diskrepanz gelebt? Mindestens fünf, vielleicht mehr. Wenn sie es nicht so verdammt eilig gehabt hätte, wäre ihre Ehe vielleicht noch zu retten gewesen. Obwohl er auf der anderen Seite immer der Ansicht war, dass sie falsch dachte, dass alles doch eigentlich ganz anständig war. Dass eher an der Zeit und allen anderen etwas nicht stimmte. Wie hätte es da ganz von allein besser werden sollen? Keine Rettung ohne Einsicht, pflegte sie zu sagen. Als er jetzt mit den transparenten Bögen in der Tasche auf dem Weg nach Bruseryd war, überkam ihn für einen kurzen Moment das scheußliche Gefühl, dass sie vielleicht recht gehabt hatte – er war müde und gleichgültig geworden, er hatte aufgegeben und wollte sich vor allem nicht ändern. Nein, niemand sollte verdammt noch mal ankommen und ihm erzählen, dass seine Art, das Leben anzupacken, falsch war. Vor allem nicht Marianne. Doch was, wenn sie recht gehabt hatte? Was wäre, wenn er zugehört hätte? Wie wäre es dann geworden? Es tat ihm bis in die Knochen weh, wenn er an ihre braune, sommersprossige Haut dachte, den weichen, runden Bauch und die hübschen Lachfalten. So warm und sanft. Und wie geschickt sie ihn früher angefasst hatte. Dass sie lieber allein lebte als mit ihm … Er spürte, wie ihm die Tränen kamen.

Åke versuchte, die Gedanken abzuschütteln, zum Tag zurückzukehren und sich auf die abendliche Versammlung zu konzentrieren. Die alte Angst kehrte zurück. Ihm grauste davor, auf Horden wütender Leser zu treffen und sich vorher nicht betäuben zu können, ohne dass sie es merkten. Er sollte nicht, er durfte nicht, aber zur Sicherheit war das Handschuhfach noch beladen. Inmitten des trägen Widerwillens konnte er irgendwo einen schwachen Adrenalinschub erahnen. Schlug das Herz vielleicht etwas schneller als sonst? Sicher war es die Nervosität, aber möglicherweise auch … die Spannung. Wann hatte er das zuletzt erlebt?

Das Missionshaus lag in der Mitte der Ortschaft, ungefähr fünfzig Meter von der Hauptstraße entfernt. Vor dem hellgelben hohen Gebäude gab es einen Wendehammer und eine ziemlich neu angebaute Rollstuhlrampe aus imprägniertem Holz. Das Dach war aus einfachem, dunkelgrauem Blech gefertigt, und die Doppeltür am Eingang war rot gestrichen. Frida war froh, dass Åke darauf bestanden hatte, die Räumlichkeiten eine Stunde vor der Zusammenkunft in Augenschein zu nehmen, sowohl um den Overheadprojektor zu kontrollieren, als auch um sich an den Ort zu gewöhnen, wie er gesagt hatte. Ein Teil ihrer aufgestauten Nervosität hatte sich gelegt, als sie verstanden hatte, dass Åke über einen Plan verfügte, wie der Kritik zu begegnen sei. Abgesehen von den Statistiken, die er bereits hervorgeholt hatte, hatten sie weitere Fakten zusammengetragen, die in jeder Hinsicht belegten, dass Fridas Bild von Bruseryd richtig gezeichnet war. Außerdem hatte sie ein paar Stunden damit verbracht, Magnus Nyström von Cartago Copy AB erneut hinterherzujagen und ihm einige abschließenden Fragen zu stellen. Zu guter Letzt hatten sie das zu präsentierende Material untereinander aufgeteilt. Åke würde zunächst Frida vorstellen, die in ein paar kurzen Sätzen berichten sollte, wie ihr Auftrag an besagtem Tag gelautet hatte. Darauf sollte Åke die Statistiken mit dem Overheadprojektor präsentieren und dann überleitend erklären, zu welchen Schlussfolgerungen Frida gelangt war, als sie ihre Arbeit gemacht und die Kolumne verfasst hatte. Frida war verwundert, dass er sie, wenn es darum ging, die Zeitung zu repräsentieren, als vollwertige Kraft ansah; dass er das Risiko einging, sie für sich selbst sprechen zu lassen. Wie konnte er nur darauf vertrauen, dass sie es schaffte? Wo sie doch so ein schlechtes Timing hatte und so oft die falschen Dinge sagte. Natürlich hatte sie versucht, sich aus der Sache herauszulavieren, doch da war Åke knallhart gewesen: Sie musste sich trauen, für das einzustehen, was sie geschrieben hatte, ansonsten war sie keine Journalistin.

Die Sicherheit des zuverlässigen Materials hatte Frida einen Hauch ruhiger werden und sie denken lassen, dass sie eigentlich ganz gut dastanden. Doch das war, bevor Åke nach draußen verschwunden war, um etwas aus dem Auto zu holen. Als er zurückkam, sah es aus, als ob er geweint hätte, und er stank nach Rasierwasser. Fridas Unruhe kehrte zurück. Wie sollte das bloß enden?

Jetzt war alles vorbereitet und startklar. Durchs Fenster sah Frida draußen die ersten Autos parken. Ein Teil der Leute hatte sich fein gemacht, andere kamen direkt von der Arbeit. Sie nickte dem jungen Typ von der Zeitungsredaktion in Vetlanda zu, der für die morgige Ausgabe einen Artikel schreiben sollte. Für die allgemeine Glaubwürdigkeit war es wichtig, dass sich jemand in dieser Sache angemessen neutral verhielt. Frida sah zum Kiosk auf der anderen Straßenseite hinüber und fragte sich, ob Dani wohl kommen würde. Und wie sah eigentlich Harriet aus? Hoffentlich nicht wie in ihrem Traum. Vor lauter Nervosität zog sich Fridas Magen zusammen. Gut, dass sie kurz vorher Eiwor und Skogby begrüßt hatten; immerhin hatte sich die Spannung in dieser Hinsicht etwas gelegt. Mats kam mit seinen Eltern. Die Mutter saß im Rollstuhl und brauchte Hilfe beim Aussteigen. Annika kam mit einem eigenen Wagen und hatte die beiden jüngsten Kinder bei sich. Frida erkannte Björkman und seine Frau, das Paar in den mittleren Jahren, das schräg gegenüber von Agnes wohnte, Skogbys Frau mit den langen, dunklen Zöpfen und einen älteren Mann aus der Anzeigenabteilung der Zeitung. Wohnte er hier? Auf der anderen Straßenseite sah sie, wie sich die Tür zum Kiosk öffnete. Dani würde also kommen. Ein silbergrauer Mercedes älteren Jahrgangs rollte auf den Vorplatz. Sie erkannte ihn wieder; er gehörte Lagerwall. Wie alt seine Frau aussah. Doch wer könnte Harriet sein? Frida ließ den Blick über die Besucher gleiten. Die Einzige, die altersmäßig passen könnte, war eine sehr kleine, mollige Frau, die die ganze Zeit lachte. Das konnte sie wohl kaum sein; die Frau sah alles andere als ausgebrannt aus. Jetzt waren es nur noch ein paar Minuten. Wo war Åke? Sie hatte ihn eine ganze Weile nicht gesehen. Sie eilte zu dem kleinen Lagerraum. Nein, da war er nicht. Sie blickte durchs Fenster, konnte ihn aber nicht entdecken. Vielleicht war er auf der Toilette? Frida stellte sich so hin, dass sie die Garderobe überblicken und ein Auge auf die Toilettentür halten konnte. Das rote Licht leuchtete. Dann ging die Tür auf, und Annika kam mit ihrem jüngsten Sohn heraus. Dort also auch nicht. Wenn er nur nicht zum Auto gegangen war. Plötzlich wusste sie, dass er rausgegangen war, und spürte, wie sich Panik in ihrer Brust ausbreitete. Sie konnte das hier nicht alleine machen. Das hatte er doch wohl nicht im Sinn gehabt? Sie hatte gemerkt, dass er nervös und gestresst war. Verdammt. Sie musste raus und ihn holen. Sie nickte kurz Mats und seiner Mutter im Rollstuhl zu und wäre draußen auf der Treppe fast mit Dani zusammengestoßen.

»Guten Abend, schöne Frau. Ich wollte ein paar Flugblätter für den Kiosk verteilen. Glaubst du, dass das eine gute Idee ist?«, fragte er.

»Nein«, sagte Frida, ohne stehen zu bleiben. »Wir reden später darüber.«

Åke hatte den goldfarbenen Volvo auf der Rückseite des Hauses vor einem winterlich trüben Rosenbeet geparkt. Gerade als Frida um die Hausecke lief, konnte sie schräg von hinten durch das Fenster an der Fahrerseite seine hellbraune Wildlederjacke erkennen. Sie sah eine Bewegung und verstand genau, was hier vor sich ging. Weder aus Rücksicht noch Besorgnis reagierte Frida nun, wie sie reagierte. Es war der pure Schrecken, der sie dazu veranlasste, die Beifahrertür aufzureißen und beinahe zu schreien.

»Entschuldigung, aber was treiben Sie da?«

Åke fuhr zusammen, starrte sie mit verängstigtem, gerötetem Blick an, riss hastig die Wodkaflasche herunter und ließ sie in seinen Schoß fallen.

»He, was treiben Sie denn bitte selbst? Ich brauchte einen Schnaps, das ist doch wohl nicht so seltsam. Ich bin gerade fertig«, sagte er, schraubte den Verschluss auf die Flasche und war bemüht, so auszusehen, als hätte er bloß noch einen weiteren Kaffee getrunken.

»Wie viel haben Sie getrunken?«

»Das geht Sie doch wohl nichts an«, erwiderte Åke.

»Doch, durchaus. Ich denke nämlich nicht daran, da drinnen mit einem Betrunkenen die Zeitung zu verteidigen.«

»Das denken Sie nicht? Jetzt gehen Sie aber zu weit. Schließlich sind wir Ihretwegen hier.«

»Na, besten Dank. Genau, was ich hören wollte«, entgegnete Frida. »Wenn Sie am Freitag nicht nach Hause gegangen wären, dann wäre das alles nicht passiert.«

»Das mag sein, aber reden Sie bitte nicht in diesem Ton mit mir. Ich bin immer noch ihr Vorgesetzter.«

»Eben. Zeigen Sie mir, dass Sie Ihre Position auch verdient haben. Die warten da drinnen auf uns, und Sie sitzen hier und saufen.«

»Ich saufe nicht! Ich habe einen Schnaps getrunken. Das ist verdammt noch mal ein Unterschied.«

»Sie sind vorhin schon rausgegangen und haben einen Schnaps getrunken, als wir gearbeitet haben«, sagte Frida. »Vielleicht glauben Sie ja, dass man das nicht merkt, aber das stimmt nicht. Sie kommen rein und stinken nach Rasierwasser. Das ist peinlich, Åke. Sogar sehr peinlich.«

»Seit wann bestimmen Sie, was in meinem Leben peinlich ist und was nicht?«

»Da wir jetzt da rein sollen, um gemeinsam an einem Strang zu ziehen, betrifft das auch mich«, sagte Frida. »Oder sind Sie da anderer Ansicht?«

Schweigen.

»Oder sind Sie da anderer Ansicht?«, wiederholte Frida.

Keine Antwort. Frida stieg ins Auto, setzte sich mit angelehnter Tür auf den Beifahrersitz und betrachtete Åkes schwerfälligen Körper und sein rot angelaufenes Gesicht. Er sank in sich zusammen, sein Groll und seine Verteidigungshaltung verschwanden, und er sah nur noch furchtbar traurig und einsam aus.

»Verdammt, Åke«, fuhr Frida fort, »Sie sind ein tüchtiger Journalist, Sie wissen alles über das Zeitungsmachen, Sie haben einen super Job und genießen das Vertrauen vieler Menschen. Warum sitzen Sie eigentlich hier und tun sich selbst leid?«

»Vielleicht steht es einfach nicht gut um mich«, sagte Åke und blickte starr auf das Lenkrad.

»Sind Sie … irgendwie krank?«, fragte Frida und hatte plötzlich ein schlechtes Gewissen. Vielleicht hatte er Krebs oder eine andere ernsthafte Krankheit?

»Nein … krank ist wohl das falsche Wort. Aber wenn man von niemandem gebraucht wird, verliert man irgendwie das Ruder und treibt ohne Richtung umher.«

»Es gibt doch eine Menge Leute, die Sie brauchen. Und jetzt gerade bin ich von Ihnen abhängig. Ich brauche Sie. Hören Sie mich? Ich. Brauche. Sie.«

Åke sagte nichts und atmete schwer. Trotz seines Körperumfangs wirkte er klein.

»Naja, aber jetzt geht’s ja bloß um einen kurzen Moment. Danach ist wieder alles wie vorher.«

»Ich möchte zu Ihnen aufsehen können«, sagte Frida. »Ich dachte, Sie wären etwas Außergewöhnliches, ein richtig guter Chef. Bis jetzt … also nun hab ich nicht mehr den Eindruck.«

»Tja, noch jemand, der mich jetzt verurteilt.«

»Ich verurteile Sie nicht. Aber zeigen Sie mir, dass Sie es wert sind, wenn ich zu Ihnen aufblicke.«

»Und wenn ich’s nicht bin?«, fragte Åke.

Wieder Schweigen.

»Mein Bauchgefühl sagt mir, dass Sie einer von den Guten sind. Sie sind viel zu gut, um hier herumzusitzen. Ich brauche ein Vorbild, und ich bitte Sie, dies zu sein.«

Åke schwieg und atmete.

Frida sah die Digitaluhr am Armaturenbrett weiter ticken. Sie waren schon ein paar Minuten über der Zeit. Eiwor und Skogby würden sich fragen, wo sie abgeblieben waren.

»Lagerwall und all die anderen sitzen jetzt da drin. Wie viel haben Sie getrunken? Ehrlich«, sagte Frida.

»Eigentlich war es nicht so viel …«

»Kriegen Sie das hin, oder sollen wir sie bitten, das Treffen abzublasen?«

»Ich bin das gewohnt. Mit ein paar Tassen Kaffee ist das wie ein ganz normaler Arbeitstag.«

»Sicher?«

»Sicher«, erwiderte Åke.

»Okay. Wollen wir gehen?«

Åke nickte schwach.

»Gut. Aber sparen Sie sich das Rasierwasser. Nehmen Sie lieber einen Kaugummi von mir«, sagte Frida und holte ein Päckchen aus ihrer Manteltasche.

Åke verzog leicht den Mund. »Ich dachte immer, Mädchen stehen auf Rasierwasser.«

»In geringen Mengen vielleicht«, sagte Frida und lächelte.

Sie stiegen aus dem Wagen und liefen auf den Eingang zu. Als sie an der Treppe ankamen, legte Åke eine Hand auf Fridas Arm.

»Danke«, sagte er. »Danke, dass Sie gekommen sind.«

Frida hatte nicht ahnen können, wie viel Wut und Frustration es in dieser kleinen Gemeinde gab. Eiwor machte eine Einleitung, die so beißend scharf war, dass sie am liebsten in ein schwarzes Loch gefallen wäre. Einer nach dem anderen wollte seinem Ärger Luft machen gegenüber der Zeitung im Allgemeinen und besonders gegenüber Frida. Wie hatte sie bloß ihren schönen Ort so in den Dreck ziehen können?

Henry Lagerwall hatte sich an die Wand gestellt, um in mehrfacher Hinsicht seine Distanz zu demonstrieren. Nickend pflichtete er den kritischen Aussagen zu und kicherte hörbar in sich hinein, als Skogby dieselben Sachen sagte, die er auch schon im Interview geäußert hatte. Doch nach und nach veränderten die Diskussionsbeiträge ihren Charakter. Der Mann aus der Anzeigenabteilung sagte, wie traurig es mit den ganzen leeren Häusern sei, die bloß mitten im Ort herumstanden und verfielen. Skogbys Frau wollte, dass die Politiker etwas mit der vom Brand zerstörten Fabrik machten, die jetzt die Ortseinfahrt von Bruseryd verschandelte, und fragte, wann denn endlich etwas über den gesprengten Damm geschrieben würde, der einen Sumpf aus dem alten Weiher gemacht hatte. An dieser Stelle verwies Eiwor darauf, dass derartige Fragen in der anschließenden Debatte erörtert werden sollten, und stellte Åke Johansson vom Smålandsbladet vor. Er sollte nun endlich Rede und Antwort stehen.

Es war schwer zu sagen, ob es an der Situation an sich, dem Schnaps oder den vielen Tassen Kaffee lag, dass Åke, als er das Wort ergriff, bedenklich zitterte. Doch nach ein paar einleitenden, unsicheren Sätzen ließ er die ganze Zeit seine rechte Hand in der Jackentasche, und danach ging es besser. Nach der Einleitung stellte er Frida und den Auftrag vor, den sie bekommen hatte. Frida hatte in fünf Zeilen exakt notiert, was sie sagen würde, und hielt sich streng ans Drehbuch. Dann war wieder Åke an der Reihe. Er schaltete den Overheadprojektor ein und legte das erste Bild darunter. Es war ein Gruppenfoto, das in den fünfziger Jahren vor der Metallfabrik in Brusryd aufgenommen worden war. Vor dem großen Gebäude standen zahlreiche Männer, die fröhlich mit ihren Mützen winkten.

»So sah es hier also vor fast sechzig Jahren aus. Damals wussten alle in Småland, dass man hier immer eine Arbeit finden konnte.«

Er tauschte das Bild gegen ein Foto aus, auf dem die Bank, das Bahnhofsgebäude, der Kolonialwarenladen, die Fleischerei, die Schuhmacherei und der Kiosk zu sehen waren. Ein Zug stand am Bahnhof, und überall waren Menschen, Fahrräder, Lastkarren, Autos und Motorräder.

»Als es hier so viele Menschen gab, haben auch viele in den Geschäften eingekauft. Der Zug hielt, die Bankgeschäfte blühten, alle glaubten an die Zukunft.«

Åke nahm das Bild weg und zeigte ein Foto der verfallenen, vom Brand beschädigten Fabrik mit dem schlammigen Weiher im Vordergrund. Kein einziger Mensch war zu sehen.

»So sieht es hier heute aus. Aber das wissen Sie so gut wie ich.«

Åke ließ die Eindrücke bei den Anwesenden nachwirken. Alles sah tatsächlich schrecklich traurig und verlassen aus.

»Und so hat sich die Arbeitssituation entwickelt«, fuhr Åke fort und zeigte eine grafische Kurve, die so dramatisch nach unten wies, dass sie einem Sturzflug ähnelte. »Sehen Sie selbst. Konnten früher mehrere hundert Menschen ihren Lebensunterhalt hier im Ort verdienen, sind es heute nur noch fünf oder sechs Personen. Drei Arbeitsplätze in der Sägemühle und dann Skogbys Veterinärpraxis. Mit der ganzen Gemeinde geht es bergab, und noch schlimmer wird es, wenn sich das Militär weiter verkleinert und das Bataillon in Eksjö ganz verschwindet.« Åke schwieg einen Moment lang und sagte dann: »Und wo machen Sie heute Ihre Einkäufe?«

Åke zeigte ein Bild von der Einweihung des Ica-Maxi-Supermarkts in Eksjö. Lange Schlangen hatten sich gebildet, und der Parkplatz war proppenvoll.

»Heute fährt man in den großen Supermarkt, anstatt in der Nähe und vor Ort einzukaufen«, sagte Åke und legte ein aktuelles Foto des Ortskerns unter den Projektor, das aus demselben Blickwinkel wie das erste aufgenommen war. Die Bank und das Bahnhofsgebäude wirkten völlig heruntergekommen, mit zerbrochenen Scheiben, die Läden standen leer. Auf dem offenen Platz davor waren nur ein paar alte Schrottautos zu sehen. Kein Mensch, so weit das Auge reichte.

»Das Ergebnis ist, dass die kleinen Läden schließen mussten. Vielleicht nicht so tragisch, könnte man denken, aber was passiert auf lange Sicht mit einem Ort, wo es so aussieht wie hier?«, sagte Åke. »Tja, eine Ortschaft ohne Dienstleistung verliert ihre Anziehungskraft, und die Leute ziehen weg.«

Åke legte eine neue Grafik unter den Projektor. Sie zeigte eine lange, nach unten abfallende Kurve.

»Das ganze Hochland von Småland verliert an Bevölkerung. Geht das im selben Ausmaß weiter, wird die Zahl der Einwohner in zehn Jahren um zehn Prozent geschrumpft sein. Dieser Ort hier ist besonders hart betroffen. Hier gibt es, kurz gesagt, nichts Verlockendes mehr. Wir konnten dreiundzwanzig leer stehende Immobilien zählen. Einige davon sind völlig unbeaufsichtigt. Dazu kommen wahrscheinlich noch ein paar, die wir übersehen haben. Laut den Maklerfirmen sind die Immobilienpreise im Verwaltungsbezirk Bruseryd am niedrigsten. Man kann ein großes Backsteinhaus mit hundertfünfzig Quadratmetern Wohnfläche für zweihundertfünfundsiebzigtausend Kronen bekommen«, sagte Åke und präsentierte eine Anzeige, die er vom schwedischen Immobilienmaklerverband ausgeliehen hatte und die für gewöhnlich im Fenster des Maklerbüros in Eksjö hing. »Es ist fraglich, ob sich dieses Haus überhaupt verkaufen lässt. Seit über einem Jahr wird es bereits angeboten.«

Åke nahm eine Ausgabe des Smålandsbladet und schwenkte sie hin und her.

»Wie Sie wissen, ist das hier die Zeitung, bei der ich angestellt bin. Ich arbeite als Nachrichtenchef und Redaktionsleiter, zumindest momentan noch«, fügte er ironisch hinzu und nickte in Richtung Lagerwall, was einige Lacher im Saal zur Folge hatte. »Es ist die Hauptaufgabe des Smålandsbladet, unsere nähere Umgebung aus verschiedenen Perspektiven widerzuspiegeln. Alles was wahr, relevant und wichtig ist, wird in der Zeitung besprochen, und wir wollen eine offene Diskussion und einen lebhaften Dialog mit unseren Lesern. Ich möchte abschließend nur sagen: Wenn wir Bruseryd nicht so betrachten, wie es tatsächlich aussieht, und uns nicht überlegen, wohin die Reise geht, dann haben weder Sie noch ich unseren Job richtig gemacht. Deswegen haben wir den Artikel publiziert, und damit gebe ich jetzt wieder an Frida Fors weiter. Vielen Dank.«

Åke sammelte seine Unterlagen ein und setzte sich hin. Im Saal war es vollkommen still. Es schien, als könnten sich die Zuhörer der Wahrheit nicht länger verschließen, die ihnen nun so deutlich mit Bildern und Statistiken präsentiert worden war. Was gab es jetzt zu verteidigen, und weshalb war man so wütend?

Frida zog ihren kurzen schwarzen Rock zurecht und fuhr mit der Hand glättend über die weiße Bluse unter der Strickjacke. Sie holte tief Luft und versuchte, daran zu denken, dass sie durch Ruhe alles gewinnen könnte, aber nichts durch Nervosität. Ihr Herz tickte wie ein falsch eingestelltes Metronom. Zwei Mal überprüfte sie, ob die Plastikvorlagen in der richtigen Reihenfolge geordnet waren, dann stand sie auf, ging zum Overheadprojektor und legte das erste Bild ein.

»So sah die Presseerklärung der Cartago Copy AB aus, die ich in der Eingangspost der Kommunalverwaltung gefunden habe«, sagte Frida und blickte wie alle anderen zur weißen Leinwand hinauf. »Dies war der Ausgangspunkt für die ganze Reportage. Die Firma plant also, die Landkarten des Telefonbuchs umzugestalten und die Orte zu entfernen, die zu klein geworden sind.« Frida legte ein weiteres Bild unter den Projektor, das die Landkarte in der bisherigen Form zeigte. »So sieht die Landkarte heute aus. Bruseryd ist dabei, wie Sie sehen. Doch so … wird es im Telefonbuch des nächsten Jahrs aussehen«, sagte Frida und zeigte eine Karte, auf der es zwischen Eksjö und Mariannelund völlig weiß und leer war.

Ein eigenartiges Schweigen breitete sich aus, dann fingen die Leute an zu flüstern. Mats’ alte, an den Rollstuhl gefesselte Mutter winkte mit der Hand und fing an zu reden, ohne dass ihr jemand das Wort erteilt hatte.

»Aber weshalb denn? Wie können die einfach so was machen?«

Mats versuchte, seine Mutter zu beruhigen, und legte ihr eine Hand auf den Arm.

Frida fuhr fort: »Man kann sich in der Tat fragen, weshalb die das einfach so machen können. Bis zur Börsennotierung vor zehn Jahren war Cartago in staatlichem Besitz. Die Allgemeinheit konnte also absolut verlangen, dass das Unternehmen bei solchen Fragen Rede und Antwort steht. Doch jetzt ist das Unternehmen privatisiert. Die Hauptaufgabe ist demnach, den Gewinn zu maximieren und die Aktieninhaber und den Vorstand zufriedenzustellen. Da muss man sich mit solchen Anforderungen nicht länger herumschlagen.«

»Aber kann man denn nicht einfach sagen, dass man damit nicht einverstanden ist? Das wird sich doch wohl noch ändern lassen?«, sagte Mats’ Mutter, die sich jetzt nicht länger beruhigen lassen wollte.

»Das Unternehmen scheint für solche Einwände nicht offen zu sein«, erwiderte Frida. »Sie haben bei allen kleinen Orten eine Grenze von mindestens hundert Einwohnern festgelegt. Bruseryd hat nicht einmal neunzig.«

»Was spielt das für eine Rolle, ob es neunzig oder hundert sind? Wir können doch trotzdem auf der Karte stehen, oder?«, fuhr Mats’ Mutter fort.

»Das könnte man meinen«, antwortete Frida.

»Die haben das so entschieden, Mama. Dagegen kann man nichts tun«, sagte Mats halb flüsternd, um sie wieder zu beruhigen.

»Hier haben wir die Anzahl der Einwohner von Bruseryd«, sagte Frida und wechselte zu einer weiteren Vorlage.

Eine Liste mit den Bezeichnungen der Immobilien und der Anzahl der Bewohner erschien auf der Leinwand des alten Missionshauses.

»Wie Sie sehen, wohnen eigentlich nur zirka siebzig Menschen in der eigentlichen Ortschaft. Ich habe aber alle Häuser, die ein paar Kilometer außerhalb liegen, ebenfalls dazugezählt, um die Zahlen zu vervollständigen. Wie optimistisch man auch sein mag, auf mehr als siebenundachtzig kommt man einfach nicht.«

Ein allgemeines Gemurmel entstand, und es wurde überlegt, wer unter Umständen bei der Auflistung vergessen worden war.

Björkman hob die Hand. »Und das Ferienhaus, das ich im Sommer vermiete? Wie wird das gerechnet?«

»Sommergäste werden nicht mitgezählt, das habe ich extra überprüft«, sagte Frida.

Eiwors Gatte, ein kleiner Mann mit kugelrundem Gesicht und rötlichem Haar, winkte eifrig mit der Hand. Er wirkte so verlegen, als ihm das Wort erteilt wurde, dass seine Gesichtsfarbe dunkelrot wurde und es so aussah, als ob sein runder Kopf gleich explodieren würde.

»Können wir nicht ein paar Leute aus den umliegenden Orten hier zusammenbringen, sodass wir mehr als hundert sind, und dann jemanden von der Kartenfirma bitten, herzukommen und nachzuzählen?«, fragte er und lachte nervös angesichts seiner Idee.

»Laut Magnus Nyström von Cartago Copy muss man hier im Ort gemeldet sein, um mitgerechnet zu werden«, erklärte Frida.

Anders Skogby bat ums Wort und übernahm es, die Ergebnisse zusammenzufassen: »Sie meinen also, dass wir die Wahl zwischen zwei Dingen haben. Entweder wir bringen Cartago dazu, seine Regeln zu ändern, oder wir müssen akzeptieren, dass wir von der Landkarte verschwinden?«

Frida zögerte einen Moment und antwortete dann: »Im Großen und Ganzen, ja.«

»Da muss es doch wohl noch eine Alternative geben?«, fragte Mats’ Mutter.

Erneutes Gemurmel in den Reihen. Björkman räusperte sich, nahm seine Mütze ab und fuhr sich mit der Hand durch sein lichtes Haar. »Könnte man nicht vielleicht dem König schreiben?«

»Dem König? Glaubst du, der hat Zeit für so was?«, warf Mats’ Mutter ein.

»Sollte er sich nicht mit genau solchen Dingen beschäftigen?«, fuhr Björkman fort.

»Also nein, wirklich! Das wäre doch ziemlich unverschämt, ihn mit so einer Sache zu belästigen. Das grenzt ja schon an Majestätsbeleidigung.«

In den Reihen wurde geflüstert und gekichert. Frida fuhr sich mit der Hand durch die Haare und schob sich eine widerspenstige Locke sorgsam hinter das Ohr. Im Saal wurde es still. Frida dachte laut nach.

»Ansonsten müssen Sie wohl zusehen, dass es mehr Leute werden«, sagte sie zögernd.

»Was? Reden Sie lauter, sodass man Sie hören kann!«, rief Mats’ Mutter.

Frida nahm einen neuen Anlauf. »Ansonsten müssen Sie wohl zusehen, dass es wirklich mehr Leute werden!«

Hier und da war höhnisches Gelächter zu hören. Fridas Bemerkung verbreitete sich wie ein Echo durch den Saal. Die Menschen murmelten, nickten und schüttelten den Kopf. Ein unartikulierter Schwall von Worten und Gedanken erhob sich und wurde von Wänden und Balken zurückgeworfen. Das Geräusch breitete sich aus, ließ nach, wuchs wieder an. Schließlich ein Pssst von Eiwor, die das Wort ergriff: »Wie soll das denn funktionieren? Die Leute wollen hier nicht wohnen. Das haben wir ja gerade gehört.«

Agnes machte ein vorsichtiges Handzeichen. Frida nickte ihr zu.

»Vielleicht haben sie einfach noch keine Einladung bekommen?«

Mats wandte sich zu Agnes um und schnaubte wütend. »Was für eine Einladung? So funktioniert das doch nicht.«

»Sag das nicht«, erwiderte Agnes. »Es gibt bestimmt viele Leute, die nicht wissen, wo sie hinsollen.«

»Die gibt’s bestimmt. Aber wieso sollten die ausgerechnet hier wohnen wollen, wenn es sonst niemand will?«, fuhr Mats fort.

»Vielleicht wissen sie gar nicht, dass es Bruseryd gibt.«

»Das Problem bleibt aber dasselbe«, sagte Eiwor. »Wir haben nichts zu bieten.«

»Wir haben leere Häuser, für so gut wie umsonst«, schlug Agnes vor.

»Es fehlen über zwanzig Personen«, sagte Mats. »Wo sollen die denn alle herkommen?«

»Entschuldigung«, sagte die kleine mollige Frau, von der Frida annahm, dass sie nicht Harriet sein konnte. »Ist es so wichtig auf der Karte zu stehen? Welche Rolle spielt das? Diejenigen, die hier wohnen, wissen doch weiterhin, wie der Ort heißt.«

Eine aufgeregte Diskussion erhob sich in den Reihen und brach nicht eher ab, bis Henry Lagerwall fest und bestimmt an die Wand klopfte.

»Es ist doch wohl selbstverständlich, dass Bruseryd mit auf die Karte gehört! Dafür haben wir doch die ganzen Jahre gekämpft. Wenn nicht Sie als Ortsbewohner für Ihren Ort kämpfen, wer soll das denn dann machen? Ansonsten können wir auch die Bruseryd-Seite und die Redaktion und alles zusammen dichtmachen. Ist es das, was Sie wollen?«

»Das wollen wir natürlich nicht«, erwiderte Eiwor, »aber wir haben noch immer keine Dienstleistungen und Arbeitsplätze anzubieten.«

Dani erhob sich von seinem Platz ganz hinten im Saal und hielt die Hand hoch. Die anderen im Publikum blickten skeptisch zu dem jungen Mann mit feucht gekämmtem Haar, zerknittertem Hemd und Baggy-Jeans hinüber.

»Ich habe einen Kiosk, wo man Kaffee und Kebab bekommt. Wenn Sie bei mir einkaufen wollen, kann ich auch noch mehr Waren ins Sortiment aufnehmen. Vielleicht gibt es ja Leute, die hierherziehen würden, wenn man sie willkommen heißt.«

»Alle sind willkommen«, rief Eiwor.

»Das ist leicht gesagt, aber es ist nicht so einfach, von der Gemeinschaft aufgenommen zu werden«, fuhr Dani fort. »Ich hab hier einen Flyer von meinem Kiosk. Ich verkaufe sehr gutes Lammkebab. Kommen Sie doch mal zum Probieren vorbei. Sie bekommen auch alle Rabatt.«

»Mein Magen verträgt kein Lamm«, schnaubte Mats’ Mutter, sodass alle es hören konnten. Mats wirkte wieder leicht genervt.

»Sie können auch einen vegetarischen Kebab haben«, fuhr Dani unbekümmert fort. »Wenn Sie bei mir einkaufen, kann ich vielleicht auch jemanden einstellen. Jemanden, der herziehen will und es dann nicht weit zur Arbeit hat.«

Frida schloss ihren kleinen Vortrag ab, und Eiwor kündigte die Kaffeepause an. Danach sollte es noch Gelegenheit geben, Åke und Frida weitere Fragen zu stellen, doch es schien fast so, als ob es dazu gar keinen Bedarf mehr gab. Stattdessen wurde in den Kaffeeschlangen ausgiebig erörtert, wie man die verschiedenen Alternativen angehen sollte. Als die Thermoskannen zum Nachfüllen der Tassen bereit waren, hatten sich schon mehrere Arbeitsgruppen gebildet. Skogby und seine Frau wollten versuchen, Cartago Copy bezüglich Bruseryd zu einer Ausnahme zu bewegen. Eiwor und Mats’ Mutter wollten überlegen, wer Verbindung zu irgendwelchen Verwandten hatte, die vielleicht gerne in den Heimatort zurückziehen würden. Dani und Agnes bildeten eine kleine Gruppe, die sich neuartige kleinere Dienstleistungen ausdenken wollte. Frida konnte hören, wie neue Treffen vereinbart wurden, und alle Unruhe und Nervosität lösten sich langsam auf und wurden durch ein Gefühl von vorsichtigem Enthusiasmus ersetzt.

Es war eine kalte und sternenklare Nacht. Åke hatte schließlich eingewilligt, den Wagen am Missionshaus stehen zu lassen. Åke, Agnes und Frida gingen zusammen die Straße entlang. Ihr Atem bildete kleine Wölkchen, während sie sich darüber unterhielten, wie der Abend verlaufen war – vom totalen Konflikt über die Vorträge bis hin zum Beginn einer Art gemeinsamen Handlungsplans. Agnes war völlig aufgedreht. Sie hatte eine Einladung zum Kiosk bekommen und ulkte herum, sie hätte jetzt ein Date. Kurze Zeit später holte sie zusätzliche Bettwäsche und bereitete Åke ein Lager auf dem Redaktionssofa. Dann ging sie in ihre Wohnung hinunter. Frida und Åke blieben mit Teetassen zurück und rekapitulierten noch einmal die Präsentation.

»Ich weiß nicht, ob Sie es selbst gemerkt haben, aber Sie waren wirklich gut«, sagte Frida. »Ihr Vortrag mit all den Bildern und Statistiken und Ihrer klaren und einfachen Sprache hat die ganze Stimmung gedreht. Durchdacht und pädagogisch.«

»Das habe ich Ihnen zu verdanken. Wären Sie nicht zum Wagen gekommen, hätte es vielleicht gar keine Veranstaltung gegeben.«

»Ich wollte gar nicht so unfreundlich sein …«

»Sie müssen sich nicht entschuldigen. Ich habe das gebraucht«, sagte Åke, während er heftig an einem kleinen Fleck auf dem Couchtisch herumrieb.

Frida schwieg, überlegte, wägte ab, dachte weiter nach und wagte sich schließlich vor. »Warum trinken Sie?«

»Tja, mein Gott«, erwiderte Åke, »sagen Sie es mir.«

»Nein«, sagte Frida und pfiff auf ihr schlechtes Timing, »sagen Sie es.«

Und so fing Åke schließlich an zu reden. Es schien, als ob er noch nie zuvor so direkt über die Geschehnisse gesprochen hätte. Frida war nach der Versammlung so müde, dass sie dankbar in die Rolle der Zuhörerin schlüpfte, ohne Gegenfragen, und ihn, wo nun endlich alles herauswollte, nur erzählen ließ.

Er erzählte von Marianne. Vom ersten Mal, als er sie auf einem Mittsommerfest in Mycklaflon sah, und wie er ihr mit Humor und lustigen Einfällen den Hof machte und sie schließlich eroberte. Er berichtete weiter, wie sie im folgenden Sommer in seinem alten Passat in Europa herumfuhren und auf Konzerte gingen, im Auto schliefen, durch die Berge wanderten, bestohlen wurden und neue Leute kennenlernten. Wie sie zusammenwuchsen, während sie mit Freunden über unzähligen Flaschen Rotwein Politik, Journalismus und die Entwicklung der Gesellschaft erörterten, und wie es ihnen gelang, auf einer Zwangsversteigerung ein vom Verfall bedrohtes Haus zu ersteigern. Wie sie es renovierten, bis es nicht wiederzuerkennen war, und es dann gegen das Backsteinhaus in der Parkgatan eintauschten, wo sie davon träumten, Kinder zu bekommen, doch viele Jahre darum kämpfen mussten, und wie sie schließlich doch schwanger wurde und wie glücklich sie waren, als Jesper endlich zur Welt kam. Das waren, so wie er sich jetzt erinnerte, goldene Jahre gewesen. Da war das Leben so, wie er sich ein gesundes und kraftvolles Leben vorstellte. Und wie wahnsinnig schön sie mit ihrem weizenblonden Haar und den breiten Hüften war! Er wollte sie immer nur anfassen, sobald sie einen Raum betrat. Und sie lachte bloß und sah ihn mit ihren glänzenden, warmen Augen fest an. Dennoch schien es ungefähr um diese Zeit gewesen zu sein, kurz nach der Geburt des Kindes, als sich alles veränderte. Er brauchte nach der Arbeit ein Bier, um sich zu entspannen, und dann noch eins, um wieder in Gang zu kommen. Wollten sie Leute treffen, brauchte er vorher einen Schnaps. Wollten sie zu Hause bleiben, war ein Gläschen doch wohl das Mindeste, was man verlangen durfte. Er gab den Fußball auf, als ihn sein Rücken im Stich ließ. Schaffte es nicht, sich eine Mitgliedskarte für das Sportstudio zu besorgen. Spaziergänge waren etwas für Frauen. Auf der Arbeit begannen die Leute, sich nach interessanteren Jobs umzusehen, und die übrig Gebliebenen wurden immer unzufriedener. Er selbst gehörte zu einer eigenen Klasse, zu denen, die sich an Ort und Stelle nach oben arbeiteten. Erst Nachtchef, mit vielen anstrengenden Abenden, an denen Marianne einsam mit Jesper zu Hause saß, dann Nachrichtenchef und schließlich Redaktionsleiter. Das waren gute Jobs. Zumindest damals. Doch fünfzehn Jahre später spürte er, wie die anderen anfingen, hinter seinem Rücken zu meckern, und der Ansicht waren, er müsse Platz machen für die Jüngeren mit neuen Ideen. Doch wo hätte er hingehen sollen? Wenn man es selbst nicht schaffte weiterzuziehen, konnte man immer noch über die anderen jammern. Das war vielleicht nicht die beste Lösung, doch es machte das Leben einfacher, zumindest für Åke. Marianne seufzte und sagte: »Mein Lieber, kein Wort mehr über Lagerwall oder Annika. Ich will es nicht hören. Stattdessen solltest du lieber etwas dagegen tun.« Doch das tat er nicht. Denn was gab es auch zu tun? Alles war eben so, wie es war.

Wenn er an den Freitagen müde nach Hause kam, wollte sie etwas unternehmen – Gäste einladen, renovieren, einrichten, Reisen planen. Er wollte nur entspannen, es ruhig angehen lassen, ein Bier trinken und die ganzen aufgestauten Aggressionen gegenüber dem Job im Allgemeinen und gegenüber dem Lagerwall-Konzern im Besonderen loswerden. Sie fand, dass er kein Interesse an ihrem gemeinsamen Leben zeige, und behauptete, dass seine persönliche Entwicklung stagniere. Er fühlte sich übergangen und gekränkt, weil sie mit ihren Freundinnen mehr Spaß zu haben schien, Kurse belegte, auf eigene Faust in den Urlaub fuhr und mehrmals den Job wechselte. Zum Schluss saß er da mit seinem unförmigen, müden und teigigen Körper, tief im Sofa versunken, und goss Bier in sich hinein, während sie joggte und frustriert nach neuen Wegen suchte. Sie war der Ansicht, er sei erschöpft, traurig und trete auf der Stelle. Er fand, sie sei undankbar und habe zu viel Energie. Ein paar Jahre dauerte dieser Stellungskrieg, dann schien es, als hätten beide aufgegeben, es weiter miteinander zu versuchen. Alles wiederholte sich – arbeiten, essen, schlafen, immer die gleichen Weihnachtsfeste, immer die gleichen Ferien. Jesper bekam einen Studienplatz in Jönköping und zog aus. Er fühlte sich bestens. Und wieso sollte er an den Wochenenden nach Hause – in das Leid und das Schweigen –, wenn er sein Leben auch an netteren Orten verbringen konnte? Das Haus war leer, nur noch Marianne und Åke. Die sich einst so viel zu erzählen hatten. Jetzt sprachen sie überhaupt nicht mehr. Eines Tages kam sie dann nach Hause und verkündete, man habe ihr einen Job in Jönköping angeboten, den sie antreten werde. Sie wollte ausziehen. Und die Scheidung. Sie sagte es einfach so im Vorbeigehen, als handle es sich um eine Nebensächlichkeit. Wenngleich er wusste, dass es ihnen nicht gut ging, war er wie vor den Kopf geschlagen. Erst da begriff er, dass sie schon eine Entscheidung getroffen hatte, an die er nicht einmal zu denken gewagt hatte.

Im ersten Jahr glaubte er, dass sie es bereuen und zurückkommen würde, doch sie schien diese Möglichkeit nicht einmal in Betracht zu ziehen. Erst da verstand er es – dass sie wirklich fort war –, und selbst die Hoffnung verließ ihn. Da gelang ihm nicht einmal mehr der Versuch, dem Drang nach Linderung zu widerstehen. Überstand er den Arbeitstag, so hatte er alles Recht der Welt, seinen Körper zu betäuben, wenn er nach Hause kam. Oder zumindest, bis er auf den Parkplatz gelangte. Obwohl das erst in letzter Zeit so war. Aber so weit war es tatsächlich mit ihm gekommen …

Es war spät, und der Tee war ausgetrunken. Noch nie zuvor hatte ein sechzigjähriger Mann Frida sein Herz ausgeschüttet. Da sie nicht wusste, was sie erwidern sollte, schwieg sie.

Doch als die Pause schließlich sehr lang geworden war, fragte sie vorsichtig: »Glauben Sie, dass es vielleicht mal anders werden könnte?«

Er dachte eine Weile nach. »Wie denn?«

»Tja, einfach nur anders?«

»Wenn ich vielleicht eine neue Frau träfe.«

Frida überlegte. Åke und eine neue Frau. Noch bevor sie richtig nachgedacht hatte, platzte sie heraus: »Wenn Sie eine Frau in Ihrem Alter wären, würden Sie sich dann in Sie verlieben?«

Åke blickte sie überrascht an und gab ein trauriges, introvertiertes Lachen von sich. »Nein, solche Wunder gibt es wohl nicht. Wie sollte das denn gehen? In mich verlieben? Ich mag mich ja selbst nicht mal.«

»Da gibt es dann wohl nur eine Person, die das ändern kann«, sagte Frida.

»Meinen Sie Marianne?«, fragte Åke ratlos.

»Nein«, erwiderte Frida. »Nicht Marianne. Sie.«