CHRISTINE
FEEHAN
setzt ihre atemberaubende Saga
um den Bund der Schattengänger
fort in:
SCHATTENSCHWESTERN
DER APPLAUS WURDE von donnernden Beifallsrufen begleitet. Das Publikum stampfte mit den Füßen und verlangte mehr. Briony winkte und lächelte, als Tyrel ihren Arm drückte, und sie schwebte mit ausgestreckten Armen vom Seil durch die Luft, als könnte sie wirklich fliegen, schlug in Zeitlupe einen graziösen Salto und gelangte damit unter Ruben. Der führte die entsprechende Bewegungsfolge über ihr aus, sodass sie die Plätze tauschten. Briony und Ruben winkten der tobenden Menge wieder zu und fingen Seile auf, um daran hinabzugleiten. Auf dem Boden kamen sie zusammen, Hand in Hand, um sich zu verbeugen. Sie warteten darauf, dass ihre Brüder sich ihnen anschlossen, und dann verbeugten sie sich alle gemeinsam ein letztes Mal.
Die wilde Musik und der Adrenalinschub hatten dazu beigetragen, die überwältigenden Emotionen in Schach zu halten, doch als sie im Rampenlicht stand, trafen sie sie mit der Wucht eines Hiebs. Sie stolperte und zwang sich, ihr Lächeln nicht verrutschen zu lassen, während der Schmerz ihren Kopf wie in einem Schraubstock zerquetschte und feste Knoten in ihren Magen schnürte. Sie war von Tausenden von Menschen umgeben, und sie alle strahlten Wogen von Emotionen aus. Alles war vertreten, von Hochstimmung bis hin zu abgrundtiefer Verzweiflung. Sie konnte die Anspannung fühlen und die Männer sehen, die sich mit Waffen durch das Publikum bewegten und gelegentlich einer unseligen Person einen Stoß versetzten, mit grimmigen Mienen und ohne jedes Mitgefühl in den Augen. Ihr Sehvermögen war schon immer phänomenal gewesen. Sie besaß die Fähigkeit, jede Maus zu entdecken, die sich auf dem Waldboden bewegte, und sie konnte mühelos die Furcht der Frauen sehen und fühlen, wenn sie sich enger zusammendrängten und versuchten, nicht von den Soldaten bemerkt zu werden.
Sowie sie die Manege verlassen hatte, rannte Briony ins Bad und erbrach das wenige, was sie heruntergebracht hatte. Sie zog sich eilig um, legte ihr knappes, glitzerndes Kostüm ab und schlüpfte in eine dunkle Jeans und ein dunkles Top. Sie konnte ihre Brüder lachen hören, als sie aufgeregt zu den Clubs aufbrachen, um sich ein Bild davon zu machen, was das Nachtleben hier zu bieten hatte. Kinshasa stand in dem Ruf, zahlreiche Nachtclubs zu haben, und viele Leute reisten trotz der Unruhen und der gewaltigen Probleme in den entlegeneren Gegenden wegen des Nachtlebens an.
»Ist alles in Ordnung mit dir, Bri?«, rief Tyrel. »Möchtest du, dass ich bei dir bleibe?«
»Nein, natürlich nicht, mir geht es gut«, rief sie zurück. »Habt euren Spaß, aber seht euch vor.«
»Schließ die Türen hinter uns ab«, wies Jebediah sie an.
»Wird gemacht.« Sie dachte gar nicht daran, in einem stickigen geschlossenen Raum zu bleiben. Sie wusste, dass der Kongo in der Nähe war, der breite Strom. Im Regenwald würde es ruhig und still sein, oder zumindest würde sie dort fern von anderen Menschen sein und wieder atmen können, aber sie hütete sich davor, ihren Brüdern zu sagen, dass sie aus dem Haus gehen würde. Sie wären vor Entsetzen außer sich gewesen.
Briony setzte grenzenlose Zuversicht in ihre Fähigkeit, mit der Nacht zu verschmelzen. Sie konnte ganz außergewöhnliche Dinge tun, Dinge, von denen sogar ihre Brüder nichts wussten. Sie hatte eine strenge Ausbildung durchlaufen, von der nur ihre Eltern – und vielleicht Jebediah – etwas wussten. Sie musste es nur schaffen, unentdeckt aus der Stadt herauszukommen und in den Schutz des Regenwalds zu gelangen.
Sie band sich einen Schal um den Hals und setzte einen Hut auf, um ihren blonden Schopf zu verbergen. Sie konnte ihre Hautfarbe verändern, und ihre Brüder fanden das ekelhaft. Es hatte etwa um ihren sechzehnten Geburtstag herum begonnen, direkt nach einem Krankenhausaufenthalt wegen einer seltsamen Sache, die die Ärzte entdeckt hatten. Sie hatte einige Zeit gebraucht, um herauszufinden, wie sie Einfluss darauf nehmen konnte. Manchmal verfärbte sich ihre Haut, wenn sie außer sich oder wütend war, aber sie konnte es auch mit ihrer Willenskraft erreichen und es nach Belieben einsetzen, um sich ihrer Umgebung anzugleichen, bis sie zu verschwinden schien.
Sie zögerte an der Tür. Sie fürchtete sich vor dem Ansturm heftiger Gefühle. Es war ein Alptraum, durch die Straßen zu laufen, wenn sie genau wusste, dass sie den intensiven Emotionen anderer Menschen ausgesetzt sein würde, aber wenn sie nicht hinausging und einen Zufluchtsort fand, würde sie die nächsten Tage nicht überstehen, und ihre Brüder brauchten sie für ihren Auftritt.
Briony nahm ihre Schultern zurück und trat hinaus. Sie hatte den Stadtplan studiert und wusste genau, wohin sie gehen würde. Sie war auch sicher, dass sie es mit jedem Angreifer aufnehmen oder ihm davonlaufen konnte, und daher schritt sie zielstrebig aus, richtete all ihre Sinneswahrnehmungen auf Anzeichen von möglichem Ärger und lief forsch durch die Straßen zum Fluss und zum Regenwald.
Warum war sie so anders? Warum konnte sie Gedanken lesen und fremde Gefühle erspüren, wenn sie jemanden berührte, und sie wahrnehmen, wenn jemand in ihre Nähe kam? Ihre Eltern hatten, soweit sie zurückdenken konnte, auf einer strengen, beinah militärischen Ausbildung beharrt, die sehr körperbetont war, doch wenn ihre Mutter sie in den Armen hielt, fühlte sie ein Gemisch aus Furcht und Liebe. Fürchtete ihre Mutter ihre eigenartigen Fähigkeiten? Und wenn ja, warum hatte sie dann darauf bestanden, dass Briony sie entwickelte, sie aber gleichzeitig geheim hielt? Geheimnisse führten dazu, dass sie sich ihren Brüdern und den anderen Artisten um sie herum fremd fühlte. Geheimnisse und ihre außerordentlichen Fähigkeiten, ihre Andersartigkeit. Sie verabscheute diese Unterschiede.
Auf den Straßen herrschte Gedränge. Überall wimmelte es von Menschen, selbst am späten Abend, und viele von ihnen gingen bereits unter der nächtlichen Bevölkerung auf Beutefang, denn die machte es ihnen leicht, weil die meisten zu viel getrunken oder zu starke Drogen genommen hatten. Der Geruch von Marihuana schlug ihr entgegen. Sie reagierte sehr empfindlich auf Gerüche und hatte schon immer Menschen und Tiere in ihrer Nähe eher als jeder andere identifizieren können, und jetzt wurde ihr übel davon, dass sich die Ungewaschenen unter die Überparfümierten mischten.
Sie schaffte es ohne Zwischenfälle durch die Straßen der Stadt und folgte dem Fluss in den Regenwald. Dort beschleunigte sie ihre Schritte und eilte im Dauerlauf über einen gewundenen Pfad, der zu einem tiefen Nebenfluss des Kongo führte. Sie lief weiter an dem Nebenfluss entlang und suchte nach einem Refugium, einem Ort, an dem sie sich zusammenrollen und in Frieden atmen konnte.
Es war heiß und schwül im Wald. Sie hielt an, um ins Wasser zu waten. Dort blieb sie stehen und lauschte den Lauten der Insekten, dem Flattern von Flügeln und diversen Geschöpfen, die sich zwischen den Bäumen bewegten. Sie spürte, wie zum ersten Mal seit Tagen die Spannung von ihr abfiel.
Briony tauchte den Schal in das kalte Wasser und presste ihn sich ins Genick. Da sie verzweifelt Linderung suchte, watete sie tiefer ins Wasser hinein. Ihre Brüder würden sie umbringen, wenn sie verschwand, aber sie würde die nächsten Tage nicht überstehen, wenn sie nicht einen Ort fand, an dem sie dem Leiden entkommen konnte. Nichts von all dem, was sie gelernt hatte, um sich abzuschirmen, funktionierte in Afrika. Dort lebten zu viele Menschen zu dicht aufeinander, und es gab zu viel Leid.
Wie viele Vorstellungen hatten sie zugesagt? Und war das überhaupt einleuchtend? Weshalb sollte die Festival-Leitung ihnen so viel Geld dafür bezahlen, dass sie eine akrobatische Darbietung zu afrikanischer Musik aufführten? Die Nummer war spektakulär, aber das Angebot war gekommen, bevor sie auf die Idee gekommen waren. Warum störte das niemanden im Zirkus? Woher konnte die Festival-Leitung solche Summen bekommen? Und wenn sie tatsächlich so viel Geld zur Verfügung hatten und es sich bei dem Festival eigentlich ausschließlich um Musik drehte, weshalb sollten sie dann Zirkusakrobaten wollen? Briony sah sich noch einmal um, weil sie Blicke aus unsichtbaren Augen auf sich fühlte. War sie die Einzige, die sich fragte, weshalb ihre Familie nach Kinshasa gekommen war? Und warum hatte sie ständig das Gefühl, von jemandem beobachtet zu werden?
Das Musikfestival wurde zu Ehren afrikanischer Künstler und ihrer Musik veranstaltet. Es war unsinnig, Zirkusakrobaten einzuladen. Jebediah, Tyrel, Ruben und Seth zuckten nur die Achseln und sagten, einem geschenkten Gaul schaue man nicht ins Maul, aber Briony hatte das Gefühl, hier stimmte etwas nicht. Alles kam ihr ein bisschen schräg vor. Ihre bizarre Ausbildung, ihre Fähigkeiten, dazu der Umstand, dass sie einen ganz speziellen Arzt hatte, der angeflogen kam, sowie sie Schnupfen hatte; und sogar das war seltsam: die Tatsache, dass sie sich kaum jemals einen Virus zuzog. Wenn sie krank wurde, dann kam es im Allgemeinen von der ständigen Bombardierung mit Gefühlen, die tagtäglich auf sie einstürmten. Ihre Brüder sagten ihr, sie sei paranoid, aber sie hatte, wie auch jetzt, oft das unbehagliche Gefühl, wenn nicht gar die Gewissheit, von jemandem beobachtet zu werden. Sie sah sich um und hielt mit ihrem gesteigerten Sehvermögen Ausschau nach Wärmebildern, nach irgendetwas, was ihr sagte, sie schwebte in Gefahr, aber da war nichts, noch nicht einmal eine Veränderung im beständigen Surren der Insekten.
Briony rieb sich die pochenden Schläfen und watete am Ufer entlang, noch weiter weg von dem Gedränge und der Hektik der Stadt. Bewaffnete Soldaten an jeder Straßenkreuzung, alles strotzte von unterschwelliger Gewalt, und das Nachtleben schien ein glitzernder Deckmantel zu sein, unter dem die Verzweifelten und die Kriminellen ihre Untaten begingen. Sie wollte nach Hause.
Einen Moment lang erstarrte sie. Nach Hause. Was hieß das überhaupt? Sie liebte ihre Familie, und sie liebte den Zirkus, doch sie hielt es nicht mehr aus. Dieses Leben brachte sie um, aber sie kannte kein anderes, und es gab auch keinen Ort, an den sie gehen konnte. Ihre Brüder wussten wenigstens, dass sie anders war, und sie taten ihr Bestes, um ihre Eigentümlichkeiten vor anderen zu verbergen, obwohl sie nicht verstanden, was mit ihr los war.
Briony roch ungewaschene Männer und hörte Stimmen. Sie wich augenblicklich ans Ufer zurück, veränderte ihre Hautfarbe und verließ sich darauf, dass auch ihre dunkle Kleidung zu ihrer Tarnung beitrug. Als drei bewaffnete Soldaten näher kamen, sah sie sich um und vergewisserte sich, dass sie allein war, bevor sie in die Hocke ging und mühelos rund zehn Meter hoch ins Geäst eines Baums sprang. Sie verhielt sich vollkommen still, als sie unter ihr vorbeikamen und auf dem Waldboden nach Spuren suchten. Die Soldaten machten eindeutig Jagd auf jemanden, und Briony begriff, dass es eine Dummheit gewesen war, sich so weit von dem Schutz zu entfernen, den ihr ihre Brüder boten. Das mussten die Rebellen sein, die von allen gefürchtet wurden. Sie beobachtete sie, wie sie sich verstohlen durch den Wald in Richtung Stadt bewegten.
Briony wartete, bis sie die Männer nicht mehr hören konnte, und sprang erst dann auf den Boden. Mit einem kleinen Seufzer des Bedauerns watete sie wieder ins Wasser hinaus. Sogar hier, am Rande der Wildnis, war sie nicht wirklich allein. Wieder beugte sie sich hinunter, um ihren Schal in den kühlen Fluss zu tauchen. Sie wollte nicht zurückgehen; schon allein bei dem Gedanken wurde ihr Mund trocken. Plötzlich kräuselte sich das Wasser um sie herum. Das war die einzige Warnung. Ein Arm, der mehr von einer Stahlschlinge hatte, schlang sich von hinten um ihre Kehle, und jemand presste ihr die Spitze eines Messers gegen die Rippen.
»Schrei bloß nicht.« Die Stimme war gesenkt und klang doch so drohend, dass Briony zusammenzuckte. Der Körper des Mannes, der sie gefangen genommen hatte, fühlte sich an wie eine Eiche, absolut unnachgiebig, und er hielt sie so, dass sie keine echte Chance hatte, ihm zu entkommen, ohne sich ernsthafte Verletzungen zuzuziehen.
Sie zählte ihre Herzschläge, um ihren Atem zu verlangsamen. »Das hatte ich nicht vor.«
Er sprach Englisch mit amerikanischem Akzent. »Du bist ein Schattengänger. Was zum Teufel hast du hier zu suchen?«
Die Stimme war eher ein Flüstern in ihrem Innern als in ihrem Ohr. Sie wusste, dass sie starke telepathische Kräfte besaß, aber hier ging es um mehr. Und seine Gefühle teilten sich ihr nicht mit. Diese Erkenntnis verblüffte sie. In ihrem ganzen Leben waren ihr die überwältigenden Gefühle anderer eine Last gewesen, sogar im Umgang mit ihren Angehörigen. Im ersten Moment war sie derart schockiert, dass ihr Gehirn sich weigerte, diese Information zu verarbeiten. Sie hielt vollkommen still und versuchte, es logisch zu durchdenken, wobei sie das beharrliche Flüstern in ihrem Ohr ignorierte.
Die Spitze des Messers berührte ihre Haut, und Briony zuckte zusammen. »Tu das noch einmal, und du wirst mich von einer weniger netten Seite kennenlernen«, zischte sie. Konnte sie es mit ihm aufnehmen? Er war stärker als jeder Mann, mit dem sie jemals trainiert hatte. Sie spürte die Kraft, die in ihm strömte, und nahm Dinge wahr, die ihn von anderen Menschen unterschieden – dieselben Dinge, die auch sie von anderen unterschieden und über deren Vorhandensein bei ihr selbst sie sich schon immer im Klaren gewesen war. Wieder zwang sie sich, ruhig zu bleiben. Niemand war so wie sie, noch nicht einmal ihre Familie. Woher wusste sie, dass er ihr glich?
»Wer bist du?«, fragte sie, obwohl sie wusste, dass er ihr nicht antworten würde. Er war mit Sicherheit beim Militär. Möglicherweise ein Söldner.
»Was zum Teufel hat ein Schattengänger hier zu suchen? Wenn du mir nicht innerhalb von fünf Sekunden antwortest, fange ich an, dir Körperteile abzuschneiden.«
»Ich weiß nicht, was ein Schattengänger ist. Ich trete auf dem Musikfestival auf. Ich führe mit meinen Brüdern, den Flying Five, Luftakrobatik auf. Ich bin eines der fünf Mitglieder der Truppe.«
Einen Moment lang herrschte Schweigen. »Warum zum Teufel sollte ein Zirkus auf einem Musikfestival auftreten?«
»Das wüsste ich auch gern«, sagte Briony. »Ich bin noch nicht dahintergekommen, aber sie haben meinen Brüdern und mir einen gehörigen Batzen Geld dafür bezahlt, dass wir herkommen.« Er hatte keinen Moment lang in seiner Wachsamkeit nachgelassen.
Der Mann, der sie gefangen hielt, stieß ungeheuer derbe Flüche aus. »Ich habe gesehen, wie du auf diesen Baum gesprungen bist und deine Hautfarbe verändert hast, um dich deiner Umgebung anzupassen. Belüge mich nicht noch einmal. Das kann außer einem Schattengänger niemand bewerkstelligen. Kein Mensch auf Erden.«
Briony wollte alles wissen, was er über Schattengänger wusste. Wenn sie tun konnten, was sie tun konnte, war sie dann auf irgendeine Weise mit ihnen verwandt? Sie spürte, wie er sich anspannte und seine Arme sich enger um sie legten. Seine Lippen pressten sich wieder an ihr Ohr. »Gib keinen Laut von dir.«
Sie atmete ein und wusste sofort, dass die Soldaten einen Haken geschlagen hatten und zurückkamen. Furcht durchzuckte sie. Sie wusste, was Frauen zustieß, die sie zu fassen bekamen, wenn sie allein außer Haus waren.
»Kannst du den Atem anhalten? Bist du ausgebildet?«
Sie wusste, was er meinte, und daher nickte sie.
»Wie lange?«, fragte er gepresst.
»Zwanzig Minuten, wenn ich mich in Acht nehme.« Sie log nicht, und sie wollte sehen, ob er schockiert war. Als Kind war sie gezwungen gewesen, über zunehmend längere Zeiträume unter Wasser zu bleiben. Sie hatte geglaubt, das täten alle, bis sie eines Tages beim Abendessen vor ihren Brüdern damit angegeben hatte und sie sich über ihre vermeintlichen Lügen lustig gemacht hatten. Sie hatte gesehen, wie ihre Mutter die Lippen missbilligend zusammenkniff, und sie hatte es nie wieder zur Sprache gebracht – niemandem gegenüber.
»Du wirst mit mir untertauchen.«
Es war keine Frage, und er übte bereits Druck auf sie aus, nahm sie mit ins Wasser und gab keinen Laut von sich, als sie langsam untertauchten; man hätte fast meinen können, er setzte es als selbstverständlich voraus, dass jeder ohne Atemgerät so lange unter Wasser bleiben konnte. Das Messer blieb weiterhin auf ihre Rippen gerichtet und sein Arm um ihren Hals geschlungen. Er ließ ihr reichlich Zeit, um Atem zu holen, und sie sog Luft in ihre Lunge, während sie an einer Stelle kauerten, an der dichtes Schilf im Wasser wuchs.
Briony grub ihre Finger in seinen Arm, hielt sich an ihm fest und versuchte, ihre Furcht zu besiegen. Manchmal hatte sie das Gefühl, sie hätte den größten Teil ihres Lebens damit verbracht, ihre Furcht zu verbergen. Sie war immer ängstlich gewesen, und nach einer Weile war es ihr ganz natürlich erschienen, ihre Furcht nicht zu zeigen. Sie fürchtete sich vor allem, und manchmal widerte es sie an, dass sie diese Schatten, die so tief in ihrem Innern hausten, nie ganz bezwingen konnte. Sie zwang sich, ruhig zu bleiben, denn sie wollte nicht, dass dieser Mann wahrnahm, wie sehr sie sich in Wirklichkeit vor ihm fürchtete.
Ein Teil von ihr war aufgeregt und fragte sich trotz der akuten Gefahr, ob er das konnte, was sie konnte. Und was es für sie bedeutete, wenn er es tatsächlich konnte.
Jack konnte das leichte Beben spüren, das unablässig den Körper der jungen Frau durchlief, die er so eng an sich gepresst hielt. Sie war klein, kaum mehr als ein Mädchen, aber sie fühlte sich an wie eine Frau, und sie roch wie eine Frau, weiche Kurven und dieser frische Duft. Ihr graute, doch sie verbarg es gut, und das war nicht einleuchtend, wenn sie ein Schattengänger war. Bestimmt war sie bestens in Kampfsportarten und im Nahkampf ausgebildet und konnte mit jeder Art von Waffe umgehen. Sie hätte volles Vertrauen in ihre Fähigkeiten setzen sollen. Sie war ohne jeden Zweifel genetisch weiterentwickelt, und er hatte den Verdacht, dass auch ihre übersinnlichen Anlagen verstärkt worden waren. Sie atmete unter Wasser so, wie man es ihnen allen beigebracht hatte – immer nur ein klein wenig Luft ausstoßen.
Jack stellte fest, dass er die Frau in seinen Armen allzu deutlich wahrnahm. So war es schon von dem Moment an gewesen, als er sie berührt hatte. Jede kleinste Einzelheit schien sich in sein Gedächtnis einzumeißeln. Sich seinem Körper einzuprägen. Ihre Formen und ihre Beschaffenheit. Ihr seidiges Haar, das sein Gesicht gestreift hatte, als er ihr einen Arm eng um die Kehle geschlungen hatte. Ihre Fingerkuppen, die sich tief in seinen Arm gruben, als sie gemeinsam unter Wasser kauerten. Etwas dergleichen war ihm noch nie passiert. Für ihn hatte es nie eine Rolle gespielt, ob es sich bei seinem Gegner um einen Mann oder um eine Frau handelte; er erledigte seinen Auftrag. Und er tat alles, was notwendig war, um seinen Auftrag abzuschließen. Sie aber war kein Objekt; sie war eine Frau. Selbst jetzt, unter Wasser, konnte er die Erinnerung daran, wie sie sich anfühlte und wie sie duftete, nicht abschütteln.
Die Soldaten blieben eine Weile unter dem Baum stehen und unterhielten sich flüsternd miteinander. Jack wusste, dass sie Jagd auf ihn machten. Eine Minute verging, dann zwei Minuten. Aus drei Minuten wurden fünf Minuten, aus fünf Minuten zehn. Die Soldaten blieben, kauerten am Fluss und zeichneten eine Landkarte in die feuchte Erde. Fünfzehn Minuten gingen vorüber. Jack atmete noch langsamer aus als bisher.
Die Finger der Frau gruben sich tiefer in seinen Arm. Die Anspannung nahm merklich zu, und er fühlte ihr wachsendes Grauen davor, zu ertrinken, aber sie hielt bemerkenswert still. Die Minuten vergingen, und er rechnete damit, dass sie in Panik geraten würde. Er war darauf vorbereitet, doch sie hielt durch und zwang sich, die Luft so langsam auszustoßen, dass sie unter Wasser bleiben konnte. Sie war bestens ausgebildet, so viel stand fest, aber ihr ging die Luft aus, und sie musste auftauchen. Er nahm ihr Grauen in seinem Innern wahr – es war erdrückend und schmeckte bitter in seinem Mund.
Jack versuchte ihre Ängste zu ignorieren, doch die Empathie zwischen ihnen war zu stark und ließ ihm keine andere Wahl. Er nahm ihren Kopf zwischen seine Hände, drehte ihr Gesicht zu sich um und beugte sich vor, bis seine Lippen ihre federleicht streiften. Das war ein Fehler. Er fühlte diese federleichte Berührung von Kopf bis Fuß, ein wüstes Hämmern seines Herzens, eine Straffung in seinen Lenden und noch etwas Tieferes, das in seinem Innern in Bewegung geriet und sich verlagerte. Er atmete in ihren Mund, sodass er buchstäblich zu der Luft wurde, die sie einatmete, und sie ihn tief in ihren Körper aufnahm, wo er hingehörte.
Was zum Teufel hatte ihn auf diesen Gedanken gebracht?
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Christine Feehan: Schattenschwestern